Lore-Roman 1 - Yvonne Uhl - E-Book

Lore-Roman 1 E-Book

Yvonne Uhl

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Beschreibung

Es ist ein außergewöhnlich heißer Apriltag, als Claus Erik Palmer, seines Zeichens berühmter Reiseschriftsteller, sein vorsintflutliches Automodell über die staubige Landstraße steuert. Hat er eben noch inmitten der High Society an der mondänen Riviera geweilt, kehrt er nun in das beschauliche Dörfchen Bernstadt zurück, um das Erbe seiner Lieblingstante anzutreten.
Ein wehmütiges Lächeln gleitet über seine Lippen. Hier, umgeben von der blühenden Heide, hat er sich stets heimisch gefühlt, verbrachte er doch in dieser Idylle die glücklichsten Sommer seiner Kindheit.

Claus gibt sich ganz seinen Erinnerungen hin und lässt den Wagen auf die steil abfallende Serpentine rollen. Doch da - was ist das?
Der junge Mann reißt die Augen auf und tritt auf die Bremse. Nur wenige Zentimeter von der bezaubernden Mädchengestalt entfernt bringt er seinen Wagen zum Stehen. Claus blinzelt. Donnerwetter - was für ein Wesen! Ein Wesen wie aus einer anderen Welt ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Als Rosenmädchen fand er sie

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: shutterstock/Oleg Gekman

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-4789-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Als Rosenmädchen fand er sie

Berühmter Roman um einen ungewöhnlichen Weg ins Glück

Von Yvonne Uhl

Es ist ein außergewöhnlich heißer Apriltag, als Claus Erik Palmer, seines Zeichens berühmter Reiseschriftsteller, sein vorsintflutliches Automodell über die staubige Landstraße steuert. Hat er eben noch inmitten der High Society an der mondänen Riviera geweilt, kehrt er nun in das beschauliche Dörfchen Bernstadt zurück, um das Erbe seiner Lieblingstante anzutreten.

Ein wehmütiges Lächeln gleitet über seine Lippen. Hier, umgeben von der blühenden Heide, hat er sich stets heimisch gefühlt, verbrachte er doch in dieser Idylle die glücklichsten Sommer seiner Kindheit.

Claus gibt sich ganz seinen Erinnerungen hin und lässt den Wagen auf die steil abfallende Serpentine rollen. Doch da – was ist das?

Der junge Mann reißt die Augen auf und tritt auf die Bremse. Nur wenige Zentimeter von der bezaubernden Mädchengestalt entfernt bringt er seinen Wagen zum Stehen. Claus blinzelt. Donnerwetter – was für ein Wesen! Ein Wesen wie aus einer anderen Welt …

„Dorothea!“, brachte Graf Bernstetten mühsam hervor. „Gott schütze dich, mein Kind.“

Dorothea Komtess Bernstetten griff nach der schmalen Hand und umklammerte sie. Tränen rollten ihr über die Wangen.

„Papa“, schluchzte sie. „Du wirst bestimmt wieder gesund. Verlier doch den Mut nicht. Du siehst heute schon viel gesünder aus.“

„Wir wollen uns nichts vormachen, Dorothea“, erwiderte der Kranke leise.

Er blickte seine Tochter wehmütig an. Dann wanderte sein Blick weiter.

„Marietta! Liebste!“, hauchte der Graf.

Dorothea Komtess Bernstetten erhob sich aus der knienden Stellung und gab den Platz am Bett ihres Vaters frei für ihre Stiefmutter. Marietta Gräfin Bernstetten war rotblond und bildschön. Sie und Dorothea waren beide zwanzig Jahre alt. Sie hatten sich im Mädchenpensionat kennengelernt und waren seither die besten Freundinnen.

„Verlass mich nicht, Robert!“, stammelte Marietta.

