Lore-Roman 117 - Yvonne Uhl - E-Book

Lore-Roman 117 E-Book

Yvonne Uhl

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Beschreibung

Thorsten Baron von Kettler kehrt nach zehn Jahren mit seiner Schwester Saskia auf das verfallene Familiengut zurück. Mit gespartem Geld und einer Erbschaft hat der frischgebackene Doktor der Juristerei das Anwesen zurückgekauft und will es nun wieder herrichten. Nach dem Selbstmord des Vaters wurden die Geschwister - damals noch Kinder - vertrieben und wuchsen getrennt voneinander auf. Bis heute sind die Geschehnisse jener Nacht nicht aufgeklärt. Auch die Mutter, die nur kurz nach dem alten Baron in geistiger Umnachtung in einem Sanatorium verstarb, hat geschwiegen.
Als Thorsten beim Umgraben eine Schatulle findet mit einem Heft darin, trifft es ihn wie ein Schlag. Er erkennt die Schrift seiner Mutter Stella Baronin von Kettler. Meine geheimsten Gedanken steht darauf. Er klappt das Heftchen auf und beginnt zu lesen. Schon nach den ersten Sätzen wird ihm kalt. Ein Frösteln läuft über seinen Rücken. Nein, denkt er, nein, das glaube ich nicht. Mein Verstand weigert sich einfach, es zu glauben. Mit zitternden Händen blättert er Seite für Seite um, bis das Heft zu Boden fällt ...


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Inhalt

Cover

Das Geständnis der Baronin

Vorschau

Impressum

Das Geständnis der Baronin

Nur einer kannte ihre Vergangenheit

Von Yvonne Uhl

Thorsten Baron von Kettler kehrt nach zehn Jahren mit seiner Schwester Saskia auf das verfallene Familiengut zurück. Mit gespartem Geld und einer Erbschaft hat der frischgebackene Doktor der Juristerei das Anwesen zurückgekauft und will es nun wieder herrichten. Nach dem Selbstmord des Vaters wurden die Geschwister – damals noch Kinder – vertrieben und wuchsen getrennt voneinander auf. Bis heute sind die Geschehnisse jener Nacht nicht aufgeklärt. Auch die Mutter, die nur kurz nach dem alten Baron in geistiger Umnachtung in einem Sanatorium verstarb, hat geschwiegen.

Als Thorsten beim Umgraben eine Schatulle findet mit einem Heft darin, trifft es ihn wie ein Schlag. Er erkennt die Schrift seiner Mutter Stella Baronin von Kettler. Meine geheimsten Gedanken steht darauf. Er klappt das Heftchen auf und beginnt zu lesen. Schon nach den ersten Sätzen wird ihm kalt. Ein Frösteln läuft über seinen Rücken. Nein, denkt er, nein, das glaube ich nicht. Mein Verstand weigert sich einfach, es zu glauben. Mit zitternden Händen blättert er Seite für Seite um, bis das Heft zu Boden fällt ...

»Um Himmels willen, bleibt in euren Zimmern!«, hatte Stella Baronin von Kettler den fünfzehnjährigen Thorsten und die zehnjährige Saskia beschworen. »Graf Thelen ist zu Besuch gekommen.«

Dann war sie hinuntergelaufen ins Erdgeschoss des alten Gutshauses.

Die Geschwister sahen sich in die Augen.

»Ich denke, Papa spricht nicht mit Graf Thelen?«, flüsterte Saskia. »Die sind sich doch böse.«

Thorsten lauschte. »Sei mal still.«

Saskia spürte, wie Angst sie ergriff, ohne dass sie hätte sagen können, warum.

Die Geschwister hörten laute Stimmen. Unwillkürlich drängte sich Saskia an den um fünf Jahre älteren Bruder.

»Ich fürchte mich, Thorsten.«

»Pst«, warnte er.

