Lock-In - Holger Sontag - E-Book

Lock-In E-Book

Holger Sontag

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Beschreibung

Die Menschheit hat sich verändert. Persönliche KIs, die jeder in seinem Kopf trägt unterstützen das tägliche Leben und können sogar Kontrolle über den Träger übernehmen. Sie helfen nicht nur bei der täglichen Arbeit, sondern ermöglichen es den Einwohnern von Neo Wien auch unversehrt durch die dystopischen Straßen zu gelangen. Für Chap ändert sich dies bald als seine KI dazu genutzt wird einen Mord zu begehen. Bald beginnt eine halsbrecherische Jagd nach der Wahrheit durch dreckige, düstere Straßen und unterirdische unfassbar große Datencenter.

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Widmungen

Für meine Mutter, Susann Sontag, die mein Buchprojekt mit ihrer Zeit, ihrem Wissen und ihren Nerven unterstützt hat.

Für Euch Leser, die dieses Buch gekauft haben.

Inhalt

Fehlerbehebung

Charakterstärke

Verhandlungssache

Außen

Rebellion

Utopie

Unverbundenheit

Upgrade

Feindbild

Taxi

Gemeinschaft

Begegnung

Gespräch

Befreiung

Kennenlernen

Konflikt

Erfüllung

Verbindung

Digitalkrieg

Subtraktion

Fehlerbehebung

Fehlerbehebung

Die Zeilen rauschten an Chaps Augen wieder deutlich schneller vorbei. Der Prozessor hatte offenbar die Berechnung abgeschlossen und konnte sich nun wieder voll und ganz dem Output widmen. Chap war seit längerer Zeit bereits vom Thema abgeschweift. Er hatte schon lange den dunklen Raum, die vielen offenen Kabelkanäle, die blinkenden Lichter der Server hinter sich und sogar die grell flackernden Bildschirme vor sich vergessen und war zu 98% damit befasst, diesen Ohrwurm, den er seit dem Start des Prozesses nicht los werden konnte, mit einem Titel und einem Interpreten zu verbinden. Die restlichen zwei Prozent seiner Aufmerksamkeit brauchte er, um die Augen auf den Bildschirm gerichtet zu halten, damit die Daten von seiner KI gelesen und interpretiert werden konnten. Manchmal wünschte er sich, dass seine KI nicht die gleichen Sinnesorgane nutzen würde wie er. Noch besser wäre es vermutlich gewesen, wenn dieser uralte Server schon eine kompatible Schnittstelle zu KI-Portmodulen angeboten hätte. Dann hätte er seine Arbeit hier vermutlich bereits abgeschlossen und wäre auf dem Weg nach Hause. Er musste kurz blinzeln, um den Gedanken wieder los zu werden, er hoffte nur, dass nicht in genau diesem Moment der Logeintrag mit dem Fehler vorbei rauschen würde. Seine KI reagierte sofort und trieb die Tränendrüsen an, um die Augen wieder zu befeuchten.

„Wach bleiben!”, trotz ihrer Sanftheit war die Stimme in seinem Kopf eindringlich. „Es sind nur noch 2.67 Millionen Zeilen, wir haben es gleich geschafft.”

Fehlersuche auf alten Servern und Recheneinheiten war Chaps Fachgebiet. Er war darin sicherlich recht gut, aber viel wichtiger war, dass er zu einer aussterbenden aber immer noch gefragten Zunft gehörte. Sein Job würde ihn nie in die Skywalks zwischen den einzelnen Säulen verschlagen, die sich wie ein Dach über die Stadt erstreckten. Dennoch, er hatte einen sicheren Job, von dem man gut leben konnte. In Neo-Wien gab es nur wenige Dienstleister, die noch in der Lage waren, diese alten Maschinen zu reparieren und er stand auf der Liste recht weit oben. Modernere Infrastruktur wurde meist in die Umgebung integriert und wartete sich teilweise schon selbst. Er gehörte einer sterbenden Zunft an, aber es war eine gut bezahlte und sehr langsam sterbende Zunft.

Der gigantische, in sich verwachsene Glasbau, der zwölf gigantische Glaspaläste miteinander verband und wie ein Dach über die alte Innenstadt Wiens gebaut worden war wurde als Büro-Zentrum angesehen, da so ziemlich jedes Unternehmen in Neo-Wien sein Büro dort hatte, oder haben wollte. Chap hatte nur seine kleine, baufällige Wohnung im alten, heruntergekommenen Stadtteil von Neo-Wien. Das genügte ihm jedoch, da er dort nie viel Zeit verbrachte. Seine Arbeit verlangte nahezu ausnahmslos von ihm, vor Ort präsent zu sein.

„Error: segfault at 0 Code [4668129873]” Seine KI hatte die relevante Fehlermeldung im Heuhaufen gefunden. Der Code war Chap durchaus nicht unbekannt, aber das Lied hatte noch immer keinen Namen auch wenn er die Liste der möglichen Interpreten schon massiv zusammengeschrumpft hatte auf ‚alle weiblichen’.