Erschrocken waren ihre meergrünen Augen auf das eingefallene Gesicht ihres Gatten gerichtet. War das noch der elegante fünfzigjährige Graf Bernstetten mit den grauen Schläfen, um den sich die Frauen scharten, weil sie seinem Charme erlegen waren? War das noch der Mann, den sie vor einem Jahr geheiratet hatte?

„Leb wohl, Marietta“, flüsterte der Graf. „Du und Dorothea – ihr werdet euch gegenseitig trösten, wenn ihr an meinem Grabe steht. Ihr seid jung. Der Schmerz wird vorübergehen, Marietta. Du hast mir altem Mann das höchste Glück auf Erden geschenkt. Ich bin der Vater deiner besten Freundin, Marietta, doch du hast mich immer wie einen jungen Mann behandelt. Hab Dank für deine Jugend, deine Liebe, deine Treue … Leb wohl!“

Die blassen Augen des Kranken brachen. Ein Beben ging durch seinen Körper.

„Herr Doktor!“, schrie Dorothea auf.

Sie starrte entsetzt auf die Gestalt des Vaters, die keine Regung mehr zeigte. Dorothea wankte zur Tür des Schlafzimmers und riss sie mit letzter Kraft auf.

Dr. Andersen, der langjährige Hausarzt des Grafen, drängte Dorothea in den Raum zurück.

„Ruhig, Komtesschen“, sagte er.

Er warf einen Blick zum Bett hinüber, wo er den Grafen friedlich liegen sah. Die junge Gräfin kniete mit gesenktem Kopf vor dem Bett.

„Ist er … ist er …“ Dorothea konnte das Wort nicht aussprechen.

„Komtess, Gott hat Ihren Vater zu sich gerufen!“, hörte sie die Stimme des Arztes sagen.

Dorothea konnte nicht fassen, was der Arzt sprach. Sie begriff den Sinn seiner Worte nicht. Dass ihr lebensvoller Vater, der ein Sportsmann und immer kerngesund war, nicht mehr atmen sollte, war weitab von aller Vorstellungskraft.

Dorothea hörte den Doktor leise mit Marietta sprechen. Dann standen sich die beiden Freundinnen gegenüber.

„Marietta …“ Dorothea schluchzte und drängte sich an die Freundin.

Marietta strich sich über die Augen. Sie war leichenblass, aber sie weinte nicht.

„Ich möchte allein sein“, bat sie kaum hörbar.

Dorothea ließ Marietta an sich vorübergehen. Obwohl die Komtess gerade ihren Vater verloren hatte, beschäftigte sie sich sehr mit dem Schicksal ihrer Freundin. Marietta hatte ihren Mann verloren. Sie war Witwe geworden.

Baronin Bach, die langjährige Haushälterin auf dem Schloss, betrat den Raum. Auch auf ihrem Gesicht stand der Schmerz geschrieben, aber der Wunsch, der Komtess Halt und Stütze zu sein, überwog ihr eigenes Leid.

„Komm, mein Kind“, sagte sie sanft.

Dorothea blickte auf. „Tante Lukka“, schluchzte sie. „Papa ist tot.“

„Komm, Liebling“, sagte Lukretia von Bach leise.

Es hatte eine Zeit gegeben, da sie gehofft hatte, der Witwer Robert Graf Bernstetten würde sie zu seiner Frau machen. Die Baronin war fünfzig Jahre alt. Und sie liebte die einzige Tochter des Grafen wie ihr eigenes Kind.

Stattdessen hatte der Graf vor einem Jahr die blutjunge Marietta geheiratet, die Dorothea als beste Freundin mit ins Schloss brachte.

Wie hatte der Graf sich in die bildschöne Marietta verliebt! Die Jugend hatte über die Baronin gesiegt. Als der Graf Marietta heiratete, hatte sie alle heimlichen Wünsche begraben und weiter ihre Pflicht als Haushälterin getan, denn die schöne Marietta kümmerte sich um nichts.

