Lotte Lenya und Bertolt Brecht - Jürgen Hillesheim - E-Book

Lotte Lenya und Bertolt Brecht E-Book

Jürgen Hillesheim

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Beschreibung

»Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral«: Doppelbiografie über Bertolt Brecht und Lotte Lenya Der Welterfolg der Dreigroschenoper 1928 verband zwei eigenwillige Künstlerpersönlichkeiten miteinander: Bertolt Brecht als Schriftsteller und Dramatiker und Lotte Lenya als Interpretin seiner Songs. Ihre Karrieren weisen erstaunliche Gemeinsamkeiten auf - und grundlegende Unterschiede. Der Brecht-Forscher Jürgen Hillesheim führt erstmals die Lebensgeschichten von Lotte Lenya und Bertolt Brecht zusammen. Die zupackende Sängerin und Schauspielerin und der Begründer des Epischen Theaters waren entschlossen, mit ihrer Kunst erfolgreich zu sein - koste es, was es wolle. Jenseits von bürgerlicher Moral gelang ihnen der Aufstieg. - Zwei herausragende Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts im Doppelporträt - Geschichte der »Seeräuber-Jenny« und anderer Balladen aus der »Dreigroschenoper« - Ein neuer Blick auf die Kultur der Weimarer Republik - Die turbulente Geschichte einer von Streit geprägten und mit Erfolg gekrönten Hassliebe - Mit bisher unveröffentlichten Dokumenten und Fotografien  Lebenswege einer berühmten Sängerin und eines bedeutenden Schriftstellers Jürgen Hillesheim schildert Bert Brechts und Lotte Lenyas Biografien vom Aufwachsen in Augsburg und Wien bis ins Berlin der 1920er Jahre, wo sie den triumphalen Erfolg der Dreigroschenoper feierten. Weitere Stationen waren die Flucht aus Deutschland, das Exil und die Zeit danach, als ihre Wege sich trennten und immer wieder kreuzten. Zu ihren Wegbegleitern zählen Lotte Lenyas Ehemann, der Komponist Kurt Weill, und die mit Bertolt Brecht verheiratete Bühnenschauspielerin Helene Weigel. Folgen Sie den Spuren Lotte Lenyas und Bertolt Brechts in der Literatur, Musik und dem Kulturleben einer aufregenden Epoche.

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Seitenzahl: 466

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detailliertebibliografische Daten sind im Internet überwww.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitungdurch elektronische Systeme.

wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.

© 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Lektorat: Diana Napolitano, Augsburg

Satz: Arnold & Domnick, Leipzig

Umschlagabbildungen: Lotte Lenya, ca. 1930 © Lotte

Jacobi Collection, University of New Hampshire, USA; Bertolt Brecht,

1931 © ullstein bild – ullstein bild

Umschlaggestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-4535-6

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4536-3

eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4537-0

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Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Impressum

Inhalt

Einleitung

Bertolt Brecht 1898–1922 – von Augsburg nach oben

Ein falsches Familienidyll – Schreiben als Ersatzhandlung?

Der werdende Genius

Zwischen elitärer Clique und ergebener Anhängerschaft – der Augsburger Freundeskreis

Erste Frauen – ein ziemliches Durcheinander

Lehrer-, Bürgerschreck und Waffenverweigerer

Unruhen in Augsburg – Brecht bleibt auf Distanz

Die kommunistische Revolution als Fortsetzung des Krieges

Der Durchbruch

Lotte Lenya 1898–1921 – das »zweite Linnerl« findet seine Identität

Proletarisches Elend

Rabeneltern

Gegenwelten: Schule und Kunst

Befreiung und Selbstfindung

Fort, nur fort nach Zürich: Aus dem Linnerl wird Lotte

Zurück in neues Elend nach Penzing und zweite Flucht

Karriere und Bohemeleben in Zürich

Aufbruchstimmung

Brecht und Lenyas Leben in Berlin

Brecht vernetzt sich

Und immer wieder die Frauen

Eine anonyme Schmähung und die sehr spezielle Förderung Marieluise Fleißers

»Ich komme herauf, ich bin unvermeidlich …« Programmatisches in Brechts Werk und Image

»Ich war immer schon verrückt« – Lotte Lenya gibt nicht auf

Sämtliche Wege führen zueinander

Lotte Lenya und Kurt Weill im Liebesglück

Fürsorglicher »Lustknabe« und freiheitsliebende Muse – ein ideales Paar

Weill, Lenya und Brecht machen sich auf nach »Mahagonny«

Brecht und Lenya spielen »Episches Theater«

Lenyas scharfer Blick

Premiere des Songspiels in Baden-Baden: Hinterher »15 Minuten Skandal«!

Der größte Bühnenerfolg der Weimarer Republik: Die Dreigroschenoper

Vorspiel

»Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so …«

Kreatives Chaos und Welterfolg

Vermarktung, Erfolge, Misserfolge und der Untergang Weimars

Der Lebensstandard steigt, die politische Instabilität auch

Kein Happy End für Happy End

Begegnungen mit dem Kommunismus: Brecht schreibt Die Maßnahme, Lenya fährt nach Moskau

Lenya und Weill trennen sich – Brecht gewinnt eine Beziehung hinzu

Im Exil

Auf der Flucht

Weltoffenes Paris

Brecht macht sich auf nach Dänemark, Lotte Lenya tingelt umher

Weill und Lenya finden wieder zusammen

Brecht versucht, sich »einzurichten« in Dänemark

Unterkühltes Wiedersehen in New York:Brechts Die Mutter fällt durch – Weill und Lenya tun sich schwer

Weill wird zum Star, Lenya zur wenig beschäftigten Ehefrau

»Öfter die Schuhe als die Länder wechselnd …«: Durch Skandinavien bis in die USA

Brechts Vater und Margarete Steffin sterben

Desillusionierendes in den USA

Brecht in der Krise

Neue Leben – neue Weltkarrieren

Der »feindliche Ausländer« verlässt die USA

Brechts Rückkehr nach Europa

Weills Tod, Lenyas neue Identität

Gratwanderung zwischen den Welten: Brecht in der DDR

Die Verurteilung des Lukullus: Brecht gibt wieder nach, Neher »hat die Nase voll«

Brecht bleibt seiner pazifistischen Grundhaltung treu

Brecht als Lehrer des Epischen Theaters

Brechts Frauen: Die einen werden älter – die anderen jünger

Das Berliner Ensemble als Exportschlager

Schon wieder in der Zwickmühle: der 17. Juni 1953

Lenya und das »zwielichtige Intrigantenpaar«

»Laßt mich in Ruhe …«: Brecht stirbt; Lenya nach und mit ihm

Lenyas bizarre Männergeschichten

Das »Doppelleben« eines Superstars

»Madame Weigel aus der Ostzone …«

»Können ihr ein Loch graben …« – Abschied ohne Glamour

Dank

Anmerkungen

Literatur

Personenregister

Abbildungsnachweis

Einleitung

Bertolt Brecht, der vielleicht bedeutendste Dramatiker und Theatertheoretiker des 20. Jahrhunderts, Lotte Lenya, die außergewöhnliche Sängerin und Schauspielerin. Brecht, der Stücke- und Songschreiber, Lenya, seine bis heute unvergleichliche Interpretin. Beide wurden umschwärmt, lebten ihre sexuelle Libertinage aus, völlig ungeachtet ihrer jeweiligen Beziehungen, fanden aneinander jedoch keinen Gefallen. Waren sie trotzdem ein »ideales Paar«, das Vergnügen und Erfolg gleichermaßen maximierte? Das Gegenteil ist der Fall! Trotz gegenseitiger künstlerischer Wertschätzung hegte Lenya Brecht gegenüber zeitlebens beinahe eine Feindschaft. Frühzeitig nahm sie wahr, dass er in erster Linie sich selbst sah, zuallererst die eigene Karriere, den eigenen Mythos im Kopf hatte. Und: das eigene Geschäft.

Das konkretisierte sich gerade am Beispiel des Welterfolgs beider, der Dreigroschenoper, der sie zusammenschweißte. Hier kommt mit dem genialen Komponisten Kurt Weill das wichtigste Bindeglied zwischen Brecht und Lenya ins Spiel: Er vertonte die Dreigroschenoper und heiratete Lotte Lenya. Doch – eigentlich ungewöhnlich für eine Oper – behielt Brecht, der Librettist, stets das Zepter in der Hand: Er übervorteilte den eher zurückhaltenden Künstler. Lotte Lenya warf das Brecht immer wieder vor. So sehr Brecht von Lenya und Weill profitierte, so bedeutsam war aber umgekehrt auch Brecht für sie: Ohne ihn wären die Künstlerpersönlichkeiten beider ärmer an Profil und weniger bedeutsam im Kulturleben des 20. Jahrhunderts.

Trotz aller Animositäten: Es gibt eine Menge nie hinreichend zur Kenntnis genommener Gemeinsamkeiten. Gerade in ihren Gegensätzlichkeiten beleuchten die Lebensgeschichten Brechts und Lenya einander. Zunächst sticht jedoch eher Trennendes ins Auge. Auf der einen Seite der berühmte »Stückeschreiber« und Intellektuelle, der Mann der Worte; auf der anderen Seite die praktisch begabte, zupackende Lenya, die Worte in Tanz und Gesang verwandelte. Hier ein Spross aus einer bürgerlichen Familie, dort das Kind und das Opfer schlimmsten sozialen Milieus. Hier mit Augsburg bayerisch-schwäbische Provinz als sozio-kultureller Hintergrund, dort, mit Wien, eine der bedeutenden Künstlermetropolen Europas. Brecht, der im Umgang mit Frauen vermeintlich Kaltherzige, Brecht, der angebliche politische Ideologe und große Lehrer. Lotte Lenya, die, wenn auch sexuell unabhängige und forsche, so dennoch verletzliche Freidenkerin. Brecht, der »frühvollendete« Klassiker, Lenya, die bis ins Alter ihren Erfolg und das Erbe Weills in sehr eigener Weise verwalten konnte.

