Lockende Versuchung - Sina Kani - E-Book

Lockende Versuchung E-Book

Sina Kani

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Beschreibung

Torie Simmons betreibt in der kleinen Stadt Pleshette, Nevada, einen Frisiersalon, der immer schlechter läuft. Die Schulden bei der Bank häufen sich, und Torie droht ihren Salon zu verlieren. Da taucht plötzlich die attraktive Delia Cavanaugh auf, eine Anwältin aus Las Vegas, die einen Auftrag in Pleshette zu erledigen hat. Obwohl Torie sich von Delia angezogen fühlt, will sie sich zuerst nicht auf sie einlassen, aber Delias Charme kann sie nicht lange widerstehen. In der nächsten Zeit scheint es für Torie gut zu laufen, der Salon brummt auf einmal, sie kann ihre Schulden abbezahlen. Doch als sie herausfindet, dass Delia und ihre steinreiche Familie hinter dem plötzlichen Boom stecken, wendet sie sich wutentbrannt ab, denn ihr Stolz verbietet es, solche Almosen anzunehmen. Sie reißt alle Brücken hinter sich ein und verschwindet, aber Delia gibt nicht auf, sie zu suchen ...

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Sina Kani

LOCKENDE VERSUCHUNG

Roman

© 2020édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-305-0

Coverfotos: iStock.com/WouterKrom

1

Torie stand mit verschränkten Armen an einem der Fenster ihres Frisiersalons und blickte hinaus. Nichts los heute, wie so oft. Für permanent blühende Geschäfte war Pleshette, diese kleine Stadt im heißen Nevada, einfach nicht groß genug.

Glücklicherweise gab es immer noch genügend Frauen, die sich bei ihr die Haare machen ließen, sodass sie ihre Rechnungen bezahlen konnte – wenigstens meistens, im Moment sah es damit nicht so gut aus –, aber viele der Einwohnerinnen von Pleshette waren schon älter, und die gingen dann auch lieber zu älteren Friseurinnen, zu denen, die sie schon ihr Leben lang kannten.

Und die weniger auffällig gestylt waren als Torie mit ihren magentaroten Haaren. Die Kundinnen wollten sich in der Frau, die ihnen die Haare frisierte, wiederfinden, und so viele junge Mädchen, für die Torie ein erstrebenswertes Vorbild gewesen wäre, weil sie genauso aussehen wollten wie sie, gab es in Pleshette nicht.

Sobald sie alt genug waren, die Stadt zu verlassen, taten sie das meistens auch. Gingen nach Reno oder, wenn sie sehr mutig oder abenteuerlustig waren, nach Las Vegas. Manche auch auf das Nevada State College in Henderson, der zweitgrößten Stadt Nevadas, die nur etwa zwanzig Kilometer südlich von Las Vegas lag, aber wesentlich ruhiger war. Dort gab es auch Chemieindustrie und damit die Arbeitsplätze, die in Pleshette fehlten.

Während sie so vor sich hinträumte und kein Ton der Eingangsklingel, die neue Kundinnen angekündigt hätte, sie dabei unterbrach, nahm sie plötzlich aus dem Augenwinkel eine Bewegung in der Seitenstraße wahr. Sofort fühlte sie sich hellwach. Hier in Pleshette passierte so wenig, dass jeder Neuankömmling eine Sensation war. Und das war diese Gestalt bestimmt: ein Neuankömmling, denn Torie hatte sie noch nie gesehen. Zudem war die Frau auch viel zu städtisch gekleidet, um mit einer der üblichen Einwohnerinnen von Pleshette verwechselt werden zu können.

Nicht nur städtisch, sondern auch teuer, stellte Torie mit einem zweiten Blick fest, als die Frau auf dem Bürgersteig näherkam. Das war kein Hosenanzug von der Stange, den die hochgewachsene Besucherin der Stadt da trug. Sie musste mindestens eins achtzig groß sein, denn hochhackige Schuhe sah Torie nicht unter ihren Hosenbeinen hervorblitzen. Höchstens ein kleiner Absatz, etwas höher als bei einem Männerschuh. Ob die breiten Schultern von Polstern im Jackett oder vom Fitness-Studio stammten?

Torie fühlte ein leises Kribbeln in sich. Sie mochte Frauen, die sich Muskeln antrainiert hatten. Aber bei so einem gutgeschnittenen Anzug konnte man nie wissen. Der konnte einiges kaschieren.

Die Frau blieb stehen und blickte an dem Gebäude hinauf, in dessen Erdgeschoss Tories Frisiersalon untergebracht war. Darüber lag ihre Wohnung, und genau die schien die Frau zu interessieren, denn ihr Blick verweilte länger darauf.

Was sie wohl will? dachte Torie. Selbst wenn sie nach einer Wohnung suchte, würde dieses heruntergekommene Gebäude wohl kaum zu ihr passen. Und warum sollte sie überhaupt nach einer Wohnung suchen? Leute wie diese Frau, die sicher einen gutbezahlten Job in Reno oder Henderson hatte, hatten keinerlei Bedürfnis, stattdessen in Pleshette zu wohnen. Und keinerlei Geschäfte hier.

Außer natürlich – Plötzlich fuhren heiße Schauer über Tories Haut. Ja, sie hatte schon eine ganze Weile nicht mehr ihre Rechnungen bezahlt, und ihr Bankkonto war weit überzogen. Aber Geldeintreiber oder in diesem Fall wohl eher Geldeintreiberinnen sahen normalerweise nicht so aus.

Sie verzog das Gesicht. Wusste sie denn wirklich, wie so jemand aussah? Bisher hatte sie noch nie etwas mit solchen Leuten zu tun gehabt. Dadurch, dass sie als Mieterin in dieses unrenovierte Gebäude eingezogen war, selbst einiges angestrichen, repariert und aufgemöbelt hatte, bis sie zumindest ihren Laden aufmachen und damit Geld verdienen konnte, zahlte sie nur sehr wenig Miete für die beiden Stockwerke, die sie nutzte.

Wenn sie viele Kundinnen hatte, war die Wasserrechnung zwar recht hoch ebenso wie die Stromrechnung, aber auch das hatte sie bis vor einiger Zeit immer treu und brav bezahlt. Würden sie ihr wegen so einer kurzen Verzögerung – nun ja, musste sie zähneknirschend zugeben, mittlerweile waren es schon drei Monate – ein Inkassobüro schicken?