»Nie!«, hörten sie die fremde Männerstimme schreien. »Und wenn Sie sich auf den Kopf stellen würden, Kettler ... niemals! Mein Entschluss ist unumstößlich! Geben Sie sich also keine Mühe, mich umzustimmen!«

Rudolf Baron von Kettler sprach etwas. Seine Stimme klang leise, überzeugender, doch die Worte vermochten sie nicht zu verstehen.

»Graf Thelen ist böse mit Vater, ja?«, stammelte Saskia.

Thorsten antwortete nicht. Saskia sah, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten.

Saskia fror. Plötzlich fiel eine Tür ins Schloss, und es war ganz still.

»Können wir wohl wieder runtergehen?«, fragte Saskia.

»Nein, warte«, raunte Thorsten.

Auf einmal fuhren die Geschwister zusammen.

»Rudolf, Rudolf!« Das war die Stimme ihrer Mutter. Ein Stuhl polterte zu Boden.

Ein Schuss fiel.

Stella Baronin von Kettler schrie gellend auf. Ihr Schrei ging über in ein lautes Wimmern.

»Komm«, sagte Thorsten, griff nach Saskias Hand und zog sie nach draußen.

Als sie aber den Treppenabsatz im Erdgeschoss erreicht hatten, stand ihre Mutter in der holzgetäfelten Diele. Sie war leichenblass. Groß brannten die dunklen Augen in ihrem Antlitz. Langsam zögernd hob sie die Hand.

»Bleibt stehen«, forderte sie tonlos. »Geht nicht weiter. Euer Vater hat ... hat sich erschossen.«

Dann sank die Baronin zusammen.

***

Zehn Jahre waren ins Land gegangen, doch immer wieder stand diese Szene vor Saskias geistigem Auge. Würde es je eine Zeit geben, da sie diesen Abend im alten Gutshaus vergessen konnte?

Heute, am Todestag ihres Vaters, zündete Saskia wie jedes Jahr die Kerze in ihrem Zimmerchen an.

Wie traurig selbst dieses Licht aussah. Es flackerte und wurde dann ruhiger. Wie anders hätte mein Leben ausgesehen, dachte sie, wenn Papa und Mama weitergelebt hätten!

Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter nach jenem entsetzlichen Selbstmord ihres Gatten in geistiger Umnachtung in ein Sanatorium eingeliefert worden war, wo sie dann nach wenigen Monaten gestorben war.

An jenem Abend hörte unsere Familie auf zu existieren, dachte Saskia. Das Gutshaus war nicht mehr unser Zuhause. Ich kam zu Tante Elfriede nach Holstein. Ich durfte in Lübeck zur Schule gehen, und nach meiner Reifeprüfung wurde ich Studentin an der medizinischen Akademie in Lübeck, die eine Fakultät der Universität Kiel ist. Ich bin zwar erst im vierten Semester, aber ich werde es schaffen und weiterlernen, bis ich meinen Doktor habe und Tierärztin geworden bin.

Eigentlich, dachte Saskia, brennt diese Kerze nicht nur für Papa, sondern auch für unsere glückliche, kleine Familie, die damals, als er starb, so grausam zerstört wurde!

Saskia musste an Thorsten, ihren Bruder, denken. Er war nach dem Tod des Vaters und der Einlieferung der Mutter ins Sanatorium zu einem entfernten Verwandten nach Süddeutschland gekommen. Er studierte in Heidelberg Jura. Da er bereits mit achtzehn Jahren sein Abitur gemacht und einen tadellosen Notendurchschnitt erzielt hatte, hatte er sofort mit dem Studium beginnen können. Er hatte schon vor über zwei Jahren das erste Staatsexamen abgelegt und vor wenigen Wochen das zweite. Seine Doktorarbeit war geschrieben. Wenn alles gutging, war er mit fünfundzwanzig Jahren Doktor der Rechte.

Saskia bewunderte Thorsten. Sie selbst war längst nicht so zielstrebig wie er. Immer wieder ertappte sie sich dabei, dass sie gern faulenzte, in der Sonne lag und träumte oder am Wasser hockte und über die weite Ostsee blickte.