Auch im vermeintlich Unterschiedlichen treten bei näherem Hinsehen Gemeinsamkeiten zutage, bis hin zur familiären Konstellation. Lenyas Mutter, Wäscherin, kam in die K.u.K.-Metropole, um Arbeit zu finden und lernte hier ihren Mann kennen, mit dem sie im Elend lebte. Bei Brechts Eltern war das ähnlich: Augsburg war eine begehrte Industrie- und Textilstadt. Der Vater fand hier Arbeit. Die Mutter war Näherin aus dem Württembergischen und suchte gleichfalls in Augsburg eine Anstellung. Nach der Heirat wohnte das Paar zunächst ebenso unter unguten Bedingungen. Schon rasch allerdings machte der alte Brecht eine erstaunliche berufliche Karriere. Das familiäre Umfeld Lenyas hingegen blieb dasjenige sozial deklassierter Leute, dem Lenya so früh wie möglich zu entfliehen versuchte – mit Erfolg.

Lenya litt maßlos unter ihrem sadistischen und alkoholabhängigen Vater, konnte sich aber ihren Lebenswillen erhalten und ihren eigenen, ungewöhnlichen Weg gehen. Sie entwickelte eine gewisse Abgeklärtheit, auch materielle Klugheit und außerdem eine große sexuelle Freizügigkeit, vorgegeben bzw. »legitimiert« vielleicht auch durch das Wiener Künstlermilieu, von dem sie gehört hatte und in dem dergleichen nichts Besonderes war. Später konnte sie ihre Mitmenschen, auch Brecht, wesentlich schneller und besser durchschauen als etwa ihr gutgläubiger Ehemann Kurt Weill; vielleicht auch deshalb, weil Brecht ihr in gewisser Weise wesensverwandt war.

Die Sucht nach der Zuwendung, die Lenya als Kind nie erhalten hatte, wurde für sie, neben dem materiellen Aspekt, zur beruflichen Antriebsfeder. Weiteres kommt hinzu: Sie hatte früh gelernt, dass mit ihrer besonderen erotischen Ausstrahlung Geld zu verdienen war. Gezielt weckte sie männliche Begehrlichkeiten und nutzte sie für ihren Erfolg. Damit einher ging eine zutiefst künstlerische Dimension. Sex und »Auftreten« waren miteinander verwoben, schon bei Lenyas ersten Vorstellungen als Halbwüchsige bei einem Wanderzirkus.

Familie Brecht gehörte dank des väterlichen Erfolgs bald zur besseren Augsburger Gesellschaft. Doch war das Elternhaus alles andere als intakt, wie neuere Forschungsergebnisse zeigen. Die Geschichte, die Brechts jüngerer Bruder Walter später in seinen Erinnerungen zeichnet – der Vater als lebenszugewandter Erfolgsmensch und die musisch begabte Frau an seiner Seite, die sich um die Erziehung der Kinder kümmerte –, ist eine Mär. Die Mutter Brechts war depressiv und oft nicht in der Lage, sich um Kinder und Haushalt zu sorgen, was den Groll des Vaters auf sie zog. In einer solchen Situation permanenter Anspannung und permanenten Leides wuchs Brecht auf, und wie Lenya gelang es ihm, eine besondere Identität zu finden. Brecht litt unter Herzbeschwerden und fürchtete über Jahre, in der Schule ausgegrenzt zu werden. Diese Angst sublimierte er durch eine künstlerische Sensibilität, Talent und Disziplin. Bald war er unter seinen Freunden als Literaturfachmann bewundert und gefürchtet. Alle gesundheitlichen Mängel waren ausgeglichen, und Brecht drängte in die Öffentlichkeit, seine »Karriere« kühl kalkulierend.

An diesem Punkt gleichen sich Brechts und Lenyas Lebensentwürfe wieder, denn er markiert die bedeutsamste Gemeinsamkeit. Beide wollten etwas aus sich machen, strebten eine künstlerische Karriere an, gleich, mit welchen Mitteln und unter allen Umständen. Beide wollten »hinauf«. »Man muß versuchen, sich einzurichten in Deutschland!«1 Und: »Das Gescheiteste ist doch einfach: Lavieren«.2 Dies sind Leitsätze aus Brechts autobiografischen Notaten der frühen Zwanziger, die jedoch auf beide zutreffen.

Ihren Weg nach oben ebneten sich Brecht und Lenya jenseits bürgerlicher Ethik und Moral; Brecht geschult durch Nietzsches Amoralismus. Auch die marxistische Ideologie instrumentalisierte er, allen Lippenbekenntnissen zum Trotz. Lenya konnte dies aus sich selbst heraus, auf der Basis ihrer Erfahrungen und ihrer persönlichen Strahlkraft; im Spannungsfeld zwischen höchster Empfindsamkeit und einem hohen Maß an praktischer Intelligenz.

1928, mit dem Welterfolg der Dreigroschenoper, der die Biografien beider endgültig zusammenführte, hatten sie es geschafft. Das Werk ist der Gipfelpunkt ihres Erfolgs, von dem alles Weitere ausging. Brecht und Lenya waren angekommen im höchsten Kulturleben einer Gesellschaft, die die Dreigroschenoper gerade zu kritisieren vorgibt. Diese Gesellschaft feierte sie nun. Trotz ihrer Ablehnung bzw. des scharfen Blicks, den Lenya bis zum Schluss auf Brecht hatte: Sie blieb ihm, trotz weiterer, anderer Erfolge, »treu« als bis heute wohl größte Interpretin seiner Songs.

Nach den Jahren im Exil blieb Lenya in den USA. Sie wurde »Vorzeige-Amerikanerin« und vielbejubelter Broadway-Star. Brecht entschied sich für die DDR, die ihm ein eigenes Theater zur Verfügung stellte, und das Lavieren ging weiter. Offiziell bekannte er sich zum kommunistischen deutschen Staat. Er schuf jedoch immer wieder Werke mit doppeltem Boden, in denen er deutlich macht, dass er das Totalitäre dieses Staates sehr wohl wahrnahm, darunter litt und sich Distanz zu ihm verschaffte. Nach seinem Tod folgten weitere urheberrechtliche Streitereien, die Lenya mit den Brecht-Erben führte – über Jahrzehnte hinweg.

Die Fülle überraschender Gemeinsamkeiten und grundlegender Unterschiede dieser beiden großen Künstlerpersönlichkeiten regt dazu an, deren Leben und »Beziehung« genauer unter die Lupe zu nehmen. Immer wieder kreuzten sich beider Lebenswege, immer wieder trafen sie – gewollt oder ungewollt – aufeinander. Ihre Biografien waren eng ineinander verwoben, wenngleich das bisher nicht hinreichend zur Kenntnis genommen wurde. Die Kulturwelt profitiert bis heute von dieser einzigartigen »Hassliebe« und erfreut sich ihrer Blüten.

Bertolt Brecht 1898–1922 – von Augsburg nach oben

Ein falsches Familienidyll – Schreiben als Ersatzhandlung?

Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern.

Meine Mutter trug mich in die Städte hinein

Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kälte der Wälder

Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.3

Dies ist der Anfang des 1922 geschriebenen, berühmten Gedichts Vom armen B.B., das später zu einem der Höhepunkte der Hauspostille, Brechts wohl bedeutendstem Lyrikzyklus, werden sollte. Auch in einem etwa gleichzeitig entstandenen Brief schreibt er lapidar: »Meine Eltern sind Schwarzwälder.«4 Das ist nicht wörtlich zu nehmen. Autobiografisches und Fiktion, in Form von Selbststilisierung und -überhöhung, auch in Briefen oder Tagebuchaufzeichnungen, gehen ineinander über. Nie ließ Brecht sich vollends in die Karte schauen. Er legte Spuren, um sie dann zu »verwischen«, das heißt nicht, sie zu beseitigen, sondern sie unkenntlich zu machen. Dennoch sind sie da, obwohl sie vielfach in die Irre, zumindest nicht dorthin führen, wo sie hinzuführen vorgeben.

So verweisen diese ersten Zeilen des Gedichts pathetisch auf Brechts Herkunft, die Fakten allerdings lesen sich nüchterner. Brechts Vater Berthold Friedrich kam aus dem badischen Achern im nördlichen Schwarzwald, den man hinter der Formulierung »schwarze Wälder« vermuten kann. Er stammte aus einer Familie, die einen eigenen Lithografiebetrieb besaß und verließ seine Heimat früh, um in Oberbayern eine Lehre als Kaufmann zu absolvieren. Er fokussierte seine berufliche Tätigkeit auf die Papierproduktion und arbeitete nach der Lehre zunächst in einer Papierfabrik, dann in einer Papiergroßhandlung in Stuttgart. Am 1. September 1893 begann Berthold Friedrich Brecht seine Tätigkeit als kleiner kaufmännischer Angestellter bei den Haindl’schen Papierfabriken in Augsburg, wohin er auch zog. Hier bewohnte er zunächst nur ein Zimmer und verkehrte häufig bei seinem Kollegen Hermann Reitter und seiner Familie. In dessen Wohnung begegnete Berthold Friedrich Brecht Ende des Jahres 1893 seiner späteren Frau Sophie Brezing.

