Lost Paradise - Annette van den Bergh - E-Book

Lost Paradise E-Book

Annette van den Bergh

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Beschreibung

""Eine fehlt noch?" Das habe ich mich anschließend selbst gefragt und dann an den Traum gedacht, der mit bleiernen Schwingen meinen heutigen Tag zu einem besonderen macht, einem ungewollten, einem abzuschüttelnden, einem bohrenden, quälenden, ja, Herrgott, zum Teufel mit dieser Geschichte, die mir im neuen Kurzgeschichten-Buch tatsächlich noch fehlt und die ich - das zu denken weigere ich mich mit jeder Faser meines Seins - heute Nacht ärgerlicherweise geträumt zu haben scheine." 6 der 8 Short-Storys sind von Werk oder Texten bildender Künstler inspiriert, unter anderen von Paul Klee, Edvard Munch, Jonas Burgert, Marc Chagall. So ließ sich das literarische Spiel, mit Fantasien und surrealen Momenten, intensivieren. Um was es geht? Natürlich um Sehnsucht, um das Ich und das Du, um Fantasie versus Wirklichkeit, um Wirklichkeit versus Kunst, die Wahrheit und die Lüge und all sowas eben, weswegen wir schreiben, malen, musizieren und schmachten!

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Annette van den Bergh ist freie Autorin und Bloggerin aus Berlin. Studium der neueren deutschen Literaturwissenschaft und Philosophie. Tätigkeiten als freie Kulturjournalistin und Coach sowie Kommunikationsberaterin von Kunstschaffenden.

Inhaltsverzeichnis

Punkt am Horizont

Ein schöner Mund

Sonne über Social Media

Der Schrei

I tried to Tell you

Derweil eine Tat

Eine fehlt noch

Das Haus

Punkt am Horizont

Ich saß im „Lost Paradise“. Es war nach 22 Uhr, also die Zeit, in der die Männer nach Frauen und die Frauen nach Männern Ausschau halten. Ich schaute in meinen Wodka-Martini. Auf dem Grund des Glases sah ich ein großes, rundes Auge. Es zwinkerte mir zu.

„Ich bin blau“, dachte ich.

Panthergleich hatte sich ein Mann zu mir geschlichen. Er stellte ein weiteres Glas Wodka-Martini mit Fähnchen vor mich hin, setzte sein Hai-Lächeln auf und sprach, wie ein Kater um diese Uhrzeit so spricht: Blablabla.

Nächte sind lang, nur eins macht uns bang, bleibe ich alleine oder nicht?

Also ließ ich ihn reden, reden, reden von weiß ich was. Es war nach 22 Uhr, die Zeit, in der es langsam Zeit wird und ein Lächeln genügt da fast immer. Der Rest ist egal. Die Männer reden, die Frauen lächeln. So will es das Gesetz. Der Mann mit dem Hai-Gebiss redete frontal in mein Gesicht hinein. Zuhören war völlig Banane.

"Windschnittig den Kanal entlang flutscht immer"! Ein Flüstern in meinem Ohr. Deine Stimme. Hell und blechern. An meiner linken Seite. So klingt kein Engel. So klingt kein Teufel. So klingelingst nur Du. Streichholzarme umfassen meine Schultern. Ich zucke ein "ich kenne Sie nicht". Ich drehe mich ruckartig um und ich blicke dabei: In die größten Augen der Welt. Diese Augen sind von einem Blau, dessen tiefe Dunkelheit den Grund des tiefsten Meeres gesehen haben müssen. Drumherum schwarze Wimpern. Riesen-Augen, Kraken-Augen, Seelen-Fenster - undurchdringlich in ihrem einladenden Strahlen.

"Du erkennst mich", flüsterst du nun beschwörend in meinem Nacken. Dabei steht der andere Er vor mir und redet weiter auf mich ein. Windschnittig den Kanal entlang redet er und will mich mit sich ziehen. Doch seine Augen sind nicht blau, seine Augen sind nur noch lau. Einer verliert, ein anderer gewinnt. Gesetz ist Gesetz. Und ich folge dem Blau. Das Blau zieht mich zu sich. Das Blau treibt mich in die Weite. Ich will fliegen, wenn ich in deine Augen schaue. Ich bin ein kitschiger Schlager geworden, mein Herz gibt den Takt dazu.

