Love & Other Cursed Things - Krista & Becca Ritchie - E-Book

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Krista & Becca Ritchie

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Beschreibung

Prickelnde New Adult F/F Lovestory mit Mystery-Elementen vom New-York-Times-Bestseller-Duo Krista & Becca Ritchie Nie wieder Mistpoint Harbour, das hat sich Zoey geschworen! Schließlich war ihr Leben dort die Hölle. Denn auf dem Küstenort liegt ein Fluch und alle geben Zoeys Familie die Schuld. Sechs Jahre hat sie sich ferngehalten, doch jetzt steckt ihr Bruder in Schwierigkeiten. Zoey muss ihm helfen – und dazu der einen Person gegenübertreten, die ihr verboten hat, zurückzukehren. Die ihr für eine kurze Zeit so nah war wie niemand sonst. Der Person, um die noch immer all ihre Gedanken kreisen: October Brambilla, Tochter der mächtigsten Familie der Stadt. Zoeys größter Crush, ihre größte Schwäche – und ganz bestimmt ihr Schicksal. Eine verbotene Liebe, verflucht viele Lügen und Geheimnisse – und eine Leidenschaft, die keine Trennung auslöschen kann!

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Krista & Becca Ritchie

Love & Other Cursed Things

Aus dem Englischen von Rita Gravert

Eine verbotene Liebe, verflucht viele Geheimnisse – und eine Leidenschaft, die unauslöschlich bleibt.

Nie wieder Mistpoint Harbour, das hat sich Zoey geschworen! Schließlich war ihr Leben dort die Hölle. Denn auf dem Küstenort liegt ein Fluch und alle geben Zoeys Familie die Schuld. Sechs Jahre hat sie sich ferngehalten, doch jetzt steckt ihr Bruder in Schwierigkeiten. Zoey muss ihm helfen – und dazu der einen Person gegenübertreten, die ihr verboten hat, zurückzukehren. Die ihr für eine kurze Zeit so nah war wie niemand sonst. Der Person, um die noch immer all ihre Gedanken kreisen: October Brambilla, Tochter der mächtigsten Familie der Stadt. Zoeys größter Crush, ihre größte Schwäche – und ganz bestimmt ihr Schicksal.

Prickelnde New-Adult-Lovestory mit Mystery-Touch vom New-York-Times-Bestseller-Duo Krista & Becca Ritchie

Wohin soll es gehen?

 

Buch lesen

Anmerkungen

Danksagung

Viten

KAPITEL 1

 

Zoey Durand

Es heißt, man kann einem Fluch nicht entkommen, doch ich laufe schon seit sechs Jahren davon. Und bisher hat mich das Unglück auch noch nicht eingeholt und mit seinen Krallen in die Tiefe gezogen.

Heute ist nun der Tag, an dem ich aufhöre, davonzulaufen.

Wer Mistpoint Harbor einmal verlassen hat, kehrt nie wieder zurück. Hätte ich die Wahl, dann würde auch ich meinen Arsch nicht aus Chicago fortbewegen. Es gibt verdammt wenige Gründe, die mich dazu bringen, in ein Flugzeug nach Hause zu steigen.

Bei Parrys Anruf gestern Abend wurde mir ganz schwarz vor Augen, als wäre alle Luft aus der Wohnung herausgesaugt worden. Ein unsichtbares Seil schlang sich um meine Taille und ruckte heftig. Es zog und zerrte mich nach Hause.

Ich musste einfach herkommen.

Als ich nun meinen abgewetzten Koffer aus dem Heck eines Kias hieve, liegt mir der Spruch Jetzt gibt es kein Zurück mehr wie Blei auf dem Herzen. Er steht mir praktisch auf den Arsch tätowiert. Mein Blick fällt auf den Uber-Fahrer, der nur ein paar Meter von mir entfernt wie hypnotisiert auf das Ortsschild starrt.

WILLKOMMEN IN MISTPOINT HARBOR.DIE VERFLUCHTESTE STADT IN GANZ AMERIKA!

Ich zerre am Griff und mit einem lauten Klonk landet der Koffer auf dem Asphalt. Der Typ zuckt zusammen und fährt sich mit der Hand durch das zerzauste kastanienbraune Haar.

