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In ihrem neuen Buch nimmt uns Murielle Rousseau mit an »ihre wilde Loire«, die ihr seit Kindheitstagen so sehr ans Herz gewachsen ist. Die Natur, die Menschen und nicht zuletzt die unvergleichliche Küche machen die Region so einzigartig und vermitteln französisches Lebensgefühl auf wunderbarste Weise. Im idyllisch zwischen Fluss, Feldern und Mischwäldern gelegenen Landhaus der Familie hat die Autorin ihre kulinarische Liebeserklärung an den Fluss verfasst und präsentiert uns Land, Leute und eine Vielzahl von Rezepten – bon appétit!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 178
Veröffentlichungsjahr: 2025
Murielle Rousseau
Fotografie: Marie Preaud
Käse, Wein und Tarte Tatin. Meine kulinarische Reise durch das Tal der Schlösser
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Für Joce und Michel Rousseau, für meine Kinder Amandine und Joël, für Jean-Luc und für Steve. Wir alle lieben »die Loire« und unser Familien-Landhaus dort, Le Piquet.
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Ich nehme Sie mit
Vorwort von Murielle Rousseau
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Meine wilde Loire
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À la votre
Auf einen Apéro
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Promenons-nous dans les prés et les jardins
Von Feldern, Gärten und Wiesen
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Au bord de l'eau
Aus Süß-und Salzwasser
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Du boeuf, du porc et du poulet
Fleisch & Geflügel
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À la chasse
Auf zur Jagd
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Sacré fromage!
Chavignol, Sainte-Maure & Montbriac
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Pommes et poires
Aus dem Obstgarten
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La vie en rose
Gebäck, Desserts und Sucreries
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Santé!
Die längste Weinstraße Europas
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Adressen
Register
Danke!
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Das einzige Stück Heimat, das einem übrig bleibt, wenn man im Ausland lebt, ist die Küche. So vermisse ich zwar meine Heimat, seit ich von Frankreich fortging, hole mir aber jedes Mal ein Stück davon wieder zurück, wenn ich koche.
Ich nehme Sie mit …
… auf eine Reise an die Loire, in das Herz Frankreichs, um Ihnen die einzigartige Region, die typische Küche und das französische Lebensgefühl vorzustellen! Die traditionelle Küche der Familie Rousseau vereint Besonderheiten, Farben, Geschmäcker und Gerüche der Sarthe-Region, in der unser über 300 Jahre altes Landhaus steht. Es liegt auf einem kleinen Hügel, der die sanfte Landschaft überragt, inmitten eines weiten, im Sommer goldenen Feldes, im Südwesten ist es von Mischwäldern umgeben. In diesem ehemaligen Bauernhaus, das seit vielen Jahrzehnten in Familienbesitz ist, mit seiner alten Quellenpumpe im Garten, den dicken Mauern aus Stein und Lehm, den alten Ställen und den Feldern ringsum, wo wir als Kinder zwischen Mais und Weizen tobten und rannten, verbrachten wir oft die Wochenenden und viele Ferien. Einen Teil meines Herzens habe ich als Pariserin für immer an diese goldene Region verloren. Und heute kehre ich regelmäßig dorthin zurück, manchmal für viele Wochen, zum Entspannen, zum Arbeiten und zum Schreiben. Ich hüte und pflege diesen Familienschatz.
Wie Tausende andere Pariser ließen wir früher am Wochenende die lärmende Betriebsamkeit der Hauptstadt hinter uns, warfen unsere gepackten Taschen ins Auto und fuhren aufs Land. Das Landhaus an der Loire bedeutete für uns Rückzug aus dem Pariser Leben, das wir unter der Woche mit all seinen Vorzügen und seinen kulturellen Angeboten schätzten, das aber auch Arbeit, Schule und Verpflichtungen bedeutete. Hier an der Loire dagegen, in diesem uralten Bauernhaus inmitten von gelben Weizenfeldern konnten wir atmen, entschleunigen, ankommen, entspannen, genießen, uns zurückziehen und einfach leben.