Tante Elfriede, ihre liebe Gönnerin, die ihr die Ausbildung ermöglicht hatte, war vor drei Jahren gestorben. Seitdem wohnte Saskia in einem möblierten Zimmerchen in Lübeck und verdiente sich in den Semesterferien ihren Lebensunterhalt. Sie war sehr genügsam, und oft saß sie tagelang an der alten Nähmaschine, die sie für vierzig Mark gekauft hatte, und schneiderte.

Saskia war nicht unglücklich, im Gegenteil. Ihr Freundeskreis war groß, und oft gab es lustige Feten und Budenzauber bis in die frühen Morgenstunden. Wenn auch viele Kommilitonen männlichen Geschlechts ihr zeigten, wie gut ihnen die dunkelhaarige, elegante Saskia von Kettler mit den dunklen Augen gefiel, so hatte es bei Saskia noch nie gefunkt! Nein, sie war noch nie verliebt gewesen! Sie wusste nicht, warum ihre Freundinnen sich so merkwürdig gebärden konnten, wenn sie in einen jungen Mann »verknallt« waren.

Konnte die Liebe ein Herz wirklich so umkrempeln? Konnte die Liebe sogar das Wesen eines Menschen beeinflussen?

Saskia grübelte oft darüber nach, und viele ihrer Freunde schalten sie schwermütig und viel zu melancholisch.

Eine unbewusste Scheu aber zwang sie, Männern gegenüber äußerst zurückhaltend zu sein. In der Liebe jedenfalls. Bei Partys konnte sie ausgelassen und fröhlich mitfeiern und jeden Ulk mitmachen.

Die Flamme der Kerze flackerte. Saskia starrte hinein, und wieder kam sie ins Philosophieren.

Dabei tat es ihr gar nicht gut, soviel nachzudenken. Dann wurde ihr jedes Mal bewusst, wie einsam sie im Grunde war, trotz vieler Freunde und guter Kameraden.

Als es an ihrer Zimmertür klopfte, horchte sie auf. Es war schon nach neun Uhr, und am nächsten Morgen hatte sie die letzte Vorlesung vor den Semesterferien. Sie ging meist früh schlafen, wenn sie so früh zur Uni musste.

Zögernd ging Saskia zur Tür. »Ja?«

»Mach auf, Saskia«, rief es ungeduldig von draußen.

Saskia erstarrte. Diese Stimme! Das war doch ...

Sie sperrte die Tür auf und stand Thorsten, ihrem Bruder, gegenüber.

»Thorsten«, jubelte sie. »O Thorsten!« Freudenstrahlend fiel sie ihm um den Hals. »Du hier in Lübeck? Das ist ja phänomenal!«

»Darf ich mich vorstellen?«, fragte Thorsten. Seine dunklen Augen leuchteten. »Dr. jur. Thorsten Baron von Kettler. Na, mein Schwesterchen, wie klingt das?«

»Thorsten! Deine Dissertation ist angenommen? Und die mündliche Prüfung?«

»Beides erhielt die Note ,summa cum laude'!«

»Was? Die allerhöchste Auszeichnung?« Saskia trat zurück. »Thorsten, du bist mir unheimlich!«

Sie zog ihn in ihr Zimmerchen.

Thorsten sah sich um. »Hier haust du also! Meine Güte, ich habe dich hier noch nie besucht.«

»Gefällt es dir nicht? Es ist mein Reich. Ich fühle mich sehr wohl hier.«

Thorsten sah sie nachdenklich an. »Denkst du noch oft an zu Hause, an unser altes Gutshaus?«

Saskia nickte.

»Brennt die Kerze zum Gedenken an Papas Tod?«, fragte Thorsten.

»Ja, Thorsten!«

»Morgen ist dein letzter Studientag vor den Ferien. Wann ist deine Vorlesung beendet?«

»Um dreizehn Uhr. Wieso?«

»Weil wir nach Hause fahren, Saskia, nach Hause ...«

Er nahm seine Schwester in die Arme und schwenkte sie im Kreise. Seine Stimme klang ganz fremd vor Begeisterung.

Saskia schlang die Arme um ihn.