Wie kamen wir eigentlich zu mir nach Hause, an diesem ersten Abend unserer Begegnung? Träumte mir nur, dass du mich auf festen Armen über Straßenrinnen und Gehwege trugst, bis mir schwindlig wurde? Du verschlingst mich in dieser Nacht und ich verschlinge dich im kommenden Morgengrauen und das Erwachen ist nicht mehr einsam in dieser rauen, verödenden, gewaltvollen Welt. Nein, das Erwachen, mit ineinander verschlungenen Gliedern von Zweien zu einem einzigen Flügel-Tier, ist berauschender noch, als die gestrigen Wodka-Martinis es verheißen konnten. Wir sind fortan Zwei in Einem. So will mir scheinen, so blickst du mit deinen tellergroßen Augen in die Welt, ausschließlich um mein Spiegelbild darin spazieren zu tragen.

Das Leben kann einen besoffen machen. Dein ausgemergelter Körper, das Schwarz deiner Haare, das Blau der größten Augen der Welt, deine Spannkraft in jeder Sehne und der Funke deines Sehnens. Und nun mein Wünschen, nach so langer Zeit, mein abgestorbenes Wünschen nun wunschlos beheimatet. Ich tanze durch den Tag, dein Name ist EGAL, so nenne ich dich, denn meine Fragen gefallen dir nicht. Jede Frage lässt dein Glühen erkalten, jede Frage macht das Blau deiner Augen erblinden.

"Es tötet den Zauber, die Fantasie, die unserer Zweisamkeit Heimat ist", sagst du mit schepperndem Ton im Tenor und machst mich erzittern. Bist du im Recht? Ist dein Name egal? Mein Name ist mittlerweile unwirklich geworden, denn in jeder Stunde, in jedem Tag, heiße ich für dich anders und neu, passend zu meiner und deiner Stimmung, passend zu Sonne und Mond, passend zu Stern und allen Wettern. Den Wettern, deren Wandel Bestand bedeutet. Du zauberst, du malst, du findest und die Welt bleibt außen vor, es sei denn, wir dürfen sie umformen, anstreichen, besprühen in unseren Farben, damit sie wird, wie diese Mauer hinter meinem Haus, diese ehemals graue Mauer, dieser Spielplatz der Graffiti-Sprayer meines Bezirks. Bunt machen, was grau ist.

"Damals hinterm Mond ist heute", lächelst du mir küssend auf die Brust, die weiße, hinter der du mein rotes Herz schlagen hörst. Wir geben uns Antworten und die sind die wahren Antworten, denn wir haben sie nicht bekommen, sondern gefunden. Dein Leben ist Dada, dein Leben ist Surrealismus, kurzum, Du bist mein Manifest geworden und jeder Zweifel durchbohrt deine Seele. Und ich? Ich habe Spaß damit, ich taumele durch den Alltag wie ein Schmetterling über Wiesen. Wiesen mit Blumen darin, deren exotischer Duft ihr filigranes Leuchten in wiegenden Formen umhüllt und zu sich lockt. Leben ist Kunst und Kunst ist Leben. Und nach drei Wochen des gelebten Rausches, mit und ohne Wodka, kommt der erste Tag, an dem du nicht bei mir sein willst. In der Nacht, vor diesem Tag, beugst du dich über mein zerzaustes Haar, dein dünner Finger bohrt ein Loch in meine Stirn:

"Pause" stöhnst du in dieses hinein,

"machen wir eine Pause, du meine treue Tomate". Dazu lässt du eine süße Träne, aus vorzeitig empfundenem Trennungsschmerz, ins Dunkel meiner Gedanken hinab rollen. "Machen wir eine Pause, eine köstliche, grausame, belebende Pause, danach sind wir wieder wie neu zusammengesetzt!". Und schon ziehst du die Tür meiner Wohnung ins Schloss.