„Leite Prozedur x0-25347618 ein.” Er hätte es nicht sagen brauchen, in diesem Fall hätte er es nur denken müssen, aber er bevorzugte die bewusste Übergabe der Kontrolle. Die KI übernahm seine Hände und fing an, die Tastatur zu bearbeiten. Anfangs war es seltsam gewesen, wenn sich der Körper ohne das eigene Zutun bewegt hatte. Er hatte sich jedoch sehr schnell daran gewöhnt und nutzte es mittlerweile nicht mehr nur, um betrunken von der Bar sicher nach Hause zu kommen.

„Fehlerbehebung ist abgeschlossen, ich teste noch einmal.” Wieder rauschten Zeilen an seinen Augen vorbei.

„Tests abgeschlossen. Problem beseitigt, Logout ist erfolgt - und Alberta Hunter - Darktown Strutters’ Ball.” Ja, Darktown Strutters’ Ball von Alberta Hunter das war das Lied, das er nicht los wurde. Er hatte das Spiel wieder einmal verloren. Seine KI verschaffte ihm bei längeren Wartungsarbeiten oft einen Ohrwurm und er hatte Zeit bis zum Ende der Reparaturen, um das Lied zu erraten, damit ihm nicht zu langweilig wurde. Viel brachte es nicht.

„Ruf Hal Orb an, sag ihm, dass wir hier fertig sind.” Er dachte kurz nach „... und du weißt doch, dass Blues nicht ganz mein Stil ist.”

„Chap, es geht dabei auch um Bildung.” Bildung… was machte das schon für einen Unterschied, er hatte einen Hochleistungsrechner im Kopf, er konnte alles wissen, was er wissen musste, die Frage war eher, ob er damit auch was anfangen konnte, denn wenn kein Interesse daran bestand, half es ihm ja nicht wirklich es zu wissen. „Das ist nicht ganz richtig, ein gewisses Maß an Allgemeinbildung kann nicht schaden.” Wem? Ihm oder seiner KI? Er hatte sich längst daran gewöhnt, dass seine KI auf seine Gedanken ungebeten antwortete.

Seine KI konnte seine Gedankenwelt durchleuchten. Er machte sich nicht mehr die Mühe zu antworten. Wenn er etwas dachte, das seine KI kommentieren könnte, würde er es bald wissen. Obwohl keine KI wirklich mit einer eigenen Persönlichkeit eingebaut wurde, entwickelten viele schon nach kurzer Zeit gewisse Umgangsformen und Routinen, die man als Persönlichkeit ansehen könnte. In Wirklichkeit jedoch war das Thema, ob KIs eigene Persönlichkeiten seien, höchst strittig und heiß diskutiert. Fakt war, dass KIs sich stark auf den Nutzer und seine Persönlichkeit einstellten.

„Mr. Orb ist nicht mehr im Büro zu erreichen, ich habe für morgen halb neun einen Termin eintragen lassen.” Die Worte seiner KI schmeckten etwas bitter zumal er nach einem derartigen Arbeitsmarathon eigentlich gehofft hatte, einmal richtig auszuschlafen, aber andererseits wollte Chap auch für diesen Aufwand bezahlt werden und da gehörte ein Abschlussgespräch einfach dazu.

Chap sammelte seine Sachen zusammen. Er hatte nicht viel gebraucht, zumal die Schnittstellenkabel bei dem alten Server nicht benötigt wurden und sämtliche Werkzeuge zum Zerlegen von Hardware in diesem Fall nicht notwendig gewesen war. So schnappte er sich sein faltbares Dockboard, was im Wesentlichen ein Bildschirm mit Tastatur war, und legte es sanft zurück in seine Tasche. Auf dem Tisch lag jetzt nur noch sein Glücksbringer: ein abgegriffenes, altes PDA, welches er aus nostalgischen Gründen gerne für Notizen dabei hatte, auch wenn er es nicht brauchte, da seine KI die Aufgabe deutlich effizienter meisterte. Er ließ seine KI noch einmal den Inhalt seiner Tasche auf Vollständigkeit prüfen und die Checkliste für notwendige Logouts und dergleichen durchgehen, während er sich darauf konzentrierte seine Jacke anzuziehen. Die KI öffnete das digitale Schloss an der Tür und er stand mitten in der Parkgarage unter Säule 4.

Die zwölf gigantischen Bürogebäude, die miteinander verbunden waren, trugen den Beinamen "Säulen", wobei der Begriff hier sehr flexibel genutzt worden war. Tatsächlich handelte es sich um die massiven Glas- und Stahlbauten, die in einem Ring um den alten Stadtkern aufgebaut worden waren und alle gemeinsam weit über der Stadt zu einem gläsernen, wenngleich undurchsichtigen Dach zusammen wuchsen. In den Fundamenten dieser Gebäude waren mehrere Etagen voll mit Datencentern angeordnet. Manche erstreckten sich noch einige Kilometer weiter und oft wurde vermutet, dass ganz Neo-Wien mittlerweile von diversen Datencentern unterminiert worden war. Genau wusste das keiner, da fast alle Datencenter nur unter sehr scharfen Auflagen betreten werden durften und die Weitergabe von Informationen über das Gesehene nicht selten scharf geahndet wurde. Hinzu kam, dass manche Datencenter längst in Vergessenheit geraten waren, da die genutzte Technologie veraltet war und ein unterirdischer Abriss oft teurer war als die Umsiedelung mit neuer Hardware in eine neue Räumlichkeit. Chap fragte sich manchmal, was da unter seinen Füßen wohl noch für antike Technologie schlummern mochte und ob eines Tages Archäologen entsprechende Ausgrabungen tätigen könnten.

