Lonely Summer Days - Rebecca Rivoire - E-Book

Lonely Summer Days E-Book

Rebecca Rivoire

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Beschreibung

"Glaub mir, wenn ich dir sage, dass du nicht für immer wegrennen kannst. Denn egal, wie schnell du rennst, deine Vergangenheit ist genau hinter dir." Jeder Sommer wird besser als der letzte. So war es immer, doch ein eiskalter Winternachmittag nimmt Katharina diese Illusion mit der Kraft eines beschleunigenden Zwölfzylindermotors. Als sie im folgenden Sommer die Auffahrt zu einem herrschaftlichen Landsitz in Ostengland entlangrollt, weiß sie, dass er katastrophal wird. Samantha, die Eigentümerin, stellt sich nicht nur als Katharinas leibliche Mutter heraus, sondern zwingt sie auch zum Bleiben. Aber zurück nach Hause kann Katharina sowieso nicht. Also bleibt sie in dieser neuen Welt voller Glamour und Luxus, die sie gleichermaßen fasziniert wie abstößt. Doch da ist Adrian. Zu ruhig, zu aufmerksam, zu besorgt. Er sieht direkt hinab auf die Scherben, die tief in ihrem Inneren verborgen sind. Adrian, der gegen seine ganz eigenen Dämonen kämpft und überdies selbst ein dunkles Geheimnis hat, das tief mit Katharinas eigener Vergangenheit verbunden zu sein scheint ...

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Contentwarnung

Dieses Buch enthält Inhalte, die für manche Lesenden belastend sein können. Detaillierte Informationen sind auf der letzten Seite zu finden. Diese enthalten Spoiler zum Inhalt dieses Buches.

Es gab eine Zeit, in der waren wir uns nicht nur darüber einig, dass über 2 Millionen Euro zu viel für einen Bugatti Chiron sind.

Ich wünschte, es wäre mehr geblieben.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Go Solo (From the Original Soundtrack »Honig im Kopf«) – Tom Rosenthal

KATHARINA

Kapitel 2: She's always A Woman – Billy Joel

ADRIAN

Kapitel 3: Breathe (2 AM) – Anna Nalick

KATHARINA

ADRIAN

Kapitel 4: Where Does the Good Go – Sleeping At Last

KATHARINA

ADRIAN

Kapitel 5: Glimpse of Us – Joji

KATHARINA

ADRIAN

Kapitel 6: High Hopes – Kodaline

KATHARINA

Kapitel 7: Let Her Go – Passenger

KATHARINA

SAMANTHA

KATHARINA

Kapitel 8: I Did Something Bad – Taylor Swift

KATHARINA

Kapitel 9: Can’t Help Falling In Love – Kina Grannis

KATHARINA

ADRIAN

Kapitel 10: illicit affairs – Taylor Swift

SAMANTHA

Kapitel 11: All I Want – Kodaline

KATHARINA

Kapitel 12: Don’t Cry For Me Argentina – Andrew Lloyd Webber, Original Evita Cast

KATHARINA

Kapitel 13: Begin Again (Taylor’s Version) – Taylor Swift

ADRIAN

Kapitel 14: For The Lover That I Lost – Sam Smith

KATHARINA

ADRIAN

Kapitel 15: ocean eyes – Billie Eilish

ADRIAN

Kapitel 16: Home – Edith Whiskers

KATHARINA

Kapitel 17: Austin’s Song – Frawley

KATHARINA

Kapitel 18: it’s time to go (bonus track) – Taylor Swift

ADRIAN

Kapitel 19: Total Eclipse of the Heart – Jill Andrews

KATHARINA

ADRIAN

Kapitel 20: Creep (Acoustic) – Jada Facer

KATHARINA

Kapitel 21: Boys Will Be Boys – Dua Lipa

ADRIAN

KATHARINA

Kapitel 22: Für Elise – Betoven Collection

KATHARINA

Kapitel 23: Say Something – A Great Big World, Christina Aguilera

ADRIAN

KATHARINA

ADRIAN

Kapitel 24: Forever Winter (Taylor’s Version) (From The Vault) – Taylor Swift

ADRIAN

KATHARINA

Kapitel 25: Gangsta’s Paradise Piano Cover – Lisztlovers

ADRIAN

Kapitel 26: Cigarette Daydreams – Michigan House, Hope Powers

KATHARINA

ADRIAN

KATHARINA

Kapitel 27: I’m Gonna Be (500 Miles) – Sleeping At Last

ADRIAN

KATHARINA

Kapitel 28: exile ( feat. Bon Iver) – Taylor Swift, Bon Iver

ADRIAN

Kapitel 29: The Scientist – Daisy Clark

KATHARINA

Kapitel 30: Vincent – Ellie Goulding

SAMANTHA

Kapitel 31: Memory Lane – Haley Joelle

KATHARINA

Kapitel 32: How To Save a Life – The Fray

ADRIAN

1

Go Solo (From the Original Soundtrack »Honig im Kopf«) – Tom Rosenthal

KATHARINA

Die wenigen Worte in Maxis vertrauter Schrift verwackeln vor meinen Augen, als das Taxi von der ausgestorbenen Landstraße auf einen Schotterweg abbiegt.

»Wir sind fast da«, sagt der Fahrer.

Entschlossen schiebe ich den Zettel, der durch das viele Aufund Zufalten vollkommen zerknittert ist, zurück in den Umschlag und stopfe diesen in meine Tasche.

Der Weg vor uns ist zu beiden Seiten von Koppeln eingegrenzt und führt zwischen penibel gestutzten Hecken zu einem großen Holztor. Es schwingt auf, als wir uns nähern. Die beiden Flügel geben den Blick frei auf ein zweistöckiges, blassgelbes Haus mit vielen Fenstern, vor denen Blumenkästen hängen.

Der Fahrer und ich lehnen uns gleichzeitig vor, allerdings nicht wegen der bunten Blumen, sondern wegen der Autos, die vor dem Haus stehen: Ein Ferrari 488 Pista, dessen roter Lack in der knallenden Maisonne glänzt und ein Aston Martin Vantage. Die Reifen haben tiefe Spuren in den Kies gegraben.

Sofort denke ich an Dad, Maxi, meine Onkel und meine Cousins, mit denen ich früher regelmäßig den Genfer Salon und die IAA besucht habe.

Der Fahrer hält an und betrachtet mich mit erhobenen Augenbrauen. Klar, jetzt, wo er diese beiden Schätze sieht, würde er den Preis für die zweistündige Fahrt von London Heathrow in dieses Kaff an Englands Ostküste vermutlich am liebsten verdoppeln. So oder so kann ich nicht zahlen.

Bis auf das Bargeld, das ich in Heathrow zwischen die Finger bekommen habe, ist kein Geld mehr übrig. Seit ich von zuhause weg bin, will mir kein Bankautomat mehr Geld überlassen, was ich sicher meiner Ma zu verdanken habe.

»350 Pfund. Bar oder mit Karte?«

Gerade, als ich mir eine fadenscheinige Ausrede überlegen will, geht meine Tür auf. Erschrocken reiße ich den Kopf herum.

Ein älterer Herr steht vor mir. Mit der Bügelfalte in der Hose, den polierten Lackschuhen und den Hosenträgern sieht er aus wie ein Butler aus vergangenen Jahrzehnten. Sein warmes Lächeln erreicht die hellen Augen und er streckt mir die Hand hin.

»Wir haben Sie erwartet.«

Das überrascht mich nicht. Auch, wenn ich mit meinen Eltern die letzten Wochen keinen Kontakt hatte, haben sie mich nie aus den Augen verloren. So viel ist mir inzwischen klar.

»Gehen Sie doch hinein«, fährt der Butler fort. »Ich werde mich um alles Weitere kümmern.«

Ich habe keine 350 Pfund. Nicht mal 200.

Also ergreife ich die Hand und steige aus. Nuschelnd verabschiede ich mich vom Fahrer und wende mich dem Haus zu.

Der Kies knirscht unter meinen ausgelatschten Sneakern und die Tür ächzt, als ich sie aufstoße.

Neugierig betrete ich einen Flur mit hellgrauen Wänden, an denen gerahmte Landschaftsaufnahmen hängen. Ansonsten ist er vollkommen leer. Nirgends stehen Schuhe oder hängt eine Jacke. Niemand hat einen Rucksack in die Ecke gepfeffert und ist in die Küche gestürmt. Wer immer hier wohnt, nimmt sich die Zeit, seine Sachen ordentlich zu verräumen. Befremdlich.

Ich höre leise Stimmen und zögere nicht, ihnen durch den Flur zu folgen.

»… ist gerade reingekommen, als ich abgehauen bin«, sagt eine tiefe Stimme mit Londoner Dialekt.

Etwas klickt, jemand stöhnt genervt.

Ich schiebe lautlos die Tür auf und spähe in den Raum hinein.

Auf der gepolsterten Fensterbank sitzt ein junger Mann, der auf seinem Handy herumtippt, als hinge sein Leben davon ab.

Sein Haar schimmert orange im Licht der Sonne. Ein bitterer Geschmack legt sich auf meine Zunge.

Mittig im Raum steht eine Couch, auf der sich zwei weitere Typen fläzen. Der eine hat dunkelbraunes Haar und wirft gerade einen Controller von sich. Er springt auf und reißt triumphierend die Arme hoch.

Der andere hat schwarzes Haar und herrlich gebräunte Haut.

Er jault dramatisch. »Emmett will mich nicht gewinnen lassen, Jay!« Er legt seinen eigenen Controller weg, doch der Typ am Fenster reagiert nicht.