Sophie Brezing wurde in Roßberg bei Bad Waldsee geboren. Ihr Vater war dort Eisenbahner, genauer: »Königlich-Württembergischer Stationsvorsteher«. Die Familie zog von Roßberg ins württembergische Pfullingen, wo Sophies Schwester Amalia geboren wurde. Diese heiratete den aus Reutlingen stammenden Hermann Reitter, der seit 1890 bei den Haindl’schen Papierfabriken in Augsburg arbeitete. Sophie besuchte 1893 ihre Schwester und deren Familie und blieb längere Zeit, um in Augsburg Arbeit zu finden. So lernte sie ihren Mann kennen, den Kollegen ihres Schwagers.

Geheiratet wurde deutlich später: im Mai 1897, bei den Eltern von Brechts Mutter in Pfullingen. Die Wohnung des jungen Paares befand sich seit der Hochzeit in einem alten Handwerkerhaus in Augsburgs Altstadt; heutige Adresse: Auf dem Rain 7. Während die wohlhabenden Geschäftsleute in der sogenannten »Oberstadt« ihrer Tätigkeit nachgingen und auch residierten, hatten die Handwerker ihre Betriebe in der tiefer liegenden Altstadt. Im Erdgeschoss war eine Feilenhauerei, deren mächtiger Hammer von einem der Lechkanäle, die am Haus entlangführen, angetrieben wurde. Insgesamt lebten elf Personen in dem kleinen Haus. Eugen Berthold Brecht wurde hier am 10. Februar 1898 geboren. Am 20. März wurde er in der nur ein paar Schritte entfernten evangelischen Barfüßerkirche getauft. Seinen Rufnamen Eugen sollte er bis etwa 1916 behalten.

In der engen Wohnung blieb die Familie nicht lange; zumal der Schmiedehammer der Feilenhauerei unerträglichen Lärm verursachte. Zunächst nur ein unbedeutender kaufmännischer Angestellter bei den Haindl’schen Papierfabriken, strebte Brechts Vater zielorientiert nach oben. Er machte eine steile Karriere, wurde in den folgenden Jahren Prokurist und sogar Kaufmännischer Direktor der Firma. Schon wenige Monate nach der Geburt des ersten Sohnes war er finanziell so gut gestellt, dass er eine neue Wohnung suchen konnte, die er mit seiner Familie am 18. September 1898 bezog – da war Brecht gerade einmal ein halbes Jahr alt. Sein Bruder Walter wurde hier am 29. Juni 1900 geboren. Brechts Geburtshaus wurde 1981 von der Stadt Augsburg erworben. Heute befindet sich hier eine Dauerausstellung zu Leben und Werk des Dichters.

Ein weiterer Umzug folgte bald und führte zu Brechts wichtigster Augsburger Adresse. Mit der Ernennung des Vaters zum Prokuristen der Haindl­’schen Papierfabriken war die Funktion des Verwalters der Stiftungshäuser der Firma verbunden. Es bestand Residenzpflicht, der Verwalter sollte für die Mieter ansprechbar ein, sodass die Familie in eines dieser Häuser in der Vorstadt, Adresse: »Bleichstraße 2«, zog. Die äußere Situation war merkwürdig bis abstrus: Denn mitten im Arbeiterviertel ging es bei Brechts gehoben bürgerlich zu. Zwei komplette Wohnungen, ein gesamtes Stockwerk, standen der Familie zur Verfügung. Auch hatte sie Hauspersonal, Dienstmädchen, die der Mutter zur Seite standen und den kleinen Brecht im Winter gelegentlich mit einem Schlitten zur Schule brachten. Die Dienstmädchen wohnten in der Dachmansarde, die später Brechts Reich werden sollte.

Die Stiftungshäuser waren nicht weit außerhalb der Innenstadt und trotz des Arbeitermilieus idyllisch gelegen. 1953 erwies Brecht rückblickend und nicht ohne Pathos der Umgebung seiner Kindheit und Jugend eine Reminiszenz:

»Vorbei an meinem väterlichen Haus führte eine Kastanienallee entlang dem alten Stadtgraben; auf der anderen Seite lief der Wall mit Resten der einstigen Stadtmauer. Schwäne schwammen in dem teichartigen Wasser. Die Kastanien warfen ihr gelbes Laub ab.«5

Eine weitere Besonderheit war, dass Verwandte der Familie in unmittelbarer Nähe wohnten. Da sind zunächst einmal die Reitters zu nennen, also die Schwester der Mutter Brechts und deren Mann, die zwei Kinder hatten, Fritz und Richard. Sie waren einige Jahre jünger als Brecht. In seiner Kindheit verbrachte Brecht viel Zeit mit den Cousins. Dann, Brecht war ungefähr fünfzehn Jahre alt, verlief sich dies ein wenig; später verlor man sich komplett aus den Augen. Auch zogen die Großeltern mütterlicherseits in die unmittelbare Nähe, um den beiden Töchtern nahe zu sein. Die Großmutter las Brecht und dessen Bruder Walter bisweilen Gleichnisse und Perikopen aus der Bibel vor; möglicherweise ist dies in Zusammenhang zu bringen mit Brechts außerordentlich guten Kenntnissen der Bibel, die in seinem Werk durchgehend wahrnehmbar sind.

Im Januar 1903 kam Brecht in den nicht weit entfernt gelegenen Kindergarten der Barfüßergemeinde. Im selben Gebäudekomplex befand sich die Volksschule dieser Gemeinde, in der Brecht seine ersten beiden Schuljahre verbrachte. Weiter entfernt, fast in der Stadtmitte, war die damalige Schule am Stadtpflegeranger, die Brecht in seinen beiden letzten Volksschuljahren besuchte. Kindergarten und Volksschule der Barfüßergemeinde sind nicht erhalten, wohingegen sich die Schule am Stadtpflegeranger noch nahezu im Originalzustand befindet. Sie heißt nun St.-Anna-Volksschule. Mit dem 14. Juli 1908 endete Brechts Volksschulzeit. Wieder deutlich näher an der Wohnung der Familie in der Bleichstraße lag das Königliche Realgymnasium, das er seit dem 18. September 1908 besuchte; etwa zehn Minuten Fußweg waren hinter sich zu bringen. Brechts Bruder Walter besuchte ein anderes Gymnasium in der Stadt.

Brecht mit Eltern und Bruder Walter, 1908.

Mit dem Übertritt ans Gymnasium änderte sich Brechts Sozialisation schlagartig. Seine schulischen Leistungen waren gut, aber nicht herausragend. Doch es sind Auffälligkeiten zu verzeichnen. Zwei seien hervorgehoben: Brecht schloss Freundschaften, man könnte auch sagen, er ging »Arbeitsbeziehungen« ein, von denen manche weit über seine Augsburger Zeit hinaus bestand haben sollten. Und: Ihm sollte der neu gewonnene Kreis von Kameraden, Freunden, aber auch Lehrern schon bald sein erstes literarisches Publikum werden. In einem Brief an den Literaturkritiker Herbert Jhering äußert Brecht sich Mitte/Ende Oktober 1922 nicht gerade schmeichelhaft über seine Schulzeit:

»Die Volksschule langweilte mich vier Jahre. Während meines neunjährigen Eingewecktseins an einem Augsburger Realgymnasium gelang es mir nicht, meine Lehrer wesentlich zu fördern. Mein Sinn für Muße und Unabhängigkeit wurde von ihnen unermüdlich hervorgehoben (…) In der Gymnasiumzeit hatte ich mir durch allerlei Sport einen Herzschock geholt, der mich mit den Geheimnissen der Metaphysik bekannt machte.«6

Dieser Brief ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Brecht deutet auf Konflikte, die es in seiner Zeit am Realgymnasium gegeben hat, und macht auf eine Erkrankung aufmerksam. Über den Begriff »Herzschock« hinaus konkretisiert er das nicht weiter. Er berührt jedoch einen Bereich, der maßgeblichen Einfluss hatte auf seine Kindheit und Jugend, seine gesamte Sozialisation und wohl auch auf die Entstehung seines Interesses für Literatur; einen Bereich, der in der Forschung lange nicht zur Kenntnis genommen wurde.

Lange glaubte man den Erinnerungen von Brechts Bruder Walter, dass die beiden Brecht-Söhne ihre Kindheit in einem wohlbehüteten und intakten Elternhaus verbracht haben. Der Vater sei ein lebensfroher Mensch gewesen, der aufgrund seiner Karriere rasch zum angesehenen Augsburger Bürger wurde. Die Mutter hingegen beschreibt Walter Brecht als sensibel. Sie habe eine künstlerisch-musische Neigung gehabt und sich hingebungsvoll der Erziehung ihrer beiden Söhne gewidmet – das ist ein idealisiertes Elternbild, das man schon bei Goethe findet. Brecht, so war oft zu lesen, sei dem dann irgendwann einmal entwachsen, erst ein anarchischer Autor, dann ein kommunistischer Vorzeigedichter geworden. Er habe also eine allmähliche Wandlung vom wohlbehüteten Bürgersohn zum sozialistischen Klassiker vollzogen. Eingetrübt seien seine Jugend und Kindheit nur wegen der langjährigen Krebserkrankung der Mutter gewesen, an der sie dann am 1. Mai 1920 verstarb. Dies ist ein Bild, das besonders in der DDR-Literatur zu Brecht verbreitet wurde. Es entspricht allerdings nicht den Tatsachen, sondern ist eher Propaganda als ernsthafte Literaturgeschichtsschreibung.

Über die Mutter Brechts wusste man nicht allzu viel, bis vor etwa fünfzehn Jahren ein Notizheft auftauchte, das sie sporadisch in den Jahren zwischen 1888 und 1910 führte. Dies ist ein sehr früher Berichtszeitraum, der lange vor der Geburt Brechts beginnt und auch lange, bevor sich die ersten Symptome der Krebserkrankung bemerkbar machten. Neben Alltagsnotizen enthält das Heft auch Autobiografisches. Brecht selbst gedenkt seiner Mutter eher schlaglichtartig-kurz in Gedichten und autobiografischen Notaten.