Nein, beschloss sie, selbst wenn sie jemanden schicken würden, würde der garantiert nicht so aussehen wie diese Unbekannte hier vor ihrer Haustür. Sie studierte immer noch aufmerksam die Fassade des Gebäudes, insbesondere das Wohngeschoss im ersten Stock. Da musste sie etwas besonders interessieren.

Dunkler Anzug, dunkles Haar, dunkler Blick. Diese Kombination erinnerte Torie an gewisse smarte Rechtsanwältinnen in gewissen Fernsehserien, die immer so einen gewissen Hauch von lesbisch hatten, es zum Schluss aber dann meistens doch nicht waren. Auf der anderen Seite . . . In letzter Zeit hatte es zugenommen, dass sie es waren.

Ihr Puls beschleunigte sich, als sie die fremde Frau nun noch eingehender betrachtete. Vielleicht hatte sie sich nur verfahren. Aber dann war es merkwürdig, dass nirgendwo ein Auto zu sehen war, ihr Auto. Sicher ein deutscher oder englischer Sportwagen. Außerdem würde diese Frau doch nicht so interessiert die Fassade eines nicht sehr beeindruckenden Hauses mustern, das absolut nichts Besonderes vorweisen konnte, wenn sie nur die falsche Abzweigung genommen hatte.

Irgendwie hatte Torie das Gefühl, das hätte auch gar nicht zu dieser Fremden gepasst. Sie wirkte eher wie jemand, der jederzeit wusste, was er tat oder tun musste. Ein ziemlich entschlossener Gesichtsausdruck.

Torie legte leicht den Kopf zur Seite. Sollte sie hinausgehen und selbst überprüfen, ob es sich hier nicht vielleicht doch um eine überraschende abendliche Zwangsräumung handelte? War das der Grund, warum sie jetzt wie ferngesteuert zur Eingangstür des Frisiersalons ging und sie öffnete?

Das Klingeln des Glöckchens brachte die große Dunkelhaarige dazu, ihr Gesicht in Richtung des Geräuschs zu wenden und Torie anzublicken, als die nun hinaus auf die Straße trat. Dieser Blick nahm Torie fast den Atem. Zwar hatte sie das markante Gesicht schon von innen heraus betrachtet, aber ohne eine Glasscheibe dazwischen sah es noch . . . attraktiver aus. Auf einmal hatte sie das Gefühl, dass die Frau, die sie jetzt fragend und auch irgendwie interessiert anblickte, ihren hämmernden Herzschlag hören musste. Was war nur mit ihr los? So eine Reaktion hatte schon lange keine Frau mehr in ihr ausgelöst.

Wie vom Blitz getroffen stand sie da und brachte zuerst einmal keinen Laut hervor. Es war so still, als müsste gleich etwas passieren. Und das tat es auch. Das Glöckchen des Frisiersalons klingelte erneut, als die Tür wieder ins Schloss fiel. Torie zuckte zusammen, als hätte es ihr damit gleichzeitig einen Schlag versetzt.

Sie riss sich am Riemen. Du meine Güte! So attraktiv war diese Frau auch wieder nicht. Obwohl sie innerlich vor sich selbst zugeben musste, dass das wohl eher eine Schutzbehauptung war. Wie sie gerade vor ein paar Minuten – oder waren es nur Sekunden gewesen? Sie hatte irgendwie den Bezug zur Zeit verloren – festgestellt hatte, war sie attraktiv. Sehr attraktiv.

Torie räusperte sich. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie. »Suchen Sie irgendetwas?«

Die Fremde zog die Augenbrauen hoch. »Was sollte ich denn suchen?«

Irritiert runzelte Torie die Stirn. »Woher soll ich das wissen?«, fragte sie weit gereizter, als sie es beabsichtigt hatte, zurück. »Ich dachte nur, Sie sind fremd hier und . . .« Mit einem unwilligen Herumwerfen ihrer Haare schüttelte sie den Kopf. Da will man nur helfen, und dann so was! »Entschuldigen Sie bitte die Belästigung«, stieß sie kurz und knapp hervor, drehte sich ruckartig um und marschierte wieder in ihren Salon zurück, wobei sie das Glöckchen am liebsten festgehalten hätte, das so fröhlich bimmelte, als wollte es ihr mitteilen, sie hätte gerade im Lotto gewonnen.

Sie überlegte, ob sie den Salon abschließen sollte – heute kam ja wahrscheinlich sowieso niemand mehr –, aber es war zu spät, eine Entscheidung zu treffen. Die hatte ihr die Fremde, die sie nun gar nicht mehr so attraktiv fand, unverschämt, wie sie gewesen war, schon abgenommen, indem sie hinter Torie den Salon betrat.

»Sie haben mich nicht belästigt«, sagte sie. »Und ich glaube, ich muss mich entschuldigen.« Sie lächelte leicht, aber es war ein sehr zurückhaltendes Lächeln. Als ob sie es nicht so richtig gewöhnt wäre. »Ich war schon lange nicht mehr in einer so kleinen Stadt, wo die Menschen sich wahrscheinlich tatsächlich noch gegenseitig helfen.«

»Allerdings. Das tun wir«, schnappte Torie. »Aber ich will mich nicht aufdrängen.«

»Das haben Sie nicht.« Die Dunkelhaarige schaute sich neugierig in Tories Frisiersalon um. »Sind Sie hier angestellt?«, fragte sie.

Abwehrend verschränkte Torie die Arme. Was bildete diese Kuh sich eigentlich ein? »Nein, ich bin die Besitzerin«, korrigierte sie. Mit einem tadelnden Blick fuhr sie über die Gestalt, ein Blick, der ihr zeigen musste, wie sehr sie hier störte. »Torie Simmons, wenn Sie erlauben.«

Die Fremde lachte. »Oh, ich erlaube. Ich erlaube alles.« Sie neigte leicht den Kopf. »Und verzeihen Sie meine Unhöflichkeit, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Delia Cavanaugh.« Erneut neigte sie den Kopf. »Von Bergman, Cavanaugh und Perrine. Anwaltskanzlei Las Vegas.«

»Dann lag ich ja gar nicht so falsch«, murmelte Torie vor sich hin.

Fragend öffnete Delia Cavanaugh die Augen und schaute sie an. »Falsch womit?« Sie hatte offensichtlich gute Ohren.

»Oh, gar nichts«, sagte Torie, der es auf einmal peinlich war, dass ihr Delia Cavanaugh immer noch wie eine dieser Anwältinnen aus dem Fernsehen vorkam.