Einfach leben – das hieß auch, die Loire-Region mit ihrem reichhaltigen kulinarischen Angebot zu erkunden. Im Laufe der vielen Jahre besichtigten wir in der Nebensaison die vielen kleinen, aber spektakulären Schlösser, Gärten und Parks. Wir besuchten die Winzer in den Anbaugebieten von Montlouis oder Vouvray, Chinon oder Bourgeuil, um den Weinkeller aufzufüllen und jederzeit eine gute Flasche aus der Region öffnen zu können. Mein Onkel Michel, Weinhändler aus Tours und mit seiner Frau Jocelyne eindeutig der beste Ratgeber, war uns dabei stets eine große Hilfe und hat uns zu Weingütern geführt, die aus seiner Sicht bemerkenswert waren, weil sie z. B. schon früh Bioanbau betrieben. So entstanden Beziehungen, so entstanden Freundschaften. Einfach leben hieß aber auch, die regionalen Produkte auf dem Markt oder beim Produzenten einzukaufen. Hier eine Kiste goldenes Walnuss- oder Haselnussöl, ein kleiner Fromage de chèvre Sainte-Maure, dort ein frisch gefangener Fisch aus der Loire, an dem wir einfach nicht vorbeigehen konnten. »Irrésistible!«, meinten wir dann und überlegten schon gemeinsam, wie wir ihn zubereiten und wen wir noch dazu einladen könnten.
Erst später ist mir aufgefallen, was für ein Glück und Privileg es war, nicht nur in Paris aufzuwachsen, sondern in dieser wunderbaren Region ein Haus, einen Garten, ein großes Feld, ein Stück Wald zu haben. Meinen Eltern, die vor nun über 50 Jahren die gute Idee hatten, für unsere Familie Haus und Grund in einem der schönsten, begehrtesten und kulinarisch interessantesten Flecken Frankreichs zu erwerben, kann ich nur dankbar sein. Ich führe die Tradition weiter und habe später noch mehrere Hektar Land rund ums Haus erwerben können. Bis heute entstanden und entstehen eine vielfältige Obstplantage mit über 14 verschiedenen regionalen Obstsorten und Hunderte Meter lange, gemischte Naturhecken; wir kultivieren etwas Gemüse, Kräuter, Reben (bis zum 19. Jahrhundert wuchsen auf unserem Land auf ca. 1 ½ Hektar Weinstöcke) und lassen Beerensträucher am Feldrand wild wachsen. Der angrenzende Wald darf sich etwas weiter ausbreiten, als Nächstes soll ein Teich entstehen, als Wasserquelle für die Wildtiere im Sommer. Wir lieben es, zu beobachten, wenn Rehe vorsichtig aus dem Unterholz aufs Feld zum Grasen kommen oder wenn stolze Hirschrudel mit an die 20 Tieren zusammen am Waldrand stehen.
Die Originalrezepte, die ich Ihnen hier vorstelle, stammen aus der Loire-Region, sie sind über Generationen erprobt – von einer Familie, für die Kochen gleichermaßen eine Familien- wie eine Herzensangelegenheit ist. Dieses Buch ist meinem Onkel Michel und meiner Tante Joce gewidmet, denn ihnen sowie meinen Eltern verdanke ich die Liebe zur Loire-Küche und all die Kenntnisse über Produkte und Rezepte dieser Region. Mit ihnen teile ich wundervolle Momente am Tisch …
Öffnen wir also das Gartentor, überschreiten wir die Schwelle und überlassen wir uns dem Charme der Loire! Voilà!
Ihre
MurielleRousseau
»An der wilden Loire« – mit diesen Worten beschreibe ich gerne den Standort unseres Familien-Landhauses Le Piquet. »An der wilden Loire« meint in dem Fall: Wir befinden uns im nördlichen Teil der Region Pays de la Loire, nämlich im 180 Kilometer südwestlich von Paris gelegenen Département Sarthe. Unser an die 400 Jahre altes Landhaus war ursprünglich eine sogenannte longère, ein langgestrecktes (long bedeutet »lang«), mit rotbraunen, flachen Terrakottaziegeln gedecktes, anderthalbstöckiges Bauernhaus inmitten von Feldern und Wiesen. Für bäuerliche Verhältnisse ist unser Landhaus eher groß, mit mehreren zweiflügligen Eingangstüren, fast für jeden Erdgeschossraum eine.