»Adrian ist sowieso daran gewöhnt, zu verlieren«, behauptet Emmett. Wieder keine Reaktion.

Alle drei sind bestimmt ein, zwei Jahre älter als ich, 19 vielleicht, auf keinen Fall älter als 23.

Der Typ auf der Couch, Adrian, fährt sich durchs wellige Haar.

»Pass nur auf, du Arsch. Du schläfst mit meiner Schwester und vielleicht rutscht mir noch die Hand aus.«

Emmett macht einen Schritt zurück.

»Woher weißt du das?« Er lässt sich am anderen Ende des Sofas wieder in die Polster sinken.

»Witzige Geschichte.« Adrian bleckt die Zähne. »James hat mir davon erzählt. Gerade eben.«

Emmett setzt zu sprechen an, ein freches Grinsen auf den vollen Lippen. Aber dann entdeckt er mich. Die Farbe weicht ihm aus dem Gesicht, während seine Augen sich weiten, als hätte er einen Geist gesehen. Sofort bestätigen sich alle Vermutungen darüber, warum ich herkommen sollte.

Emmett flucht. Die anderen beiden drehen sich um und reagieren ähnlich schockiert.

Langsam, wie ein Low-Budget-Zombie, steht Emmett auf und kommt auf mich zu. »Wer bist du?« Seine Stimme klingt feindselig. Automatisch verschränke ich die Arme vor der Brust.

»Mein Name ist Katharina.«

»Und weiter?« Emmetts Finger rollen sich zu Fäusten, wobei die Knöchel ganz weiß werden.

Ich balle ebenfalls die Hände, um im Zweifelsfall zuschlagen zu können. Ein wenig hoffe ich sogar darauf. Mich zu prügeln wäre eine angenehme Möglichkeit, Druck abzulassen.

»Willst du wissen, was auf meinem Ausweis steht, oder wie es eigentlich heißen müsste?«

Hinter mir räuspert sich jemand und der namenlose Butler betritt den Raum. »Wenn Sie erlauben, dann bringe ich Sie jetzt in den Wintergarten.«

Ein Teil von mir ist tatsächlich neugierig. Aber eigentlich ist es mir egal. Ich weiß schließlich, was mich erwartet. Also nicke ich bloß und folge ihm aus dem Raum.

Der Butler führt mich durch den Flur in einen Salon mit intarsienverzierten Holzmöbeln. Der Billardtisch an der Wand trübt das Flair des vergangenen Jahrhunderts.

Wir bleiben vor einer Doppeltür mit verschwommenem Glas stehen und der Butler wirft mir einen prüfenden Blick zu, bevor er sie aufstößt und beiseitetritt.

Die Person, die auf dem Sofa sitzt, fesselt sofort meine gesamte Aufmerksamkeit. Ihre Haare leuchten kupferfarben. Wie eine rostige Motorhaube. Die Farbe sticht mir ins Auge.

Die Frau sitzt aufrecht, ihr Gesicht kommt mir bekannt vor:

Die Stupsnase, der Schmollmund mit vollen Lippen und die Sommersprossen sind mir auf groteske Art vertraut. Ich sehe sie täglich im Spiegel – genau wie das rote Haar. Ich mag ihre Augen. Leuchtend grün wie Smaragde. So anders als meine.

Das ist sie also: Die Antwort auf eine Frage, die ich niemals gestellt habe.

»Danke, Albert«, sagt die Frau mit angenehmer Stimme und einer so korrekten Aussprache wie Queen Elizabeth.

Sie betrachtet mich neugierig. Ich erwidere den Blick. Darin stehen Angst und Aufregung.

Ob sie jahrelang nachts wachgelegen und sich vorgestellt hat, wie unsere erste Begegnung ablaufen würde?

Am Rande bekomme ich mit, dass die Tür geschlossen wird.

Die Frau scheint es als Signal aufzufassen, denn sie räuspert sich. »Hallo Katharina.«

Ihre Hände zittern, als sie den grauen Plisseerock unnötigerweise glattstreicht. »Ich bin Samantha. Möchtest du dich setzen?« Sie deutet auf das Sofa.

Ich schlendere hinüber und lasse mich in einigem Abstand neben ihr nieder. »Sag es«, fordere ich sie auf. Vielleicht ein bisschen ruppig, aber ihr Anblick irritiert mich. Als würde ich in die Zukunft sehen.

Samantha presst die Lippen zusammen, als würde sie sich davon abhalten wollen zu weinen. »Was denn?«, haucht sie.

»Was wohl?«, fauche ich, nehme eine Strähne meiner langen Haare und halte sie neben ihre seidige Mähne. Ihre Haare sind kupferfarben, meine leuchtend orange.

Samantha strafft die Schultern. »Es tut mir leid, Katharina.

Helena und Jakob haben dich vor siebzehn Jahren adoptiert.

Ich … bin deine biologische Mutter.«

Obwohl sie stockt, klingt es, als hätte sie diese Worte hunderte Male aufgeschrieben und vor dem Spiegel geübt. Bei dem Wort Mutter bricht ihre Stimme und in den grünen Augen blitzt etwas Dunkles auf. Angst vor meiner Reaktion.

Aber da ist nichts. Ich bleibe stumm. Denn was sie sagt, ist für mich keine Überraschung. Ich wusste nicht, wie sie aussieht, wie alt sie ist oder woher sie kommt. Aber ich wusste, dass sie existiert. Kinder merken es, wenn ihre Eltern ihnen etwas verheimlichen. Nur hat mich die Wahrheit nie interessiert.

Ich war glücklich mit dem, was ich hatte. Ich musste nicht nach etwas anderem suchen.

Unter Samanthas wachsamem Blick fühle ich mich unwohl.

Was erwartet sie von mir?

»Und jetzt?«, frage ich. »Wieso sollte ich herkommen?« Ich weiß natürlich, dass meine Eltern nicht damit einverstanden waren, dass ich mich mitten in der Nacht rausgeschlichen habe und durch halb Europa getourt bin. Aber sie wissen auch, dass ich nicht nach Hause will. Oder eher kann.

»Ich ...«

Sicherlich hat Samantha eine andere Reaktion erwartet.

»Ja?« Auffordernd lege ich den Kopf zur Seite.

Samantha, meine biologische Mutter, strafft sich. Sie hebt das Kinn und atmet durch, wie ein Soldat, der Haltung annimmt.

»Du hast jeden Kontaktversuch von Helena und Jakob abgeblockt, nachdem du weggelaufen bist. Und sie verstehen das.

Sie sagen, dass du nicht wieder zurückmusst. Aber sie bitten dich, erstmal bei mir zu bleiben.«

Aus der Tasche ziehe ich den zerknitterten Zettel, auf dem diese Adresse steht. Maxi hat nur einen Satz darunter geschrieben: Hier oder dort.

Ich weiß, was das heißt. Meine armen Eltern, denen ich seit einem halben Jahr so unglaublich viel zumute, lassen mir die Wahl. Frankfurt oder Colchester. Zuhause oder hier, bei meiner biologischen Mutter.

»Jakob meinte, dass Maxi dich hierher bekommen würde«, sagt Samantha leise.

Offensichtlich hatte mein Dad Recht. Außer Maxi und Thea gibt es niemanden, der das gekonnt hätte.

»Sie machen sich Sorgen um dich.«

»Wie habt ihr mich gefunden?«

Der Umschlag tauchte auf einmal in meinem B&B in Mailand auf, dabei hatte ich schon über zwei Wochen keinen Kontakt mehr nach Hause gehabt.

»Du warst nie allein, Katharina. Nie. Egal wo du warst, es gab immer jemanden, der ein Auge auf dich hatte«, gibt Samantha ohne erkennbare Schuldgefühle zu. »Deine Ma konnte vor Sorge nicht mehr schlafen. Dein Dad hat entschieden, dass es so nicht weitergehen kann. Vor allem nach Ostern.«

Ich zucke zurück, als hätte sie mich geohrfeigt. Mein schlechtes Gewissen und die Sorge um meine Eltern verschwinden abrupt.

Ostern.

Leises Lachen. Der prickelnde Geschmack von Champagner, der Geruch von Zigaretten. Und dann weiße Wände, harsche Rufe, die besorgten Augen des Krankenhauspersonals in Bern.

Der bittere Geschmack kehrt schlagartig zurück und nur mit Mühe halte ich mich davon ab, meiner leiblichen Mutter auf ihren sündhaft teuren Rock zu reihern.

»Wag es nie wieder, darüber zu reden!«, fauche ich und hasse die Panik, die sich in meine Stimme schleicht.

»Wir wollen dir doch nur helfen, Liebling.«

»Nenn mich nicht so!«

Sie hebt die Hände, will etwas sagen, doch ich rede einfach weiter: »Wo ist mein Rucksack? Ich verschwinde!«

Samantha ergreift meine Hand. »Bitte bleib.«

Ich halte inne. Körperkontakt hatte ich keinen mehr, seit ich von zuhause verschwunden bin. Ein Kribbeln geht meinen Arm hoch, begleitet von einem warmen Gefühl.

»Fass mich nicht an!«

Sie zieht die Hand zurück und das Gefühl erlischt.

»Wir sehen zwei Möglichkeiten. Du bleibst hier und ich bekomme die vorübergehende Vormundschaft, oder du kehrst nach Frankfurt zurück.«

Ich denke an mein stilles, trostloses Zimmer, das leise Weinen meiner Mutter und die Hilflosigkeit im Blick meines Vaters.