Nun, da sie ihr ausgesprochen beeindruckendes Parfüm roch, sogar noch mehr. Es strahlte so etwas von Selbstsicherheit aus, von gutbezahlter Selbstsicherheit. Wenn man viel Geld verdiente, kam das wohl mit dem Job. Bestimmt war sie auch auf ein teures College gegangen, das ihr diesen Job ermöglicht hatte. Und dieses teure College hatte eine Familie bezahlt, die sich das leisten konnte.

Tories Familie hatte sich so etwas nicht leisten können, deshalb war sie nach der High School sofort im ersten Job gelandet, weil sie schnell Geld verdienen musste, allerdings sicherlich wesentlich weniger als diese Dame hier. Die würde dafür wahrscheinlich noch nicht einmal einen Finger heben.

Ihr Blick schweifte fachkundig, aber nicht sehr interessiert über Delias kurze, garantiert von einem Sterne-Friseur gestylte Locken. »Einen Friseurtermin brauchen Sie nicht«, stellte sie fest. Sie blickte wie nebenbei auf die Straße hinaus, die immer noch genauso leer dalag wie zuvor. »Dann würde ich jetzt zumachen. Es wird wohl niemand mehr kommen.«

Delia lachte leise. »Sie wollen mich loswerden.«

»Dazu müsste ich Sie ja erst einmal kennen«, erwiderte Torie spitz. »Und ich kenne Sie nicht.«

»Aber wir könnten uns vielleicht kennenlernen«, meinte Delia etwas amüsiert. »Gibt es so etwas wie ein Café in diesem . . .«, sie räusperte sich, »in dieser Stadt?«

Es war Torie absolut nicht entgangen, dass sie hatte Kaff sagen wollen, und genau das brachte Torie erneut auf die Palme. Einbildung ist auch ’ne Bildung, dachte sie. Aber bei mir kommst du damit nicht an. »Sicher keins, das Ihren Ansprüchen genügt«, blaffte sie Delia Cavanaugh abweisend ins Gesicht wie ein kleiner Hund, der einen größeren ankläfft, um ihm zu beweisen, dass er keine Angst vor ihm hat. »Und jetzt erlauben Sie bitte, dass ich abschließe.« Mit schnellen Schritten ging sie an ihrer unerwünschten Besucherin vorbei und öffnete demonstrativ die Tür. »Bitte«, wiederholte sie noch einmal, während sie mit einem Arm hinauswies.

Delia schmunzelte. »Na, das nenne ich einen Rausschmiss.« Gemächlich kam sie auf Torie zu und schlenderte förmlich an ihr vorbei halb durch den Türrahmen, wo sie sich noch einmal zu ihr umdrehte. »Eine Frage noch. Sie wissen nicht vielleicht, ob jemand den Schlüssel zu der Wohnung im ersten Stock hat?«

Torie blieb fast der Mund offenstehen. »D-doch«, stammelte sie endlich. »Ich. Ich wohne da.«

Auf einmal schien Delias Blick sich zu verändern. »Ach, Sie wohnen da?« Sie wies mit ihrer Hand hinauf. »Da oben?«

»Ja«, bestätigte Torie. »Ist praktisch. Weil der Laden ja hier unten ist.« Warum erklärte sie das alles? Hatte diese . . . Delia irgendein Anrecht darauf?

»Ja, natürlich. Das ist praktisch«, wiederholte Delia ein bisschen nachdenklich.

Was zum Teufel geht sie das an? dachte Torie. Delia Cavanaugh hatte die letzten Sätze so ausgesprochen, als ob sie ein weitergehendes Interesse an Tories Wohnung hätte. Auf einmal wurde Torie ganz kalt. »Sind Sie . . .« Sie räusperte sich. »Sind Sie irgendwie mit dem Nachlass von Henry Pleshette betraut?« Daran hätte sie gleich denken sollen, als Delia Cavanaugh sich als Anwältin vorgestellt hatte.

Delia Cavanaugh nickte. »Ja«, bestätigte sie knapp, ohne sich weiter dazu zu äußern.

Die Stadt Pleshette hieß nicht umsonst so. Das meiste davon gehörte tatsächlich der Familie Pleshette, deren Vorfahr, ebenfalls ein Henry Pleshette, die Stadt gegründet und ihr seinen Namen gegeben hatte. Jeder älteste Sohn hatte daraufhin den Namen Henry erhalten, und im Laufe der Zeit war nicht nur die Anzahl der Familienmitglieder, sondern auch deren Reichtum gewachsen. Wenn es eine Nachfolgefamilie für die Cartwrights aus Bonanza hier in Nevada gab, dann waren es die Pleshettes.

Der alte Henry Pleshette war vor einigen Wochen gestorben, und da auch das Haus, in dem Torie wohnte und ihren Salon betrieb, ihm gehört hatte, hatte sie schon erwartet, dass irgendetwas passieren würde. Aber dann war erst einmal nichts passiert. Vielleicht hätte sie nicht so früh erleichtert aufatmen sollen.

»Wer hat geerbt?«, fragte sie und verschränkte die Arme. »Claire?«

Schon bei der Nennung des Namens zog sich ihr Magen zusammen. Claire Pleshette war der letzte Mensch auf der Welt, den sie wiedersehen wollte. Als Torie hier in Pleshette aufgewachsen war, hatte es Claire immer wieder ein teuflisches Vergnügen bereitet, sie zu beschimpfen und niederzumachen, ihr zu zeigen, wie viel Geld und Bedeutung die Familie Pleshette besaß und dass keins von beidem auf Tories Familie zutraf. Wie wertlos sie, die die abgelegten Kleider anderer tragen musste, weil ihre Familie kein Geld hatte, neue zu kaufen, war. Dass Claire alles mit ihr tun konnte, was sie wollte und wann immer sie es wollte, und Torie sich nicht dagegen wehren konnte.

»Sie kennen sie?« Delias helle Augen bildeten einen interessanten Kontrast zu ihrer Haarfarbe, aber leider hatte Torie dafür im Moment keinen Blick mehr übrig.

Sie atmete tief durch. »Ja, ich kenne sie«, entgegnete sie mit einer so neutralen Stimme wie möglich, obwohl die Wut auf Claire, die sie schon vergessen geglaubt hatte, wieder in ihr hochstieg. »Wir sind hier zusammen aufgewachsen.« Hohl lachte sie auf. »Wenn man das so sagen kann.«

»Ist Claire nicht ein bisschen älter als Sie?« Prüfend blickte Delia sie an.

