Losungswort Drahtseil - Toni Traschitzker - E-Book

Losungswort Drahtseil E-Book

Toni Traschitzker

4,8

Beschreibung

Der 14-jährige Heiner lernt mit einer Freundin für die Wiederholungsprüfungen. Er behauptet, sie sei schon 71 Jahre alt. Seine Mutter glaubt das nicht. Sie hat keine Ahnung, dass er heimlich versucht hat, ein Sparbuch dieser Freundin zu plündern.

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Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Ein unscheinbarer Zettel

Eine nette Bankangestellte

Polizei!

Detektiv

Die beste Lösung?

Anna N.

Alles in Ordnung?

Kirschendiebe

Ein sonderbares Geschenk

Genau wie bei Mutti

71 oder 17?

Ein Glücksfall

Nachhilfe-Freundin

Herrliche Aussichten

Hereingelegt

Gipfelfreuden – Gipfelscherze

Das geheimnisvolle Heftchen

Lange, schwarze Haare

Lass los

... fährt nur über meinen Schatten

Die Vokabel und ein armes Heinerle

Beichten!

Eine Drohung?

Glücksbringer

My young friend

Drahtseil!

Zu spät?

Die geheimnisvolle Freundin

Ein Wunder?

1

Das Buch

„Na ... wo is’ es denn?“

Eine Frau mit grauer Lockenfrisur saß auf einer Parkbank ohne Lehne und kramte hastig in der Einkaufstasche, die sie neben sich abgestellt hatte. Die Tasche war aus hellem, braunem Leder gefertigt, sodass das dunkelblaue Band an einem der Tragegriffe sofort auffiel.

Bei ein paar Büschen, nur wenige Meter von der Bank entfernt, lungerten drei Burschen herum. Sie tuschelten miteinander.

„Wetten wir, dass die Alte schon über sechzig ist?“, meinte einer von ihnen, ein sechzehnjähriger Blonder.

„Wie willst du das wissen, Vinzenz?“, erwiderte einer der beiden anderen, ein Fünfzehnjähriger mit schwarzer Scheitelfrisur. „Du siehst sie ja nicht einmal richtig von vorn.“

„Pah!“ Der Blonde grinste. „Ich kann um die Ecke schauen.“

In diesem Augenblick schien die Frau das Gesuchte gefunden zu haben: ein weißes Taschentuch. Sie wollte es aus der Einkaufstasche herausziehen – und zuckte erschrocken zusammen.

Ein schwarzer Schäferhund hatte sie angebellt.

„Ruhe, Herbro!“

Der Hundebesitzer, ein älterer Herr, zerrte ärgerlich an der Leine. Die Frau grüßte leise und blickte verunsichert auf den großen Hund, während sie das Taschentuch aus der Einkaufstasche zog.

Ein dünnes, rotbraunes Büchelchen rutscht samt einem Zettel heraus. Das Büchelchen gleitet auf die Bank, der Zettel segelt auf den Boden. Die Frau merkt es nicht. Sie starrt noch immer auf den schwarzen Schäferhund.

„Komm endlich, dummes Vieh!“, fauchte der Hundebesitzer. Auf den zaghaften Gruß der Frau hatte er nicht geachtet. Mürrisch riss er kurz an der Leine und ging mit seinem Tier weiter.

Die grauhaarige Frau putzte sich die Nase und schaute den beiden nach, sodass man von den Büschen her ihr Gesicht von der Seite betrachten konnte. Der Bursche, der wetten wollte, schien recht zu haben: Die Frau war bestimmt schon über sechzig, nur die Locken ließen sie jünger aussehen. Ohne den Blick vom Schäferhund abzuwenden, legte sie das Taschentuch in die Einkaufstasche zurück. Dann stand sie auf und entfernte sich mit ihrer Tasche langsam in derselben Richtung wie der Herr mit dem Hund.

„He“, murmelte der Jüngste der drei Burschen, ein dunkelhaariger Vierzehnjähriger. Er schien nicht sicher zu sein, ob er der Frau hinterherrufen sollte.