»Und wenn ich beides nicht will?«

»Solltest du versuchen, erneut zu verschwinden, werden wir Maßnahmen ergreifen.«

»Was wollt ihr tun? Mich anketten?«

Sie schüttelt den Kopf. »Die Behörden sehen Siebzehnjährige ungern ohne gesetzliche Vertreter in fremden Ländern herumstreunen. Und schon gar nicht, wenn sie Geld stehlen, falsche Ausweise benutzen und sich prügeln. Sie schicken dich zurück nach Hause, bevor du blinzeln kannst.«

Es fühlt sich nicht an, als hätte sie einfach nur die Spielregeln geändert. Eher so, als ob man bei einer Straßenschlägerei mit einem Messer kommt, während das Gegenüber eine Beretta 92 zieht. Für gewöhnlich bin ich die mit der Beretta.

»Die Behörden?«, spotte ich. »Die sind mir schon seit drei Wochen auf den Fersen und trotzdem zu inkompetent, um mich zu erwischen.« Auch, wenn es vor einigen Tagen in Monaco ziemlich knapp geworden ist.

»Sie hätten dich schon ein Dutzend Mal gehabt, hätte ich nicht eine Reihe Gefallen eingefordert. Nächstes Mal würde ich mich nicht zu deinen Gunsten einmischen.« Samanthas Stimme ist todernst. Die verdammte Beretta ist geladen.

Jemand hat mir mal gesagt, dass ich mich aus allem herauswinden könne wie eine Schlange. Nachsitzen, Strafarbeiten, Polizeikontrollen.

Aber jetzt gibt es keinen Ausweg, beide Sicherungen sind deaktiviert und ich habe den Lauf direkt an der Schläfe. Da hilft keine Argumentation und auch kein Süßholzraspeln.

Ich kann nicht zurück nach Hause. Ich kann meine Eltern nicht schon wieder damit belasten, sich um mich kümmern zu müssen. Das hier muss ich ohne sie schaffen. Sie sind besser ohne mich dran. Also muss ich hierbleiben. Bei dieser Fremden.

Soll sie sich alle meine Probleme aufladen. Wenn sie ein Weltverbesserungssyndrom hat, ist es nicht mein Problem.

»Schön«, sage ich kalt und stehe auf. »Ich bleibe. Aber merk dir eins: Du bist nicht meine Mutter, Samantha. Du bist eine Fremde.«

2

She's always A Woman – Billy Joel

ADRIAN

Ein paar Stunden früher

Ein Geräusch reißt mich aus dem alkoholverhangenen Schlaf in eine sitzende Position. Einen Moment schaue ich mich orientierungslos um. Das hier ist ganz klar mein Zimmer und ich sitze in meinem Bett.

Kurz suche ich nach der Brünetten vom Vorabend, aber unsere Wege haben sich offenbar irgendwo im Club getrennt.

Erneut ertönt ein Klopfen an meiner Tür. Am liebsten würde ich es ignorieren, aber ich weiß genau, wer so zaghaft anklopft.

Ein scharfer Stich fährt mir durch den Schädel, als ich mit meinem Handy das Türschloss entsperre. Es klickt und ich lasse mich zurück in die Kissen fallen. »Komm rein, Cara.«

In meinem Kopf beginnt ein Pochen, als die Tür aufgeht und wieder ins Schloss fällt.

Zögernd lugt Cara um die Ecke. »Habe ich dich geweckt?«

Ich schüttele den Kopf, was sofort mit einem weiteren Stich bestraft wird. Niemals wieder Alkohol, schwöre ich und klopfe neben mir auf die Matratze. Leise kommt Cara herüber.

Über den grünen Augen, die wir beide und unser älterer Bruder Enzo von Dad geerbt haben, liegt ein Schatten. Bereitwillig legt sie sich neben mich und ich werfe die Decke über sie.

Das Sonnenlicht ist viel zu hell. Ich rolle herum und vergrabe das Gesicht im Kissen. Es dauert nicht lange, bis Cara mit der Sprache herausrückt.

»Die Zwillinge streiten schon wieder.« Sie flüstert es mir ins Ohr, als hätte sie Angst, dass Leo uns auf der anderen Seite der Wand hört.

Ich spanne mich an. Die Zwillinge können weder mit- noch ohne einander. Früher waren sie unzertrennlich, aber inzwischen, mit siebzehn, entwickeln sich beide in vollkommen unterschiedliche Richtungen.

»Worum ging es denn?« Ich ziehe mir die Decke über den Kopf.

»Lea ist mitten in der Nacht verschwunden und erst früh morgens wiedergekommen. Leo hat sie abgefangen und die beiden haben gestritten.«

Ich spare mir die Frage, woher Cara weiß, was mitten in der Nacht passiert ist. Sie ist ein Hausgespenst, obwohl Dad ihr das nächtliche Herumschleichen mehr als einmal verboten hat.

Cara schnieft. »Er hat gesagt, dass sie sich wie ein billiges Flittchen verhält.«

Innerlich verfluche ich die Zwillinge. Sie tragen ihre Streitigkeiten immer so aus, dass das ganze Haus es mitbekommt.

Oder viel mehr die Seite des Hauses, die meine Geschwister und ich bewohnen. Vor mamma tun wir alle so, als wären wir eine perfekte Familie und Dad würde die Streitigkeiten nicht einmal bemerken, wenn sie in seinem Schlafzimmer stattfinden würden. Schließlich muss er arbeiten.

Eigentlich sind mir die Zickereien egal. Aber Cara machen sie Angst, also muss ich mich darum kümmern.

Ich hebe meinen Kopf wieder unter der Decke hervor. »Man sagt oft Dinge, ohne sie zu meinen«, starte ich einen armseligen Versuch, das Ganze harmlos wirken zu lassen.

»Sie streiten immer!«, verkündet sie. Todsicher kann Leo sie hören. »Sie vertragen sich auch immer«, gebe ich zu bedenken und wische ihr die Tränen von den Wangen.

Cara zieht die Nase hoch.

»Wo warst du gestern? Du warst erst um fünf Uhr zuhause.«

Ich versuche, mich aufzurichten, scheitere aber an meinem Schädel. Stöhnend sinke ich zurück in die Kissen. »Und woher weißt du das? Warst du etwas um fünf Uhr noch wach?«

»Ich bin davon aufgewacht«, behauptet sie und piekst mir mit dem Finger zwischen die Rippen. Sie grinst. »Du hast dich betrunken, oder?«

Anstatt zu antworten, ziehe ich ihr mit dem Kissen eins über.

»Wenn Dad mitbekommt, dass du nachts rumschleichst, musst du wieder früher ins Bett.«

»Ich bin fast elf, Adrian! Ich brauche dann weniger Schlaf, also kann ich bis halb neun aufbleiben!«

»Erstens bist du aber noch keine elf. Zweitens schläfst du nicht direkt, wenn du ins Bett gehst. Und drittens bin ich schon zwanzig und brauche auch mindestens neun Stunden Schlaf.«

»Nein«, protestiert sie. »Du bist bloß faul. Aber mein Gehirn funktioniert auch mit weniger Schlaf.«

»Ich zweifle daran, dass dein Gehirn überhaupt funktioniert und außerdem – aua!« Ich rolle herum und begrabe sie unter mir, als sie mich boxt. Sie kiekst und leistet keinen nennenswerten Widerstand.

»Sollte Samantha dich nicht schon abgeholt haben?«, wechsele ich das Thema und ziehe den Arm weg, als sie versucht, mich zu beißen.

Eigentlich fährt Cara heute mit ihrer Patentante nach Südengland, um den Sommer und ihren Geburtstag an der Küste zu verbringen. Die Seeluft hilft gegen ihr chronisches Asthma.

Cara schüttelt den Kopf, tritt mir mit voller Wucht gegen das Schienbein und entkommt mit diesem unfairen Manöver meiner Umklammerung.

»Tante Sam kann nicht, sie hat angerufen. Dafür fahre ich mit mamma, sie sagt es nur gerade noch Dad.«

Das bedeutet einen Monat mit Dad, den Zwillingen und Enzo allein zuhause. Und heute kommt auch noch die restliche Familie aus Italien, nur um mich zu nerven.

Auf gar keinen Fall tue ich mir das an. Cara und mamma sind die Einzigen, für die ich so tue, als wäre zuhause, bei meiner Familie, der beste Ort der Welt. Ich muss ausziehen. Vielleicht zu Emmett, ansonsten ins Hotel.

»Du vermisst mich, wenn ich weg bin, oder?«

Ich richte mich endlich auf und betaste mein Schienbein, dessen Pochen mich ein bisschen von meinem hämmernden Schädel ablenkt. »Warum sollte ich? Du warst doch so nett, mir einen blauen Fleck als Andenken zu hinterlassen.«

Ein paar Stunden später, die Cara netterweise mit Packen verbracht hat, so dass ich doch noch Schlaf nachholen konnte, stehe ich mit den Zwillingen und Enzo vor dem Haus und sehe zu, wie mamma und Cara davonfahren.

Sobald sich die Torflügel schließen, dreht Enzo sich um und verschwindet im Haus. Leo und Lea machen Anstalten, das Gleiche zu tun, aber ich packe sie beide an der Schulter.

»Hiergeblieben.«

Von beiden Seiten trifft mich ein unnachgiebiger Blick aus schokobraunen Augen.

»Ich muss los«, protestiert Leo und schüttelt den Kopf, so dass die braunen Locken ihm ins Gesicht fliegen.