»Hmhm.« Torie nickte. »Sie hatte aber nie etwas dagegen, kleinere Kinder zu schlagen und zu treten, wenn sie die Gelegenheit dazu bekam.«

Wurde diese hartgesottene Anwältin da etwa bleich unter ihrer braungebrannten Haut? Torie wunderte sich. Man sollte doch meinen, dass Anwälte Schlimmeres gewöhnt waren.

»Sie hat Sie geschlagen?«, wiederholte Delia jedoch tatsächlich ungläubig.

Torie zuckte die Schultern. »Mich und andere. Man konnte ja nicht zurückschlagen. Sie war eine Pleshette.« Sie winkte ab. »Aber das ist Kinderkram. Sie ist schon lange nicht mehr hiergewesen. Ihr Geburtsort bietet nicht genügend . . . Abwechslung für sie. Und um ihre Erbschaft anzutreten, muss sie sich auch noch nicht einmal herbemühen. Dafür hat sie Sie geschickt.« Ihre Augen blitzten Delia an. »Sie hatte immer schon für alles ihre Leute.« Als Delia nicht antwortete, wuchs die Wut in Torie noch mehr an. »Weshalb sind Sie gekommen?«, stieß sie heftig hervor. »Um die Miete zu erhöhen? Oder wollen Sie das Haus gleich abreißen und einen Wolkenkratzer hier hinsetzen?« Sie lachte trocken auf. »Wie unsinnig das auch immer in Pleshette wäre.«

Auf einmal schien Delia sich gefangen zu haben. »Da haben Sie recht. Das wäre unsinnig«, bestätigte sie nur lässig. »Es geht lediglich darum, den Nachlass erst einmal zu sichten.«

»Wie schade, dass der alte Henry keinen Sohn hatte«, schleuderte Torie ihr immer noch aufgebracht entgegen. »Nun wird der Besitzer von Pleshette seit Generationen zum ersten Mal nicht Henry Pleshette heißen.«

»Wie ich hörte, hat er das sehr bedauert«, stimmte Delia zu. »Aber es ist nun einmal nicht zu ändern.«

»Jetzt jedenfalls nicht mehr«, bemerkte Torie beißend. »Wo er tot ist.«

Delias Mundwinkel hoben sich leicht. »Wollen Sie nicht vielleicht doch einen Kaffee mit mir trinken gehen? Sie sind hier in der Stadt aufgewachsen. Sie wissen viel mehr darüber als ich. Sie könnten mir doch sicher einiges über die Gebäude und Geschäfte hier erzählen.«

»Damit Sie sie abreißen oder renovieren und die Miete maßlos erhöhen können, sodass kein Einheimischer es sich mehr leisten kann, darin zu wohnen?«, fragte Torie bissig. »Nur noch irgendwelche Weekender aus Vegas, deren Häuser dann unter der Woche die ganze Zeit leerstehen, die nicht hier leben und einkaufen und alle Geschäfte pleitegehen lassen?« Sie nickte grimmig. »Das würde zu Claire passen.« Erneut blitzten ihre Augen Delia an. »Und Sie sind ja ihre Anwältin.«

Delia schien zu schmunzeln, unterdrückte es aber. »Da haben Sie etwas falsch verstanden«, erwiderte sie gelassen. »Ich arbeite nicht für Claire Pleshette. Denn sie ist nicht die Erbin.«

»Nicht?« Das überraschte Torie jetzt doch sehr. Sie riss die Augen auf. »Aber wer dann? Der alte Henry hatte doch nur das eine Kind.«

»Ja«, bestätigte Delia. »Aber die Familie Pleshette umfasst noch mehr Mitglieder.«

»Ist nicht wahr.« Jetzt riss Torie nicht nur die Augen, sondern auch noch den Mund auf. »Der alte Henry hat sich dazu durchgerungen, irgendeinen Cousin ans Ruder zu lassen?«

Insgeheim konnte sie sich nicht dagegen wehren, eine klammheimliche Freude zu empfinden. Das war ja vielleicht ein Schlag ins Kontor für Claire. Das erste Mal in ihrem Leben wahrscheinlich, dass Daddy nicht alle Rechnungen bezahlte oder sie die Prinzessin war. Damit hätte Torie niemals gerechnet. Aber wenn jemand diese Demütigung – denn das war es – verdient hatte, dann Claire. So konnte sie dem Wort Demut zum ersten Mal seit ihrer Geburt endlich einmal wenigstens eine Bedeutung zuordnen. Bisher war es für sie eine völlig überflüssige Vokabel gewesen.

»Aber . . .« Sie räusperte sich, weil ihr doch noch eine Frage auf der Zunge lag, die Delia nicht beantwortet hatte. »Aber ganz mittellos wird er Claire ja nicht zurückgelassen haben, oder?«

Delia schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist gut für sie gesorgt«, erwiderte sie zurückhaltend. »Das einzige, was ihr entgeht, sind die Millionen aus den Silberminen hier um Pleshette herum, die ihre Familie reich gemacht haben und immer noch reicher machen.«

»Das ist allerdings der größte Anteil«, bemerkte Torie nachdenklich. »Alles andere ist ja verglichen damit sicher nur ein Taschengeld.«

»Ein sehr großzügiges«, ergänzte Delia trocken. Sie legte leicht den Kopf schief. »Es wundert mich, dass Sie sich so große Sorgen um Claires Wohlergehen machen. Wo sie Sie doch so schlecht behandelt hat.«

»Ach, das ist doch Schnee von gestern«, entgegnete Torie wegwerfend. »Mittlerweile sind wir schließlich alle erwachsen geworden.«

Delias Mundwinkel zuckten. »Das heißt, heute würden Sie zurückschlagen?«

Auch Torie konnte eine amüsierte Bewegung ihrer Lippen nicht unterdrücken. »Denken Sie, das wäre ein sehr erwachsenes Verhalten?«

»Kommt drauf an«, sagte Delia. »Ich bin nicht für Rache. Aber Gerechtigkeit – dafür habe ich schon was übrig. Deshalb bin ich Anwältin geworden.«

Unvermittelt brach Torie in einen Lachanfall aus. »Ist das Ihr Ernst? Kennen Sie nicht den Witz: Was ist ein Bus voller Anwälte, der mit drei freien Sitzen über eine Klippe fährt? – Platzverschwendung.«