Die niedrigen Räume, die früher der Käseherstellung dienten, und die Ställe für Rinder, Ziegen und Schweine sind im hinteren Teil des Hauses miteinander verbunden. Le Piquet wird das Haus im Vallon de la Longuève genannt, weil es etwas erhöht über dem winzigen Dorf mit seiner Kirche und dem romantischen wassergrabenumringten Schloss aus dem 15. Jahrhundert liegt. Früher umgaben Reben das Dorf, auf 80 Hektar verteilte sich der Weinanbau des Ortes, also auch rund um unser Landhaus auf einer 120 Meter hohen Anhöhe und in bester Südwestlage. Nach der vernichtenden Reblausplage Mitte des 19. Jahrhunderts wandte man sich hier Weizen, Roggen, später Mais und Kohl zu. An die Zeit des Weinanbaus an der Sarthe erinnern heute nur noch die Weinstöcke an den alten Bauernhäusern, so wie auch an unserem.
Die Pays de la Loire umfassen die fünf Départements Loire-Atlantique, Mayenne, Maine-et-Loire, Sarthe und Vendée – man sagt, sie liegen »an der Mündung der Loire«, was eigentlich nicht stimmt, denn die Loire fließt beispielsweise nicht durch das Département Sarthe selbst (dafür aber ihr kleiner Bruder 40 Kilometer nördlich, le Loir, der nicht als Fluss, sondern als rivière, als Bach, bezeichnet wird). Hauptstadt der Region ist Nantes, weitere wichtige Städte sind Angers, Tours sowie Le Mans, die wir gerne zum Einkaufen und Flanieren besuchen. Im Prinzip umfasst die Region alles zwischen der Bretagne und der Region Centre-Val de Loire, ein sehr weites Gebiet.
Die Region Centre-Val de Loire umfasst die sechs Départements Cher, Eure-et-Loir, Indre-et-Loire, Loiret-Cher, Indre sowie Loiret. Hauptstadt der Region ist Orléans im Nordosten, weitere historisch bedeutsame Städte sind Tours, Blois und Amboise.
Dorthin führen wir die Freunde, die uns in unserem Landhaus besuchen kommen und die gerne die berühmten Loire-Schlösser besichtigen wollen. Wer an die Loire kommt, der möchte Schloss Chambord, Amboise, Villandry oder Saumur sehen und auf den Spuren des französischen Adels und der Könige lustwandeln oder einmal die als UNESCO-Weltkulturerbe deklarierten Kathedralen in Chartres, Tours, Orléans oder Bourges betreten und sich von deren faszinierenden Glasfenstern, Fassaden, Portalen und Glockentürmen begeistern lassen. Balzac schrieb: »Ganz Paris zählt nicht so viel wie die Kathedrale von Bourges«, und auch Stendhal sprach von Ehrfurcht angesichts des Wandelns zwischen den Kathedralenpfeilern und der Nichtigkeit des Menschen in Gegenwart des Göttlichen. Die Loire ist le saint des saints de l’esprit français, mit ihren Schlössern, genialen Wissenschaftlern und Schriftstellern, Königen und Adligen, die sie schufen, bevölkerten oder besuchten. Welche Fülle, welcher Reichtum und welch ein Glück.
Das Département Loire ist im Vergleich zu den oben vorgestellten Regionen viel kleiner. Mit seiner Hauptstadt Saint-Étienne, 50 Kilometer von Lyon entfernt, liegt es im Osten in der Region Auvergne-Rhône-Alpes am Oberlauf des namengebenden Flusses.