Ich ignoriere ihn und wende mich Lea zu. »Wann bist du heute nach Hause gekommen?«

Ein bockiger Ausdruck schleicht sich auf ihr Gesicht und sie verschränkt die Arme. »So gegen fünf. Was geht’s dich an?«

»Wie? Mit der Bahn?«

Sie brummt Zustimmung und Leo windet sich aus meinem Griff, bevor er sie anschnauzt: »Nicht mal nach Hause fahren kann der Typ dich? Was ist das denn für ein Wichser?«

Lea strafft die Schultern und ignoriert ihn, als sie mich fragt:

»War das alles?«

Ohne meine Antwort abzuwarten, tritt sie einen Schritt zurück. »Warum glaubt ihr eigentlich, dass ihr das Recht habt, euch in mein Leben einzumischen?«

»Uns in dein Leben einmischen? Du kannst dich nicht einfach so aus dem Haus schleichen, um dich mit irgendeinem Wichser zu treffen!«

Ich rolle die Augen. Offensichtlich ja doch. Grundsätzlich ist es mir vollkommen egal. Sie kann selbst auf sich aufpassen und ihr Leben ganz gut selbst bestimmen.

Lea senkt den Kopf, so dass das braune Haar ihr wie ein Vorhang vors Gesicht fällt. Das macht sie immer, wenn sie kurz davor ist zu heulen. Irgendwo zwischen schlechtem Gewissen und Genervtheit ziehe ich meine kleine Schwester an mich und zwinge sie mit sanfter Gewalt dazu, mich anzusehen. Sie hat die Lippen zusammengepresst und in ihren Augen glitzern Tränen. Bei dem Anblick verpufft meine Genervtheit. »Macht er dich glücklich, topolina?«

Sie zuckt die Schultern. »Wenn ich bei ihm bin.«

»Behandelt er dich gut?«

Leo wird von einem giftigen Blick getroffen. »Besser als so ziemlich jeder andere.«

»Warum lässt er dich dann mitten in der Nacht mit der Bahn nach Hause fahren?«, frage ich und werde prompt das nächste Opfer ihres Killerblicks.

»Vielleicht, weil ich in der Lage bin, meine eigenen Entscheidungen zu treffen? Vielleicht lasse ich mich nicht von jemandem bevormunden, nur weil er ein X- und ein Y-Chromosom hat?«

Ihre Stimme ist laut und schneidend. Plötzlich klingt sie wie nonna.

Sofort rudere ich zurück. »Das weiß ich natürlich. Aber hat er angeboten, dich nach Hause zu bringen?«

Sie schlägt die Augen nieder. »Er hat noch geschlafen, als ich gegangen bin, und ich wollte ihn nicht wecken.«

Leo öffnet den Mund, doch sein Zwilling kommt ihm zuvor.

»Ja, das verstehst du richtig. Ich habe Sex, ohne die geringste Absicht, den Idioten zu heiraten oder euch vorzustellen. Arbeite lieber daran, dass du eine Beziehung ohne Sex hast, als dich über meinen Sex ohne Ehe aufzuregen, du blöder Chauvi!«

Ich versuche erfolglos, mir mein Grinsen zu verkneifen. Leonardo fordert mich stumm auf, etwas zu tun, aber Lea hat absolut Recht. Eigentlich will ich applaudieren. Sie soll tun, was sie will.

Nicht, dass irgendwer sie davon abhalten könnte.

»Das nächste Mal rufst du dir einen Wagen oder bleibst bis morgens«, sage ich. »Du fährst nicht mitten in der Nacht allein mit der Bahn, wenn Gott weiß was für ein Abschaum sich darin herumtreibt. Tu mir den Gefallen, ja?«

Brav nickt sie und ich presse meine Lippen auf ihre Stirn.

Leo heult auf. »Warum bist du auf ihrer Seite? Sie schleicht sich raus, um irgendeinen Typen zu vögeln und du bist damit einverstanden?«

Ich drehe mich zu ihm herum. »Scheiße, Leo, das ist ihre Sache. Du bezeichnest sie als billiges Flittchen, bist du eigentlich bescheuert? Cara hat wegen euch geweint. Wenn ihr beide so ein großes Mitteilungsbedürfnis habt, dann schreibt einen Blog oder stellt euch auf eine Bühne. Aber ich erwarte, dass ihr euch in ihrer Gegenwart zusammenreißt!«

Mit einem wüsten Fluch auf den Lippen dreht Leo sich um und stürmt ins Haus, vermutlich direkt ins bunte Zimmer, wo er seine Wut in Pinsel und Farben kanalisiert. Genervt schaue ich hinterher. Selbst wenn er sich abregt, wird er mich heute Abend immer noch hassen.

»Meinst du, er kriegt sich wieder ein?«, fragt Lea milde interessiert. Ich schüttele den Kopf und lege den Arm um sie.

»Wohl kaum.«

Gerade als wir reingehen wollen, schwingt das Tor auf. Ein mattschwarzer Rolls-Royce rollt über den Kies und hält vor dem Springbrunnen. Der Chauffeur springt hinaus und öffnet die Tür des Fonds. Mit einem breiten Lächeln steigt James aus, wie üblich im Anzug. James gehört zur Familie. Er ist mit mamma zusammen aufgewachsen und Leas Patenonkel. Außerdem ist er der Patenonkel und Adoptivvater meines besten Freundes.

»Was ist das denn?«, fragt er und steigt die Stufen hoch. »Ein Empfangskomitee nur für mich?«

Ich schüttele den Kopf. »Ich bin auf dem Sprung, Lea wollte gerade reingehen.«

Lea wirft mir einen irritierten Blick zu. »Wohin denn?«

»Emmett, Jay und ich treffen uns in Colchester«, sage ich. Genau genommen nicht wirklich in Colchester, sondern in einem paradiesisch-friedlichen Landhaus in der Nähe. Aber in James’ Anwesenheit nimmt niemand Samanthas Namen in den Mund.

Er verzieht keine Miene. »Ich muss mit eurer Mutter reden.

Soweit ich informiert bin, sollte Cara heute fahren. Warum also erfahre ich von Emmett, dass ihr heute in Colchester seid?«

Das allerdings habe ich auch nicht verstanden. Sam musste ihren Urlaub mit Cara verschieben, aber wir können zu ihr? Es muss etwas Wichtiges sein, das sie zuhause hält, ansonsten würde sie Cara nicht versetzen.

»Mamma ist mit Cara gefahren. Sie sind vor fünf Minuten weg«, erklärt Lea bereitwillig.

»Weswegen?«

Ich begreife, warum James hier ist. Er macht sich Sorgen. Er hat mitbekommen, dass Sam und Cara nicht fahren, und wollte von mamma erfahren, warum. Er will wissen, ob etwas mit Samantha ist. Die zwei reden nicht miteinander. Haben sie nie, soweit ich mich erinnere.

Aber es gibt uralte Bilder von den beiden, auf denen sie sich in den Armen liegen und einander verliebte Blicke zuwerfen.

Es ist ein Tabuthema. Niemand redet darüber.

Lea zuckt mit den Schultern. »Samantha meinte, es sei persönlich.« James’ Antwort besteht aus einem nachdenklichen Brummen. Mit finsterer Miene starrt er einen Moment vor sich hin, bevor er die Hand in die Tasche schiebt. »Wo wir gerade von Persönlichem sprechen.« Er zieht ein Handy hervor. Es ist auffällig rot. Lea dagegen ist auf einmal ziemlich blass.

»Warum hat James dein Handy, Lea?«

Sie schweigt und wird noch blasser.

»Es lag in meiner Küche«, sagt James vergnügt und als ich die Bedeutung dessen erfasse, überkommt mich eine Welle Ekel.

»Warum ist Emmett gestern verschwunden, als wir mit den anderen im Club waren?«

Leandra windet sich unter meinem Blick, bevor sie James das Handy wegschnappt. »Du bist ein ehrenloser Verräter!«

Er schnaubt unbeeindruckt, ein amüsiertes Funkeln in den Augen. »Erstens klingst du wie deine nonna. Und zweitens: Was denkst du dir eigentlich, dich mitten in der Nacht aus dem Haus zu schleichen? Ohne eine Nachricht und ohne die Möglichkeit, dich zu erreichen? Ich war um sechs wach und habe halb London alarmiert, weil du weg warst. Lass mich dir einen Rat geben: Wenn du es nicht ertragen kannst, mit jemandem aufzuwachen, schlaf gar nicht erst bei ihm ein.«

Lea verschränkt die Arme. »Es ist deutlich weniger schlimm, neben Emmett einzuschlafen, als darauf zu warten, dass er wegdämmert, und zu verschwinden, während du mich dabei beobachtest wie Big Brother.«

James lacht, doch ich höre nur mit halbem Ohr zu. Mein bester Freund hat meine kleine, unschuldige Schwester in seinen Fängen. Ich saß in der ersten Reihe als alle seine Beziehungen den Bach runtergegangen sind. Und alle One-Night-Stands haben ihn früher oder später verflucht. »Ich werde ihn umbringen«, sage ich, nicke langsam und schaue in Leas Gesicht. »Ich werde ihn umbringen, Leandra. Und dann bist du dran.«

Leandra wirft sich mir in den Weg. »Bitte nicht, sonst werde ich mich den ganzen Sommer langweilen.«

»Lieber langweilst du dich zu Tode, als dass du dir von Emmett mit deiner Langeweile helfen lässt! Wenn du dir das Herz brechen lassen willst, dann sicher nicht von ihm!«

»Entschuldigung?«, faucht sie. »Du hast zuerst mit meiner besten Freundin geschlafen. Und ihr hattet eine Beziehung! Aber du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dumm genug bin, mich in Emmett zu verlieben! Weißt du nicht mehr die Sache mit Maisie? Oder Ava? Oder Pippa?« Verblüfft halte ich inne.

Ein selbstgefälliger Ausdruck schleicht sich auf Leas Gesicht.