Unangenehm berührt verzog Delia das Gesicht. »Natürlich kenne ich den. Jeder Anwalt kennt den.« Auf einmal änderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie wehrte sich offenbar gegen einen gewaltigen Krampf in ihren Mundwinkeln, weit mehr als zuvor. »Kennen Sie den? Was sind hundert Anwälte auf dem Meeresgrund? – Ein guter Anfang.«

Ein Glucksen entfuhr Tories Mund, bevor sie es verhindern konnte. »Ja, den kenne ich«, bestätigte sie dann jedoch mit noch einigermaßen beherrschter Stimme. Hm, erstaunlich, dachte sie gleichzeitig. Sie hat tatsächlich Humor. Hätte ich nicht gedacht. Fast als wäre es eine ganz natürliche Folge dieses Gedankens, lächelte sie Delia an. »Haben Sie immer noch Lust auf einen Kaffee? Ich hätte welchen. Im besten Café der Stadt. Nur eine Etage höher.«

Unwillkürlich wanderten ihre Augen beinah synchron mit denen von Delia zur Decke, und als sie das bemerkten, mussten sie beide lachen.

»Eigentlich wollte ich Sie ja zum Kaffee einladen«, meinte Delia dann ebenfalls lächelnd, wie Torie es zuvor getan hatte. »Aber ich hätte jetzt wirklich nichts gegen einen Kaffee, und vielleicht kann ich mich ja mal irgendwie revanchieren.«

Da wüsste ich schon was, dachte Torie, aber dann wandte sie sich schnell ab, weil sie Angst hatte, dass das Kribbeln auf ihren Lippen, als sie sich vorstellte, dass Delia sie küsste, sich auch auf ihre Wangen ausbreiten und sie rotfärben könnte. »Ich muss nur noch ein paar Sachen wegräumen«, behauptete sie schnell und ging nach hinten in den kleinen Lagerraum hinter dem Salon, in dem sie alles aufbewahrte, was sie für ihre Kundinnen brauchte, von Haarfarbe über Shampoo bis hin zu den Handtüchern und Umhängen, mit denen sie die Damen vor herunterfallenden Haaren oder auch zu großzügig aufgetragener Farbe schützte.

In dem Raum stützte sie sich kurz an einem der Regale ab und atmete tief durch. Wie war sie nur auf den Gedanken gekommen, Delia zum Kaffee einzuladen? In ihre Wohnung! Sie kannte sie doch überhaupt nicht. Außerdem gehörte sie zu den Pleshettes, mit denen Torie eigentlich nichts zu tun haben wollte.

Sie wollte sich aber auch nicht lächerlich machen, indem sie die Einladung jetzt wieder zurückzog. Wie sähe das denn aus? Vielleicht so, als ob sie Angst vor Delia Cavanaugh hätte? Nein, das konnte sie auf keinen Fall zulassen!

Entschlossen straffte sie ihre Schultern, fuhr sich kurz durch die Haare und ging wieder in den Laden zurück. »So«, verkündete sie lächelnd. »Alles fertig. Jetzt können wir hochgehen.«

Delia nickte, trat dann zur Seite, als Torie auf die Außentür zuging und sie öffnete, um sie hinauszulassen, und wartete auf dem Bürgersteig, bis Torie abgeschlossen hatte.

»Hier entlang.« Mit einer Hand wies Torie den Weg und ging dann auch gleich auf die Tür zu, die um die Ecke lag.

Als sie sie leicht aufstieß, lachte Delia erstaunt auf. »Es ist nicht abgeschlossen?«

»Nein.« Torie schüttelte den Kopf, ging hinein und wartete kurz, dass Delia ihr folgte. »Kaum jemand schließt hier seine Tür ab. Höchstens nachts. Tagsüber stehen eigentlich alle Türen offen.«

Beinah anerkennend verzog Delia die Lippen, als sie nun hinter Torie die Treppe in den ersten Stock betrat. »Ehrlich gesagt wird mir der Ort immer sympathischer.« Ihr Blick streifte Tories Po in der knackigen neongrünen Jeans, der sich vor ihr die Treppe hinaufbewegte. Nein, dachte sie. Dafür bist du nicht hier. Nimm dich zusammen!

Dennoch spürte sie, dass es ihr schwerfiel, das zu tun. Obwohl diese junge Frau sich manchmal stachlig wie ein Igel verhielt, hatte Delia schon nach kurzer Zeit bemerkt, dass da irgendetwas war, was sie an Torie Simmons anzog. Sie mochte vielleicht aussehen, als wollte sie auf einen Mardi-Gras-Ball gehen mit ihren Haaren, die ebenso farbenfroh waren wie ihre Kleidung, aber hinter dieser Fassade steckte mehr, als man auf den ersten Blick vermutete, davon war Delia überzeugt. Sie konnte es spüren.

»Dauert nur eine Minute«, sagte Torie in diesem Moment und betrat durch eine Tür auf dem oberen Absatz, die sie noch nicht einmal aufstoßen musste, weil sie ohnehin offenstand, die Wohnung. »Die Kaffeemaschine«, sie drehte sich lächelnd zu Delia um, »ist zwar ein älteres Modell, aber sie hat mich noch nie im Stich gelassen.«

Fast hätte Delia schlucken müssen. Schon beim ersten Mal, als sie dieses Lächeln gesehen hatte, hatte es etwas in ihr ausgelöst. Aber da war es in gewisser Weise noch eine Überraschung gewesen, weil Torie sich zuvor so abwehrend verhalten hatte. Jetzt war es fast schon so etwas wie eine liebe Gewohnheit. Was jedoch den Eindruck, den es auf Delia machte, nicht minderte. Eher im Gegenteil.

Als sie hinter Torie in den Flur trat, blieb sie erst einmal frappiert stehen. »Oh«, entfuhr es ihr ungewollt.

Torie lachte, während sie sich halb zurückwandte, weil sie bereits auf dem Weg in die Küche am anderen Ende des langen Ganges war. »Ich nehme einmal an, Ihr Büro ist etwas anders angestrichen?«

Delia musste schmunzeln. »Könnte man so sagen«, bestätigte sie und folgte Torie.

Die Wohnung passte zu ihrer Besitzerin. Vermutlich gab es hier keine einzige weiße oder auch nur beige oder dunkle Wand. Alles war in poppigen Farben gestrichen, sodass man fast das Gefühl hatte, man beträte einen Disneyfilm.