Die Mutter Brechts wird als »seit jeher kränklich und verträumt« beschrieben. Das deckt sich mit ihren Notizen, die eine offenbar melancholische, wenn nicht gar depressive Grundstimmung Sophie Brechts verraten, die zu anhaltender Lethargie führte. Von »schweigendem Leiden« schreibt sie und vom »dunklen Lebenspfad«, der abzuschreiten sei, um nur diese beiden Beispiele zu nennen. Den Haushalt ohne Hilfe zu führen, war sie nicht imstande; ebenso wenig, wie sich um ihre Kinder zu kümmern. Um es auf einen Nenner zu bringen: Sie war, krankheitsbedingt, schlicht nicht alltagstauglich. Es scheint eine gewisse Bereitschaft Sophie Brechts, sich mit ihren Krankheiten abzufinden und in ihnen zu verharren, gegeben zu haben.

Man findet im Erinnerungsbuch des Bruders Brechts und seinen Werken Entsprechendes. So etwa den Unwillen des Vaters, der die Krankheitssymptome seiner Frau nicht deuten konnte. Er selbst war inzwischen nicht nur ein hochangesehener, sondern auch äußerst beliebter Augsburger Bürger, der gern am gesellschaftlichen Leben teilnahm, zum Beispiel Mitglied in einem Gesangsverein war. Seine Frau, schon seit 1903 oft nicht in der Lage, das Bett zu verlassen, vernachlässigte in seiner Sichtweise ihre Pflichten. Beherrschen habe er sich seiner Frau gegenüber müssen, wie Walter Brecht mitteilt. Er verachtete sie wegen ihrer psychischen Erkrankung, die er für seine Familie zunehmend als bedrohlich empfand.

Brecht selbst konstatiert im Alter von etwa fünfzehn Jahren abschätzig, dass »Mama immer über die viele Arbeit jammert«.7 1907 und 1909 konnte Sophie Brecht noch mit ihrem Mann zur Erholung an die Nordsee reisen. Dann war auch das nicht mehr möglich. Walter Brecht schildert ein außergewöhnliches Ereignis. Die Mutter litt schon unter ihrer Krebserkrankung. Dennoch ist das, was passierte, nicht unbedingt mit dieser in Einklang zu bringen.

»Als ich ein anderes Mal allein mit Mama auf dem Sofa saß, seufzte sie leicht, und als ich zu ihr aufsah, gewahrte ich, daß ihr Gesicht plötzlich blaß war und sie mit zur Lehne geneigtem Kopf zu meinem Entsetzen die Pupillen so nach oben verdrehte, daß ich nur mehr das fahle Weiß der Augäpfel wahrnahm. Vielleicht war es mein jammerndes Geschrei, das sie nach wenigen Minuten wieder ins Bewußtsein zurückrief. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern und tat alles, um mich zu beruhigen.«8

Diese Art von Anfall ist im Nachhinein schwer einzuordnen. Aber auch er deutet auf eine grundsätzliche Leidensdisposition der Sophie Brecht hin, die nicht von der Hand zu weisen ist. Nicht ganz ohne Spott und Bitternis schreibt Brecht 1919, also ein Jahr vor dem Tod der Mutter, in einem Gedicht:

»Meine Mutter zählt bald 50 Jahr

Von denen dreißig sie am Sterben war.«9

Es finden sich autobiografische Aufzeichnungen, die dem Inhalt des Gedichts entsprechen. Nähme man es wörtlich, so wäre die Mutter schon lange vor ihrer organischen Erkrankung und zehn Jahre vor der Geburt ihres ersten Sohnes leidend gewesen; und dies als Dauerzustand.

Der Tod der Mutter war dann allerdings ein derart einschneidendes Ereignis, dass Brecht jeglichen Zynismus verlor, obwohl sein Bruder Walter dies leise bezweifelte. Eine gewisse, immer wieder in den Vordergrund tretende Scheinheiligkeit in seinen Memoiren ist allerdings nur schwer zu übersehen. Er begründete seine Zweifel damit, dass Brecht am Abend des Todes der Mutter wie immer ausgelassen in seiner Mansarde gefeiert habe. Auch war er bei ihrer Beisetzung auf dem Protestantischen Friedhof in Augsburg nicht einmal zugegen. Zuvor besuchte er sogar eine literarische Veranstaltung. War das Trauerverweigerung oder einfach eine andere, unkonventionelle Art von Trauer? Wie dem auch sei: wohlfeilen Bewertungen sollte man sich bei diesem sensiblen Thema enthalten.

Man deutete dies alles als Widerstand der Doppelmoral gegenüber, die in der Familie geherrscht habe. Denn: Berthold Friedrich Brecht, der Vater, wusste sich zu trösten, schon vor dem Tod seiner Frau.

»Um Sophie Brecht im Haushalt zu entlasten, wurde im April 1910 die Hausdame Marie Röcker eingestellt. Da die Mutter zwischen ihr und ihrem Mann prompt ein intimes Verhältnis vermutete, musste sie im Mai schon wieder gehen. Röcker kehrte zunächst in ihre Heimatstadt Ulm zurück, wohnte aber ab 1914 wieder in Augsburg, diesmal in der Rosenaustraße, wo sie häufig Besuch von Brechts Vater erhalten haben soll. Im Juni 1918 kehrte sie in den brechtschen Haushalt zurück, um die zunehmend von ihrer Krankheit gezeichnete Mutter zu pflegen, die sich der nun permanenten Anwesenheit Röckers wohl nicht mehr erwehren konnte. Diese verblieb bis zum Tod des Vaters 1939 im Hause Brecht und wurde in dessen Testament mit 12000 Mark bedacht.«10

Entgegen dem äußeren Anschein war Brecht zutiefst getroffen vom Tod der Mutter. Er hielt seine Gedanken in seinen Notaten fest und flieht dabei in die Rolle der »dritten Person« – nur um Abstand zu gewinnen und Trauer und Leid so besser ertragen zu können: »Einer sieht eine gemeine Person und sagt: Meine Mutter zum Beispiel war niemals, keine Minute ihres Lebens, so gesund wie diese.«11 Nimmt man diese Aufzeichnungen ernst, heißt das nichts anderes, als dass Brecht seine Mutter niemals gesund und unbelastet erlebt hatte. Er kannte sie nur als still leidende Frau, missverstanden und offenbar nicht immer gut behandelt vom Vater. Brecht unterstellt sogar, dass die Mutter schon vor seiner Geburt, also quasi schon immer, krank gewesen war. Es bleibt ungeklärt, ob er irgendwann einmal die Depression und die Krebserkrankung auseinanderhalten konnte oder ob beide nicht zu einem einzigen schlimmen Leidenszustand verschmolzen, ein allumfassender Zustand der Bedrückung, der in der Familie herrschte und der zwangsläufig seine Spuren hinterließ. Selbst wenn Walter Brecht die gemeinsam verbrachte Kindheit und Jugend eher als Idyll zeichnet: Eine intakte Familie als sozio-kulturellen Hintergrund des großen Autors Bertolt Brecht gab es nicht.

Dass Brecht dies möglicherweise bewusst im Dunkeln beließ, bei diesem Thema nicht gern länger verweilte, wird man ihm kaum verdenken können. Tatsächlich aber gibt es eine dichte Indizienkette, die ihren Anfang schon in der Kindheit nimmt und die den Schluss nahelegt, dass die eigene früh ausgebildete Wehleidigkeit und die Entwicklung seines künstlerischen Potenzials in irgendeiner Weise in Verbindung stehen. Denn offenbar war es wirklich so: Ähnlich wie Brecht seine Mutter niemals als gesund wahrgenommen hatte, war es in seiner Familie umgekehrt auch mit ihm. Er galt als schwieriges Kind und zwar von Geburt an. Mutter und Sohn mussten frühzeitig regelmäßig zur Kur, 1905 erkrankte Brecht schlimmer, und dies war keineswegs das erste Mal. Wiederholt litt er unter Halsschmerzen, und gleich nach seiner Zeit in der Schule am Stadtpflegeranger, im Juli 1908, musste er »wegen Nervosität« abermals mit seiner Mutter zur Kur. Stand diese »Nervosität« in Verbindung mit dem bevorstehenden Schulübertritt? Hatte der Zehnjährige Angst davor, in ein neues soziales Umfeld zu gelangen und sollte dazu eigens vorbereitet, psychisch »ins Lot gebracht« werden?

Es gibt nicht viele Schriftsteller des Ranges Brechts, bei denen bezüglich ihrer Jugend die Quellenlage so gut ist. Früh führte der junge Autor Tagebücher. Eines von ihnen, das inzwischen berühmte Tagebuch No. 10, ist erhalten. Es berichtet über die zweite Hälfte des Jahres 1913: Die Zählung, die von Brecht selbst stammt, mag möglicherweise der Selbststilisierung dienen. Denn sie unterstellt, dass es zu dieser Zeit schon etliche frühere Tagebücher gegeben habe. Wie dem auch sei: Sie weist darauf hin, wie früh er mit autobiografischen Aufzeichnungen dieser Art, anders ausgedrückt: mit einer intensiven Beschäftigung mit sich selbst, dem eigenen Ego, begonnen haben muss.