»Sag mal, kennst du Leute, die in Mistpoint Harbor wohnen?« Er ruckt mit dem Daumen in Richtung der engen, gepflasterten Hauptstraße. Im winzigen Stadtzentrum sind keine Autos erlaubt. »Ich habe gehört, dass die sich die ganze Nummer mit den Flüchen nur ausgedacht haben, um Touristen anzulocken. Aber ich hab noch nie mit einem von hier gesprochen.«

Ich schüttele den Kopf. »Tut mir leid, ich bin nur auf der Durchreise.« Ich lüge zwar nicht gern, sollte mich aber wohl besser daran gewöhnen. Schließlich kann ich nicht einfach überall herumerzählen, warum ich zurückgekommen bin. Wie Parry es ausgedrückt hat: Behalt den Kram für dich, Zoey. Das mein ich ernst. Erzähls bloß nicht Brian oder October.

Was meinen Bruder Brian angeht, kein Problem. Ihn anzulügen, ist kinderleicht.

Aber allein der Versuch, October was vorzumachen, kommt dem Versuch gleich, Zoltar zu hintergehen. Ihr wisst schon, dieser Roboterwahrsager aus dem 80er-Jahre-Film Big. October ist zwar weder ein Roboter noch eine Hellseherin, aber wenn sie mich mit ihren großen, seelenfressenden Augen anstarrt, löst sich alles auf und ich verwandle mich in ein verdammtes Chaos.

Außerdem ist sie viel hübscher als dieser Robotertyp mit seinem Schnurrbart.

Wie eine schicke, sexy Amazone. Wonder Woman höchstpersönlich.

Eine Wonder Woman, die ich nicht anlügen kann. Ich versuche mich zu erinnern, wie ihr goldenes Lasso heißt: ein Ehrlichkeitslasso, eine Sag-mir-verdammt-noch-mal-die-Wahrheit-Waffe? Tatsächlich habe ich mir den Film eh nur angeschaut, weil Wonder Woman heiß ist – mein Nerd-Herz schlägt ansonsten eher für Star Wars. Aber die Wonder Woman von Mistpoint Harbor wird mich wahrscheinlich mit ihrem Du-verdammte-Lügnerin-Lasso strangulieren. Wenigstens eine Sache, auf die ich mich freuen kann.

Mit aller Macht versuche ich, beim Ausatmen eine Lawine aus schlimmen Befürchtungen loszuwerden. Der Uber-Fahrer blickt noch einmal stirnrunzelnd auf das Schild und dann zu mir. Er wirkt enttäuscht. »Mist. Ich dachte schon, ich finde es endlich raus.«

Ich wünschte, ich könnte ihm die Wahrheit sagen. Dass es nichts herauszufinden gibt. Dass es eine Legende ist, die du entweder glaubst oder nicht – aber das musst du ganz allein entscheiden, das nimmt dir hier niemand ab.

Manche in Mistpoint haben denselben Standpunkt wie er – für sie ist das alles Quatsch. Bloß eine Legende, die vor Generationen erfunden wurde, um Touristen in die kleine Hafenstadt zu locken. Andere, und dazu gehöre ich, spucken dem Schicksal nicht so einfach ins Gesicht. Manche Dinge lassen sich eben mit nüchternem Verstand nur schwer erklären.

Warum Mistpoint zum Beispiel mehr Unfälle, mehr Vermisste, mehr Todesfälle und insgesamt mehr Unglück zu verzeichnen hat als jeder andere Hafen des Landes. Und dennoch muss man eine geradezu übernatürliche Energie aufwenden, um sich dieser Stadt zu entziehen und sie zu verlassen. Ich bin mit achtzehn entkommen. Beinahe wäre es mir nicht gelungen.

Scheiße, ich war nur einen Atemzug davon entfernt, zu bleiben.

Manchmal wünschte ich, ich hätte es getan. Diese Stadt hat eine magische Anziehungskraft, eine besondere Energie, die ich nicht begreife. Mein ältester Bruder Brian hat immer gesagt, dass jeder, der hier geboren wird, eine weitere Wurzel zum Familienbaum hinzufügt. Unter der Erde sind wir mit den Generationen vor uns verbunden, und der einzige echte Ausweg besteht darin, sich freizuhacken. Doch wenn du das tust, beginnen die anderen Wurzeln im Boden zu verrotten. Der Baum geht ein.