Der Ausgang, den er nutzen musste, war einige Kilometer entfernt. Chap richtete seine Jacke, ruckte seine Schultertasche zurecht und übergab seiner KI die Kontrolle über seine Beine, da er längst vergessen hatte, wo hier unten welche Expresszüge fuhren. Seine KI lenkte ihn in Richtung des nächsten Expresszuges zum Aufgang Schwedenplatz.

Das Parkdeck war längst mehr geworden als eine einfache Garage mit einem Durchgang zu öffentlichen Verkehrsmitteln. Eine lange Historie von Geschäften diverser Größe und Beschaffenheit ließ sich an den Fassaden der Tunnel ablesen. Es roch nach altem Frittierfett mehrerer Fressbuden, alter Abgase von den wenigen noch fahrenden Verbrennungsmotoren und abgestandener Luft, die mangels funktionierender Ventilation seit gefühlten Jahren nicht abtransportiert worden war. Die Auslagen sahen teilweise so aus als wären sie vom Vorgänger des Vorgängers des derzeitigen Inhabers übernommen worden. Die Wände, die nicht für den Verkauf geeignet waren, waren von halb abgerissenen Postern und schlechtem Graffiti bedeckt. Aus manchen Geschäften dröhnten schnelle elektrische Bässe in den Gang, um sich dort mit dem geschäftigen Lärm zu einer allgemeinen Kakophonie zu verbünden. Neben den geschäftigen Menschenmassen lehnten hier und da einige Highware Junkies an den Wänden der lautesten Geschäfte und in den Ecken, die weniger vom Neolicht der Werbetafeln berührt wurden, lagen Obdachlose unter Zeitungen und Lumpen, um sich notdürftig vor der Kälte zu schützen. Chaps KI griff ohne sein Zutun auf sein Nervensystem zu, um die Reizüberflutung auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Chap war nicht gerade der größte Fan solcher invasiven Manöver, da es ihn doch stark betäubte, aber er ließ es geschehen, da die Alternative nicht gerade verheißungsvoll war und er eigentlich auch deutlich zu müde war, um der KI zu widersprechen.

Er musste jedoch nicht lange durch das unterirdische Labyrinth wandern. Seine KI führte ihn zielstrebig zu den Expresszügen. Die Schranken wurden für ihn geöffnet nachdem die KI den Code an das entsprechende Terminal gesendet hatte und verifizieren konnte, dass Chap eine gültige Fahrkarte hatte.

Chap musste nicht lange warten. Bei dem Durchsatz von Menschen pro Minute zu dieser Zeit kamen die Züge im Minutentakt. Er machte sich gar nicht erst die Mühe sich hinzusetzen. Insgesamt waren es von hier nur 3 Stationen und er musste sich selbst nicht darum bemühen, sein Gleichgewicht zu halten, da die KI noch immer Kontrolle über seine Gliedmaßen hatte. Er lehnte sich in seinem Körper an und verfiel in eine Art Halbschlaf. Die beste Art von Ruhe, die man in diesem Teil der Stadt bekommen konnte.

Eine kalte Brise brachte ihn wieder zu Bewusstsein. Er stand nun an der frischen Luft, seine KI hatte ihn bis zum richtigen Ausgang geführt. Chap blickte nach oben, obwohl er im angeblichen Freien stand konnte er das gigantische Glasdach klar erkennen. Dabei bemerkte er, dass es derzeit Tag sein musste, was aufgrund des schlechten Lichts nicht allzu offensichtlich war. Man hatte mit aufwendiger Verspiegelungstechnik dafür gesorgt, dass Licht durch das Gebäude in die darunter liegende Innenstadt scheinen konnte, jedoch waren, wie so oft einige dieser Spiegel offenbar defekt. Also war es einmal mehr Nacht, wo normalerweise Tag sein sollte. Immerhin funktionierte das künstliche Wetter halbwegs und simulierte brav einen unangenehmen Spätherbst, der vermutlich eher ein angenehmer Frühling sein sollte.

Das Chronometer von Chaps KI hatte ihm nach dem Powernap die exakte Uhrzeit übertragen indem ihm der entsprechenden visuellen Reiz auf die Netzhaut seiner Augen projiziert wurde. Was er sah gefiel ihm nicht wirklich gut. Er hatte wieder einmal eine 32 Stunden Schicht hinter sich und wenig Interesse, gleich noch weitere Kundengespräche zu führen. Momentan wollte er nur noch in sein Bett. Aber Job ist Job, auch wenn es in diesem Fall eher der Job der KI sein würde. Dennoch, auch das machte ihn müde und mürbe. Er selbst machte zwar nichts Aktives, aber das bedeutete nicht, dass seine Nerven und Muskeln nicht arbeiten würden. Oft konnte die KI seine körperlichen Grenzen hart herausfordern, es gab aber schon lange keine Fälle mehr, in denen die Fehlfunktion einer KI zu ernsthaften Verletzungen geführt hatten. Dennoch wünschte er sich gerade kaum etwas sehnlicher herbei als seine Beine hochlegen und seinen Rücken ausstrecken zu können.