Das überlieferte Tagebuch gibt dann auch Auskunft über Dinge, die im zweiten Halbjahr 1913 schon nichts Neues mehr, bereits ein gewohnter Aspekt der Vita des Schülers waren und die sich wie ein roter Faden durch die Aufzeichnungen ziehen: Immer wieder schreibt er von der Herzkrankheit oder den Beklemmungen, die er auf das Herz zurückführt. Das erfährt der Leser fast unvermittelt und gleich zu Beginn der Berichtszeit seines Tagebuchs: »Habe wieder Herzbeschwerden!«12 Es liegt nahe, dass Brecht schon in den vorangegangenen, nicht erhaltenen Aufzeichnungen über Dergleichen schrieb. Phasenweise klagt er nun täglich wegen seiner Gesundheit: »Jetzt, mittags, Rückfall. – Stechen im Rücken.«13 Diese Beschwerden konnten so arg werden, dass sie einhergingen mit schlimmen Angstzuständen. Zwei Vorfälle kurz hintereinander, die Brecht in seinem Tagebuch festhält, seien zitiert:

»Abends heim. Die folgende Nacht war miserabel. Bis 11 Uhr hatte ich starkes Herzklopfen. Dann schlief ich ein, bis 12 Uhr, da ich erwachte. So stark, daß ich zu Mama ging. Es war schrecklich. Endlich schlief ich ein. Am andern Morgen schleppte ich mich in die Schule. Nachmittags kehrte ich (…) wieder um. Herzklopfen!«14

»In der Nacht hatte ich zuerst entsetzlich Herzklopfen, dann wurde der Schlag ganz leis und schnell. Papa wachte am Bett. Ich hatte Angst. Eine schreckliche Angst.«15

Neben der existenziellen Furcht, die der Schüler zu erleiden hatte, ist in diesen Situationen auch der Hang zu einem peniblen Sichselbstbeobachten zu erkennen. Leid und Angst gehen einher mit einer gewissen Selbstironie und dem immer stärker werdenden Bewusstsein, etwas Besonderes zu sein, durch seine Krankheitssymptome »geadelt« zu werden. So schreibt Brecht in seinem Tagebuch: »Vormittags kam Doktor Müller. Trockene Broncheritis (sic!). Interessante Krankheit. Schnupfen kann jeder haben. Wer Broncheritis?«16 Brecht kokettierte zwar als Fünfzehn-, Sechzehnjähriger mit seinem Leiden, seiner »Nervosität«. Später aber wollte er davon nichts mehr wissen und seinen »Herzschock« rein organisch betrachtet wissen. Alles andere war ihm seit Beginn der zwanziger Jahre eher peinlich.

Litt Brecht nun an einer Neurose, an Hypochondrismus, an einem organischen Leiden oder war sein Zustand eine Symbiose von all dem? Man wird es letztlich nicht eindeutig entscheiden können. Fest steht, dass Dichtung oder die Beschäftigung mit Literatur bei Brecht am Beginn mit Krankheit in Verbindung standen; gleich inwieweit sie nun eingebildet war oder nicht. Schreiben und Krankheitssymptome scheinen sich sogar gelegentlich bedingt zu haben. So notiert Brecht im Tagebuch: »Abends bekomm ich, wenn ich schaffe, gleich Blut in den Kopf. Das ist für den Schlaf schlecht.«17

Im Advent 1913 erkrankte der Vater Brechts an einem Magenleiden und musste operiert werden. Er überstand den Eingriff gut. Die Sorgen, die Brecht sich zuvor gemacht hatte, spiegeln sich in seinem Tagebuch. »Ich habe schrecklich Angst.«18 Aber auch in dieser angespannten Situation war immer noch Raum für Dichtung. Beschreibungen des Krankheitszustandes des Vaters wechseln sich in Brechts Aufzeichnungen ab mit frühen dichterischen Versuchen, die er in seinem Tagebuch festhielt; so, als wären sie eine Einheit. Man könnte sogar sagen, dass seine literarische Produktion in dieser schweren Zeit sogar noch zunahm. Wie ein angenehmer Zwang erscheint das Schreiben: »Ich muß immer dichten. In dieser Zeit. Papa ist sehr schwer krank.«19 Der Leidenszustand beflügelte Brecht. Dabei zerstreute er sich nicht etwa mit Dichten, wollte auf andere Gedanken kommen, sondern Schreiben war ihm Befriedigung wie auch Instrument, mit der schwierigen Situation zurechtkommen.

Aus dem Leid und der Angst seiner Kindheit schuf Brecht sich den Nimbus des Besonderen, das ihn aus dem gewöhnlichen, mehr oder weniger sorglosen Umfeld hervorhob. Mit diesem Bewusstsein verschaffte er sich Distanz anderen gegenüber; beinahe zwangsläufig, doch keineswegs gegen seinen Willen. Eine gewisse Überlegenheit, die aus seinen literarischen Kenntnissen und seinem Schreibenkönnen resultierte, zelebrierte er geradezu. So finden sich in Brechts Tagebuch zwei bitterböse Satiren über Georg Geyer und Julius Bingen, die nicht nur Schulkameraden, sondern auch gute Freunde Brechts waren. Vor Formulierungen wie »geistig minderwertig«20 schreckt der fünfzehnjährige junge Schriftsteller nicht zurück. Gleichfalls macht er sich über die vermeintliche Naivität seines Cousins Fritz Reitter lustig.

In der Schule bei Kameraden und bald sogar auch bei Lehrern als Literaturexperte anerkannt, legte ein Mitschüler, mit dem er früher gar einmal Schach gespielt hatte, Brecht ein Theaterstück zur Begutachtung vor. Brecht verriss es – vor Publikum. Dieser Fall hat eine besonders tragische Seite. Denn Raimund Bauer, der junge Verfasser, war von Brechts Kritik offenbar so eingeschüchtert, dass er sein bereits fertiggestelltes Drama Thomas Münzer beiseitelegte; alle Freude, alle Ambitionen waren ihm genommen. Wie viele seiner Schulkameraden fiel er dann im Ersten Weltkrieg, und seine Eltern ließen, offenbar als Trauerbewältigung, das Stück auf ihre Kosten posthum veröffentlichen. Somit ist der »Gegenstand« des Verrisses Brechts bis heute erhalten.

Doch es gab auch eine andere Seite. Brecht brauchte nämlich jene »Anderen« unbedingt als Freunde und Bewunderer, um nicht zu sagen: als Publikum seiner frühesten literarischen Gehversuche. Den eigenen Genius wollte er nicht im Verborgenen walten lassen. In einem Elfenbeinturm verweilen zu müssen, von den anderen ausgegrenzt zu werden, wäre ihm das Ärgste gewesen. Das »Normale« um sich herum, vor allem in der Schule, brauchte er unter allen Umständen, und es plagten ihn regelechte Ängste, wieder einmal Ängste; diesmal, im Alltag nicht »mithalten« zu können, auf der Strecke zu bleiben.

»Es ist jetzt gerade wieder schlimmer mit der Gesundheit. Erleben tue ich nichts, außer in der Schule. Sie ist meine einzige Unterhaltung. Solange ich dahinein kann, ist alles gut«.21

Solche Notate finden sich in Brechts Tagebuchaufzeichnungen immer wieder:

»Alle verlassen mich, Enderlin, Bingen, Albrecht und sogar Gehweyer. Das ist betrüblich!«22

»Ein blauer, sonniger Himmel Tag um Tag. Und ich kann nicht fort. Morgen wollen Gehweyer und Hofmann an den Ammersee radeln. Daß ich nicht mit kann, wie ärgerlich!«23

Gleich, welche Ursache die gesundheitlichen »Desiderate« Brechts hatten: Ihm wurde immer bewusster, dass er mit seiner Dichtung eine Art Ausgleich finden konnte. Brechts Werk ist, seinem Ursprung nach, also auch als Kompensation oder Sublimierung zu verstehen; als eine solche, die zur Notwendigkeit wurde und die ihm wiederum das Bestehen im Alltäglichen sicherte, weil er schon bald tatsächlich bewundert und beneidet wurde. Es handelt sich um ein komplexes, wechselseitiges Miteinander von Mangel und Talent, vom Bedürfnis nach Nähe und Anerkennung durch andere und das Herabschauen auf deren vermeintliche Mediokrität; um ein Miteinander, das immer mehr zu einer deutlichen Antinomie wurde.

Der werdende Genius

Spätestens seit 1913, möglicherweise sogar schon früher, war es Brechts Lebensziel, ein großer Dichter zu werden. Er rief im Umfeld des Realgymnasiums eine literarische Schülerzeitschrift mit dem Titel Die Ernte ins Leben, deren sechs Hefte von September 1913 bis Februar 1914 erschienen. Mit großem Selbstbewusstsein hatte Brecht schon 1913 einige Gedichte Zeitschriften zur Veröffentlichung eingereicht, aber keine Antwort erhalten. Also schaffte er sich mit dieser Schülerzeitschrift ein eigenes Publikationsmedium. Über 80 Prozent der Beiträge zur Ernte stammen von Brecht selbst, wobei er versuchte, sich in allen großen literarischen Gattungen zu üben. Das früheste Werk Brechts, das überliefert ist, ist das Gedicht Der Geierbaum. Brecht schrieb es im Juli des Jahres 1912.

Das Tagebuch No. 10 überliefert nicht nur autobiografische Notate, sondern auch eine ganze Reihe kleinerer literarischer Arbeiten Brechts. Er verstand, dass es mit seinem großen Lebensziel nur etwas werden könnte, wenn er sich auch die handwerklichen Fertigkeiten eines Schriftstellers erarbeiten würde. Seine Aufzeichnungen zeugen von seinem Ringen, sie changieren zwischen Zuversicht und Verzweiflung und dokumentieren noch etwas anderes: dass Brecht sich einen außerordentlich großen Lesehorizont aneignete und die Weltliteratur, auch zeitgenössische Werke, geradezu in sich hineinsog. Es erscheinen Namen wie Richard Dehmel, Stefan George, Gerhart Hauptmann, deren Werke er für das eigene Schaffen ebenso nutzte wie die Bibel. Den Philosophen Friedrich Nietzsche machte er zum Thema zweier kleiner Texte. Zu einem Gedicht Hugo von Hofmannsthals schrieb der junge Autor eine Kontrafaktur.