Mir dreht sich der Magen um, und ich schüttele den Kopf, um das Bild wieder loszuwerden.

Dann umklammere ich den Griff meines Koffers fester und sage zu dem Uber-Fahrer: »Danke fürs Herbringen.«

Er schlägt den Kofferraum zu. »Vergiss nicht, mir eine Bewertung zu geben. Ich bin ein Fünf-Sterne-Typ.« Er zwinkert mir zu – ob freundlich oder flirtend, kann ich nicht sagen. Aber eins ist sicher: Eine Beziehung kann ich gerade nicht brauchen. Noch nicht mal einen Flirt.

Schließlich gibt es nichts Schlimmeres, als sich in einer verfluchten Stadt zu verlieben.

Also meide ich seinen Blick und murmele ausweichend: »Ja, klar.«

Er bleibt noch einen Moment stehen, und ich ziehe mit einer beiläufigen Bewegung mein Handy aus der Tasche, in dem Versuch, meinem Schicksal eine klare Richtung zu geben. Eine, die besagt: Lass mich einfach in Ruhe!

Tatsächlich höre ich, wie die Autotür zuschlägt, und als ich den Blick vorsichtig hebe, sehe ich, wie sich die Rücklichter des Taxis langsam entfernen.

Ich seufze tief. Was, zur Hölle, mache ich hier eigentlich? Da bin ich gerade mal seit 0,5 Sekunden zu Hause und schon am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Hier zu leben ist in etwa so, wie mit dem Schicksal Schiffe versenken zu spielen. Und ich habe bestimmt nicht vor, mit irgendeinem Schiff unterzugehen. Da springe ich lieber von Bord und versuche, an Land zu schwimmen, bevor die Wellen mich in die Tiefe ziehen.

Die Leute in der Stadt denken wahrscheinlich, dass ich abgehauen bin, um einem Fluch zu entgehen.

Der Legende nach holt das Unglück alle ein, die hier lange genug leben.

In meiner Kindheit haben mir Flüche keine Angst eingejagt und am Ende bin ich aus einem ganz anderen Grund weggezogen. Aber dem Fluch zu entgehen, war ein kleiner Trostpreis, den ich dankbar angenommen habe. Doch jetzt, da ich wieder hier stehe, spüre ich die Last des Risikos, das ich eingehe. Sechs Jahre. Ganze sechs Jahre bin ich dem Fluch entkommen. Das darf ich nicht vergessen.

Ich bin kurz hier und gleich wieder weg.

Ich werde tun, wozu ich hergekommen bin, und gar nicht lange genug bleiben, um von irgendeiner Generationen alten Legende gefickt zu werden.

So weit mein Plan.

Dann können wir nur noch hoffen, dass das Schicksal ihn nicht über den Haufen wirft.

KAPITEL 2

 

Zoey Durand

Zwei Minuten. Länger dauert es nicht, bis jemand bemerkt, wie ich die Hauptstraße in Richtung des alten Hafens laufe. Das eins achtzig große Mädchen guckt überrascht her und zögert nicht lange. Nope. Im Gegenteil. Sie beschleunigt ihre Schritte, ganz so, als hätte sie Beute gewittert, als wäre ich ein dummes, unschuldiges Häschen, das sie im Wald stellt.

Na toll.

Hätte ich mir ja denken können, dass mich bei meiner Rückkehr eine Nicht-Willkommensparty erwartet. Und die hat einen Namen.

Amelia Roberts.

Rotblonde, schick geflochtene Haare, cooles Outfit und pampiges Auftreten – seit der neunten Klasse ist sie meine ganz persönliche Hölle. Ihrer Familie gehört das Historische Museum für Flüche & Kuriositäten im Osten der Stadt, das jahrein, jahraus eine Menge Touristen anzieht.

Ich hatte das Pech, in meiner Highschool-Zeit dort an der Kasse zu sitzen. Und die Roberts werden hier in Mistpoint Harbor wie Royals behandelt. Alle küssen ihnen die Füße, bloß damit ihre Familien im Museum positiv dargestellt werden.

Wir Durands belegen mehr oder weniger eine komplette Abteilung, aber darin findet sich nicht ein einziges gutes Wort über uns – und das wird sich nie ändern, egal wie viele Füße man küsst.