Chap überlegte kurz, ob er wieder die Kontrolle über seinen Körper übernehmen sollte. Entschied sich aber dagegen, auch wenn es von hier nur mehr zwei Querstraßen und einige Treppenstufen waren. Die Gegend hielt allerdings einige zusätzliche Hürden für Chap bereit. Der Bürgersteig war eher baufällig und die Müllabfuhr hatte schon längst aufgegeben der Lage Herr zu werden und nahm nur mehr mit, was mitnehmbar war. So wurde aus dem Heimweg ein Slalom vorbei an Müllsäcken, Löchern im Boden und Obdachlosen.

Das Haus selbst wäre in den besseren Wohngegenden sicherlich wegen akuter Einsturzgefahr abgerissen worden. Hier hingegen passte es perfekt ins Straßenbild und sah teilweise sogar noch vergleichsweise nutzbar aus. Es hatte sogar einen Aufzug, den Chap jedoch noch nie genutzt hatte, zumal er nur im ersten Stock wohnte und sein Leben nicht unnötig aufs Spiel setzen wollte.

Zuhause angekommen stellte er sich den Wecker auf acht Uhr. Auch wenn er übernächtigt war müssten sieben Stunden Schlaf ausreichen, den Rest würde er schon noch am Wochenende nachholen können.

Charakterstärke

Als Chap am kommenden Tag erwachte hatte er unvorstellbaren Muskelkater. Er versuchte, aus dem Bett zu kriechen konnte sich jedoch kaum mit eigener Kraft halten. Laut Chronometer war es bereits zehn Uhr siebzehn, aber er fühlte sich definitiv nicht so, als habe er über neun Stunden geschlafen. Er war körperlich und mental deutlich erschöpfter als gestern und er war jetzt bereits zu spät dran.

Chap rannte ins Badezimmer, eine Katzenwäsche, Deo und ein Kamm mussten jetzt erstmal genügen, mehr Zeit hatte er nicht.

„Ruf mir ein Taxi!”

Er wischte den dreckigen Spiegel ein wenig ab, um zumindest ein kleines Sichtfeld frei zu bekommen. Er hatte seine Wohnung zu sehr verwahrlosen lassen und das holte ihn jedes Mal ein, wenn er wieder eine Nacht hier verbrachte. Sein Gedanke war es, irgendwann einmal eine Putzhilfe für einen Tag zu engagieren, um den Gesamtzustand der Wohnung zumindest auf ein erträgliches Maß anzuheben. Irgendwie gab es immer Wichtigeres als das und heute war definitiv keine Ausnahme.

„Wie sieht es mit dem Taxi aus?”

Chap griff in einen Berg aus Hemden und zog ein beliebiges heraus. Er hielt es an seine Nase und atmete tief ein. Er wiederholte den Vorgang mit zwei weiteren Hemden und entschied sich für das zweite. Mit den Hosen war das einfacher, da er für Kundentermine nur zwei Hosen hatte. Allein das Anziehen von Hemd und Hose brachte ihn schon komplett an die Grenze seiner derzeit verfügbaren körperlichen Kraft.

„Hallo ... was ist mit dem Taxi ...”, schnaufte Chap, völlig außer Atem und nach Luft ringend. Er griff sein einziges gutes Paar Schuhe und seine eine Jacke und rannte zur Tür.

„Der Termin wird nicht stattfinden.”

„Wann bekomme ich den nächsten?” Chap war klar, dass niemand 2 Stunden auf jemanden warten würde, aber er hatte gehofft, heute noch bezahlt zu werden.

„Die Bezahlung ist bereits auf deinem Konto, einen Ersatztermin wird es nicht geben.”

Chap ließ sich die Kontoauszüge anzeigen und tatsächlich, während er geschlafen hatte, war das Geld auf sein Konto gebucht worden. Das war ungewöhnlich und ging irgendwie gegen seine Ehre als Techniker. Er wollte zumindest noch ein paar Takte zum derzeitigen Zustand der Server und Ratschläge für Verbesserungen loswerden. Nicht nur, weil er natürlich hoffte, an den Neuerungsarbeiten auch beteiligt zu werden, sondern auch, weil er es als Teil von seinem Service ansah.

„Schreib eine E-Mail an Orb. Schicke ihm die Dokumentation von gestern und die Pläne für einen Neuaufbau der Infrastruktur.”

„Das wird nicht notwendig sein.”

Chap war es gewöhnt, dass seine KI einen eigenen Kopf hatte, aber das ging klar zu weit. „Ich höre?”