Damit sind zwei Aspekte thematisiert, die Brechts Ästhetik bis zu seinem Lebensende bestimmen sollten: Der erste ist der der Materialverwertung: Um Neues zu schaffen, wartete Brecht nicht auf künstlerische Inspiration. Er nutzte bereits Vorhandenes, Literatur, Altes und Neues Testament sowie Ereignisse aus dem eigenen Umfeld und konstruierte aus dieser Vielzahl von Einzelinspirationen hochartifizielle und ästhetisch anspruchsvolle Werke. Der zweite Aspekt ist das Schreiben in Gegensätzen, das des Widerspruchs. Auch hierfür nutzte er Bestehendes und führte es fort, wobei er es aber in sein Gegenteil verkehrte, dagegen anschrieb und so wiederum Neues schuf.

Auf diese von Anfang an betont nüchterne Schaffensweise ist zurückzuführen, dass Brechts Werk so vielschichtig ist. Bis heute werden in der Forschung immer wieder neue Quellen entdeckt, die in seine Dichtung eingingen. Auch in ethischer Hinsicht ist sein Werk von Beginn an offen. Es ist nicht Brechts Sache, Botschaften zu vermitteln, es sei denn die, dass es keine Botschaften, keine moralischen oder religiösen Maximen gibt, die man sich zu eigen machen sollte. Schon das Tagebuch No. 10 dokumentiert seinen Ablösungsprozess vom christlichen Glauben, wenngleich dessen Inhalte und Tradition ihm bedeutsam blieben und zunehmend Material für seine Dichtung wurden.

Brechts großer philosophischer Lehrmeister schon in dieser Zeit war Friedrich Nietzsche. Das sollte so bleiben, obwohl Brecht Nietzsches Philosophie für sich weiterdachte, dem eigenen Horizont anpasste, vieles übernahm, anderes verwarf und er versuchte, den Einfluss Nietzsches immer stärker zu kaschieren. Es ist nicht zuletzt auch auf Nietzsche zurückzuführen, dass Brechts Position einem dialektischen Materialismus, der sozialistischen Ideologie gegenüber stets eine gebrochene bleiben sollte.

Von Beginn an interessierte Brecht sich für die Bedeutung und Beziehung des Einzelnen in der Gemeinschaft. Gleich in seinem ersten abgeschlossenen kleinen Drama, dem Einakter Die Bibel, der 1913 in der Ernte erschien, stellt sich die Frage, ob der Einzelne sein Wohl immer dem der »Vielen« unterordnen müsse. Und wie verhält es sich diesbezüglich, wenn man sich, in Anlehnung an Nietzsche, mit den von der christlichen Religion vorgegebenen Werten »gut« und »böse« nicht mehr identifizieren möchte? Brecht folgerte für sich eine moralische Freiheit, Flexibilität und eine Orientierung am Faktischen, die er Zeit seines Lebens beibehalten sollte.

Anfang August 1914 brach der Erste Weltkrieg aus. Deutschland verfiel parteiübergreifend in einen nationalen Taumel. Heere von Kriegsfreiwilligen marschierten auch in Augsburg durch die Straßen, viele sollten nie mehr zurückkehren. Das sogenannte »Augusterlebnis« erfasste auch die Intellektuellen, die Dichter, die sich kriegstrunken gaben und entsprechende Werke schrieben. Zu nennen sind hier beispielsweise Rainer Maria Rilke, Richard Dehmel, Robert Musil, Gerhart Hauptmann, Jakob Wassermann, Hugo von Hofmannsthal und als bekanntester Thomas Mann. Auf der »pazifistischen« Gegenseite standen wesentlich weniger, zum Beispiel Karl Kraus, Arthur Schnitzler, Stefan Zweig und vor allem Thomas Manns Bruder Heinrich. Besonders die Tagespresse wurde zum Medium nationalistischer Dichtungen, an der mit einem Schlag ein riesiger Bedarf entstand. Es gelang dem jungen, gerade einmal sechzehn Jahre alten Brecht, sich als Autor Zugang zu gleich zwei Augsburger Tageszeitungen und ihrer literarischen Beilagen zu verschaffen. Diese Chance nutzte er. Zwischen 8. August 1914 und Mitte 1916 erschienen etwa vierzig Beiträge Brechts, zumeist Lyrik.

Erstmals stand der Schüler nun als Dichter, Autor, Kolumnist, Journalist in der Öffentlichkeit. Dafür aber mussten seine Zeitungsbeiträge, um eine Formulierung Thomas Manns zu nutzen, den »Forderungen des Tages« gerecht werden, sonst wären sie nicht veröffentlicht worden. Das heißt, sie mussten patriotisch, kriegsverherrlichend sein, die deutsche Nation feiern. Das leistete Brecht auf einer oberflächlichen Ebene, auf der er beinahe alle nationalistischen Klischees bedient. Auf einer zweiten Ebene dieser Texte, die beinahe durchgängig nachweisbar ist, verschafft er sich jedoch durch ironisierende Brechungen Distanz, mit denen er den Wahn der deutschen Kriegspolitik und das durch diese verursachte Leid kritisch kommentiert.

Trotz aller Abgeklärtheit ist es dieses Leid, das Brecht immer stärker in den Vordergrund rückt, das Leid »hüben und drüben«, wie es in einem dieser Texte heißt, das Freund und Feind eint. Das Töten eines feindlichen Soldaten, sei, so macht Brecht mit einem versteckten Hinweis auf den alttestamentlichen Stoff von Kain und Abel deutlich, nichts anderes als Brudermord, eine Todsünde. Brecht erschafft bereits in dieser Zeit den Topos des »Soldaten auf verlorenem Posten«, der in seinem Werk immer wieder markant in den Vordergrund treten wird. Egal, ob freiwillig auf diesen Posten geeilt oder dorthin gestellt: Dieser Soldat an der Front ist jemand, der Leid erduldet, Leid verursacht und mit dem, was er tut und anrichtet, sein Ich, sein Menschsein verliert. Am besten also wäre es, die Finger von den Waffen zu lassen – »hüben wie drüben«.

Als Brecht im Januar 1915 die Gelegenheit bekam, ein Gedicht anlässlich des Geburtstages Kaiser Wilhelms II. zu schreiben, wird er auch hier auf der Oberfläche den Anforderungen eines solchen »Herrscherlobes« gerecht. Er feiert den Kaiser als Kriegshelden, der eigentlich Frieden wollte, nun aber, von den Feinden dazu gezwungen, entschlossen das Volk hinter sich eint. Subtil jedoch setzt er ihn dem Hohn des Lesers aus, der ein wenig tiefer blickt.

»König des Lands

Immanuel Kants«,24

schreibt Brecht bezüglich Wilhelm II. Nun muss man wissen, dass der Kaiser mit intellektuellen Gaben eher spärlich ausgestattet war, was bei öffentlichen Auftritten von den Untertanen auch zweifellos wahrgenommen wurde und sein Souveränitätsgehabe umso lächerlicher erschienen ließ. Was macht Brecht? Er legt den Finger in die Wunde! Was die Deutschen geflissentlich übersahen, zerrt er ans Licht, indem er Wilhelm in einen Reim mit Immanuel Kant zwingt, dem Sinnbild abstraktester und höchster Intelligenz! Damit stellt er das nationalistische Gestammel des Kaisers sozusagen neben die »Kritik der reinen Vernunft« und überlässt es dem Leser, sich seinen Reim darauf zu machen. Dabei war Brecht keineswegs Pazifist im herkömmlichen Verständnis. Die Doppelbödigkeit dieser frühen Zeitungsbeiträge ist ihm keine moralische, sondern in erster Linie eine ästhetische Herausforderung, bei der er sein Talent auslotete und schulte. Es handelt sich um ein altkluges, artifizielles Spiel, das ansatzweise auf Elemente seines Epischen Theaters vorausdeutet; durch jenes kommentierende, die Banalität des Oberflächlichen und Kriegstreibenden brechende Moment.

Was erstaunen mag und gewiss nicht typisch für einen werdenden Dichter ist: Brecht hatte, wenn man so will, eine eigene »Schreibstube« – und das schon äußerst früh. Dies führt zurück in die Zeit, als sich der Gesundheitszustand seiner Mutter verschlechterte und jene Hausdame Marie Röcker erstmals in die Wohnung in der Bleichstraße zog. Brecht hatte, im April 1910, aus der eigentlichen Wohnung zu weichen, um für die Pflegerin Platz zu machen. Er zog unters Dach, in eine zweizimmerige Mansarde, die man ihm in der Art eines Ateliers einrichtete. Zu erreichen war sie über das Treppenhaus. Brecht hatte also bereits als Zwölfjähriger eine eigene Wohnung mit separatem Eingang. In der blieb er auch, als ein paar Wochen später Marie Röcker wieder ausziehen musste.