„Still!“, zischte ihn Vinzenz, der Sechzehnjährige an.

„Die hat etwas liegen lassen“, erwiderte der Jüngere.

„Klar“, bestätigte Vinzenz. „Sieht aus wie ein Sparbuch. Los, hol’s her, Heinerle!“

„Wieso ich?“

„Los, geh schon, Heinerle!“

„Sag nicht immer ,Heinerle‘ – ich heiß’ nur ,Heiner‘!“

„Dein Pech! Geh schon!“

Unschlüssig blickte Heiner nach links und rechts. Auf dem Parkweg ließ sich jetzt kein Mensch sehen. Die Frau und der Mann mit dem Hund waren schon hinter der nächsten Biegung verschwunden, wo hohe Sträucher wuchsen.

Zögernd ging Heiner zur Bank, blieb stehen und schaute sich noch einmal um.

„Ein feiger Kerl“, meinte Vinzenz.

„Vorsicht kann nicht schaden“, entgegnete sein Begleiter.

Endlich schnappte Heiner nach dem Büchelchen. Er eilte damit zurück und streckte es Vinzenz entgegen.

„Mensch, Reinhold! Tatsächlich ein Sparbuch“, sprudelte der Blonde heraus. „Ich hab’ mich nicht getäuscht.“

„Zeig her!“, erwiderte Reinhold, der schwarzhaarige Fünfzehnjährige.

Vinzenz übergab ihm das kleine Buch. Reinhold öffnete es, starrte gierig hinein – und fauchte plötzlich: „Verflucht! Losungswort!“

„Was?“ Vinzenz runzelte die Stirn.

„Das Buch ist gesperrt!“, rief Reinhold. „Da steht ein Vermerk: ,Losungswort‘. Ohne Losungswort kommst du an das Geld nicht heran.“

„Das gibt’s nicht ...“ Vinzenz verzog enttäuscht das Gesicht. „Wie hoch ist das Guthaben?“

Reinhold begann in dem dünnen Buch zu blättern. Es schien alt zu sein und enthielt viele Eintragungen. Demnach war schon oft Geld eingezahlt und wieder abgehoben worden. Reinholds Blicke huschten gespannt über die Zahlen. Plötzlich zog er die Brauen zusammen und stutzte, dann platzte er mit einem verächtlichen Lachen heraus: „Hähä! Nichts!“

„Was?“

„Schau her!“ Reinhold hielt Vinzenz spöttisch das Buch hin. Der griff hastig danach.

„Da! Der neueste Kontostand.“ Reinhold tippte grinsend mit dem Zeigefinger auf eine Zahl.

„Neunzehn Euro, dreiundzwanzig Cent“, stellte Vinzenz murmelnd fest. Dann blickte er auf und fragte verwirrt: „Das soll alles sein?“

„Scheint so. Pech gehabt. Aber vorher ...“ Reinhold hielt kurz inne und kniff die Augen zusammen. „Die letzte Abhebung macht fünftausend aus. Datum: heute! Ich sag’ dir was: Die Frau hat diesen Betrag gerade erst abgehoben. Das Geld muss in ihrer Handtasche stecken.“

„In der Handtasche?“

„Ja. Falls sie es nicht schon ausgegeben hat, um irgendwelche Rechnungen zu bezahlen.“

„Ach ja.“ Vinzenz seufzte. „Da rennt die Alte glatt mit einem Haufen Geld durch die Gegend. So etwas müsste man vorher wissen.“

„Willst du sie überfallen?“, platzte Heiner erschrocken heraus.

Vinzenz wandte sich ihm zu, lächelte und spottete: „Dummkopf! Du schaust dir wohl zu viele Kriminalfilme an.“

„Schade, dass die Frau das Sparbuch nicht hier liegen lassen hat, bevor sie zur Bank gegangen ist!“, meinte Reinhold.