Sie genoss ihr Leben als Gräfin, gab Tanzgesellschaften, nahm an Reitturnieren teil. Marietta war wie ein glückseliges Kind gewesen, dem man alle Wünsche erfüllte.

Jetzt war sie Witwe. Und obwohl die Baronin Bach gegenüber Marietta immer eine gewisse Zurückhaltung gezeigt hatte, so empfand sie jetzt doch ein grenzenloses Mitleid.

„Die arme Marietta!“, sagte Dorothea und nahm dankbar das Taschentuch in Empfang, das die Baronin ihr reichte.

Die Baronin drückte Dorothea draußen im Arbeitszimmer des Grafen in einen Ledersessel.

„Wer hätte das gedacht unser starker elastischer Graf Bernstetten …“, murmelte sie mit zitternden Lippen.

Dorothea blickte auf. „Wusstest du, Tante Lukka, dass Papa herzkrank war?“

Wehmütig schüttelte die Baronin den Kopf mit den graublonden Löckchen.

„Nein, Kind. Keiner wusste es. Er hat uns seine Herzkrankheit verschwiegen, weil er nicht wollte, dass er bemitleidet wurde. Nichts hasste er so sehr wie Mitleid. Warum aber musste er vor drei Tagen noch an diesem Springturnier teilnehmen? Diese Anstrengung war zu groß für ihn.“

Dorothea erhob sich schwankend. „Ich muss nach Marietta sehen.“

„Gib dir keine Mühe, Kindchen“, winkte die Baronin ab. „Sie hat sich in ihr Zimmer eingeschlossen und lässt niemanden herein.“

***

Bis zum Begräbnis vier Tage später ließ sich Marietta nicht blicken. Dann erschien sie in einem schwarzen Jackenkleid und einem dichten Schleier.

Wo hat sie nur den Schleier so schnell her?, durchfuhr es Dorothea. Sie trug eine schwarze Bluse und einen eng anliegenden Rock. Das aschblonde Haar hatte sie straff in den Nacken gekämmt. Neben Marietta wirkte Dorothea schmal und schmächtig.

Dorothea von Bernstetten hatte bei Beginn der Predigt des Pfarrers geglaubt, dass sie dieses Begräbnis nicht überstehen könnte. Sie kämpfte unentwegt mit lautem Schluchzen und beneidete Marietta um ihre Haltung und den schwarzen Schleier, der wie ein Schutzwall über dem verweinten Gesicht lag.

Dorotheas Zustand glich einer dumpfen Benommenheit. Sie wusste später nicht mehr, wie die Trauerfeier geendet hatte, wie sie an der Seite Mariettas dem Sarg gefolgt war, wie man ihn in die vorbereitete Grube gesenkt hatte.

Dorothea kam erst wieder zu sich, als sie neben Marietta im Wagen saß. Am Steuer saß der grauhaarige Chauffeur Emil Borken.

„Beruhige dich endlich, Dorothea“, sprach Marietta streng. Sie blickte aus dem Fenster. „Hatte ich dir eigentlich meinen Cousin vorgestellt?“

Dorothea bewunderte die Freundin rückhaltlos. Mariettas Selbstbeherrschung war einfach unübertrefflich.

„Welchen Cousin?“, stotterte Dorothea. Sie rieb mit dem Taschentuch ihr Gesicht trocken.

„Meinen Cousin aus der Schweiz“, erwiderte Marietta ungeduldig. „Ich erzählte dir doch von ihm. Erinnerst du dich nicht? Er hat in Zürich ein Anwaltsbüro und ist mein einziger Verwandter. Er kam sofort, als ich ihm schrieb, dass mein Mann gestorben ist.“

„Ich habe ihn nicht gesehen, Marietta“, entgegnete Dorothea leise. „Ich habe auf nichts geachtet.“

„Das habe ich gemerkt“, meinte Marietta. „Reib ruhig weiter dein Gesicht. Du wirst lauter rote Flecken bekommen. Aber schließlich ist es ja dein Teint und nicht meiner.“

„Ach, das ist ja alles egal, Marietta“, erklärte Dorothea verdrossen.