»Es war ziemlich heruntergekommen, als ich hier einzog. Und leider hatte ich kein Geld für teure Renovierungen«, erklärte Torie, die Kaffeepulver in einen Filter füllte und ihn dann in eine Maschine einhängte, die im Gegensatz zu der eher modernen Farbenpracht der Wände schwarz, erstaunlich alt und solide aussah. »Aber ich habe einen Freund, der ein Malergeschäft besitzt, und er hat immer wieder einmal halbleere Farbtöpfe übrig, die er mir überlassen hat. Deshalb«, sie machte eine allumfassende Armbewegung in die Wohnung hinein, »gibt es keine einheitliche Farbgestaltung.«

»Oh, das . . .«, Delia blickte sich kurz um, »stört gar nicht.«

»Ach nein?« Mit einer gewohnheitsmäßigen Bewegung nahm Torie eine Tasse aus einem Abtropfgitter an der Spüle und stellte sie neben die Maschine, die ein wenig angefangen hatte zu zischen. Dann fiel ihr anscheinend ein, dass sie zwei Tassen brauchte, und sie nahm eine zweite aus einem mit einem Tuch verhängten Regal aus Ziegelsteinen unterhalb des alten Tisches, dessen rohe Holzlatten mit einer Plastikfolie überzogen waren, um die Abstände dazwischen zu verbinden, damit nichts durch die Ritzen fallen konnte, und auf dem die Kaffeemaschine stand. Zweifellos diente er auch als Anrichte, da es sonst keine gab. Fast grinsend wandte sie sich dann wieder an Delia. »Sie sahen ziemlich überrascht aus, als Sie den Flur betraten.«

»Schon.« Delia nickte. »Aber das heißt nicht, dass ich es nicht mag. Das hier«, sie wies mit einer Hand auf ihren dunklen Anzug, »ist mein tägliches Leben, aber ich könnte nicht behaupten, dass ich etwas mehr Farbe nicht zu schätzen wüsste. Nur verlangen die Kunden einer Anwaltskanzlei Seriosität. Eine Farbgestaltung wie diese hier«, noch einmal blickte sie sich lächelnd um, »würde sie eventuell abschrecken.«

»Das heißt also, Sie halten mich für unseriös?« Tories Augenbrauen zogen sich unwillig zusammen.

»Aber nein!« Abwehrend hob Delia die Hände. »Das wollte ich damit nicht sagen. Warum sollte ein Frisiersalon nicht bonbonfarben sein? Und auch eine Wohnung in einem alten Gemäuer wie diesem kann davon nur profitieren.«

Auch wenn Torie so aussah, als würde sie ihr nicht ganz glauben, ließ sie das unkommentiert und wandte sich wieder der Kaffeemaschine zu. »Gleich fertig«, sagte sie. »Nehmen Sie Milch und Zucker?«

»Nein, schwarz.« Delia schüttelte den Kopf. Dann musste sie lachen. »Passend zu meinem Anzug. Also sind Farben vielleicht doch nicht so mein Ding.«

»Dachte ich mir«, meinte Torie etwas rätselhaft, ging zum Kühlschrank und nahm die Milch heraus, um sie neben die Kaffeemaschine zu stellen, wo schon eine Zuckerdose stand. »Ich nehme beides. Sonst ist mir Kaffee zu bitter.«

Und das passt wiederum zu dir, dachte Delia. Du bist süß. Warum sollte dein Kaffee es nicht auch sein? Doch auch diesen Gedanken sollte sie lieber unterdrücken, das war ihr klar. Das hier war kein Date, es war eine Art Geschäftsbesprechung, wenn man das so sagen konnte. Sie brauchte Verbündete hier in dieser Stadt, keine flüchtigen Affären, bei denen der Schuss zum Schluss dann nach hinten losging. Davon hatte sie genug gehabt.

»Bitte.« Torie überreichte ihr eine große, wild gemusterte Tasse mit pechschwarzem Inhalt. »Lassen Sie uns rübergehen in meinen«, sie lachte leicht, »Salon. Da ist es gemütlicher.«

Delia nahm die Tasse und nickte, ließ Torie dann an sich vorbeigehen, um sich von ihr den Weg zeigen zu lassen, und folgte ihr in ein Zimmer, das wohl niemand sonst außer seiner Besitzerin als Salon bezeichnet hätte. Es war ebenso farbenprächtig angestrichen wie der Rest der Wohnung, und dazu gab es noch verschiedene, nicht zueinander passende Möbel, die aussahen, als wären sie irgendwo als Einzelteile übriggeblieben oder würden vom Sperrmüll stammen, was dazu führte, dass sich ein paar weitere Farben und Farbschattierungen zu denen der Wände gesellten.

Torie ließ sich halb auf eine Art Sitzkissen fallen, das ungefähr die Form einer riesigen Birne hatte, in der sie regelrecht versank, und gab einen tiefen Seufzer von sich. »Das ist glaube ich das erste Mal heute, dass ich sitze«, verkündete sie dennoch recht fröhlich. Sie blickte zu Delia hoch. »Oh, Entschuldigung«, sagte sie. »Bitte suchen Sie sich irgendeinen Platz aus. Ich bin sehr unhöflich. Aber das ist so mein übliches Ritual, wenn ich aus dem Laden komme. Ich habe wohl vergessen, dass ich Besuch habe.«

»Ich will Sie absolut nicht in Ihren Gewohnheiten stören«, versicherte Delia ihr. Sie blickte sich um und entschied sich dann für einen breiten Flügelsessel, der entweder noch aus den Siebzigerjahren stammen oder ein Nachbau sein musste. Er hatte relativ kurze, sich nach links und rechts hinausspreizende Beine aus Chrom und die Sitzfläche war in etwa geformt wie eine geöffnete Muschel. Aber wenigstens versank man nicht ganz so tief darin wie in dem Sitzkissen, in dem Torie es sich gemütlich gemacht hatte.

Nun legte sie den Kopf schief, und auch wenn Delia jetzt saß, musste Torie immer noch zu ihr hochblicken, weil das tiefe Sitzkissen nicht höher als eine Matratze war, wenn man es durch seinen Körper zusammengedrückt hatte. »Das war es doch, was Sie wollten, oder?«, fragte sie.

Irritiert zog Delia die Stirn zusammen. »Wie meinen Sie das?«

»Als Sie auf der Straße standen, haben Sie immer wieder hier heraufgeschaut«, erklärte Torie und nahm genüsslich und lang einen Schluck von ihrem Kaffee, wobei sie fast die Augen schloss. »Ah, das tut gut«, bemerkte sie ganz versonnen. »So als ob Sie etwas suchen würden«, fuhr sie dann fort und schaute Delia plötzlich wieder an.