„Na wennschon!“, erwiderte Vinzenz ärgerlich. „Ein Sparbuch mit Losungswort – was willst du damit? Da kommst du nie und nimmer an das Geld heran. Und das da –“ Vinzenz klopfte sich mit dem Büchelchen auf die geöffnete linke Hand. „– das ist mit seinen mickrigen paar Cents so gut wie wertlos. Das kannst du ... wegschmeißen.“

Und schon schwirrte das Buch durch die Luft und landete unterm Gebüsch.

„Ab ins Kino wie geplant!“, forderte Vinzenz seine Begleiter auf. Er wandte sich zum Gehen um.

Reinhold folgte ihm, Heiner starrte verwirrt aufs Gebüsch.

„Was ist, Heiner? Kommst du mit?“, rief ihm Vinzenz zu. „Sie spielen heut’ einen erstklassigen Action-Film. Oder traust du dich nicht, Heinerle?“

„Pfeif drauf“, brummte Heiner beleidigt. „Lass mich in Frieden mit deinem Aktionsfilm. Der heißt wohl deshalb so, weil er genauso ein Ramsch ist wie das, was man im Supermarkt als ,Sonder-Aktion‘ angedreht kriegt.“

„Heinerle, du Kasperle!“, platzte Vinzenz heraus. Dann schlug er Reinhold freundschaftlich auf die Schulter und forderte ihn auf: „Komm, lassen wir den Kleinen! Der hat ja keine Ahnung, was ,Action‘ bedeutet.“

2

Ein unscheinbarer Zettel

Wie ein achtlos weggeworfenes Stück Jausenpapier, von dem keiner mehr etwas wissen will, liegt das rotbraune Büchelchen unter einem dichten Busch. Noch ist es sauber geblieben. Aber der nächste Regenguss wird es nass und schmutzig machen, allerlei Ungeziefer wird drüberkrabbeln, Wind, Sonne, Regen und Schnee werden dem Papier zusetzen ...

Doch eine Knabenhand greift plötzlich nach dem Büchelchen und hebt es auf.

„Neunzehn Euro, dreiundzwanzig Cent. Fast nichts.“ Heiner seufzte leise und starrte auf die Zahlen, die den Wert des Guthabens angaben. Allzu groß war es nie gewesen. Den Einzahlungen waren immer wieder Abhebungen gefolgt. Reich schien die Besitzerin dieses Sparbuchs nicht zu sein. Neunzehn Euro und dreiundzwanzig Cent – vielleicht bedeutete das für sie eine Menge Geld. Man bekam dafür ...

Heiner begann nachzurechnen. Als flinker Kopfrechner fand er bald heraus: Das letzte Guthaben hatte immerhin den Wert von etwa fünfzehn Litern Milch. Da konnte man zwei Wochen lang täglich einen Liter Milch trinken; oder noch öfter etwas Leckeres aus Milch zubereiten – Pudding zum Beispiel. Heiners Mutter nahm sich manchmal die Zeit zum Puddingkochen. Aber als Krankenschwester, die auch Nachtdienst hatte, fehlte ihr tagsüber meist die Lust, sich länger als nötig an den Herd zu stellen. Heiner hingegen fehlte die Lust, selber das Puddingkochen zu lernen.

„Fünfzehn Liter Milch ... na ja.“ Heiner seufzte wieder und näherte sich mit dem Büchelchen der Bank, auf der die grauhaarige Frau gesessen war.

Kam sie vielleicht gerade zurück? Hatte sie den Verlust ihres Sparbuchs schon bemerkt?

Neben der Bank blieb Heiner stehen und sah sich um. Auf dem Parkweg ließ sich niemand blicken. Wahrscheinlich merkte die Frau erst zu Hause, wenn sie die Einkaufstasche öffnete, dass das Buch weg war. Na wennschon – was sind nicht einmal zwanzig Euro im Vergleich zu fünftausend! Reinhold hatte festgestellt, dass die Frau gerade erst fünftausend Euro abgehoben hatte!