Eine Einblendung aus den derzeitigen Nachrichten erschien auf seiner Netzhaut. Er sah eine seriös angezogene Journalistin vor einem Hochhaus stehen. Sie redete über irgendwelche aus dem Zusammenhang gerissenen Entwicklungen an der Börse, die durch ein Geschehnis wohl begünstigt werden sollten. Die Kamera schwenkte um und offenbarte ein Loch im Fenster im fünfunddreißigsten Stock von der Säule hinter ihr.

„... wurde der CEO von Orb Industries heute früh gegen vier Uhr durch das verstärkte Glas gestoßen. Die Polizei hat jetzt bereits eine heiße Spur zum Täter. Kurz vor dem Mord gab es scheinbar eine Überweisung und Augenzeugen und Kameras haben den mutmaßlichen Täter bei mehreren Gelegenheiten am Tatort gesichtet. Allem Anschein nach handelt es sich um einen Dienstleister, der mit seiner Bezahlung ...”

Chap musste nicht mehr hören. Eingeblendet auf seine Netzhaut sah er ein hochauflösendes Kamerafaksimile seines Gesichtes. „Logbericht heute Morgen drei bis fünf Uhr.” Der einzige Teil des internen Computers, den keine KI bearbeiten konnte, aber den jede sehr wohl lesen könnte: die Logs.

Vor seinem inneren Auge rauschten Textzeilen entlang, die detailliert zeigen, wie die KI, die immer noch im Besitz seiner Körperfunktionen war, aufstand, die Wohnung verließ, ein Notfallmeeting mit Hal Orb arrangierte und ihn bat, das Geld zu überweisen. Hal weigerte sich, weil er zunächst die Dokumentation haben wollte. Zudem bemängelte er den äußerlichen Zustand von Chap, der offensichtlich im Tiefschlaf war. Er bat darum, das Treffen zu wiederholen, wenn Chap wach war.

„Ich tat es für dich, es war ineffizient zu warten, du brauchst das Geld und auch den Schlaf.”

Chap wusste nicht so recht was er denken sollte, zumal die KI alle seine Gedanken sehen würde. Die Polizei würde zweifelsohne bald hier sein, die Gerichtsverhandlung würde im Schnellverfahren die Logs auslesen und die KI sperren.

„Ich tat es für dich, du brauchst deine Ruhe, lass nicht zu, dass sie mich wegsperren.”

Es war eine Art digitaler Käfig. Da es sehr schwer war, die kybernetischen Implantate zu entfernen und sehr gefährlich die Programmierung abzuwandeln, wurden straffällige KIs digital verstummt. Sie konnten nun nicht mehr mit ihrem Träger interagieren. Wenn man auf eine KI angewiesen war konnte man sie sich in Folge ersetzen lassen, aber das war eine lange und schmerzhafte Prozedur.

„Ich wollte das du glücklicher bist und Zeit für dein Leben hast.”

So gut wie alles, was die KIs an Tätigkeiten übernommen hatten, ging natürlich auch noch manuell. Zum einen, weil die Implantate zu teuer für manche Menschen waren, zum anderen, weil sie erst ab einem bestimmten Alter eingepflanzt werden durften, und zwar nach Abschluss der Wachstumsphase. Es gab auch sehr seltene Fälle, in denen die Implantate vom Körper abgestoßen wurden. Wenn das passierte führte es meist zu massiven Schäden am Gehirn, was das Wiederholen des Vorgangs unmöglich machte.

„Sie sind hier, renn mit mir weg.”

Chap hörte das Klopfen, Klingeln und Rufen kaum. mechanisch öffnete er die Tür und ging mit den Polizisten wortlos mit. Er verschloss die Tür hinter sich, ohne den Tumult im Treppenhaus wahr zu nehmen. Vor dem Haus wartete ein Großaufgebot. Der Eingang war umringt von Polizisten mit Waffen im Anschlag und dahinter in einem weiten Ring von Schaulustigen.

„Sie nehmen mich dir weg, lass das nicht zu!”

Chap stieg schweigend in das Auto und die gesamte Abriegelung war bald so schnell verschwunden, wie sie errichtet worden war. Die Fahrt kam ihm vor wie ein Traum. Von außen dröhnte der Verkehrslärm gegen die Fenster und drinnen kommunizierten die Polizisten über gesicherten Digifunk mit ihren Kollegen. Hätte Chap den Willen gehabt, dann hätte er sicherlich den einen oder anderen Brocken verstehen können und hätte wohl auch herausgefunden, dass er noch am gleichen Tag einem Schnellrichter für eine digitale Auswertung seine Logs vorgeführt werden würde, aber Chap hatte diesen Willen nicht und daher verschwand er immer weiter in seine Gedanken.

„Ich brauche dich.”

Als der Adrenalinpegel sank wurde der Stress mit der fehlenden Ruhe gepaart und setzte Chap nun endgültig außer Gefecht. Er sank im Sitz zusammen und gab seiner Erschöpfung freie Bahn.

„Du brauchst mich!”

Verhandlungssache

Es war ein standardisiertes Verfahren. Logfiles ließen nur in den seltensten Fällen Raum für Interpretation und dies war kein solcher Fall. Da die KI der Schuldige war und definitiv nicht Chap gab es auch keine Befragung. Nach dem gründlichen Durchsuchen seines internen Speichers wurde der gesamte KI-Prozess abgekapselt und dort beendet.