»Und was sollen wir dort? Da wohnen doch schon längst fremde Leute. Das, was früher unser Zuhause war, Thorsten, war nur von Graf Thelen gepachtet.«

»Früher gehörte es den Kettlers.«

»Zu Zeiten unseres Urgroßvaters«, seufzte Saskia.

Thorsten setzte sie vorsichtig wieder auf den Boden. »Setzen wir uns. Ich muss dir das erklären«, murmelte er.

»Willst du etwas trinken? Ich habe aber nur Limonade.«

Thorsten verzog das Gesicht. »Du bietest mir als frischgebackenem Doktor Limonade an?«

Entschuldigend hob sie die Schultern.

»Oh, verzeih mir, aber ich bin ziemlich knapp bei Kasse. Zum Wochenende verdiene ich immer ganz gut. Da helfe ich in einem Supermarkt in der Gemüseabteilung, aber...«

»Das hört jetzt auf«, erklärte Thorsten hart. »Zieh dich an, ich warte so lange unten in meinem Wagen. Wir fahren essen.«

»Wir fahren essen?«, fragte sie zweifelnd. »Sag mal, spinnst du? Hast du so viel Geld?«

»Wir fahren in eines der besten Lokale von Lübeck essen. Und zwar ins Parkhotel am Holstentor. Mach dich ein bisschen hübsch. Bis gleich! Und vergiss nicht, die Kerze auszupusten.«

Und ehe sich's Saskia versah, war er hinausgegangen.

Wenn sie nicht seine Schritte draußen auf der Treppe gehört hätte, wäre sie der Meinung gewesen, nur einen Traum erlebt zu haben.

Saskia wurde plötzlich sehr aktiv.

Sie besaß ein todschickes Kleid, das sie zum letzten Ausverkauf erworben hatte. Es hatte einen schwingenden Rock, ein knappes Oberteil mit Münzknöpfen, lange Ärmel und einen kleinen Stehkragen. Das Material war Wildseide. Sie hatte es besonders günstig bekommen, weil es einen Fehler hatte: Ein Loch in Daumengröße befand sich in der Nähe einer Rocknaht. Mit viel Verhandlungsgeschick hatte Saskia das Kleid für billiges Geld kaufen können. Sie hatte den Rock einfach um ein paar Zentimeter enger genäht, und der Schaden war behoben.

Saskia bürstete ihr volles, dunkelbraunes Haar so lange, bis es in weichen Locken ihr Gesicht umschmeichelte. Dann steckte sie ein paar Perlenohrklips an. Es waren echte Perlen, und wenn sie auch in vergangener Zeit oft nur von der Hand in den Mund gelebt hatte, dieses letzte Erbstück ihrer Mutter hatte sie nie verkauft.

»Du siehst hübsch aus, Saskia«, sagte Thorsten wenig später anerkennend. »Vorhin, als ich dich überraschte, warst du bloß eine arme Werkstudentin. Jetzt bist du die Baroness von Kettler.«

Saskia lachte. »Du machst mir Spaß. Das ist ein- und dieselbe Person.«

Sein breiter Wagen war ein Modell älterer Bauart, aber glänzte und hatte keinen einzigen Lackschaden.

»Das ist ja ein toller Schlitten«, sagte Saskia begeistert und sank auf den Beifahrersitz. »Ist es nicht wahnsinnig teuer, so einen Wagen zu unterhalten?«

»Ich werde ab sofort dein Studium bezahlen. Du wirst nie mehr am Wochenende in einem Supermarkt Gemüse verkaufen. Nie mehr, Saskia«, erklärte Thorsten mit Nachdruck und ließ den Wagen langsam anrollen.

Saskia runzelte die Stirn.

»Hast du in der Lotterie gewonnen? Oder was ist sonst passiert?«

»Erstens«, erklärte Thorsten gelassen, »habe ich zwei Jahre lang als Referendar in einer Anwaltskanzlei gearbeitet und unglaublich sparsam gelebt. Dann ist mein Chef, Anwalt Dr. Burger, gestorben und hat mir ein hübsches Sümmchen hinterlassen.«

»Du hast geerbt?« Saskia konnte es nicht fassen.