Immer noch saßen ihr die Tränen im Hals und der Wunsch, alles herauszuschreien vor Verzweiflung und Leid.

Dorotheas Verhältnis zu ihrem Vater war sehr innig gewesen. Der Graf hatte Dorothea stets Mutter und Vater ersetzt. Er war ein sehr zärtlicher Vater gewesen. Und es hatte nichts gegeben, worüber Dorothea mit ihm nicht sprechen konnte. Auch als er Marietta heiratete, hatte sich zwischen ihr und ihm nichts geändert.

„Du wirst dich glatt in ihn verlieben, Dorothea!“, hörte sie Marietta sagen.

Dorothea erschrak. Worüber sprach Marietta eigentlich? Dann fiel ihr der Cousin aus der Schweiz wieder ein. Und Dorothea erinnerte sich flüchtig, dass Marietta ihr früher einmal erzählt hatte, sie und der Cousin hätten einmal heiraten wollen. Eine Jugendliebe also, dachte Dorothea.

„Er fährt direkt hinter uns in seinem Sportwagen“, fuhr Marietta fort, drehte sich um und winkte aus dem Rückfenster.

Langsam wandte sich Dorothea um. Ein junger Mann saß am Steuer des offenen Wagens, und er sah faszinierend gut aus. Er trug einen dunklen Anzug und den Hut wie ein Nachtbummler weit zurückgeschoben im Nacken. Unter dem schwarzen Hut erkannte Dorothea strahlendes blondes Haar.

„Nun?“, hörte sie Marietta fragen. „Wie gefällt er dir, Dorothea?“

„Gut“, murmelte Dorothea.

Im Grunde war ihr dieser junge Mann gleichgültig. Nur ein wenig wunderte sie sich darüber, dass Marietta jetzt, nachdem das Begräbnis gerade erst vorüber war, für nichts anderes Interesse zu haben schien als für ihren Cousin.

Dorothea hatte keine Vorstellung, wie sich die Zukunft entwickeln würde. Sie und Marietta waren jetzt allein.

Umso enger werden wir miteinander verbunden bleiben, dachte Dorothea. Sechzehn Jahre lang war Papa Witwer. Viele hübsche reiche Frauen haben ihm schöne Augen gemacht, weil er so blendend aussah, weil er reich war, weil er solchen Charme besaß.

Papa aber hat die ausgestreckten ringgeschmückten Hände dieser Frauen nicht beachtet. Für ihn gab es sechzehn Jahre lang nur mich, seine mutterlose Tochter. Als er mich schweren Herzens mit vierzehn Jahren in das Höhere Töchterheim steckte, litt er wahrscheinlich mehr als ich.

Als ich sechzehn Jahre alt war, kam Marietta in das Töchterheim. Sie war Waise. Ein Vormund bezahlte aus der Hinterlassenschaft ihrer Eltern das Geld für das Töchterheim. Marietta und ich fühlten uns sofort zueinander hingezogen. In den Ferien trennten wir uns nur mit schwerem Herzen. Marietta fuhr zu entfernten Verwandten, und ich verbrachte meine Ferien mit Papa an der Riviera.

Erst zwei Jahre später durfte ich Marietta mit an die Riviera nehmen. Der Vormund hatte Erkundigungen über Papa einziehen lassen und endlich genehmigt, dass Marietta meine Einladung annehmen durfte. Welch glückliche Tage waren es!

Ich liebte Marietta bereits wie eine Schwester. Erst bemerkte ich gar nicht, wie Papa sich in Marietta verliebt hatte. Und dann fiel ich aus allen Wolken: Marietta sollte meine Stiefmutter werden.