Mein möglicher Widerspruch ist unwidersprochen ad absurdum geführt. Ich reibe mir meine Augen. Welche Farbe die haben, weiß ich nicht mehr, ist auch egal, jetzt, wo du weg bist, oder habe ich das nur geträumt? Ich zwicke mich in den Unterarm, er schmerzt, alles in mir schmerzt und doch weiß ich, eine Pause würde mir gut bekommen können. Vielleicht fände ich in dieser freien Zeit einen neuen Namen für mich, einen der bleiben kann, weil er MEIN ist und vielleicht würde ich dann auch die vielen, verschiedenen Farb-Punkte in meinen Augen erkennen können, um die leuchtende Mixtur als eine einzige Farbe einzufangen, die mir nicht mehr verloren geht. Vielleicht schliefe ich jeden Tag bis in die Puppen oder vielleicht finge ich ein berufliches Projekt ein, gut bezahlt, so eines, das ein bisschen Ehre mit sich bringt. Vielleicht, vielleicht, vielleicht! Oh, ich vermisse dich jetzt, da ich aufrecht, alleine und bis auf die Knochen vereinsamt, zitternd auf der Bettkante sitze. "Treue Tomate", diesen Namen jedenfalls will ich nicht, das weiß die letzte, funktionierende Instanz in mir. Bis der Abend kommt, esse ich nichts, liege auf meinem Bett und rieche deinen Duft. Ich sauge deinen verbleibenden Rest-Duft ein wie ein Tier, mit geblähten Nüstern und rekele mich und strecke mich und werfe meine Haare wie Plunder hinter mich, denn es wird Zeit. Zeit, um etwas gegen diesen hoffnungslosen Zustand innerer Taubheit zu tun.

Also erst einmal ins "Lost Paradise", wer weiß, vielleicht kommst du dort hin, du wirst mich doch suchen, in deinem bestürzten Vermissen. In diesem Paradies der Nacht werde ich den Apfel meiden, Schlangen beschwören und Ausschau nach EGAL wem halten.

Das "Lost Paradise" sieht auch heute aus, wie so ein "Lost Paradise" eben aussieht. Es hatte von jeher den Wiedererkennungswert eines Déjà vus. Ich bestelle einen Wodka-Martini und schnippe mit den Fingern das Schirmchen weg. Schon ist es nach 22 Uhr. Ich lächele nicht, meine Haare sind verwildert, meine Augen sehen aus, als wüssten sie nicht, welche Farbe sie haben, mein Blick streift unauffällig suchend durch den Raum, meine Finger schreiben Zeichen in die Luft. Notenschlüssel, ich erfinde neuartige Formen für Notenschlüssel. Wenn du aus deiner Pause zu mir zurückkehrst, werde ich dich mit diesen Zeichen verwirren, betören, in Ketten legen und für immer davon überzeugen können, dass nur ich es schaffen kann, die Eine zu sein, die dir neue Formen für Notenschlüssel schenkt. Die Blicke diverser Er´s treffen mich, ich bin umringt, stelle ich fest. So will es das Gesetz. Die Frau, die kein Interesse zeigt, die wollen sie, die Kater, mit ihren Haifisch-Zähnen. Ich bestelle noch einen Wodka-Martini, acht davon stehen bereits vor mir, alle ohne Fähnchen, sechzehn dazu gehörige Augenpaare lauern mir auf, dem Weib, dem einsamen, dem emanzipierten, dem vollständig andersartigen. Ich fühle einen schneidenden Luft-Zug, die Tür des "Lost Paradise" wird von knöchernen Händen eines Geistes geöffnet, du schwebst an meine Seite, scheinbar, ohne mit den Füßen den Boden zu berühren. Du schlägst vor Zeugen zwei spitze Eck-Zähne in meinen Hals und trinkst mein Blut, mein Blut, mein Blut.