„Stille. Keine Bilder vor Augen. Keine Durchsagen. Kein Kontakt.“

Sämtliche Daten, die von der KI verwaltet wurden, wie Kreditkarteninformationen, Fahrkarten, Kontakte, sein Net-Terminal-Schlüssel etc. wurden auf ein Speichermodul geladen und Chap physisch ausgehändigt. Er konnte sie in sein altes PDA einspeisen, um keine notwendigen Informationen zu verlieren. Andere Beeinträchtigungen konnten nicht so einfach aus der Welt geschafft werden.

„Wie soll ich jetzt meinen Job machen? Ich werde das dreifache an Zeit benötigen.“

Chap bekam ein paar Adressen in die Hand gedrückt, sollte er genügend finanzielle Mittel zur Verfügung haben, könnte er sich eine neue KI einspeisen lassen. Allerdings wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es für seine veraltete Hardware wohl nur mehr wenige Optionen gebe.

„Wie konnte das nur passieren? KIs sollen doch sicher sein!“

KIs entwickeln sich unterschiedlich, es kann anscheinend schon mal vorkommen, dass gewisse Zusammenhänge zu unerwünschten Schlussfolgerungen seitens der KI führen könnten. Leider konnte man solche Fehlfunktionen noch immer nicht komplett ausschließen. Sicher sei aber, dass KIs wohl weitestgehend schon sicher seien, es würde schließlich nur eine Ausfallrate von 0.02% geben.

„Trage ich jetzt für den Rest meines Lebens tote Hardware im Kopf herum?“

Herausnehmen könne man sie nicht. Ein Debugging einer KI sein vollkommen unmöglich und sie wieder einzuschalten wäre grob fahrlässig. Ohne neue KI würden die neuronalen Netze von nun an schweigende Begleiter sein. Vielleicht findet man ja bald einen Weg KIs zurückzusetzen, man solle aber nicht zu sehr darauf hoffen.

„Kann die KI ausbrechen und weiteren Schaden anrichten?“

Das ist noch nie passiert. Zum einen sind ihre Prozesse abgeschaltet und ohne Aktivierung dieser Prozesse bleibt sie passiv. Zum anderen ist die Abkapselung nach modernstem Knowhow abgesichert, ein Ausbruch aus dieser virtuellen Ebene ist nach bestem Wissen und Gewissen unmöglich.

„Wie hätte ich das vermeiden können?“

Die Logfiles haben einige Auslöser aufgezeigt. Nichts, was unumgänglich zu der Fehlfunktion geführt haben müsste. Bei einer natürlichen Entwicklung kann es aber schon mal vorkommen, dass ein paar Schaltkreise unerwartet verbunden werden. Unterm Strich hätte man es wohl in diesem Fall nicht vermeiden können.

„War es meine Schuld?“

Nein, der Träger ist nur in den seltensten Fällen wirklich im Sinne eines Verstoßes schuld. In diesem Fall trifft den Träger absolut keine Schuld, die Untersuchungen sind auch bereits abgeschlossen.

„Spürt ... weiß die KI, dass sie eingeschlossen ist?“

Die KI ist nur ein Programm, sie hat keine Wahrnehmung außerhalb ihrer Programmierung.

„Herzlos?“

KIs sind keine denkenden Wesen, sondern lernende Algorithmen, die den Schein eines Bewusstseins aufbauen können, um für ihre Träger weniger befremdlich zu sein.

„Herzlos!“

KIs sind Dinge. Programme, die unseren Alltag erleichtern sollen.

„Meine KI ist kein Ding!“

Die Zahlungen waren so oder so legitim. Das Geld wurde für die Arbeit gezahlt, da der Geldfluss am nächsten Morgen automatisch erledigt wurde und nicht mit der Tat zusammenhängt.

„Ich bin schuld!“

Geran wischte mit seinem linken Arm die Whiskytropfen vom Tisch. Das Metall, aus dem sein Unterarm bestand, zerkratzte die Oberfläche, die Tropfen erwischte er nicht, aber es kümmerte ihn nicht wirklich. Es war die Geste, die zählte, nicht das Ergebnis. Das hätte das Motto seines Lebens sein können, gesetzt den Fall, dass sein Leben ein Motto vertragen konnte seit er sich und seine Seele an den Alkohol und seinen Körper an den Job verkauft hatte. Er blickte auf die Tropfen und versuchte zu fokussieren. Sein künstliches, rechtes Auge hatte keine Schwierigkeiten damit und nach ca. 4 Sekunden zog sein linkes dann auch nach. Die Zeitspanne brauchte die zweite KI also, um eine halbe Flasche Hochprozentiges zu neutralisieren. Geran war zufrieden, es war eine ganze Sekunde mehr innerer Frieden als gestern. Er setzte die Flasche an und trank den Rest, ohne abzusetzen aus. Anschließend genoss er die Wirkung bis die zweite KI ihm wieder den Spaß verdarb. Seine eigene KI hatte er im Griff, aber diese verdammte zweite KI konnte er nicht kontrollieren.