Auch wenn all diese Regionen, die den Fluss im Namen tragen, Konstrukte des 20. und 21. Jahrhunderts sind, fußen sie auf den historischen Provinzen Frankreichs, also den territorialen Einheiten, die Frankreich bis 1792 unterteilten und die bei uns Franzosen immer noch identitätsstiftend wirken. Viele beziehen sich auf »ihr« Territorium, erzählen über »ihre« Provinz, wenn sie erläutern, woher sie stammen oder wo sie wohnen. So erklärt meine Tante Jocelyne, die nahe Tours aufgewachsen ist und immer noch dort wohnt, sie käme aus der »Touraine«. Manch anderer betont, er käme aus dem »Anjou«. Und so oft die wechselnden französischen Regierungen über die Jahrhunderte (zuletzt in den Gebietskörperschaftsreformen 1956, 1972, 1982 sowie 2015) Änderungen der territorialen Aufteilung vornahmen, stemmten sich die Bewohner im selben Rhythmus dagegen; schließlich wissen sie selbst am besten, woher sie stammen und wie ihre Heimat heißt, so meinen sie.
Der 1006 Kilometer lange Fluss, die Loire selbst, durchfließt fünf der großen Regionen (Rhône-Alpes, Auvergne, Bourgogne, Centre-Val de Loire, Pays de la Loire) und sein Einzugsgebiet greift wie ein Netz in vier weitere Regionen (Languedoc-Roussillon, Limousin, Poitou-Charentes, Basse-Normandie) aus und versorgt damit nahezu ein Fünftel der Fläche Frankreichs, 177 000 km2, mit Wasser! Damit ist das weitgefasste Gebiet der Loire das Herz und die Mitte Frankreichs, was man auch bei der Namensfindung für die Region auf der Vorschlagsliste ausgedrückt hat: val de France (Tal Frankreichs) oder cœur de France (Herz Frankreichs) waren ernst gemeinte Namensalternativen. Hier spricht man das reinste Hochfranzösisch, das sich als Sprache durchgesetzt hat, als Tours noch königliche Hauptstadt war. Hier sind Gärten, Küche, Architektur und Kunst wegweisend für alles Französische.
Le Val de Loire, das historisch, kulturell, architektonisch, kulinarisch, önologisch wie auch für Flora und Fauna bedeutsame Tal der Loire, umfasst einen weiten Abschnitt der Landschaft rund um den Fluss Loire. Es ist seit der Altsteinzeit besiedelt und nahezu alle wichtigen Städte wurden noch vor der römischen Eroberung angelegt. Die Ausbreitung des Christentums bescherte der Region Klöster wie Fleury bei Saint-Benoît-sur-Loire (gegründet 630) und Marmoutier bei Tours (erbaut 372) oder Wahrzeichen wie die Cathédrale Saint-Gatien in Tours (erbaut 1220) oder Saint-Louis in Blois (erbaut 1697).
Auch in den Kämpfen des Mittelalters stand die Loire-Gegend im Zentrum. Jedes französische Schulkind lernt die Geschichte des Hundertjährigen Krieges (1337–1453), in dem die Loire-Linie eine wichtige Rolle spielte, ebenso wie die dazugehörenden Heldentaten der Widerstandskämpferin Jeanne d’Arc, der Jungfrau von Orléans. Später bauten Frankreichs Könige, Karl VII. sowie Ludwig XI., die aus Tours die Hauptstadt Frankreichs machten, ihre prachtvollen Jagd- und Landschlösser, und Adel und reiche Herrschaften taten es ihnen gleich. In der Renaissance brachten u. a. die Grafen von Valois italienische Lebensart, Kunst, Ästhetik und Architektur an die Loire. Die Könige aus diesem Geschlecht traten als Mäzene und Gönner auf, so Ludwig XII. oder sein Nachfolger Franz I.
Auf dessen Einladung hin verbrachte z. B. Leonardo da Vinci seine letzten Lebensjahre von 1517 bis 1519 im Château du Clos Lucé in Amboise. Amboise, Chambord, Montsoreau, Blois … auch heute definiert sich Frankreich nicht nur durch Versailles und Paris, sondern auch durch die Schlösser an der Loire sowie im weitesten Sinne durch die Naturregion Val de Loire. An der Loire, im Herzen Frankreichs, ist man historisch und kulturell mit dem Rest des Landes verbunden, damals wie heute.