Brecht selbst nannte seine Mansarde, die aus einem »Wohnzimmer« und einer schmalen Schlafstube bestand, gelegentlich »Zwinger« oder »Kraal«, in Anlehnung an Wagners Opern Lohengrin und Parsifal. An der eisernen Liege hing eine Gitarre. Ein großer Tisch, auf dem stets Bücher lagen, befand sich im »Wohnzimmer«, ein Gründerjahre-Schrank, ein paar Stühle, und auf einem Notenpult lag zeitweise die aufgeschlagene Partitur von Wagners Tristan und Isolde, mit der Brecht Dirigierversuche gemacht haben soll. An den Wänden waren Abbildungen von philosophischen und literarischen Gewährsmännern beziehungsweise Vorbildern angebracht. Seit 1918 hatte Brecht auf seinem Tisch einen Totenschädel stehen, den ihm ein Freund aus einem Beinhaus besorgt hatte.

Brechts Lesehorizont erweiterte sich mehr und mehr. Zu den Autoren, die ihn in dieser Zeit beeinflussten, gesellten sich unter anderen die Franzosen François Villon, Arthur Rimbaud und Paul Verlaine, aber auch Rudyard Kipling und Frank Wedekind. Spätestens im Jahr 1917 kam als einer der wichtigsten literarischen Gewährsmänner Georg Büchner hinzu, in dessen antiidealistischem und fatalistischem Werk Brecht die eigene Sicht von Kunst wiedererkannte und anhand ihrer weiterentwickelte und konkretisierte. Büchners Spuren sind im Gedicht Der Himmel der Enttäuschten aus dem Jahr 1917 nachweisbar, und Brechts erstes großes Drama Baal ist nicht nur von Nietzsche, sondern auch wesentlich von Büchner beeinflusst.

Schon während des Jahres 1915 wurden Brechts Beiträge für die Augsburger Tageszeitungen immer seltener, das Genre interessierte, forderte ihn nicht mehr. Das letzte Gedicht dieser Art mit dem Titel Soldatengrab erschien am 20. Februar 1916 und ist geprägt von kaum verhohlener Resignation angesichts des Kriegsleides. Mitte des Jahres 1916 vollzog der junge Autor hinsichtlich der literarischen Qualität seines Werkes einen Quantensprung: Mit Vom Tod im Wald und Lied von der Eisenbahntruppe vom Fort Donald entstanden zwei Gedichte, die Brecht selbst so hoch einschätzte, dass er sie in seine erste große Gedichtsammlung Hauspostille aufnehmen sollte. Vom Tod im Wald wurde später von Kurt Weill vertont und war eine der Lieblingskompositionen Lotte Lenyas. Hatte Brecht sich bei den Zeitungspublikationen zuvor verschiedener Pseudonyme bedient, so zeichnete er nun, selbstbewusst und offen, seine Werke mit »Bert Brecht«.

Zwischen elitärer Clique und ergebener Anhängerschaft – der Augsburger Freundeskreis

Die Mansarde war nicht nur Schreibstube, sondern auch einer der wichtigen Treffpunkte des berühmten Freundeskreises um Brecht, der um 1915/1916 entstand. Von seiner früheren Angst, ausgegrenzt zu werden, konnte keine Rede mehr sein. Die Clique erinnert an den Kreis um den Dichter Stefan George, nur war sie jünger, aufsässiger und vergnügter. Brecht bildete den unbestrittenen Mittelpunkt dieses Kreises, man könnte auch sagen: Er war ihr »intellektueller Katalysator«. Man lebte für die Literatur und mit der Literatur, die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, zwischen »Dichtung und Wahrheit« verschwammen zusehends. Gemeinsame literarische Projekte wurden geplant, Brecht ließ sich von Ideen seiner Freunde inspirieren, so wie er umgekehrt diese förderte. Um nichts zu idealisieren sei darauf hingewiesen, dass sich der eine oder andere der Freunde Brechts, an erster Stelle wohl Hanns Otto Münsterer, manchmal von ihm auch ausgenutzt fühlte. Dies galt besonders ab der Zeit, in der Brecht als Autor immer angesehener und erfolgreicher wurde.

Der Freundeskreis trug seinen Geist bewusst nach außen. Er zelebrierte ihn in der Öffentlichkeit in provokanter Weise, in den Augsburger Kneipen, bei Streifzügen durch die Stadt, in der Natur der Landschaft um den Lech. Eines der beliebtesten Ziele des Kreises war der »Augsburger Plärrer«, ein Volksfest, das bis heute zweimal im Jahr stattfindet. Hier erlebte Brecht den Bänkelsang, der für sein literarisches Vorbild Frank Wedekind so bedeutsam war, und die Jahrmarktatmosphäre, der er bei seiner Zusammenarbeit mit Karl Valentin in München wieder begegnen sollte. Und, was ihm Zeit seines Lebens wichtig bleiben sollte: Auf dem »Plärrer« hatte Brecht die Gelegenheit, die Menschen zu beobachten, man könnte auch sagen: »Milieustudien« zu betreiben.

Zunehmend begann Brecht, sich den Ruf eines »Bürgerschrecks« anzueignen, eine Rolle, die ihm außerordentlich großen Spaß machte. Eine Reihe von Persönlichkeiten, die später in verschiedenen Bereichen bemerkenswerte berufliche Karriere machten, gehörten zu seinem Freundeskreis. Aus ihnen wurden zum Beispiel Juristen, Mediziner, Politiker. Herausgehoben sei Caspar Neher, der ein Bühnenausstatter von Weltrang werden sollte und dem Brecht seit Ende 1914 eng verbunden war. Für die Freunde verlor Brecht, als er erfolgreicher wurde, zunehmend das Interesse, spannte sie aber gelegentlich ein, wenn es beispielsweise darum ging, Kontakte für ihn zu knüpfen, die für sein Weiterkommen als Autor vielversprechend erschienen. Nur Caspar Neher sollte noch lange eine wichtige Rolle in seinem Leben spielen. Mit ihm arbeitete er, trotz Unterbrechungen, bis in die fünfziger Jahre zusammen. Viele seiner Buchveröffentlichungen stattete Neher aus, und er schuf das Bühnenbild mancher Inszenierung von Stücken Brechts.

Brecht, 1917.

Erste Frauen – ein ziemliches Durcheinander

Die »Männergemeinschaft« dieses Freundeskreises wurde flankiert von Brechts Verhältnissen mit Frauen. Er war anfänglich eher zurückhaltend, schüchtern, ja, ängstlich, so etwa bei seinem Annäherungsversuch an die Schülerin Therese Ostheimer, Mitte des Jahres 1916. Er beobachtete sie, doch sie anzusprechen traute er sich nicht. Stattdessen schickte er ihr einen Brief, in dem er sich als junger Intellektueller stilisiert, mit seiner Bildung protzt und sie gleichzeitig ziemlich deutlich als naiv und unwissend hinstellt:

»Ich verzichte darauf, mich Ihnen vorzustellen. Man könnte höchstens so den Grundriß eines Kopfes geben, daß man seine Lieblingsideen aufzählt. Die meinigen gehen auf vier arme Seiten nicht hin. Außerdem was hülfe es, wenn ich Ihnen Namen nennte wie Shakespeare, Goethe, Verhaeren, Kleist, van Gogh, Marées, Bach, Mozart (nicht Wagner), Hamsun oder Strindberg. Namen also, die Sie hoffentlich nur zum Teil kennen – es wäre ein tönernes Erz oder eine klingende Schelle (1. Korinther 13, 1-4).«25

Kein Wunder: Das zog nicht. Brecht wurde von Therese Ostheimer ignoriert. Sein Brief aber blieb erhalten.

Brechts Beziehung zu Paula Banholzer sollte zu einer der innigsten seiner Augsburger Zeit werden. Paula wurde 1901 in Markt Wald bei Mindelheim geboren. Ihr Vater war Arzt, und 1912 zog die Familie, wie auch die Brechts und Lotte Lenyas, der besseren Arbeitsbedingungen wegen in die Großstadt. Seit 1916 wohnten Dr. Carl Banholzer und seine Familie auf Brechts Schulweg. Auch mit Paula tat er sich zunächst schwer:

»Ganz geschickt paßte er immer den Moment ab, wo ich mein Haus verließ. Wie unabsichtlich schlenderte er dann hinter mir drein. Manchmal ging er auch an mir vorbei, überholte mich, lüftete etwas verlegen seine Sportmütze, ohne ein Wort zu sagen (…) Er war weder fesch noch sah er gut aus und besaß auch – wie ich zu beobachten glaubte – keine anderen Eigenschaften, die mich angezogen hätten. Also ließ ich Brecht ›links liegen‹«.26

Doch Brecht blieb hartnäckig, und das zahlte sich aus. 1917 kam es zu ersten Verabredungen, und als sich dann ein ernsthafteres Interesse Paula Banholzers abzeichnete, kannte seine Kreativität keine Grenzen mehr. Auch sie versuchte er mit seinem Intellekt, seiner Beredsamkeit zu beeindrucken und hatte da gute Ideen. Im Sommer 1918 war ihre Schulabschlussfeier. Brecht hatte noch seinen alten Presseausweis von den Augsburger Tageszeitungen und avisierte dem Schuldirektor sein Kommen, weil er über die Feier berichten wolle. Hocherfreut über die völlig unverhoffte Option, mit einer an sich unbedeutenden Feier seiner Schule in die Zeitung zu kommen, empfing er Brecht. Dieser konnte Banholzer so damit beeindrucken, dass er als Zeitungsredakteur und damit wichtige Persönlichkeit vom Direktor höflichst empfangen wurde.

Den Beitrag musste Brecht dann schreiben; wohl oder übel. Er erschien am 15. Juli 1918. Es war eine gelungene Parodie des Schulalltags, einer idealisierten Wirklichkeit, die schon längst nicht mehr existierte, während an den Fronten der bis dahin grauenvollste Krieg der Geschichte seinem Ende entgegentaumelte. Brechts Beitrag, anonym erschienen, wurde erst 2007 wiederentdeckt.