Ganz am Anfang war ich ein kleines bisschen eifersüchtig auf Marietta. Sie sollte den größten Platz im Herzen Papas einnehmen, und nicht mehr ich. Dann aber sagte mir Papa, dass er mich noch genauso liebhaben wollte wie früher.

„Dorothea, woran denkst du?“, riss Mariettas Stimme die Komtess aus ihren Gedanken.

Dorothea blickte aus dem Fenster des Wagens. Sie fuhren soeben durch das Schlosstor.

„An Papa“, antwortete Dorothea leise.

Sie betrachtete Marietta von der Seite. Sie konnte die Gesichtszüge der Freundin nicht genau erkennen, weil der Schleier sie verdeckte. Aber natürlich war Marietta verzweifelt. Sie redete nur deshalb so viel von ihrem Cousin, um sich abzulenken und um die bittere Wahrheit zurückzudrängen.

Marietta schwieg auf Dorotheas Antwort.

„Jetzt haben wir noch das feierliche Essen mit der Verwandtschaft vor uns“, sagte sie endlich. „In drei Tagen sind wir zum Notar Emmendorf bestellt.“

Dorothea stutzte. „Woher weißt du das?“

„Er sagte es mir vorhin, als er mir Beileid wünschte“, erwiderte Marietta gleichgültig. „Wie ich diese Verwandtschaft hasse! Schon bei der Hochzeit war sie mir unerträglich, Dorothea. Die drei Brüder von Robert – wie adelsstolz sie sind, wie vornehm und nobel. Denen wäre es lieber gewesen, wenn dein Vater nicht mich, sondern irgendeine dieser reichen Witwen geheiratet hätte.“

„Das ist doch jetzt gleichgültig“, erwiderte Dorothea gereizt. „Wen interessiert das jetzt noch? Papa ist tot. Er hat dich geliebt, Marietta. Und du bist seine Witwe und keine von denen.“

„Ja“, erwiderte Marietta. Ihre Stimme klang hart, sogar ein wenig scharf. „Mich hat er geliebt. Mich, die verwaiste Marietta von Hombach.“

„Meine beste Freundin!“, fuhr Dorothea mit zärtlicher Stimme fort.

***

Dorothea und Marietta saßen dem Notar Emmendorf gegenüber. Die Möbel seines Büros waren aus dunklem Eichenholz. Es roch nach Bohnerwachs und Aktenstaub.

Marietta trug noch immer den dichten Schleier vor dem Gesicht. Dorotheas Augen waren rotgeweint.

Der Notar war ein kleiner weißhaariger Herr mit randloser Brille auf der Nase. Er hatte ein strenges nüchternes Gesicht und scharfe graue Augen.

„Baronin Bach fehlt noch“, sagte er und fasste Dorothea fest ins Auge. „Sie ist ebenfalls von mir aufgefordert worden, zu dieser Besprechung zu erscheinen.“

Dorothea nickte. „Frau von Bach bat mich, sie von dem letzten Willen meines Vaters zu unterrichten, Herr Notar. Sie liegt nach einem Herzanfall im Bett und darf nicht aufstehen.“

Notar Emmendorf machte sich Notizen in seinem Kalender und sah dann die beiden jungen Frauen an.

„Ich bat Sie zwar zu einer Testamentseröffnung“, begann er kurz, „doch im Grunde genommen ist es keine. Die Erbrolle der Bernstetten ist für das Erbe des Robert Graf Bernstetten maßgebend. Robert Graf Bernstetten“, der Notar verneigte sich vor Marietta, „Ihr verstorbener Gatte, Frau Gräfin“, jetzt verneigte sich der Notar vor Dorothea, „und Ihr Herr Vater, Komtess, war der älteste der lebenden Brüder der Bernstettens. Nach dem Tode des Eugen Graf Bernstetten, des Vaters der vier Brüder, wurde das Erbteil genau nach der Erbrolle aufgeteilt. Robert Graf Bernstetten erhielt als Ältester das Familienschloss und allen Grundbesitz und lebendes Inventar, während seine jüngeren Brüder mit Bargeld und beweglichem Gut aus dem Familienerbe befriedigt wurden. Die Brüder des verstorbenen Grafen sind also bereits abgefunden worden und haben keinen Anspruch mehr auf die Hinterlassenschaft des verstorbenen Grafen Robert. Wir haben uns also jetzt nur mit den engsten Verwandten des Grafen, mit seiner Gattin Marietta Gräfin Bernstetten und seiner Tochter Dorothea Komtess Bernstetten auseinanderzusetzen.“