Abermals seufzte Heiner. Fünftausend ... das wär’ etwas anderes ...

Plötzlich stutzte er und starrte auf den Boden.

Was für ein Zettel liegt da neben der Bank? Ach ja – der ist mit dem Sparbuch herausgefallen, als die Frau ihr Taschentuch aus der Einkaufstasche herausgezogen hat!

Was ist das für ein Zettel? Da steht etwas drauf: Losungs ...

„Das gibt’s nicht!“

Heiner zuckt zusammen. Einen Augenblick zögert er. Dann reißt er den Zettel vom Boden hoch.

Kein Zweifel, da steht mit einer zittrigen, aber gut lesbaren Handschrift geschrieben:

Gottvertrauen? War das das Losungswort für nicht einmal zwanzig Euro? – Zugegeben, fünftausend waren es bei der letzten Abhebung gewesen. Die Frau hatte sich das Losungswort wahrscheinlich aufgeschrieben, damit sie’s nicht vergaß; und den Zettel hatte sie einfach ins Sparbuch gesteckt. Wie unvorsichtig von ihr!

Gottvertrauen – für so ein ausgefallenes Losungswort brauchte man doch keinen Merkzettel!

Heiner steckte ihn ins Sparbuch und sah sich um.

Kam die Frau zurück?

Nein. Kein Mensch ließ sich blicken.

Nicht ganz zwanzig Euro, immerhin. Die Mutter hatte Heiner für die Sommerferien das gesamte Taschengeld gestrichen. Alles wegen der Wiederholungsprüfungen! Geographie. Englisch. Ferien futsch! Taschengeld futsch!

Knapp zwanzig Euro – für ein paar Süßigkeiten reichte das allemal ...

Noch immer kam kein Mensch daher. Unschlüssig grübelnd schlenderte Heiner weiter. Er ahnte schon, was er tun würde – obwohl er dabei kein gutes Gefühl hatte ...

3

Eine nette Bankangestellte

Mit heftigem Herzklopfen betrat Heiner die Bankfiliale. Ängstlich sah er sich um. Er wusste: Was er vorhatte, war nicht in Ordnung. Aber die paar Euro ...

Vor jedem der beiden Schalter stand gerade ein Kunde: links ein hagerer Herr mit grauem Hut und grauem Anzug, rechts ein kleinerer, dicklicher Mann mit kurzärmligem, buntem Sommerhemd und kurzer Hose.

In zwei Metern Abstand von den beiden Männern blieb Heiner stehen. Er musterte die Bankangestellten. Der Kunde im grauen Anzug wurde von einem älteren Herrn bedient, der andere von einer jungen Dame mit einer blonden Lockenfrisur. Diese Locken ... Heiner musste an die Locken der grauhaarigen Sparbuchbesitzerin denken – und plötzlich durchzuckte ihn ein Schrecken: Was dann, wenn diese Bankangestellte die grauhaarige Frau kannte, womöglich gar ihre Tochter war? Dann erinnerte sie sich bestimmt noch an die Sparbuchabhebung vor vielleicht gerade erst einer halben Stunde! Fünftausend Euro – so einen Betrag vergisst man nicht so schnell! Oder hatte der Herr am anderen Schalter die grauhaarige Frau bedient?

„Bitte sehr!“

Oje, die junge Dame winkte Heiner bereits zu sich! Der Dicke war soeben zur Seite getreten. Er verstaute einen Beleg in seiner Brieftasche und machte Platz für den nächsten Kunden – für Heiner!

„Is’ ja schon wurscht!“, dachte Heiner. Er murmelte dem Dicken einen Gruß zu und trat an ihm vorbei zum Schalter.

„Grüß Gott ... äh ...“ Hastig fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen, um sie anzufeuchten. Dann hielt er der Bankangestellten das Sparbuch hin und fragte. „Bitte ... kann ich da etwas abheben?“

„Aber gern.“ Die Blondine lächelte freundlich. Sie griff nach dem Sparbuch und schlug es auf.