»Tut mir leid, dass ich dich überraschen muss, aber man kann auch mit Typen schlafen, die man nicht liebt. Sogar, halt dich fest, wenn man sie nicht heiraten will!«

Ich verziehe das Gesicht. Die Idee, dass Lea und Emmett miteinander schlafen, gefällt mir nicht. Einer von beiden wird verletzt werden, vermutlich sie. Und das will ich nicht.

James räuspert sich. »Ich will mich ja nicht einmischen. Aber wir sind uns sicher alle einig, dass diese Hirnrissigkeit noch vor dem Herbstsemester vorbei sein wird.«

»Genau!«, sagt Lea. »Warum also willst du dich einmischen, Adrian? Wieso darfst du dich durch Londons Diskotheken vögeln, aber ich darf es nicht mit Emmett treiben?«

»Hör auf das zu sagen!«

James nickt zustimmend, einen angewiderten Zug um den Mund.

»Du bist ein Arsch, Adrian«, verkündet meine Schwester kühl und wirft das Haar zurück. »Und das nächste Mal, wenn du dich an etwas verschluckst und beinah erstickst, dann ist es hoffentlich deine Doppelmoral.« Sie stolziert nach drinnen.

James und ich sehen ihr hinterher.

»Es stört dich nicht, wenn ich Emmett dafür die Nase breche, oder?«, frage ich und werde mir auf der zweistündigen Fahrt überlegen, ob ich das vielleicht sogar ernst meine. London, Cambridge und alles dazwischen ist eine riesige Spielwiese für ihn. Warum ausgerechnet Lea? Sie ist zu gut für ihn.

»Solange kein Blut auf die Autositze kommt, nicht«, erwidert James. »Wie auch immer. Ich erwarte dich übermorgen bei der Versammlung.«

Beinah entgleitet mir das Grinsen. »Ich habe auch nicht vor zu schwänzen.« Lüge. Ich würde viel dafür geben, genau das zu tun. In mir keimt das Bedürfnis auf, ihn anzuschnauzen, also wende ich mich ab und springe die Stufen herunter.

»Adrian!«, ruft James mir hinterher. Widerwillig drehe ich mich um. In James’ verblüffend blauen Augen steht ein unnachgiebiger Ausdruck. »Falls du und Emmett diese Sache mit deiner Schwester austragen solltet, dann nicht in Samanthas Haus.«

Das ist das erste Mal seit langer Zeit, dass ich ihn Samanthas Namen aussprechen höre.

»Ich werde sie von dir grüßen. Sie freut sich bestimmt«, kann ich mir nicht verkneifen. Doch falls er eine Antwort gibt, höre ich sie nicht mehr.

3

Breathe (2 AM) – Anna Nalick

KATHARINA

Ich wache auf und wie ein Schlag trifft mich alles, was im letzten Jahr passiert ist. Die Wucht verschlägt mir den Atem. Mir wird schwindelig. Nach Luft ringend richte ich mich auf und blicke umher, während sich mein Herzschlag nur langsam wieder beruhigt.

Der Fernseher in der Ecke läuft immer noch. Inzwischen zeigen sie irgendein Frühstücksfernsehen, das mich kein Stück interessiert. Trotzdem lausche ich einen Moment dem sinnlosen Geplänkel, das sich wie Balsam für meine abgekämpften Nerven anfühlt.

Ich bin bei Samantha, meiner leiblichen Mutter. Und ich habe keine andere Wahl, als hierzubleiben, wenn ich meine Familie vor mir schützen will. Aus dem undurchdringlichen Schleier in meinem Inneren steigt Hass auf. Hass auf mich selbst. Es ist alles meine Schuld. Ich ringe ihn mit Mühe nieder, trotzdem bleibt ein schaler Beigeschmack.

Viel entschlossener als ich mich fühle, mache ich mich fertig.

Den dünnen Choker um den Hals tausche ich gegen eine schwere, silberne Kette, ohne die ich mich widerlich nackt fühle.

Den Weg in den Wintergarten finde ich problemlos. Der Raum streckt sich über die gesamte Breite des Hauses und geht in eine offene, hochmoderne Küche über. Allerdings ist sie nicht leer. Am Herd steht einer der drei Typen von gestern, Adrian.

Sein dunkles Haar glänzt im Licht der Sonne. Genau wie ich trägt er Jogginghose und T-Shirt. Vor ihm auf der Anrichte steht eine Schüssel. Mit verzweifelter Miene starrt er auf sein Handy.

»Guten Morgen«, sagt er abwesend.

Ich lehne mich auf die Anrichte und spähe in die Schüssel.

»Was soll das werden?«

Zwischen dunkeln Haarsträhnen sieht er mich finster an.

»Wonach sieht es denn aus?«

Ich schiebe ihn zur Seite und ziehe die Schüssel heran. »Nach einer leeren Schüssel.« Er holt die Schüssel zurück und greift nach einem Ei, um es auf der Anrichte aufzuschlagen.

»Wenn du das so machst, dann –« Ein Knacken unterbricht mich, das Ei zersplittert. Feixend reiche ich Adrian die Rolle Küchentuch, während er flucht.

Ich hüpfe auf einen der Hocker und nehme mir die Schüssel wieder. »Ein Ei schlägt man immer an einer Kante auf.«

Ich demonstriere es. Er verzieht das Gesicht und reicht mir ein zweites Ei, das ich ebenfalls erfolgreich aufschlage.

»Also was wird das?«, erkundige ich mich und wische mir die Hände ab. »Omeletts? Rühreier?«

Er schiebt das Handy über die steinerne Oberfläche und ich überfliege die Zutaten. Ganz plötzlich kommt mir der wehmütige Gedanke, dass meine Ma nicht mal dieses einfache Rezept schaffen würde, ohne die Küche in Brand zu stecken.

Ich reiche das Handy zurück und räuspere mich. »Schön, gib mir die Milch und eine Waage.«

Gehorsam beginnt Adrian, die Küche zu durchwühlen, und reicht mir kurz darauf besagte Dinge. Ich beginne, uns beiden Frühstück zuzubereiten. »Zucker, Salz, Mehl und Mineralwasser«, fordere ich. Adrian zieht die breiten Augenbrauen zusammen. »Das hast du dir gemerkt?«

»Nicht gerade die Genfer Deklaration. Zweimal eine Prise, 200 Gramm und 60 Milliliter.«

Seine Verwirrung weicht einem verstehenden Ausdruck. »Wieviel Akku hatte ich, als du das Rezept gesehen hast?«

Ich verstehe nicht, worauf er hinauswill. »89 Prozent, wieso?«

»Du hast ein fotografisches Gedächtnis.« Das ist ein ziemlich weit hergeholter Schluss, außer natürlich …

»Du kennst jemanden, der auch eins hat.« Ich weiß sofort, dass ich Recht habe. »Ist es Samantha?«

»Ich habe nichts dergleichen gesagt, hör auf zu raten.«

Ich schnaube. Offensichtlich verheimlicht er etwas.

Stille bereitet sich aus, während ich den Teig zusammenmische. Obwohl ich nicht aufsehe, spüre ich Adrians Blick.

Erst, als der Teig eine gleichmäßige Masse ist, sehe ich auf.

Adrians Augen haben die Farbe von moosüberzogenen Dachschiefern.

»Was?«

»Was was?«, entgegnet er und stellt die Pfanne auf den Herd.

»Was guckst du so?«

»Wie guck ich denn?«

»Du guckst mich an, als wäre ich ein verdammtes Zootier.«

Ich beginne automatisch an dem Holzring zu drehen, den ich am Mittelfinger trage.

»Entschuldigung«, sagt Adrian in einem Ton, der absolut nicht danach klingt, »aber du siehst Samantha so ähnlich.«

»Meine Augen sind ganz anders als ihre«, protestiere ich halbherzig, obwohl er natürlich Recht hat.

»Sie hat uns gesagt, dass du hierbleiben wirst.«

»Freu dich nicht zu früh.« Ich schenke ihm ein scharfes Lächeln. »Ich bin so schnell wie möglich wieder weg.« Auch, wenn die Aussichten darauf momentan finsterer als eine Neumondnacht sind. Dafür müsste ich nämlich erstmal eine Möglichkeit finden, die für meine Eltern in Ordnung geht.

»Wenn du abhauen willst, warum bist du dann überhaupt hier?« Verständnislos zieht er die Augenbrauen zusammen und ich begreife, dass Samantha ihnen nichts erzählt hat.

»Frag doch sie.«

»Findest du nicht, dass du sie ziemlich harsch behandelst? Sie war total durch den Wind. Dabei ist es, glaube ich, für euch beide nicht so leicht.«

Ich hebe die Augenbraue und stoße ein ungläubiges Lachen aus. »Entschuldigung, wer bist du nochmal? Hast du keine eigenen Probleme? Oder ein Zuhause?«

»Hast du denn eins?« Mit gekräuselten Lippen mustert er mich. »Wenn du nicht hierbleiben willst, könntest du einfach verschwinden. Aber so dringend willst du ja offensichtlich doch nicht gehen.«

Ich weiß selbst, dass ich zerzaust aussehe. Aber ich lebe seit zwei Wochen aus meinem Rucksack und wohne in B&Bs, da gibt es selten ein Ankleidezimmer oder einen Stylisten.

»Darüber solltest du dich eigentlich freuen, bedenkt man, dass du ohne mich nicht mal ein Frühstück hättest.« Schwungvoll gieße ich den Teig in die Pfanne.

»Ob du das machst oder das Personal, das ist mir vollkommen egal.«

Mit einem Seitenblick durch das Fenster stelle ich fest, dass der Ferrari noch immer auf dem Hof steht. »Haben Leute wie du eigentlich Angst, dass sie irgendwann in der Realität ankommen oder sind sie dafür zu abgehoben?«

»Leute wie ich?« Er lässt es wie etwas Positives klingen.