»Ja, Und meine Pläne für die Zukunft möchte ich heute Abend mit dir besprechen, Saskia. Wir wurden damals grausam auseinandergerissen, aber ich habe mein kleines Schwesterchen nie vergessen, das kannst du mir glauben.«

Saskia spürte ein Würgen in der Kehle und sah rasch auf ihre gefalteten Hände nieder. Wenn man sie so ansprach, bekam sie immer das heulende Elend. Manchmal – besonders in solchen Augenblicken – saßen ihre Tränen recht locker.

Doch ihre Wehmut verschwand sofort, als sie mit ihrem stattlichen Bruder im Speisesaal des Parkhotels von dem Oberkellner zu einem Tisch am Fenster geleitet wurde.

Es war wie ein Traum. Sie hatte vor einer Stunde nur an zwei Scheiben Knäckebrot geknabbert, das war ihr Abendbrot gewesen. Jetzt auf einmal spürte sie einen ungestümen Appetit in sich aufsteigen.

»Wie du dich freuen kannst, Saskia«, lächelte Thorsten. Er hatte die Karte studiert. »Du erlaubst, dass ich für uns beide dasselbe bestelle?«

Saskia nickte beeindruckt. Thorsten benahm sich, als wäre es für ihn eine Selbstverständlichkeit, tagtäglich in solchen Restaurants zu essen.

So wie er jetzt die Menüs bestellte, musste jeder Mann glauben, er wäre ein Millionär oder so ähnlich.

»Du wirst mit meiner Wahl zufrieden sein, Saskia.« Thorsten lächelte.

Jeder, der die beiden beobachten konnte, begriff sofort, dass sie nur Geschwister sein konnten. Die Familienähnlichkeit war verblüffend. Sie besaßen die gleichen blauen Augen, den durchsichtig hellen Teint, das volle dunkle Haar. Die Gesichtsform und ihre Bewegungen waren bei beiden sehr ähnlich.

»Ich lasse mich überraschen.« Saskia lachte glücklich auf. »Es kommt mir so vor, als ob heute Ostern, Pfingsten und Weihnachten auf ein und denselben Tag fallen, Thorsten.«

»Arme kleine Saskia«, murmelte Thorsten. »Hast du bisher oft gehungert und gedarbt? Aber das Kleid, das du trägst, ist hinreißend. Bist du vielleicht eines der Mädchen, das lieber tagelang am Hungertuch nagt, um ein elegantes Kleid zu kaufen?«

»Nein, bestimmt nicht.« Saskia musste lachen. »Dieses Kleid war ein Sonderangebot mit einem kleinen Fehler. Ich bin eine gute Schneiderin und nähe mir alles selbst.«

»Eine Baroness von Kettler«, sagte Thorsten kopfschüttelnd. »Nein, mein Kleines, von nun ab hast du das nicht mehr nötig. Aber jetzt wollen wir einmal zu dem Wichtigsten kommen: Erinnerst du dich noch an den Tag vor zehn Jahren, als unser Vater ...«

»Sprich nicht weiter«, bat Saskia. »Ich weiß es noch wie heute. Ich werde es mein Leben lang nicht vergessen, Thorsten. Wie wir oben in deinem Zimmer lauschten. Wie Mama ,Rudolf!', rief. Und wie ein Stuhl umfiel ...«

»Ja, ich weiß es auch noch genau. Und dann peitschte der Schuss auf. Und Mama schrie so laut.«

»Als wir hinunterlaufen wollten«, sprach Saskia düster, »stand Mama unten in der Halle und verbot uns weiterzugehen. Sie sagte uns, dass Papa sich erschossen hätte.«

Beide schwiegen. Der Kellner servierte die Vorspeise und schenkte funkelnden roten Wein in die Gläser.

Saskia war mit ihren Gedanken weit, weit fort.