Das führt dazu, dass man hier einfach nichts »vermisst« – und dies betrifft nicht nur diejenigen, die glücklicherweise ein Landhaus an der Loire besitzen. Alle können es fühlen, die hierherkommen. Fehlt vielleicht das Meer? Mit dem sind wir auch verbunden, das maritime Gefühl entsteht unmittelbar am Fluss, und wenn wir mit Auto, Boot, Rad oder Zug an der Loire entlangfahren, so kommen wir unweigerlich dorthin, wo die Loire ins Meer mündet.
Die 280 Kilometer zwischen Sully-sur-Loire im Loiret und Chalonnes-sur Loire im Anjou sind einer der schönsten der unter Schutz gestellten Abschnitte des Val de Loire, das im Jahr 2000 von der UNESCO zum Weltkulturerbe deklariert wurde. Die Begründung der Jury: »Das Loire-Tal ist eine außergewöhnliche Kulturlandschaft, bestehend aus historischen Städten und Dörfern, großen architektonischen Denkmälern – Schlössern – und Ackerland, geprägt durch Jahrhunderte der Interaktion zwischen Menschen und ihrer physischen Umgebung, einschließlich der Loire selbst.« Diese »Interaktion« meint die Nutzung des Flusses für Transport, Kommunikation, Wirtschaft, Handel, die Landwirtschaft und die großartige Schlösser-Architektur und Gartenkunst, aber auch die einfachen Behausungen in sogenannten habitats troglodytiques, Höhlenwohnungen, und nicht zuletzt das Zusammentreffen französischer mit italienischer Kunst und Ästhetik in der Renaissance.
Der Begriff Loire kommt aus dem Keltischen und bedeutet »unruhiges Wasser«. Sie ist der längste Fluss Frankreichs, der letzte Wildfluss mit genau 1006 Kilometer Länge, vom Zentralmassiv am Fuße des Mont-Gerbier-de-Jonc im 1408 Meter hohen Ort Sainte-Eulalie in der Ardèche bis zum Atlantik. Auf der Suche nach dieser ersten Quelle und in Sainte-Eulalie angekommen, muss ich mich gleich korrigieren: Nicht nur, dass zwei verschiedene Quellen ausgeschildert sind, wenn Sie sich selbst auf den Weg machen (die Ferme de la Loire und unweit davon eine weitere, mit Gedenktafel). Richtigerweise müsste ich schreiben, dass die Loire anfangs eine Vielzahl von kleinen Bächen umfasst, die sich Stück für Stück, einer nach dem anderen, vereinigen zu dem, was die Loire in ihrer Pracht, Breite und in ihrem Ausmaß ausmachen wird.
Ich liebe die Loire! Sie hat etwas Magisches, Anziehendes, Geheimnisvolles, Zartes, Poetisches – es ist schwer in Worte zu fassen. Denn die Loire ist launenhaft und wild, ständig in Bewegung, changierend in Aussehen, Einfluss und Art – es scheint als präsentiere sich in regelmäßigen Abständen immer wieder ein ganz neuer Fluss, wenn ich entlang der Loire unterwegs bin. Mal raubt die Trockenheit im Hochsommer dem Fluss seine Pracht, sodass er nur noch als dünnes Rinnsal dahinplätschert und Sandbänke immer größer werden; mal ist er gewaltig, breit und gefährlich durch seinen felsigen Untergrund, im Winter führt er so große Eisblöcke mit sich, dass einem angst und bange wird. Erst ungezähmt durch waghalsige Schluchten, enge Gebirgstäler, dann träge, breit, majestätisch und langsamer zeichnet er mit seinen vielen Nebenflüssen eine wunderschöne Flussauenlandschaft voller flacher Sandbänke und unberührter Inseln. Ein Naturparadies, unvergleichlich in ganz Europa, in dem sich Fische, Vögel, Wildtiere und Pflanzen wohlfühlen.