Wow, dachte Delia und war für einen Moment wie erstarrt. Bei einer künstlichen und zudem auch wohl kaum in der Natur vorkommenden Haarfarbe wie der von Torie konnte man schlecht auf die Augenfarbe schließen, und bisher hatten ihre Augen fast immer im Schatten gelegen. Nun sah sie sie zum ersten Mal wirklich. Sie waren dunkel. Dunkel wie die Nacht. Und doch blitzte etwas in ihnen wie Sterne. Wie funkelnde Diamanten am Firmament. Unauffällig schluckte sie. »Ja«, bestätigte sie und hoffte, dass ihre Stimme einigermaßen normal klang. Aber eigentlich hatte sie das schon bei vielen Gerichtsverhandlungen geübt. Deshalb gelang es ihr auch. »Ich muss eine Weile in Pleshette bleiben, um den Nachlass zu sichten, und da ich wusste, dass dieses Gebäude Henry Pleshette gehört . . . gehörte«, korrigierte sie sich, »dachte ich, ich könnte hier vielleicht mein Büro aufschlagen.« Sie lächelte leicht. »Ich hatte angenommen, die Wohnung wäre leer. Von unten sah es fast so aus, weil keine Vorhänge an den Fenstern sind.«

»Ach, Vorhänge.« Torie winkte ab. »Wer braucht so was schon?«

Delia lachte leicht. »Ja, da haben Sie recht. In dieser Stadt . . .«

»In dieser Stadt . . .«, nahm Torie den Faden schmunzelnd auf, »weiß sowieso jeder alles von jedem. Da nützen Vorhänge auch nichts.« Ihr Blick musterte Delia kurz sehr intensiv, dann wandte er sich ab, als hätte sie plötzlich etwas ausgesprochen Interessantes in einer Ecke des Raumes entdeckt.

Für einen Moment hatte Delia das Gefühl, etwas in ihr wäre in Brand geraten. Sie hätte sich dringend einen Feuerlöscher gewünscht. Um das Räuspern, das sie gebraucht hätte, um wieder sprechen zu können, zu kaschieren, lachte sie. »Vermutlich haben Sie recht«, sagte sie. »Ich bin in der Stadt aufgewachsen. Da gab es überall Vorhänge oder Jalousien.«

»Viele Geschäfte haben zugemacht in letzter Zeit«, erklärte Torie mit bedauernd gerunzelter Stirn. »Da wird es Ihnen leichtfallen, Büroräume zu finden.« Sie sah Delia jetzt wieder an, aber Delia hätte nicht sagen können, was sie dachte. »Es sei denn natürlich, Sie bestehen darauf, dass Sie unbedingt hier arbeiten wollen.«

Begütigend hob Delia eine Hand. »Ich bin überzeugt davon, dass ich etwas anderes finden werde. Wie Sie schon sagten, wird das wohl nicht allzu schwierig sein. Dieses Haus hier«, sie blickte zum Fenster hinaus, wo ein Teil des flachen Daches des gegenüberliegenden Gebäudes zu sehen war, »hat mir irgendwie gefallen. Ich mag alte Häuser. Häuser, die etwas zu erzählen, die eine Geschichte haben. Nicht diese modernen Glaspaläste, in denen man sich vorkommt wie in einem Gewächshaus.«

»Gewächshäuser haben durchaus ihre Berechtigung«, erwiderte Torie ernst. »Hier in dieser trockenen Gegend wüssten wir sonst kaum, wie wir überhaupt Gemüse ziehen sollten. Und gewisse Obstsorten mögen die Trockenheit auch nicht.« Sie zuckte die Schultern. »Man kann natürlich alles von woanders herholen, aber das wird dann teuer.«

Delia nickte. »Ja, ich habe das draußen vor der Stadt gesehen. Da gibt es ein großes Areal, wo sich ein Gewächshaus ans andere reiht.«

»Bill und Lorie Campbell.« Torie lächelte wieder. »Sie haben schwer darum kämpfen müssen, bevor da irgendetwas wuchs. Aber jetzt läuft es ganz gut.« Erschrocken blickte sie Delia an. »Sie wollen ihnen das doch nicht wegnehmen? Ich weiß, das Gelände gehört den Pleshettes –«

Energisch schüttelte Delia den Kopf. »Ich will niemandem etwas wegnehmen, das sagte ich doch schon. Ich bin nur hier, um den Nachlass zu sichten. Leider gab es da in der Vergangenheit«, sie räusperte sich diskret, »einige Unregelmäßigkeiten. Deshalb ist nicht so ganz klar, ob die Bücher überhaupt mit den tatsächlichen Gegebenheiten übereinstimmen. Das hat wohl schon lange niemand mehr überprüft.«

»Der alte Henry war immer der Meinung, er kann das alles ganz allein.« Torie zuckte die Schultern. »Er wollte sich nie in die Karten gucken lassen. Anwälte und Steuerberater hat er immer nur Halsabschneider genannt.« Sie hielt sich schnell die Hand vor den Mund. »Sorry, das wollte ich nicht sagen.«

»Wenn es so war?« Delia lächelte sie entspannt an. »Und ich kann mir das auch gut vorstellen. Ich habe ihn zwar nicht mehr kennengelernt, aber jemand, der praktisch eine ganze Stadt und den halben Staat Nevada besitzt, muss sich ja fast wie der König der Welt vorkommen.«

»Wahrscheinlich«, bemerkte Torie trocken. »Ich habe noch nie etwas besessen, deshalb kann ich das nicht beurteilen.«

Ein bitterer Unterton klang in ihrer Stimme mit, der Delia nicht entging. »Sie haben Ihren Frisiersalon«, widersprach sie. »Auch wenn Sie in diesem Haus Miete zahlen, ist der Salon ganz Ihr eigener. Sie haben ihm Ihren Stempel aufgedrückt, wie es niemand anderer hätte tun können.« Sie warf schmunzelnd einen Blick durchs Zimmer. »So wie auch dieser Wohnung. Damit haben Sie das Haus in Besitz genommen, auch wenn im Grundbuch etwas anderes steht.«

»Trotzdem könnten Sie mich jederzeit rauswerfen.« Tories Blick hatte auf einmal etwas Kaltes, das die Sterne in ihren Augen verdunkelte, fast zu Eiskristallen werden ließ. »Und auch wenn Sie behaupten, deshalb sind Sie nicht gekommen, kann sich das immer noch ändern.«

Was ist denn jetzt los? dachte Delia. Eben haben wir uns doch noch ganz harmlos unterhalten. »Ich versichere Ihnen –«, setzte sie an, wurde aber sofort von Torie unterbrochen.