„Ach, da haben wir ja ein Losungswort“, stellte sie fest. „Das musst du mir bitte zuerst aufschreiben.“

„Ist schon aufgeschrieben – da.“ Heiner streckte ihr den Zettel entgegen.

„Einen Augenblick bitte“, erwiderte die Dame nach einem Blick darauf. Ihre Finger huschten wieselflink über eine Computertastatur. Von dem Bildschirm, der dazugehörte, konnte Heiner nur die Rückseite sehen. Staunend beobachtete er die schmalen Finger der jungen Frau und dachte: „So schnell müsste man tippen können ...“

Auf einmal hielt sie inne, sah einen Augenblick gespannt auf den Bildschirm und seufzte: „Oh, das tut mir aber leid.“

„Äh ... was?“, stammelte Heiner.

„Bist du sicher, dass du dich auf dem Zettel nicht verschrieben hast?“, fragte die Bankangestellte.

„W-wieso?“, stotterte Heiner.

„Tut mir leid, das ist falsch.“ Die junge Dame seufzte wieder. „Dein Losungswort ist falsch. Ich darf dir leider nichts geben.“

„Äh ... nicht einmal zehn Euro?“, rutschte es Heiner heraus.

„Leider – Losungswort ungültig“, erwiderte die Dame. Sie blätterte kurz im Sparbuch und stellte fest: „Oje, da ist fast kein Guthaben mehr drauf. Da müsstest du sowieso gleich das ganze Sparbuch auflösen.“

„Auflösen?“, wiederholte Heiner verwirrt.

„Ja.“ Die Bankangestellte nickte. „Aber auch für eine Sparbuchauflösung brauchst du das richtige Losungswort. Weißt du was – schau daheim noch einmal nach, vielleicht hast du irgendetwas verwechselt. Dann kommst du wieder her, ja?“

„Äh ... ja.“ Verdattert griff Heiner zu, als ihm die Bankangestellte das Sparbuch hinhielt und seufzend sagte: „Nichts für ungut, aber ich muss mich an die Vorschrift halten. Was auf deinem Zettel steht, ist leider völlig falsch.“

„Hm ... äh ... ich ... ich werd’ daheim nachschauen“, stotterte Heiner.

„Ja, tu das! Auf Wiederseh’n.“ Die junge Dame nickte freundlich, als hätte sie keine Ahnung davon, dass Heiner soeben versucht hatte, an fremdes Geld heranzukommen.

4

Polizei!

„So ein Reinfall!“, dachte Heiner wütend. Die Knie schlotterten ihm noch immer – geradeso als wollten sie ihm sagen: Die Bankangestellte hat dich bestimmt durchschaut. Jemanden, der sich ein Losungswort auf einen Zettel schreibt, obendrein krautfalsch – so einen Trottel kann’s gar nicht geben! Womöglich verständigt sie gleich die Polizei ...

Wegen nicht einmal zwanzig Euro?

Na wennschon – vielleicht gibt’s auch für so kleine Beträge irgendeine Vorschrift ...

Am liebsten hätte Heiner das Sparbuch draußen vor der Eingangstür der Bank in einen Winkel geschleudert – und den dämlichen Zettel mit dem „Losungswort“ dazu!

Aber halt – dadurch würde er sich verdächtig machen! Vielleicht beobachtete ihn die Bankangestellte; außerdem – au verflixt! Im Schalterraum war er bestimmt gefilmt worden! Wenn’s drauf ankam, fand man ihn aufgrund der Überwachungskameras kinderleicht ...

Von Wut und Angst zugleich erfasst, eilte Heiner davon. Einmal wagte er es, kurz über die Schulter zurückzublicken.

Schaute ihm jemand von der Bank aus nach? Die Bankangestellte etwa?

Nein. Beim Eingang ließ sich kein Mensch sehen. Warum auch sollte die Bankangestellte eigens ihren Platz hinterm Schalter verlassen? Wegen nicht einmal zwanzig Euro?