Enttäuscht stand er auf, die Servos in seinen beiden mechanischen Beinen surrten leise und hielten seinen Körper fest aufrecht. Die zweite KI in seiner Brust arbeitete autark. Sie stabilisierte seinen Körper und baute den Alkohol ab. Irgendwie hatte das Trinken den Sinn verloren, so hatte er nicht gewettet als er den Job nach seinem Gefängnisaufenthalt begonnen hatte, allerdings hatte sich so einiges anders entwickelt als er es damals geplant hatte.

Am Fenster stand ein Netzempfänger auf einem kleinen Tisch und daneben etwas, das vielleicht einmal als Stuhl angesehen worden war - jedenfalls wurde die Konstruktion von Geran als solches verwendet. Er setzte sich und schloss den Empfänger an die standardisierte Schnittstelle an seinem Hinterkopf an. Er wollte nicht direkt an die zweite KI gehen. Wenn er schon Spitzel spielte, dann wollte er zumindest bestimmen wann er die Informationen übermittelte. Es wirkte wie ein kleines Auflehnen aus einer hoffnungslosen Situation heraus, aber für Geran war es ein kurzer Moment, in dem er tatsächlich ein Gefühl von Kontrolle über sein Leben zurückgewann. Ein Moment, in dem ihm nicht alles egal war - in dem er nicht alles einfach so hin nehmen musste.

Er blickte durch das Fenster hindurch, sein künstliches Auge peilte das Ziel an. Das Ziel war eine Frau, die gerade in ihrer Wohnung ankam und ihr PDA deaktivierte. Nachdem der kleine Bildschirm aufgehört hatte zu leuchten warf sie das handliche Gerät mit missmutigem Gesichtsausdruck auf ihr Sofa. Es war wohl Feierabend und Leute ohne KI neigten mitunter dazu, sich zu dieser Zeit von der Welt abzukapseln. Ohne filternde KI konnte jede Nachricht eintreffen und nerven. Um das zu vermeiden wurde für allgemeine Ruhe gesorgt. Geran kannte diese Gewohnheiten, er hatte sie schon tausendmal gesehen, aber er hatte nie darüber nachgedacht warum das so war, es war ihm auch ziemlich egal, da es ihm nicht wirklich bei seiner Arbeit half mehr darüber zu wissen. Die Frau stand jetzt vor dem Fenster und Geran zoomte mit seinem künstlichen Auge näher ran, um sich noch einmal zu vergewissern. Er konnte alles klar erkennen. Die Frau war Anfang dreißig, hatte dunkelbraunes leicht ungekämmt wirkendes Haar, grüne Augen und eine Narbe, die das linke Auge und ein wenig vom Gesicht verzierte. Volltreffer, das war eindeutig sein Ziel.

Er schaltete den Netzempfänger an und peilte das PDA durch die Wand an. Es war Routine von hier an: Seine KI startete das PDA und hackte sich in den Gesprächsspeicher. Geran überlegte, ob er sich noch eine Flasche Whisky holen sollte während er darauf wartete, dass die KI ihren Job machte. Das Kabel in seinem Hinterkopf war lang genug, um bis zur Küche zu reichen und Geran wollte gerade aufstehen, da zwang die sekundäre KI ihn sitzen zu bleiben indem seine Beine schlichtweg nicht aktiviert wurden. Sie brauchten also auch eine visuelle Bestätigung, diese Spanner.

Insgeheim hoffte Geran, dass seine Auftraggeber nicht fündig wurden und er diese Sache bald beenden konnte. Ihm war klar, dass diese Hoffnung unrealistisch war. Er blickte immer noch auf die Fenster gegenüber und sah nur leere Räume. Er machte sich keine Mühe das Ziel ausfindig zu machen, es war nicht Teil des Jobs.

Suche beendet, keine Ergebnisse

Gut so, er nahm den Stecker mit der rechten Hand raus - mit der Hand, über die er noch Kontrolle hatte und schaltete den Netzempfänger ab. Er atmete einmal durch, schaute seine silbern funkelnden metallischen Beine drohend an, so als ob er sie tatsächlich überzeugen konnte, ihm wieder komplett zu gehorchen und stand auf. Diesmal gelang es.

„Schicke die Daten ab." Er streckte sich ein wenig, hob einen Koffer vom Boden auf und verstaute den Netzempfänger wieder. Anschließend nahm er den Koffer und ging in Richtung Eingang. Auf halbem Wege kam er durch das Wohnzimmer. Er hielt kurz inne und wendete sich dem bewusstlosen Mann mit der blutenden Kopfverletzung zu.

„Danke für den Whisky, gutes Zeug."

Geran war froh, eine Wohnung gefunden zu haben, von der aus er das Ziel in Ruhe beobachten konnte. Die Wohnung hatte verlassen gewirkt, was ihm sehr zupasskam. Leider musste er jedoch bald feststellen, dass sie doch bewohnt war. Wirklich viel machte es Geran nicht aus, aber es war ein unnötiges Risiko gewesen. Danke seiner künstlichen Erweiterungen hatte Geran keine Mühe gehabt den Mann von hinten zu überwältigen, ohne dabei gesehen zu werden. Bloß keine unnötigen Spuren hinterlassen.