»Sie können mir gar nichts versichern«, stellte sie mit einem messerscharfen Tonfall in der Stimme fest und stand erstaunlich elegant aus dem tiefen Sitzkissen auf. »Sie sind nur eine Handlangerin der Pleshettes. Sie haben nichts zu entscheiden. Das wird wohl Claire tun. Ach nein.« Sie fasste sich kurz an die Stirn, weil sie sich erinnerte. »Jemand anderer erbt ja. Aber ein Pleshette auf jeden Fall. Daran hat sich nichts geändert und wird sich auch nie etwas ändern.« Mit leicht schiefgelegtem Kopf wies sie zur Tür. »Ich denke, Sie finden den Weg hinaus.«

Delia hätte am liebsten verwundert den Kopf geschüttelt, aber sie unterließ es. Das hätte die Situation eventuell nur noch verschlimmert. »Natürlich«, sagte sie, nickte Torie noch einmal zu und drehte sich um.

Im Flur bemerkte sie, dass sie immer noch ihre Tasse in der Hand hielt, und auch Torie hatte es bemerkt und war ihr nachgekommen.

»Die können Sie mir geben«, sagte sie und streckte die Hand aus.

Mechanisch reichte Delia ihr ihre Tasse, zögerte kurz, setzte dann aber ihren Weg zu der offenstehenden Tür fort, die ins Treppenhaus führte.

Das war irgendwie irreführend, denn es suggerierte, dies hier wäre ein offenes, ein gastfreundliches Haus. Was es nicht war.

Als sie die Treppe hinunterschritt, warf sie keinen Blick mehr zurück, aber das Bild von Torie, wie sie mit einer Kaffeetasse in jeder Hand dastand und sie kalt anblickte, hatte sich ihr so tief eingeprägt, als wäre es in ihr Gehirn eingebrannt.

2

»Und warum, denkst du, ist sie wirklich hier?«, fragte Shanelle, Tories Hilfskraft, während sie einer Kundin die Haare wusch. Torie rief sie manchmal an, wenn der Kundenansturm zu groß war. Das war zwar schon lange nicht mehr geschehen, aber es ging auf die Feiertage zu, und da hatte sich der Laden auf einmal ganz unerwartet gefüllt.

»Wer kann das wissen?« Torie zuckte die Achseln und blickte in den Spiegel vor sich, in dem sich unter ihrem eigenen auch das Gesicht der Kundin spiegelte, deren Kopf sie gerade mit einer schicken Kurzhaarfrisur versah. »Du weißt doch, wie die Leute aus der Stadt sind. Die sehen überall Entwicklungspotenzial, wie sie das nennen. Im Klartext bedeutet das: abreißen und neu bauen. Größer, höher, hässlicher.«

Shanelle verzog das Gesicht. »Es ziehen immer mehr Leute weg. Wer soll dann in den Häusern wohnen?«

»Oh, da wird sich schon wer finden«, bemerkte Mrs. Kibbler, die als Immobilienmaklerin mehr über Häuser und Bewohner wusste als alle anderen. Ihre mit Permanent Make-up in eine schwungvolle Form gebrachten Augenbrauen hoben sich im Spiegel vor Torie.

Torie folgte ihrem Beispiel. »Sie haben etwas gehört?«

»Nun ja . . .« Eve Kibbler kräuselte die Lippen, als wäre da etwas, das sie wüsste, aber nicht sagen durfte. »Diese Delia Cavanaugh ist ja nicht allein gekommen. Da war noch ein junger Mann dabei . . .« Sie ließ den Satz genüsslich ausklingen, ohne ihn zu beenden.

»Und den hast du dir natürlich sofort geschnappt, Eve.« Diese amüsierte Bemerkung kam aus der Ecke mit dem Waschbecken, an dem Shanelle jetzt ein Handtuch um die Schultern der Kundin legte, damit das Wasser aus ihren Haaren nicht ihre schöne Bluse benetzte. »Wie könnte es anders sein?«

»Ach was.« Eve Kibbler winkte ab. »Er kam zu mir, weil ich den besten Überblick über die Immobilien hier habe. Sie dachten, ich hätte vielleicht Listen oder so etwas, die sie mit ihren vergleichen könnten.«

»Und? Hast du?«, fragte Marcia Haymes, die sich jetzt von Shanelle eine Zeitung reichen ließ, nachdem sie ihren Standort vom Waschbecken auf einen der Sessel vor den Spiegeln verlegt hatte.

»Natürlich habe ich«, entgegnete Eve und straffte selbstbewusst ihre Schultern. »Aber die gebe ich doch nicht einfach so raus. Das sind ja schließlich vertrauliche Geschäftsunterlagen.« Sie machte eine kleine Pause. »Jedenfalls nicht ohne Gegenleistung«, fügte sie dann mit zuckenden Mundwinkeln hinzu.

»Die kann ich mir schon vorstellen.« Marcia konnte nun, da sie genau am gegenüberliegenden Spiegel saß, Eve in ihrem Spiegel direkt anschauen. »Da du sagst, er ist jung, ist er vermutlich nicht verheiratet?«

»Jedenfalls trägt er keinen Ehering«, gab Eve Auskunft. »Gefragt habe ich ihn noch nicht. So weit«, sie räusperte sich, »waren wir noch nicht.«

Genauso wie Marcia Haymes musste Torie fast grinsen, aber sie versuchte es zu unterdrücken. Eve Kibbler war bekannt dafür, dass kein unverheirateter Mann vor ihr sicher war. Bei verheirateten zog sie die Grenze, weshalb auch keine der Ehefrauen von Pleshette etwas gegen sie hatte, sondern sich höchstens über sie amüsierte.

»Was hast du denn nun von ihm erfahren, Eve?«, knüpfte Marcia an dem Thema an, das Eves herausragendes Interesse für Männer zuvor unterbrochen hatte. »Was planen die?«

»Das, wogegen der alte Henry sich immer gesperrt hat.« Nur allzu gern gab Eve Auskunft. Ihre Augen blitzten vor Vergnügen, diesen Klatsch mit anderen teilen zu können. »Ein Ferienresort in der Wüste. Wie Las Vegas. Nur ohne die Spielhöllen. Ein reiner Erholungsort. Auch für Familien.«

Also hat sie mich doch belogen.