Vielleicht rief sie aber wirklich die Polizei an. Was sollte Heiner also tun? Dem Anruf zuvorkommen und das Sparbuch schleunigst zum allernächsten Polizeiposten bringen? Oder gleich zum Fundamt, wie es sich von Anfang an gehört hätte? Wenn die Polizei sich danach bei ihm meldete, konnte er behaupten, er hätte sich zuerst einen Jux gemacht und die Angestellten der Bank testen wollen.

Unangenehme Fragen stellte man wahrscheinlich auch beim Fundamt. Heiner wusste nicht einmal, wo es war. Er müsste erst irgendjemanden fragen. Sollte er das sofort tun?

„Ich Rindvieh!“, schimpfte er in Gedanken mit sich selber. „Liegen lassen hätt’ ich das Büchelchen sollen! Dort, wo’s Vinzenz hingepfeffert hat!“

Heiner bog in eine Seitenstraße ein, er wollte das Bankgebäude nicht mehr sehen. In seiner Hosentasche spürte er noch immer das Sparbuch. Samt dem verhängnisvollen Zettel hatte er es eingesteckt, und am liebsten hätte er es bei der nächstbesten Gelegenheit weggeworfen. Das war aber leichter gedacht als getan, vor allem auf offener Straße, wo ihn allerlei Leute beobachten konnten.

Ohne es gewollt zu haben, näherte er sich wieder dem Park.

War die grauhaarige Frau inzwischen zurückgekehrt? Suchte sie etwa schon völlig verzweifelt?

Völlig verzweifelt wegen nicht einmal zwanzig Euro? – Blödsinn! Immerhin: fünfzehn Liter Milch ...

Heiner konnte nicht anders – es schien, als triebe ihn etwas zu der Parkbank zurück, wo alles begonnen hatte. Dort drüben bei den Büschen stand sie ja!

War die grauhaarige Frau inzwischen zurückgekehrt?

Unsinn!

Heiner seufzte. Er blieb stehen und blickte sich um.

„Ich lege das Buch einfach unter die Bank, die Frau wird’s schon finden“, beschloss er. Doch als er die Bank erreichte, zögerte er.

Was dann, wenn nicht die Frau das Sparbuch fand, sondern irgendein Trottel, der es so wie Vinzenz wieder wegwarf? Dann war Heiner erst recht dran, falls die Bankangestellte die Polizei verständigte! Er hatte versucht, Geld abzuheben – die Überwachungskameras bewiesen das!

Unschlüssig sah sich Heiner immer wieder in alle Richtungen um. Wenn jetzt die grauhaarige Frau käme! Dann könnte er ihr sagen, er hätte das Sparbuch gerade gefunden, wüsste aber nicht, wo das Fundamt sei. Bestimmt erkannte sie ihr Eigentum wieder und war froh! Vielleicht spendete sie sogar einen kleinen Finderlohn ...

Schwachsinn – bei zwanzig Euro, sogar ein bisschen weniger ...

Heiner seufzte. Er ließ das Sparbuch in der Hosentasche stecken und trottete nach Hause.

Als er das Wohnzimmer betrat, zeigte die Wanduhr auf zwei Minuten nach fünf.

„Jetzt haben sie beim Fundamt bestimmt längst zu“, dachte Heiner. Trotzdem holte er das Telefonbuch, um wenigstens die Anschrift herauszusuchen.

„Neureuther Hauptstraße Nummer siebenundsiebzig“, stellte er mürrisch fest. „Das ist ja am anderen Ende der Stadt!“

Verstimmt räumte er das Telefonbuch weg und griff nach dem Sparbuch, das er auf den Wohnzimmertisch gelegt hatte. Als er es aufschlug, starrte ihm der Zettel mit dem „Losungswort“ entgegen.

„Blöder Fetzen!“, fauchte Heiner. Beinahe hätte er das verhängnisvolle Stück Papier vor Wut zerknüllt. Doch im letzten Augenblick hielt er inne.