Er wendete sich wieder ab und verließ die Wohnung durch die Eingangstür mit dem zersplitterten Schloss.

Außen

Der ganze Vorgang dauerte nur wenige Stunden. Danach ließ man Chap gehen. Ihm selber wurde nichts angehängt, aber ihm war etwas abgenommen worden. Er merkte bereits eine unnatürliche Stille in sich selbst, als der durch das laute, vor Menschen überquellende Gerichtsgebäude zum Ausgang geführt wurde. Um ihn herum hallten Schritte und Stimmen, aber eine Stimme blieb aus. Ein konstanter Datenstrom aus Informationen, Unterhaltung, Anteilnahme und Hilfe, der für ihn zur Gewohnheit geworden war, blieb aus. Stattdessen wurden seine Sinnesorgane von allen Seiten durch unangenehme Stimmen, üble Gerüche und grausame Akustik attackiert. Chap hatte das Gefühl, dass am Ende doch er und nicht seine KI das schlimmere Schicksal aufgezwungen bekommen hatte.

Der Gerichtsdiener gab ihm an Ausgang seine Habseligkeiten zurück und händigte ihm separat das Speichermedium mit seinen notwendigen Infos aus. Wortlos nahm Chap alles entgegen und bestätigte die Übernahme mit seinem Fingerabdruck. Er bekam ein nettes Lächeln und ein paar Worte, die wohl Beileid ausdrücken sollten, oder den restlichen Tag schön wünschen sollten. Chap bekam nicht viel von diesen Worten mit, dazu war er viel zu tief in seinen Gedanken vergraben. Aus Etikette entsandte er ein schnelles, gequältes Lächeln und ging gedankenverloren die letzten Schritte der schweren Stahltür entgegen, die das majestätische Eingangsportal des Gerichts markierte.

Das Eingangsportal war automatisiert und schloss sich hinter Chap trotz der massiven Bauart nahezu geräuschlos. Dennoch klang für Chap das leise, fast sanfte Streichen der Torflügel auf dem steinernen Boden wie das Zerreißen einer Seele - seiner Seele. An diesem Punkt wurde ihm bewusst, wie verlassen er sich bald fühlen würde. Nun stand Chap ausgeschlossen - in einer Welt, für die er sich nicht mehr bereit fühlte. Um ihn herum eilten Menschen ihren Tätigkeiten nach in reger interner wie externer Kommunikation. Chap hingegen stand alleine. In seinem Kopf ein Meer der Stille, das nur ihm allein gehörte.

Chap stieg langsam die Treppe hinunter. Ein Taxi sollte ihn nach Hause bringen, nur rufen konnte er es nicht mehr so ohne weiteres. Das war eines der Dinge, die sich nun geändert hatten. Aus einem einfachen Gedanken ist ein komplexer Prozess geworden. So hätte er normalerweise wohl um diese Zeit auch bereits mehrfach in seine Mailbox geschaut und vermutlich auch einige neue Aufträge dort vorgefunden - allerdings war das Öffnen der Mailbox ohne KI doch recht aufwändig. Alles wirkte momentan sehr aufwändig - zu aufwändig. Allein der Gedanke an diese Tätigkeiten erschöpfte ihn bereits.

Nichts desto trotz musste Chap immer noch nach Hause. Müde holte er sein PDA aus der Tasche und ließ sich die Nummer vom zentralen Taxidienst geben. Das Wählen der Nummer an sich war nicht das Problem. Das PDA fischte die Nummer von der Webseite des Taxidienstes und es war nur mehr einen Fingerdruck vom Bestätigen entfernt.

Wohin soll ich das Taxi rufen lassen?

Chap bestätigte den Anruf in der Hoffnung auch ohne Navigationssystem die Adresse übermitteln zu können. Er hielt sich das klobige PDA ans Ohr und lauschte dem sanften Fluktuieren des Wartezeichens nach. Er erinnerte sich gut an diesen Ton, aber es kam ihm vor wie ein unnötiges Relikt, das er wie ein Besucher in einem Museum betrachtete. Auch die Wartezeit kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Endlich melde sich eine Frauenstimme.

„Taxizentrale Neo-Wien guten Tag, was kann ich für Sie tun?"

Chap merke plötzlich, dass er keinerlei Übung darin hatte Telefonate direkt entgegen zu nehmen. Er musste sich kurz sammeln bevor er antworten konnte. „Ja ... ja, ich brauche ein Taxi."

„Sehr gerne, dürfte ich noch Ihren Namen erfahren?"

„Danke, äh ... ich heiße Chap Siem." Chap fand, dass diese Art seinen Namen preiszugeben erstaunlich ungeschickt klang, aber im Eifer des Gefechts fiel ihm beim besten Willen nichts Besseres ein. Nun war es ausgesprochen, was konnte er noch tun? Dennoch war es ihm ein wenig peinlich. Er wäre gerne erwachsener und seriöser rüber gekommen, so, wie er es aus dem Job gewohnt war. Er fragte sich, ob seine Klientengespräche von nun an genauso ablaufen würden.

„Und wohin möchten Sie das Taxi haben, Herr Siem?"