Der Notar holte Luft. „Robert Graf Bernstetten bestimmte, dass sein Erbteil genau nach der Erbrolle des Geschlechts aufgeteilt werden sollte: Sein gesamter Besitz gehört seiner Witwe, die sich verpflichten muss, seinem Kinde einen standesgemäßen Lebensunterhalt zu gewähren.“

Dorothea lächelte flüchtig. Welch seltsame Bestimmungen! Als ob Marietta ihr irgendwann einmal Geld vorenthalten könnte oder sie hungern ließe!

Der Notar blickte auf eine kurze Notiz in seiner Hand, die den Namenszug des Grafen unter vier Schreibmaschinenzeilen trug.

„Ich verlese jetzt die Zusatzbestimmung des Grafen zu der Erbrolle“, verkündete er. Mit erhobener Stimme fuhr er fort: „In Erweiterung der Erbrolle verfüge ich, dass meine langjährige Haushälterin und hochgeschätzte Freundin Lukretia Baronin Bach bis zu ihrem Lebensende auf dem Schloss zu verbleiben hat und – falls sie ihre Tätigkeit nicht mehr ausüben kann – dort in allen Ehren das Gnadenbrot zu empfangen hat. Sie war meiner Tochter wie eine Mutter und für mich eine verständnisvolle Vertraute in der Zeit meiner langen Witwerschaft.“

Dann verlas er das Datum und den vollen Namen des Grafen und blickte Marietta an.

„Frau Gräfin, somit sind Sie als Erbin des gesamten Besitzes des Robert Graf Bernstetten bestellt worden. Ich weise darauf hin, dass Sie der Tochter des Grafen, Dorothea Komtess Bernstetten, einen standesgemäßen Lebensunterhalt bis zu ihrer Heirat gewähren müssen, wozu auch eine standesgemäße Mitgift gehört.“

Marietta senkte den Kopf und schwieg.

Der Notar wandte sich nun an Dorothea.

„Die Gesetze der Familienerbrolle der Bernstettens sind hart, Komtess. Nach unserem heutigen Recht sind Sie offensichtlich benachteiligt worden. Ich darf Sie darauf hinweisen, dass Ihre Frau Stiefmutter lediglich den ‚Besitz des Grafen Bernstetten‘ zugeteilt erhält. Auf dem Grundstück des Grafen befinden sich Güter, die ohne Zweifel Ihnen gehören. Ein Teil des westlichen Schlossgrundbesitzes wurde seinerzeit auf den Namen Ihrer verstorbenen Mutter, der Gräfin Nora, eingetragen. Auf diesem Besitz befindet sich ein kleines Lustschlösschen, das ebenfalls auf den Namen Ihrer Frau Mutter eingetragen ist und nach ihrem Tode Ihnen zugefallen ist.“

Verwundert schüttelte Dorothea den Kopf. „Das kleine Lustschlösschen, das Mama gleich nach ihrer Heirat erbauen ließ, gehört mir?“ Sie lächelte. „Wie merkwürdig. Davon hat Papa mir nie etwas gesagt.“

Der Notar nickte. „Das Schlösschen gehört Ihnen.“

Dorothea zuckte die Schultern. „Alte Barockmöbel stehen darin, Herr Notar. Sie sind völlig verstaubt. Papa hat das Schlösschen immer nur als Möbellager benutzt.“