Die Frau hatte beides verloren, Buch und Zettel; also musste ein ehrlicher Finder beides ordnungsgemäß abliefern – beim Fundamt, bei der Polizei oder bei der Besitzerin.

Fürs Fundamt war es an diesem Tag zu spät; und für die Polizei? Da gab’s sogar Nachtdienst. Aber Polizei – nein, danke! Dort hätte sich Heiner sofort melden müssen, und nicht erst ein paar Stunden später, nachdem er zuerst versucht hatte, bei der Bank ... ojemine!

Wusste die Polizei schon Bescheid? Hatte die Bankangestellte angerufen? Die Aufnahmen der Überwachungskameras konnte man gewiss in kürzester Zeit auswerten. Womöglich dauerte es nicht mehr lange, bis die Polizei an der Wohnungstür läutete ...

„Nur wegen zwanzig Euro? – Ich spinn’ ja schon!“, dachte Heiner erschrocken.

Sollte er die Mutter einweihen? Vielleicht ging sie mit zum Fundamt. – Zwecklos! Zusammenschimpfen würde sie ihn! Außerdem konnte sie am nächsten Tag sowieso nicht mit, da hatte sie vormittags und nachmittags Dienst im Krankenhaus.

Heiner seufzte schwer. Zerknirscht starrte er auf das Sparbuch. Wenn er es der Besitzerin zurückbringen könnte! Er musste es ja nicht persönlich übergeben, es reichte, wenn er es ihr in den Postkasten steckte ...

Postkasten – in welchen denn? Heiner wusste weder Namen noch Anschrift der Frau. Gesehen hatte er sie bloß von hinten und einmal ganz kurz von der Seite. Nur an die grauen Locken konnte er sich genau erinnern. Angezogen war sie mit ... ja wie eigentlich? Hatte sie nicht ein hellgraues Kostüm angehabt? Oder war es eher bräunlich gewesen? Oder gelblich? – Hell jedenfalls. Ojemine! Mit so einer Personenbeschreibung konnte nicht einmal ein Meisterdetektiv etwas anfangen.

Ach ja – eine Kleinigkeit, eine kleine Auffälligkeit fiel Heiner noch ein: das blaue Band an einem der Tragegriffe der Einkaufstasche. Heiner hatte sich gewundert, wozu das gut sein sollte. Vielleicht, dass die Frau nicht aus Versehen eine fremde Tasche erwischte?

Viel wusste Heiner von der Sparbuchbesitzerin jedenfalls nicht. Eigentlich so gut wie gar nichts.

Er grinste plötzlich. Die Sommerferien hatten gerade erst begonnen. Das wurden ja „spannende“ Ferien, wenn er Detektiv spielen musste! Zeit genug hatte er jedenfalls. Er konnte sofort anfangen; und wenn er den „Fall“ löste, bekam er als Lohn ... ja was denn? – Immerhin: ein reines Gewissen, weil er das Sparbuch zurückbrachte. Ohne Heiner läge das Büchelchen dort, wo Vinzenz es hingeworfen hatte – dort, wo die Frau es bestimmt nie suchen würde ...

Heiner seufzte wieder und griff nach dem Zettel.

Losungswort Gottvertrauen

Was sollte der Unsinn?! Das war doch das falsche Losungswort! Sollte es eine Art Andeutung auf das echte Losungswort sein? Oder hatte es mit Losungswörtern überhaupt nichts zu tun?

Gottvertrauen ... vielleicht hing das mit der Frau zusammen. Vielleicht war sie, wie man so sagte, ein gläubiger Mensch; einer, der betet; einer, der sonntags in die Kirche geht ...

Heiner musste an seine Mutter denken. „Da hilft nur noch Gottvertrauen“, sagte sie manchmal, wenn sie zu Hause von einem Patienten erzählte, dem es sehr schlecht ging.