Die Tierwelt an der Loire hat es in sich: Ich habe an Bord eines flachen Loirebootes eine alose mit blauem Rücken sowie Aale mit gelbem Bauch im Wasser schwimmen gesehen und auf den langen hellen Sandbänken zwischen April und September saßen Flussseeschwalben, sternes pierregarin, frisch aus Afrika eingeflogen, um auf den Sandbänken zu brüten. Über 60 verschiedene Fischarten und 100 Vogelarten leben in dieser außergewöhnlichen Naturoase.
»An der Loire«, am Ufer der Loire und ihrer Nebenflüsse, blüht und pulsiert das Leben und die Natur seit jeher üppig und vielseitig. Heute undenkbar, weil der Schiffsverkehr nur noch auf dem letzten 100 Kilometern vor dem Atlantik nennenswert betrieben wird, aber bis Mitte des 19. Jahrhunderts blühte auch der Handel auf dem Fluss. Passagiere und Waren von Salz aus dem Atlantik, Wein bis zu Gemüse, Früchten und Gewürzen wurden per Linie transportiert, bis die Zugverbindungen Paris-Orléans ab 1843 und etwas später Paris-Tours (1857) die Aufgabe übernahmen.
Ich stelle mir für die Hinfahrt, flussaufwärts, vor, wie die Fische aus Nantes, die Wolle aus Spanien, die Ziegel aus dem Ort Trélazé oder das Salz aufgeladen wurden. Und auf der Rückfahrt gen Atlantik dann Holz und Kohle aus der Auvergne, Gusseisen aus Vierzon, Weizen aus der Beauce und Wein aus der Touraine … Auch heute noch findet man kleine Kohlestücke auf den frei gewordenen Sandbänken der Loire-Inseln, die von dieser Zeit zeugen. Damals entwickelten die Fischer charakteristische Boote mit flachem Bauch und leicht genug, um sie auch im flachen Wasser ziehen zu können, sollten sie stranden. Das passierte oft, denn die Loire ist damals wie heute kapriziös wie eine Maîtresse, sagt man. Sie wechselt ihr Aussehen täglich, ihre Sandbänke kommen und gehen, den Launen der Natur folgend, sodass es schon immer schwer war, sich zu orientieren. Wer etwas von diesem 19. Jahrhundert-Schiffsflair nachempfinden möchte, steigt heute in Angers oder in Nantes auf eines der traditionellen flachen Bote namens chaland oder gabarre, die einen absenkbaren Mast haben, um unter den Brücken hindurchzukommen, und quadratische Segel gegen den harschen Westwind. Ein Erlebnis!
Die Wälder wachsen dicht und üppig und sind riesig – die wenigen Straßen oder Wege, die sie durchziehen, scheinen nie enden zu wollen. Traditionell waren die Wälder Jagdrevier für den französischen Adel. Dementsprechend gibt es in der Loire-Küche Wild, Reh, Wildschwein, Fasan. Mich überraschen bei meinen Touren durch die Region nicht nur kaum besuchte, jahrhundertealte Kirchen und Kapellen an exponierten Lagen hoch über der Loire, sondern auch Jagdschlösschen an entlegenen Ecken. Diese Jagdschlösschen gruppieren sich teils wie Satelliten rund um die großen, prunkvollen und atemberaubenden Schlösser. Ich muss gestehen, die »großen« besuchen wir, wenn überhaupt, nur im Winter in der absoluten Nullsaison und eigentlich auch nur, um sie Besuchern zu zeigen. Es ist wie beim Eifelturm für uns Pariser … den besteigen wir auch nur, wenn wir ihn Gästen zeigen wollen.