»Leute, die von Daddy eine teure Sportkarre geschenkt kriegen, weil er weder Zeit noch Lust hat, ihnen das Lesen von Busplänen beizubringen.« Es ist ein achtlos daher gesagter Satz, aber darin muss ein Funken Wahrheit stecken, denn Adrian starrt mich nun feindselig an.

Ich lächle bloß.

Leider klingelt sein Handy bevor er zurückschießen kann.

Wortlos geht er zur Hoftür, dreht sich aber nochmal zu mir um. »Wenn du so viel alltagstauglicher bist als ich, dürfte es für dich ja kein Problem sein, Nutella auf meinen Pfannkuchen zu machen. Und bitte nicht die Ränder auslassen.« Dann zieht er die Tür hinter sich zu.

Finster schaue ich hinterher und überlege, ob ich ihn treffe, wenn ich die Pfanne aus dem Fenster werfe. Stattdessen jedoch bleibt mein Blick am Regal neben dem Kühlschrank hängen.

Ein grimmiges Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus.

Er will Nutella? Kann er kriegen.

Einige Augenblicke später beendet Adrian das Telefonat und kommt in die Küche zurück. Er betrachtet den zusammengefalteten Pfannkuchen mit unlesbarer Miene. »Soll ich dir jetzt die Hand dafür küssen, dass deine Überlebensfähigkeit mir mein Frühstück beschafft hat?«, spottet er, doch ich greife lediglich nach einer der Pflaumen in der Obstschale. Ohne abzuwarten, rollt Adrian den Pfannkuchen ein und nimmt beherzt einen großen Bissen. Er kaut, stockt und hustet auf einmal.

Unauffällig bewege ich mich rückwärts in Richtung Hoftür.

Adrian holt zischend Luft, über seinen Hals und die Wangen kriecht Röte. Er keucht.

»Du weißt es vielleicht nicht, aber gute Gewürze sind das Wichtigste beim Kochen«, sage ich und sehe zu, wie er prustet.

»Was hast du gemacht?«, fragt er und hechelt dabei wie ein Hund. Ich werfe ihm eine Dose zu. Er fängt sie auf und schaut röchelnd auf das Etikett. Chili.

Als sein Blick wieder meinem begegnet, ist er tödlich. Ich lächele, zeige ihm den Mittelfinger und trete aus der Tür.

Zufrieden gehe ich an seinem Wagen vorbei nach links über den Kies, bis ich vor dem Zaun stehe, der das Gelände umfasst.

Mir fällt ein Griff ins Auge. Ich stehe nicht nur vor dem Zaun, sondern vor einem Tor.

Sofort öffne ich es und schlüpfe nach draußen.

Ich lande auf einer sandigen Straße, die mit Sicherheit schon bessere Tage gesehen hat. Auf der anderen Seite wird sie von hohen Hecken gesäumt, die sich einige Meter weiter zu einem eleganten Torbogen erheben, durch den ein LKW passen würde.

Von dort vernehme ich ein Geräusch, das meine Gedanken sofort klärt. Es ist laut und schrill und vertraut.

Auf eine gute Art.

Ich überquere die Straße, gehe durch den Torbogen und lande auf einem gepflasterten Weg. Rechts erweitert er sich zu einem Parkplatz, auf dem ein paar Autos und ein großer Transporter stehen. Vor mir erheben sich mehrere Gebäude mit hohen, zweiflügligen Toren. Aus einer davon ertönt erneut ein Wiehern und ein Mann mit zwei Pferden tritt heraus.

Nur zu gerne mache ich mich des Hausfriedensbruches schuldig und betrete den Stall, in dem mich die vertraute Geruchsmischung aus Stroh, Fell und Lederzeug empfängt, die meine Nerven sofort beruhigt.

In den Boxen stehen Stuten mit ihren Fohlen und obwohl ich mich sträube, zieht es mich zu einer der Türen, über die gerade so eine kleine Nase herausschaut. Das Fohlen hat zerzaustes Fell und riesige Augen, die mich unschuldig anblinzeln. Es schnuppert an meinen Fingern, während seine Mutter misstrauisch den Kopf hebt, mich kurz betrachtet und sich dann wieder ihrem Heu zuwendet. Ich streiche dem Fohlen über die Nase und es beginnt, an meinem Arm zu knabbern. Gegen meinen Willen lächele ich.

Jedenfalls bis hinter mir eine aufgeregte Stimme ertönt: »Samantha! Ich glaube, Athos geht es nicht gut!«

Eine Hand wird auf meinen Arm gelegt und ich wirbele herum.

Vor mir steht ein Mädchen, das mir gerade einmal bis zur Schulter reicht. Ihr kindliches Gesicht irritiert mich kurz, bevor ich realisiere, dass ihre Augen unterschiedliche Farben haben. Das eine ist dunkel wie Zartbitterschokolade, das andere strahlend wie ein wolkenloser Himmel.

»Er humpelt«, schließt sie lahm und blinzelt verwirrt.

»Hast du mich gerade für Samantha gehalten?«

Ihr herzförmiges Gesicht wird knallrot. »Tschuldigung. Ich habe nur die Haare gesehen.«

Ihr Blick fällt auf meine Klamotten. »Ich glaube nicht, dass sie überhaupt Jogginghosen besitzt.« Bestimmt nicht. Wahrscheinlich schläft sie in einem Pyjama, dessen Hemd Knöpfe hat.

»Ich bin Katharina.«

Das Mädchen lächelt. »Du bist Sams Tochter, richtig?« Ich lehne mich gegen die Box hinter mir. »Sieht so aus.« Im wahrsten Sinne des Wortes. »Und du?«

»Marianne-Louise. Aber du kannst Mary-Louise sagen. Oder Mary-Lou. Die Jungs sagen May. Eigentlich höre ich auf alles.«

Sie grinst. »Du kennst meine Großeltern. Albert und Loretta.«

Der Butler und die Haushälterin. Deswegen weiß sie vermutlich, wer ich bin.

»Samantha erlaubt mir herzukommen und mein Taschengeld aufzubessern. Sie ist mit meiner Mum aufgewachsen, weißt du?« Nein, woher denn? Mich macht allerdings etwas ganz anderes stutzig.

»Was meinst du damit, sie erlaubt dir herzukommen?«

Mary-Lou zuckt die Schultern. »Das hier gehört ihr.«

»Das alles?« Ich mache eine Geste, die die Gebäude, die Pferde und das Grundstück umfasst. Das Mädchen vor mir nickt, als wäre es das Normalste der Welt, einen riesigen Stall zu besitzen. Ob Samantha damit ihr Geld verdient?

Mary-Lous Miene hellt sich auf. »Da ist sie ja. Samantha!«

Ich drehe den Kopf und folge ihrem Blick. Und tatsächlich, da ist Samanta. Sie steht draußen auf dem Hof in Reithosen und Wildlederstiefeln und unterhält sich mit zwei Männern. Zum Glück hat sie Mary-Lou nicht gehört.

»Ich muss gehen«, verkünde ich reflexartig. Ich will ihr nicht begegnen. Am liebsten wäre ich ihr niemals begegnet.

Bevor Mary-Lou antworten kann, verschwinde ich durch den Gang in die entgegengesetzte Richtung. Durch eine langgezogene Gasse schlüpfe ich auf den Hof und in den nächsten Stall.

Da die Gebäude U-förmig um den großen Innenhof angelegt sind, kann ich auch von hier meine biologische Mutter sehen.

Sie legt gerade lachend den Kopf in den Nacken.

Es ist verstörend, sie so zu sehen. Nicht nur, weil sie zu mir gestern völlig anders war, sondern auch wegen unserer Ähnlichkeit. Wann habe ich das letzte Mal so gelacht? Richtig und herzlich? Es muss mehr als ein halbes Jahr her sein, noch bevor ich siebzehn geworden bin. Verschreckt von diesem Gedanken weiche ich zurück, bis ich gegen eine Wand stoße. Samanthas Anblick verschwimmt und das Nächste, was ich spüre, ist, wie etwas nach meinen Haaren greift. Erschrocken fahre ich herum und sehe in große, dunkle Augen.

Ich stand mit dem Rücken an einer Boxentür mit offenen Gitterstäben. Und der Griff in meinem Haar waren große, gelbe Pferdezähne. Der hübsche Rappe schnaubt und reckt seinen muskulösen Hals, um erneut an meine Haare zu gelangen. Ich schiebe seine Nase weg und er wackelt unwillig mit dem Kopf wie ein bockiges Kind.

Auf dem Schild an seiner Tür stehen sein Name, Magistos Equinox, und ein lächerlich ausführlicher Stammbaum. Ich rolle mit den Augen und schlüpfe zu ihm in die Box. In der Ecke liegt ein Ballen Stroh, auf den ich klettere. Equinox reckt den Hals und legt den Kopf in meinen Schoß, wo er an der fast vergessenen Pflaume schnuppert.

»Willst du was abhaben?« Ich kraule ihn wieder.

Mir war bewusst, dass Samantha wohlhabend ist. Das Haus ist riesig, genau wie der Garten, Und dann dieser Stall hier. Die Autos der Jungen.

Ich bin mit Geld aufgewachsen. Mein Vater ist bekannter Chirurg und Chefarzt, sein Vater war Politiker auf Bundesebene, seine Mutter hat die Paracelsus-Medaille verliehen bekommen.

Meine Mutter führt eine erfolgreiche gynäkologische Praxis und auch bei uns zuhause gibt es eine Haushaltshilfe.