Verflixt – wenn die Bankangestellte die Polizei angerufen hatte, konnte Heiner genauso sagen: „Jetzt hilft nur noch Gottvertrauen.“

Er wünschte sich, er wäre mit dem Sparbuch nicht zur Bank gerannt. Wegwerfen nützte jetzt, wo er gefilmt worden war, nichts mehr! Er musste das Sparbuch der Besitzerin zurückgeben oder beim Fundamt oder bei der Polizei abliefern.

Gottvertrauen ... ja, wenn die grauhaarige Frau Gottvertrauen besaß, war sie wohl davon überzeugt, dass sie ihr Sparbuch wiederbekommen würde. Dann vertraute sie darauf, dass Gott das Sparbuch einem ehrlichen Finder und nicht einem Schurken in die Hände fallen ließ.

Einem Schurken? – Nein! Heiner wollte kein Schurke sein. Also musste er dafür sorgen, dass das Sparbuch zurück zu seiner Besitzerin gelangte.

Heiner ärgerte sich plötzlich über Vinzenz. Der war auf den verhängnisvollen Einfall gekommen, das Buch zu holen! Heiner hatte der Frau schon zurufen wollen, dass sie etwas verloren habe; aber Vinzenz ...

Es half nichts – Heiner fühlte sich selber schuld. Warum ließ er sich immer wieder von Vinzenz und Reinhold etwas anschaffen? Nur damit sie ihn als Freund anerkannten?

Von wegen Freund ... echte Freunde würden einen „Heiner“ nicht dauernd zum „Heinerle“ abwerten! Vielleicht war es besser, auf die „Freundschaft“ dieser zwei Burschen zu verzichten. Die Mutter sah es ohnehin nicht gern, wenn er sich mit den beiden herumtrieb. Sie wohnten erst seit ein paar Wochen im selben Wohnblock wie Heiner und seine Mutter.

„Hallo, Nachbar!“, hatten Reinhold und Vinzenz bei der ersten Begegnung im Stiegenhaus kumpelhaft gegrüßt. Bald darauf war er mit ihnen sogar in das neue Kino mitgegangen. Dort hatte er erlebt, wie das ist, wenn einer der Filmhelden scheinbar von der Leinwand herunter mitten unter die Zuschauer springt. Damals hatte Heiner zum ersten Mal gefühlt, dass Vinzenz und Reinhold ihn für einen Feigling hielten. So war’s wohl auch vorhin im Stadtpark gewesen. „Los, hol’s her!“, hatte Vinzenz gerufen; und Heiner hatte gehorcht wie ein dressierter Pudel! Ja, ja, ein Feigling ... einer, der kein Selbstvertrauen und auch kein Gottvertrauen besaß ...

Die Rückkehr der Mutter riss Heiner aus seinen trübseligen Gedanken heraus. Hastig versteckte er Sparbuch und Zettel hinter einer breiten Blumenvase, bevor die Mutter das Wohnzimmer betrat. Sie wollte gleich wissen, ob er sich schon einen Lernplan für die Wiederholungsprüfungen aufgestellt habe.

„Ja“, brummte Heiner.

„Und? Wie sieht der Plan aus?“, fragte die Mutter.

„Die ersten drei Wochen mach’ ich Ferien“, antwortete Heiner mürrisch.

„Wie bitte?“, platzte die Mutter heraus.

„In den ersten drei Wochen tu’ ich nichts“, wiederholte Heiner finster. Als die Mutter etwas erwidern wollte, fuhr er schnell fort: „Das hat uns einmal so ein – Dings – äh – Lernpsychologe geraten. Er hat in unserer Klasse einen Vortrag gehalten und gemeint, trotz einer Nachprüfung sollte man zuerst einmal drei Wochen völlig ausspannen.“

„Völlig ... der hat Nerven!“, schimpfte die Mutter. „Das kann man sich vielleicht erlauben, wenn man nur eine Wiederholungsprüfung ablegen muss. Aber bei dir sind’s zwei