Als sich der Kellner wieder entfernt hatte, sagte Thorsten: »Hast du dir jemals überlegt, warum Papa sich erschossen hat?«

Saskia nickte. Sie starrte auf den Teller nieder. Es duftete köstlich, doch sie nahm es gar nicht wahr.

»Graf Thelen war kurz vorher bei Papa gewesen. Sie hatten Streit.«

»Weißt du auch noch, warum?«

Saskia schlug die großen, blauen Augen auf.

»Ich habe mir bisher verboten, daran zu denken, Thorsten. Wenn ich in meinem Unterbewusstsein gegraben hätte, würde ich es vielleicht wissen. Es ging um die Verlängerung des Pachtvertrages, glaube ich.«

Thorsten Baron von Kettlers Augen wurden empfindungslos wie Glas.

»Ja, Saskia. Aber jetzt will ich dir auch die Vorgeschichte erzählen. Das Gutshaus Kettler, in dem wir geboren sind und in dem wir unsere sorgenlosen Kindertage verbrachten, war uralt. Es wurde im fünfzehnten Jahrhundert – genau gesagt im Jahre 1467 – von einem unserer Urahnen, einem Max Baron Ritter zu Kettler, das erste Mal erbaut. Der Kettlerhof war ein Rittergutsbesitz. Und wir Kettlers waren einst in Kendelheim und der ganzen Umgebung tonangebend, hochgeachtet und barmherzig den Armen gegenüber. Natürlich wurde unser Elternhaus im Laufe der Jahrhunderte oft umgebaut, verändert und angebaut, aber das Grundfundament ist dasselbe wie im Jahre 1467.«

Saskia staunte. »Du hast dich aber viel mit der Geschichte unserer Ahnen beschäftigt, Thorsten!«

»Mit gutem Grund, Schwesterlein. Das gehört zu meinen Zukunftsplänen. Aber lass uns weiter von der Vergangenheit reden. Alles begann, als die Grafenfamilie Thelen in unser Gebiet einbrach.«

»Einbrach?«

»Anders kann man es nicht nennen«, erklärte Thorsten mit scharfer, erregter Stimme. »Saskia, sie kamen aus dem Norden. Aus Dänemark, genau gesagt. Warum sie sich ausgerechnet in unserer engeren Heimat festsetzten, ist mir schleierhaft. Jedenfalls beanspruchten sie das Nachbargebiet unseres Besitzes im Osten, siedelten sich dort an, bauten ein schloss ähnliches Gebäude mit Kuppeln, Zinnen und Türmen und ...«

»Durften sie das nicht?«, unterbrach Saskia ihn.

»Damals im Jahre 1502, als die ,Besitznahme der Thelens' vor sich ging, war das Land noch frei. Aber die Thelens verstanden ihr Handwerk. Ehe sich's die armen Bauern versahen, waren sie Leibeigene und mussten im Schweiße ihres Angesichts für die Thelens schuften und Frondienst leisten.«

»Das ist natürlich schlimm«, bemerkte Saskia nach einer längeren Pause. Sie nippte an dem Weinglas. »Aber Thorsten, das ist jetzt mehr als vierhundert Jahre her.«

»Die Thelens sind dieselben geblieben. Vor zehn Jahren war es, als ein Graf Thelen unserem Vater, einem Baron von Kettler, die Verlängerung des Pachtvertrages verweigerte. Und die Reaktion unseres Vaters kennst du ja. Er wusste nicht mehr ein noch aus und erschoss sich. Der Tod war ihm immer noch leichter als der Gedanke, Gut Kettler zu verlassen: Die Heimat, die den Kettlers immer heilig war.«

Thorsten Baron von Kettler schwieg und atmete schwer.

Saskia spürte etwas Drohendes, Unabänderliches auf sich zukommen.

»Thorsten, wach auf! Was willst du heute noch mit den alten Geschichten?«, stammelte sie. »Kein Mensch will heute mehr wissen, was vor Jahrhunderten geschah. Übrigens ...« Sie stutzte. »Wieso wurde das ehemalige Rittergut Kettler eigentlich Pachtgebiet des Grafen Thelen?«