Und dann das vielgelobte »milde« Klima: la douce Loire, die milde Loire, wurde wegen ihres Klimas von den Königen und ihrem Gefolge bevorzugt, die vorwiegend im Sommer dort in ihren Schlössern – an die 400 soll es geben! – residierten, die vorwiegend in der Renaissance erbaut wurden. Schmuckstücke, aufgereiht am Ufer der Loire wie Perlen auf einer Kette. Der Umstand, dass Mitglieder des Königshauses hier verweilten, brachte dem Fluss nicht nur den Beinamen fleuve royal, sondern steigerte die Beliebtheit der Region für Zweitresidenzen wie der unsrigen: Zahlreiche mehr oder weniger große Häuser – einfach renovierte, umgebaute, anderthalbgeschossige, langgezogene Bauernhöfe wie unser Landhaus oder etwas herrschaftlicher wie die dreigeschossigen Anwesen nahe am Ufer der Loire selbst. Nach einigen Touren und Fahrten Richtung Fluss ist das Prinzip leicht zu erkennen: Je mehr man sich dem Fluss nähert, umso größer werden die Häuser und die Schlösser.
Städte, Dörfer, Kathedralen wie die in Tours, Orléans, Blois oder Le Puy-en-Velay und Klöster wie La Psalette bei Tours, entstanden an der Loire, an Wegekreuzungen, an Nebenflussmündungen, an Pilgerwegen wie dem Chemin de Saint-Jacques de Compostelle, dem Fernwanderweg GR655, der gen Süden nach Santiago de Compostela führt und auch Via Turonensis, la voie de Tours, genannt wird.
Im Herzen Frankreichs zu sein – dans le cœur de la France – löst ein unvergleichliches Gefühl in mir aus. An der Loire fühle ich mich ruhig und gelassen, es fehlt an nichts. Ich genieße qualitativ hochwertige Lebensmittel, entsprechend wunderbares Essen und ebensolchen Wein. Auch die Handwerkskunst erfreut mich immer wieder. Die Loire ist eine perfekte Destination für Menschen, die gutes Essen und Wein ebenso schätzen wie französische art de vivre, den Charme vergangener Zeiten und die einzigartige Natur. Es gibt so viele Sehenswürdigkeiten, so unschätzbar viele Ausflugsziele, schöne Bauwerke und historische Stätten, dass sie einfach da und Teil des Lebens sind. Für Entspannung in hektischen Zeiten sorgen Aktivitäten draußen, wie Fischen, Jagen und eine besondere Geselligkeit, die mit dem Lebensgefühl der Menschen einhergeht. Die Loire mit ihrer trägen Schönheit, mit allen ihren Vorzügen, ihrer majestätischen Langsamkeit, lässt es zu, dass man sich »fallen lässt«, sie spendet Inspiration. Die Poesie der Loire spricht alle Sinne an. Il fait bon vivre ici – es lebt sich gut hier, höre ich immer von den Menschen, die an der Loire leben.
Hier erholen sich die Menschen und ermatten nicht. Im Gegenteil: Sogar die Loire-Küche ermüdet nicht den Magen, meinte der berühmte in Angers geborene Gastronom Curnonsky (Maurice Sailland, 1872–1956). Damit bezog er sich auf die Besonderheit, dass die Loire-Küche gut auf schwere Saucen (bis auf die Beurre blanc, siehe S. 91) verzichten konnte, wofür er überall plädierte. Die Langsamkeit und naturgegebene Trägheit des Flusses, mit seinen unzähligen, changierenden, sanften Sandbänken und den Fluss begleitenden Meeresvögeln, die Bewegung und das Licht, tun noch das Ihre dazu, sodass man schon dann ein maritimes Lebensgefühl hat, wenn man sich noch gar nicht an der Mündung der Loire befindet.
Ich müsste ein Loblied auf diese Langsamkeit singen, l’éloge de la lenteur. Liegt es daran, dass auf der Loire aufgrund der besonderen Tiefenverhältnisse die Navigation strengen Regeln unterworfen ist, die keine schnellen Boote erlaubt und eine maximale Geschwindigkeit von 15 oder 20 km/h vorschreibt, und dies auch nur auf besonderen Abschnitten, da die Loire heute nicht mehr überall befahrbar ist? Vielleicht ist es aber auch die Zartheit der Landschaft, die, zerfasert durch die vielen Wasserläufe Richtung Loire, einem seidenen Netz gleicht. Oder ist es die Stille und Unaufgeregtheit, die sich über die größeren Städte wie Tours legt?