Ich war auf einer teuren Privatschule und bin es gewohnt, mindestens dreimal jährlich Urlaub zu machen. Geld zu haben ist mir nicht fremd. Aber nicht diese Art von Geld. Was Samantha hier hat, ist absurd. Abgesehen von meinem besten Freund Chester, der täglich auf roten Teppichen posiert, muss sie der reichste Mensch sein, den ich kenne.

Gedankenverloren esse ich die Pflaume. Normalerweise würde ich jetzt die letzten Klausuren vor den Sommerferien schreiben. Vielleicht würde ich den Sommer bei Chester in Monaco verbringen, so wie letztes Jahr. Und nach dem Sommer ginge es an mein letztes Schuljahr. Ein bisschen weniger Partys, ein bisschen weniger arbeiten. Aber es wäre trotzdem noch mein Leben. In meinem Zuhause, bei meiner Familie.

Hier ist nichts normal. Ich bin nicht zuhause. Ich rede nicht mit meiner Familie, ich ignoriere meine Freunde. Ich habe fast ein halbes Schuljahr verpasst. Ich weiß nicht, wie es weitergehen wird.

Tatsache ist, dass Samantha mich unter ihrer Kontrolle hat.

Vielleicht weiß sie es noch nicht, doch ich würde alles tun, um nicht zurück nach Frankfurt zu müssen. Einmal für meine Eltern. Egal wie oft sie widersprechen, ich weiß genau, dass ich eine Belastung bin. Aber auch, weil an jeder Ecke, jeder Straßenlaterne und jedem verdammten Haus Erinnerungen darauf warten, wie Dämonen über mich herzufallen. Ich kann nicht nach Hause. Niemals.

Ich muss unter allen Umständen hierbleiben. Also werde ich nach Samanthas Regeln spielen müssen. Nach Regeln, die ich nicht einmal kenne.

Die Sonne beginnt über dem Himmel zu wandern, während ich grübele und mich in Gedankenspiralen verliere. Wo wohl der zweite Teil meiner genetischen Herkunft ist? Ich glaube nicht, dass er ein bedeutungsloser One-Night-Stand war. Dafür ist Samantha nicht der Typ. Denke ich.

Irgendwann, als die Futtermaschinen zeitgleich Futter in alle sechs Boxen auf dem Gang streuen, richte ich mich auf. Neidisch beobachte ich, wie Equinox das Futter praktisch inhaliert und hüpfe von meinem Strohballen. Der Stall ist inzwischen menschenleer, vermutlich weil es sowieso zu warm ist, um mit den Pferden irgendetwas anzufangen. Ein letztes Mal klopfe ich Equinox den Hals, dann mache ich mich auf den Weg zurück zum Haus. Auch der Aston Martin steht jetzt wieder davor.

Sobald ich die Küche betrete, bereue ich, nicht die Haustür genommen zu haben.

Jay steht dort. Er lächelt zögernd. »Da bist du ja.«

»Wo soll ich denn auch sonst sein?«, murre ich und schnuppere.

Es riecht nach Essen. »Ich hab Hunger.«

»Dann bist du genau pünktlich.«

Ich folge seinem Blick auf die Terrasse. Emmett, Adrian und Samantha sitzen am Tisch.

»Kann ich nicht hier drinnen essen?« Ich verziehe das Gesicht, als Jay den Kopf schüttelt. »Wieso frage ich dich? Wer bist du überhaupt?«

»Jonathan«, antwortet er bereitwillig. »Aber bitte nur Jay.«

»Mein … Bruder?« Gott sei Dank schüttelt er den Kopf.

»Cousin. Mein Dad George ist Sams Bruder.«

George. Der Name sagt mir etwas. Nur was? Und warum kann ich mich nicht erinnern?

Offenbar sieht Jay mir meine schlechte Stimmung an und rudert sofort zurück. »Aber ich bin nicht oft hier. Also kaum.

Wir werden uns praktisch gar nicht begegnen.« Mir doch egal.

»Schön. Noch was oder kriege ich endlich etwas zu essen?«

Er lässt sich nicht zu einer Antwort herab, sondern hält mir lediglich die Tür zum Garten auf.

Die von einem Baum überschattete Terrasse ist an den Ecken von Büschen und Beeten begrenzt und geht in einem penibel geschnittenen Rasen über.

Samantha sitzt am Kopfende des Tisches, Jay schnappt sich den Platz neben Emmett. Ihm gegenüber lasse ich mich neben Adrian fallen.

Der Tisch ist mit Schalen und Tellern gedeckt und Samantha verteilt gerade Steaks. Der Geruch nach frischen Kräutern lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Meine biologische Mutter lächelt, als ich mich setze. »Wie schön, dass du zum Essen kommst. Ich habe dich den ganzen Tag nicht gesehen!«

Ich ziehe den Teller mit Steaks zu mir und spieße zwei davon mit der Gabel auf. »Hm, ja. Schade.«

Auf einmal sieht ihr Lächeln angestrengt aus. »Geht es dir gut? Brauchst du etwas?«, erkundigt sie sich nichtsdestotrotz und legt mir die Hand auf die Schulter.

Beinah lasse ich die Gabel fallen. »Finger weg!« Finster sehe ich sie an. Ihr Lächeln bricht in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

Stattdessen tritt ein verletzter Ausdruck in ihre Augen, der aber schnell wieder verschwindet. Überrascht mustere ich sie. Was hat sie denn erwartet? Dass ich ihretwillen hierbleibe? Um sie kennenzulernen? Eine Beziehung zu ihr aufzubauen?

Adrian und Emmett versuchen, mich mit Blicken zu durchbohren, Jay interessiert sich sehr für seinen Teller. Ich warte nicht darauf, dass sie anfangen zu essen, sondern schaufele die Steaks in mich hinein, als hätte ich tagelang gehungert. Nach einem Moment dröhnender Stille, nur unterbrochen vom entfernten Plätschern eines Baches, greift Samantha mit steinerner Miene nach ihrer Gabel. Sofort tun die Jungs es ihr gleich.

Sobald mein Teller leer ist, lasse ich das Besteck fallen und schiebe den Stuhl zurück.

Ich bin fast an der Terrassentür, als Samantha sagt: »Morgen um halb acht fahren wir nach London. Ich möchte, dass du dann fertig bist.« Ich schmettere die Tür so fest hinter mir zu, dass die Scheiben klirren.

Ich habe noch Zeit, bis ich fertig sein soll und diese fünf Minuten nutze ich, um die Gestalt im Spiegel zu betrachten. Meine Haare reichen inzwischen bis über die Taille und das Gewicht zieht sie zu losen Wellen. Unter den Sommersprossen bin ich blass und trotz der Tatsache, dass ich über zehn Stunden geschlafen habe, schimmern unter meinen Augen lila Schatten.

Ich sehe ungesund aus. Und krank.

Wütend über diesen erbärmlichen Anblick wende ich mich ab, gerade als es an der Tür klopft. Davor steht Samantha. Sie trägt einen eleganten Einteiler und hat sich eine dramatische Sonnenbrille ins Haar geschoben.

»Guten Morgen. Bist du soweit? Dann komm.«

Sie führt mich nach unten. Vor dem Haus wartet eine Maybach S-Klasse. In Selenitgrau Magno. Allein diese Farbe kostet einen vierstelligen Aufpreis.

Albert steht neben der Limousine und öffnet uns die Tür. »Guten Morgen, die Damen.«

Samantha und ich antworten beide gleichzeitig, bevor sie mir den Vortritt lässt, mich in die bequemen Polster sinken zu lassen. Auf dem Fahrersitz, der wohlgemerkt auf der falschen Seite ist, sitzt ein Mann im Anzug, der uns ebenfalls einen guten Morgen wünscht. Samantha wechselt ein paar Worte mit ihrem Chauffeur, Terrence, dann geht es los.

Ich starre aus dem Fenster, doch als auf den ersten Autobahnschildern London verkündet wird, verkrampfe ich mich. Ich bezweifle, dass Samantha mir einfach nur die Hauptstadt zeigen will. Erstens war ich schon zweimal in London und zweitens braucht man dafür eher einen Monat als nur einen Tag.

Aber London hat mehr als fünf Flughäfen. Wer weiß, ob Samantha mich nicht zu einem davon schleppt und nach Frankfurt fliegt. Als Strafe für mein Verhalten.

Ich balle die Hände zu Fäusten und entkrampfe sie wieder.

Bei dem Gedanken nach Hause zu fliegen, wird mir nicht nur kalt, sondern auch speiübel.

Abwesend fummele ich an der Sitzheizung herum und versuche gleichzeitig, mir nichts anmerken zu lassen.

Ein und aus.

Ein und aus.

Ganz ruhig. Ich schiebe die Hände unter die Oberschenkel und hoffe, dass meine biologische Mutter mich nicht ansieht.

»Sieh mal«, sagt sie auf einmal und ich sehe an ihr vorbei aus dem Fenster, gerade als wir über eine Kreuzung fahren. Dort ist die Towerbridge. Noch bevor ich sie richtig gesehen habe, schiebt sich der Londoner Tower in mein Blickfeld.

Langsam blinzele ich. Das letzte Mal, dass ich diesen Anblick genossen habe, war Silvester, als ich gerade fünfzehn war. Damals war ich unbeschwert. Unschuldig geradezu. Mein Leben war gut, als ich mit Maxi eine gemeinsame Freundin und ihren Großvater hier in London besucht habe. Was wohl damals meine größte Sorge war? Nicht genug Zeit zu haben, um alles zu besichtigen? Das Feuerwerk zu verpassen? All das erscheint mir jetzt so sinnlos, so klein, so unbedeutend, wenn ich darauf zurückblicke. Was würde ich dafür geben, wieder fünfzehn zu sein? Was ist mir denn geblieben?