Brecht gab Paula Banholzer den Kosenamen »Bittersweet« oder kurz »Bi«, nach einer Figur aus dem Drama Der Tausch von Paul Claudel, in dem es um sexuellen Partnertausch geht. Brecht schenkte das Drama auch seiner späteren Frau Marianne Zoff und der Münchner Studentin Hedda Kuhn, mit der er ein Verhältnis hatte. Das Thema des Theaterstücks beschäftige ihn in dieser Zeit sehr. Er berichtet in Briefen und autobiografischen Aufzeichnungen über Gruppensexszenarien in München bei sogenannten »Atelierfesten« oder in Privatwohnungen. Gut möglich, dass er mit seiner Lektüreempfehlung beziehungsweise seinem literarischen Geschenk bei den Frauen ausloten wollte, wie sie zu diesem Thema des Bohemelebens standen.

Brechts Beziehung zu Paula Banholzer intensivierte sich. Er hatte, wie er an Caspar Neher schreibt, im Sommer 1918 eine Schwangerschaft zu befürchten:

»Ich war natürlich nicht vorsichtig, kein bißchen, es hätte der Heiterkeit geschadet, es wäre unästhetisch gewesen und dann: es ist nicht gegangen. Ich bin doch kein Tarockspieler. Ich kann meine Trümpfe nicht so zurückhalten.«27

Entwarnung folgte; vorläufig. Bald jedoch zeichnete sich tatsächlich eine Schwangerschaft ab. Brecht wollte Paula Banholzer heiraten und machte ihrem Vater seine Aufwartung. Er wurde aber als junger, noch erfolgloser und äußerst provokanter Schriftsteller abgewiesen, sodass Paula – von ihren Eltern so veranlasst – ihr Kind im Allgäu heimlich zur Welt bringen musste. Paulas Vater, der in Augsburg angesehene Arzt, wollte einen Skandal, der ihn möglicherweise Patienten gekostet hätte, vermeiden. Brecht selbst brachte sie im Januar 1919 nach Kimratshofen, besuchte sie dort, so oft es sich einrichten ließ, und schrieb ihr regelmäßig Briefe:

»Und vielleicht sieht unser Kind zum erstenmal das Licht einer dämmrigen Bauernstube und hört als erstes das sanfte Blöken der guten Schafe und das dunkle Gemuhe mütterlicher Kühe – wie der kleine Jude in Bethlehem, nur daß damals ein noch heiligerer Geist schuld war als ich es bin.«28

Was dann allerdings folgte, war, zumindest für Paula Banholzer und das Kind, weniger lustig als es diese Anspielung auf die Geburt Jesu sein wollte. Beider Sohn Frank wurde am 30. Juli 1919 geboren, aber wohin mit ihm? Er blieb zunächst mit seiner Mutter in dem Haus der Hebamme, bei der er geboren wurde, dann kam er zu einer Pflegefamilie, und im April/Mai 1921 hatte Brecht selbst den Einfall, ihn bei seinem Vater in Augsburg unterzubringen. Der hatte aber nicht die rechte Muße, sich um das Kleinkind zu kümmern. Noch nicht allzu lange verwitwet, kehrte nun endlich langsam Ruhe ein. Außerdem wohnte nun ja Marie Röcker, die Pflegerin seiner verstorbenen Frau, bei ihm. Auf den Einfluss Röckers führte Brecht die Ablehnung des Vaters zurück:

»Die Marie Roecker hetzt dagegen, wenn’s nur mit ihrem Gesicht ist und indem sie immer hereinläuft, wenn ich mit Vater rede. Ich höre alle ihre Argumente von ihm. (…) Jetzt hält sie Vater ab, mein Kind zu uns zu nehmen aus Bequemlichkeit«.29

So begann die Odyssee des kleinen Frank, die über Jahrzehnte währen sollte.

Größtenteils zeitlich parallel zu dieser Beziehung verlief die mit Rosa Maria Amann, der mit Erinnerung an die Marie A. eines der schönsten Liebesgedichte deutscher Sprache gewidmet ist. Bei genauerem Hinschauen erweist sich das Gedicht jedoch nicht als rührselige Liebeslyrik, sondern als ein Hohes Lied auf die Promiskuität. »Sentimentales Lied. No. 1004« war sein ursprünglicher Titel, und mit dieser Zählung »toppt« Brecht sehr gezielt jene 1003 Geliebten, die Don Giovanni aus Mozarts gleichnamiger Oper allein in Spanien gehabt haben soll. Es geht nicht um »Marie A.«, um Rosa Maria Amann, sondern letztlich um den Liebesakt, der beliebig wiederholbar ist; mit wem auch immer.

Brecht löste seine Beziehung zu Paula Banholzer nicht, als er Marianne Zoff, die seine erste Ehefrau werden sollte, kennenlernte. Die Opernsängerin, einige Jahre älter als Brecht und als attraktiv beschrieben, hatte in Augsburg ein Engagement als Mezzosopranistin bekommen und war noch mit einem wesentlich älteren Geschäftsmann, Oskar Camillus Recht, aus Bad Reichenhall liiert. Von Schüchternheit war längst keine Rede mehr: Brecht suchte sie einfach im Theater in ihrer Garderobe auf und spazierte hinterher mit ihr durch das nächtliche Augsburg. Da sie beruflich nicht sehr erfolgreich war, aber an einem aufwendigen Lebensstil hing, löste sie ihre Beziehung zu dem Geschäftsmann nicht. Die Situation wurde zunehmend verworren:

Recht pochte auf seine »Ansprüche« Marianne Zoff gegenüber, als er merkte, dass er in dem jungen Schriftsteller aus Augsburg einen ernst zu nehmenden Rivalen hatte. Zoff wäre sogar bereit gewesen, Brecht zu heiraten, trotz seines unsicheren Daseins eines Bohemien, doch er wollte unabhängig bleiben. Dies führte dazu, dass Marianne Zoff an ihrer Beziehung mit Oskar Camillus Recht und all ihren Vorteilen festhielt. Brecht titulierte sie immer wieder als Hure, die sich für ein Luxusleben prostituiere. Auch warf er ihr vor, die Nähe weiterer einflussreicher und betuchter Männer zu suchen. Es ist dies eine äußerst merkwürdige, für Brecht typische Diskrepanz oder Antinomie: Wie kaum ein anderer Autor dieses Ranges geht er in seinem Werk durchgängig respektvoll und behutsam mit Prostituierten um. Er beschreibt sie sogar als beeindruckende, selbstständige Persönlichkeiten. Sobald aber der eigene persönliche Bereich tangiert war, wurde Brecht dünnhäutig. Er entwickelte, zurückfallend in völlig obsolete moralische Kategorien, geradezu ein »Anti-Huren-Syndrom«, das bei ihm besonders stark ausgeprägt war.

Als Zoff von Recht schwanger war, ließ sie das Kind abtreiben. In dieser Zeit kam es immer wieder zu letztlich ergebnislosen Aussprachen zwischen allen Beteiligten, also auch mit Oskar Camillus Recht, den der junge Schriftsteller äußerst herabwürdigend beschreibt: Er »ist so alt. So abgenutzt, schmierig, elend, er entblödet sich nicht, mich mit seinem Aasgeruch zu schrecken.«30

Im März 1921 erwartete Marianne Zoff abermals ein Kind; diesmal von Brecht. Im April fuhren beide für ein paar Tage nach Tutzing am Starnberger See, und im Mai endete die Schwangerschaft mit einem Abgang. Brecht hatte sich auf sein zweites Kind gefreut und unterstellte Marianne Zoff, dass sie das Ende der Schwangerschaft bewusst herbeigeführt habe. In seinem Tagebuch äußert er sich dazu wiederholt; eine seiner Tiraden vom 9. Mai 1921 sei, stellvertretend für eine Reihe anderer, ausführlicher zitiert:

»So sind die guten Geister von der Marianne Zoff gewichen, daß es anfing mit Herumlaufen und endete mit einem Kinderleichlein im Lavor! Die Hure sollte kein Kind haben, mein Kind ging von ihr, da sie kein reines Herz hatte (…) Ich könnte das Mensch erwürgen. Es ist das Schmutzigste, was ich erlebt habe (…) So entlädt sich die schwangere Hure! Und diesen gesprungenen Topf, in den die Abflüsse aller Männer rinselten, habe ich in meine Stube stellen wollen (…) Heraus aus mir! Heraus! Heraus! Jetzt sie als Hure benutzen lassen, den andern hinwerfen, dem Recht überlassen!«31

Auch Paula Banholzer war wenig später abermals von Brecht schwanger, und hier zeigt sich ein völlig anderes Bild. Banholzer schrieb Brecht, der in Berlin weilte, einen Brief. Er erschrak und wandte sich umgehend an Caspar Neher, aber auch an Otto Müllereisert, einem Weiteren aus dem Freundeskreis und Patenonkel Franks. Er studierte in München Medizin und »kannte sich aus« mit so etwas.

»Dann kommt, von der Bi, ein Brief, es sei alles all right, sie habe sich selbst helfen können. Ich schnaufe auf und lese mit Andacht den Brief Ottos, den ich ihm nicht vergesse, stark, einfach sicher. Er macht alles (›Beunruhige dich nicht!‹).«32

Obwohl es sich um ein autobiografisches Notat handelt, formuliert Brecht ein wenig unklar, kryptisch; möglicherweise, weil es um Illegales geht. Es ist jedoch naheliegend, dass der medizinisch vorgebildete Freund Paula Banholzer mit Medikamenten half, einen Abgang herbeizuführen; naheliegend deshalb, weil sich dies wenige Jahre später haargenau so wiederholte und Brecht dann eindeutiger formulieren sollte.