"Zahlen bitte", sagst du zu einem verdutzten Kellner. Deine Stimme klingt rau und heiser. Keine Spur mehr von Tenor.

"Blut von meinem Blut", lalle ich verzückt, lasse mich gewollt willenlos erneut von dir entführen. Ein Taxi ist unsere goldene Kutsche, die Rosse fliegen schnaubend über Stock und über Stein, sie bringen das Brautpaar nach Hause, nach Hause zu uns. Schrecklich ist sie gewesen, diese Pause, schrecklich ein Sein OHNE DICH. Schlager sind gar nicht kitschig, Schlager trällern nur die Wahrheit über uns Zwei. In dieser Nacht verschlingen wir uns beide abwechselnd und doch gleichzeitig. Wir verschlingen uns, wie halb Verhungerte eben zu schlingen pflegen und schlingen unsere Leiber umeinander, damit sie die Schlinge werden, aus der kein Entkommen mehr möglich ist. Schlinge zu Schlinge, oder so ähnlich! Dann Ruhe und Stille in der Nacht, irgendwann.

Doch keine Ruhe in meinem Busen und keine Ruhe hinter deiner Stirn. Ich möchte dir den plumpen Satz nicht zumuten, der in solchen Momenten von der Unmöglichkeit eines Weitermachens spricht. Ich will dich nicht verstören. In einem betont nebensächlichen Tonfall beginne ich daher, über meine neuen Erkenntnisse zu plaudern. Jene Erkenntnisse, die ich nicht nur, aber auch, zum Beispiel über meine Augenfarbe gewonnen habe. Ich spreche dir davon, wie relativ mir alles erscheint, dass man meine Augen mit Fug und Recht als grün, als grau oder auch als braun bezeichnen könne. "Aha!" Ein Lauern hat sich an mich herangeschlichen. Mit diesem Lauern stellst du mir die Frage aller Fragen. Du fragst mich tatsächlich nach meinem Namen. "Relativitätstheorie", erwidere ich lässig und nun habe ich dich von mir überzeugt, denke ich, doch das stimmt ganz so nicht, denn dein Erblassen ist unübersehbar, ganz bleich schaust du in meine Augen, die sich ihrerseits jeder Festlegung mit Wimpernschlag und Zwinkern zu entziehen suchen. "Lass uns zusammenziehen", stöhnst du nun auf. Eisige Winde ziehen durch unsere Zimmer. Ich fühle mich unschuldig und frage nach deiner eigenen Wohnung. Warum getraue ich mich auf einmal, dir solche Fragen zu stellen, sie machen dich doch so müde, verhindern deine Lebendigkeit. "Meine Wohnung habe ich gekündigt", sprichst du matt in Richtung Zimmerdecke. "Dafür die Pause!" Ein Gewicht stürzt auf unser nun eheliches Bett, ein Gewicht, wie aus tonnenschwerem Blei gemacht. Ich denke ans Glück und ans Jenseits, ans Hier und ans Jetzt und rote Pferde fallen mir ein, auf denen wir ins zischende Türkis einer staubenden Savanne reiten könnten. Wir beide auf diesen fliegenden Pferden, die zu Seepferdchen werden, wenn wir das wollen und die uns durch die Tiefen des Ozeans tragen. Wir haben Kiemen, wir atmen farbige Blasen aus, wir können uns Küssen und ein Pferdchen in den Stall zurückschicken und zusammen auf einem einzigen weiter jagen, weiter und weiter und immer weiter. "Ja", sagst du und schaust nun mit glasigen Augen in eine verdunkelte Ecke des Raums. Und ich erzähle und träume. Erzähle von Himmeln, Wassern und Farben. "Was machen wir mit der Erde?", fragst du in meine Träume hinein. "Wir warten, bis wir sie fühlen können", murmele ich und fühle mich elend und verlogen und spüre, wie meine Haut sich von mir ablöst, wie die Haut eines Reptils, das sich schält. "Was sollen wir da?", fragst du erneut und ich sage zu dir "egal", und du fragst mich