Nichts ist die Antwort. Ich habe nichts mehr. Nichts außer meiner Angst und dem Terror, der in mir schlummert.

Ein trockenes, würgendes Geräusch steigt in meiner Kehle empor. Samantha dreht sich alarmiert um. »Katharina?«

Ich greife mir an den Hals und umfasse die schwere Kette, die dort liegt. Ich bemühe mich um ruhige, tiefe Atemzüge und blende ihre besorgte Stimme aus. Konzentriere mich nur auf meinen Atem und bete, hier im Auto nicht vollkommen die Kontrolle zu verlieren.

Ein und aus.

Ein und aus.

Samantha greift nach meinem Handgelenk und ich öffne die Augen. Sie ist blass geworden und hält meine Hand fest umklammert. Die metallenen Glieder ihrer Armbanduhr pressen sich gegen meine Haut.

Ein und aus.

Ein und aus.

Langsam beruhigt sich mein Herzschlag und ich reiße meine Finger aus Samanthas Griff, bevor ich von ihr abrücke.

»Es ist alles gut«, sage ich abweisend und starre dann aus dem Fenster. »Wo fahren wir hin?«

Samantha schweigt einen Moment, bevor sie sich räuspert.

»Bond Street. Du brauchst Klamotten.«

»Bond Street«, wiederhole ich.

Klar kenne ich die Bond Street. Aber zum Shoppen würde ich lieber irgendwo hin, wo ich mich wohler fühle. Ich lehne mich vor. »Hey, Terence, bringen Sie uns ins Westfield London.«

»Nein!«, geht meine biologische Mutter energisch dazwischen.

»Ich will nicht in die Bond Street«, protestiere ich. »Aber okay.

Ich habe mich wohl in der Annahme geirrt, dass du willst, dass ich mich wohl fühle.«

Im Westfield Shopping Centre ist es genauso voll wie erwartet, aber als wir aus dem Auto steigen, geht es mir sofort besser.

Eine bunte Mischung aus Leuten schlendert durch das Einkaufszentrum. Irgendwie tröstlich. Ich bin Großstadtkind.

»Wieviel bezahlst du mir?«

Samantha verzieht die Lippen zu einem dünnen Strich, die Augen sind hinter der Sonnenbrille verschwunden.

»Finde doch erstmal etwas, das du mitnehmen willst«, antwortet sie kurz angebunden und mit einem Unterton, der so klingt, als ob sie daran zweifelt. Dabei hat das Westfield beinah die gleichen Läden zu bieten, wie die Bond Street.

Ohne zu zögern stürme ich die Läden.

Natürlich fange ich bei Hugo Boss an und wühle mich durch die Kleiderständer, während Samantha mir mit säuerlicher Miene hinterherläuft.

Ich verschwinde hinter dem Vorhang und probiere den ganzen Kram an. Am liebsten würde ich die Hälfe mitnehmen, aber darum bitten werde ich auf gar keinen Fall.

Mit gemischten Gefühlen trete ich aus der Umkleide. Mit den Klamotten an die Brust gepresst wie ein Schutzschild, drehe ich mich zu Samantha um.

Nach einem Moment der Stille hebt sie die Brauen.

»Soweit ich weiß, kommt die Kasse nicht zu einem, sondern andersherum.« Energisch schnipst sie hinüber zur Theke, wo sie aus ihrer beigen Paloma S das Portemonnaie hervorholt und eine glänzende Kreditkarte über das Lesegerät zieht. Ohne sie anzusehen, brumme ich einen Dank.

Dieses Spiel spielen wir noch sehr oft. Ich wühle mich durch so ziemlich jeden Laden. Jedes Mal bezahlt sie klaglos.

Es fühlt sich gut an, ihr Geld aus dem Fenster zu werfen. Wie Rache, irgendwie.

Nicht dafür, dass sie mich weggegeben hat, das ist mir egal.

Ich hatte eine großartige Kindheit. Sondern dafür, dass sie mich zwingt, bei ihr zu bleiben und so zu tun, als wären wir eine glückliche Familie. Abgesehen davon, dass sie reich ist, muss sie ein wirklich schlechtes Gewissen haben. Meine Eltern würden mir einen Vogel zeigen, wenn ich sie um einen solchen Ausflug gebeten hätte.

Als wir mit Tüten vollgepackt sind, die Hälfte hat Samantha nach Colchester bestellen lassen, kehren wir zum Auto zurück.

Netterweise nimmt Terence uns unsere Last ab und verstaut sie, während wir einsteigen.

»Wohin jetzt, Ma’am?«

Samantha macht bloß eine unwirsche Handbewegung in meine Richtung. »Oxford Street«, entscheide ich. Ich will mein Glück überstrapazieren. Chanel und Manolo Blahnik.

»Oxford Street«, wiederholt Samantha bedrohlich. »Weißt du, was sich daneben befindet?«

»Die Bond Street. Wobei Bond Street nicht korrekt ist, denn eigentlich sind es zwei Straßen, die New und die Old Bond Street.« Sie nickt langsam, nur mühevoll beherrscht.

»Und warum genau mussten wir dann herkommen?«

»Was heißt denn hier mussten? Wenn du dich anstellen willst, dann fahren wir eben nicht in die Oxford Street, sondern zurück zu dir nach Hause. Tut mir leid, dass ich dachte, dass es dir um meine Wünsche geht.«

Samanthas Augen werde sofort weicht und sie macht eine jähe Bewegung mit dem Arm, als würde sie nach meiner Hand greifen wollen. Zum Glück lässt sie es bleiben.

Eigentlich ist der Grund, warum ich nicht in die Bond Street will, etwas ziemlich Albernes. Genauso albern, wie der Grund, warum der Anblick von Samanthas Paloma S sich wie ein Messer in meiner Brust anfühlt.

Es erinnert mich an meine Ma. Sie hat auch eine Paloma S, wenn auch in braun. Und vor einem Jahr sind wir für ein Wochenende nach London gekommen und haben so ziemlich die gesamte Bond Street leergekauft. Nur wir und Maxi, während Dad und Paul zuhause geblieben sind. Wir haben becherweise Eiscreme in uns hineingeschaufelt und tausende von Euros ausgegeben. Damals, als noch alles gut war. In besseren Zeiten.

»In Ordnung«, gibt Samantha nach. »Wir fahren in die Oxford Street, Terence.«

Dort geht es weiter. Ich kaufe mir zu viele Schuhe, außerdem eimerweise Schminkkram und natürlich Schmuck. So viel, dass ein Drache neidisch werden könnte.

Ringe und Kettchen, Halsbänder und ein Collier, das den Gegenwert eines Kleinwagens hat.

Bei Intimissimi mache ich mir einen Spaß daraus, Samantha zu provozieren. Alles mit Spitze oder Riemchen oder Glitzersteinen und Leder nehme ich mit. Je knapper, desto besser, und mit jedem durchsichtigen, winzigen Stück Spitze wird ihre Gesichtsfarbe röter.

»Dieser oder der hier?«, erkundige ich mich unschuldig und halte zwei BHs hoch, die jeweils mehr zeigen, als sie verbergen. Samantha verwandelt sich in eine Tomate. Ihr klingelndes Handy bewahrt sie davor, eine Antwort stammeln zu müssen.

»Was?«, bellt sie in den Hörer, offenbar froh, jemanden anschnauzen zu können. »Ein was bitte? Willst du mich ver… Ist das ein Scherz? Wie kann das passieren? Die Leitungen sind letztes Jahr alle erneuert worden! Schön, ich bin unterwegs, aber es wird dauern.«

ADRIAN

An manchen Tagen, so sagt meine nonna, lohnt es sich nicht, aufzustehen. Heute ist so ein Tag.

Seit ich aus Samanthas Einfahrt gerollt bin, hätte ich am liebsten einfach wieder geparkt und mich zurück ins Bett gelegt.

Aber heute war meine letzte Klausur vor den Semesterferien und außerdem ist da noch das Meeting von Bellini.

Eigentlich hatte ich überlegt, eine fadenscheinige Ausrede zu finden, aber Enzo hat gestern Morgen angerufen. Ich soll meinen Arsch gefälligst nach London bewegen. Es muss irgendetwas Wichtiges sein, sonst hätte er nicht darauf bestanden. Meine Laune ist dementsprechend im Keller, aber das ist natürlich noch nicht genug.

Jetzt auch noch Sams Anruf und die Bitte, die ich ihr unmöglich abschlagen kann. Schließlich lässt sie mich den Sommer über bei sich wohnen. Warum muss sie gerade jetzt einen Wasserschaden in Jays Wohnung haben? Warum muss gerade jetzt ihre verfluchte Tochter auftauchen?

Ich würde lieber den Garten umgraben, als mich mit Katharina zu beschäftigen. Ihre Anwesenheit bringt Emmett durcheinander und außerdem behandelt sie Samantha schlecht.

Mies gelaunt halte ich direkt hinter Sams Wagen. Vor einem der Geschäfte blitzt rotes Haar auf. Samantha und Katharina, beide mit dem exakt gleichen grimmigen Gesichtsausdruck, treten hinaus auf die Straße und ich steige aus.

»Es tut mir leid«, sagt Samantha, während sie auf mich zukommen. Sie sehen sich wirklich verdammt ähnlich. Bis auf die zwei Cuts in der rechten Augenbraue, das Nasenpiercing und die blauen Augen ist Katharina eine exakte Kopie ihrer Mutter.