Das hat mich in meiner Jugend zum beliebten Ziel für alle Formen des Mobbings gemacht.

Und hier und jetzt pocht die Zielscheibe auf meiner Brust mit jedem Atemzug heißer und wütender. Scheiß drauf. Wenn Amelia was von mir will, muss sie mich erst mal kriegen. Entschlossen packe ich den Griff meines Rollkoffers fester und stürme in Richtung Hafen.

»Zoey Durand!«, ertönt ihre schrille Stimme hinter mir.

Der kalte Märzwind peitscht mir gegen die Wangen und ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus. Doch dann höre ich ein laut vernehmliches Knacken. Eine Rolle meines alten Koffers hat den Kampf gegen das unebene Kopfsteinpflaster verloren. Nun schleift eine Ecke des Hartschalengehäuses über die Straße.

»Scheiße.« Besiegt bleibe ich stehen.

Als ich mich umdrehe, hat Amelia mich eingeholt. Sie schwitzt noch nicht einmal und ihr Atem geht kaum schneller.

Mir fällt wieder ein, dass sie eine Miss Mistpoint ist. In dem Jahr, in dem ich mich aus dem Staub gemacht hatte, gewann sie den Wettbewerb. Und das ist nicht irgend so ein Kleinstadt-Schönheitsding. Oh nein. Es ist eine verdammte Schatzsuche auf höchstem Niveau, die vom Stadtrat veranstaltet wird. Eine klassische Nancy-Drew-Nummer, und Amelia hat die ganzen Rätsel in Rekordzeit gelöst.

Unter dem verhangenen Küstenhimmel starren wir uns dreißig Sekunden lang regungslos an. Die Vögel zwitschern und der Nebel wabert über den See. Diesmal weiß ich es besser und haue nicht ab.

Ich muss blinzeln.

Mist.

»Du hast hier nichts verloren«, bricht Amelia das angespannte Schweigen. Sie verschränkt die Arme über ihrem Kaschmirpulli.

Mein Magen verknotet sich. Auch wenn ich von ihr keine Nettigkeiten erwartet habe, wünschte ich, dass es nicht die ersten Worte wären, die ich bei meiner Rückkehr höre.

»Mach das ab«, befiehlt Amelia plötzlich angewidert.

»Was?« Verwirrt runzele ich die Stirn und bemerke dann, dass sie mein Armband anstarrt.

»Mach. Das. Ab.«

Keine Bange, mein Schmuck ist mit keinem Fluch belegt. Das Problem ist nur, dass Amelia genau das gleiche Armband trägt. Eine Reihe milchiger Perlen auf einer Schnur. 50 Prozent des Erlöses gehen an eine Organisation zum Schutz von Meerestieren. Inzwischen hat es ungefähr eine Milliarde Instagram-Ads und so ziemlich alle tragen es. Mir gefällt es tatsächlich.

Ich schnaube. »Mach du es doch ab.«

Meine Dreistigkeit kommt für Amelia unerwartet. »Ist das dein Ernst?«

»Rede ich undeutlich?«, gebe ich zurück und glaube fast, dass October ein kleines bisschen stolz auf mich wäre.

Nach einem langen, unangenehmen Schweigen zieht Amelia ihren Ärmel herunter, sodass er ihr Armband verdeckt. Und als hätte unser Wortwechsel niemals stattgefunden, wiederholt sie: »Du hast hier nichts verloren.«

»Zu spät, Amelia«, entgegne ich. »Ich bin wieder da.«

Ihre rosa Lippen kräuseln sich und ihr Blick fällt auf den Koffer in meiner Hand. Scharf und stockend zieht sie die Luft ein. »Willst du etwa bleiben?« Die Vorstellung verleiht ihr einen leicht entsetzten Ausdruck.

Als wäre die große, schreckliche Zoey über die Stadt hereingebrochen, um sie zu verwüsten. Dabei weiß ich zufällig genau, dass sie in mir nie einen großen Schrecken gesehen hat. Die meisten Leute treten nur nach Dingen, die kleiner sind als sie selbst.

In der Hinsicht können Menschen echt grausam sein.

Und mir ist auch klar, dass ihr Entsetzen über meinen Besuch nicht damit zusammenhängt, dass mich hier ein Fluch erwischen könnte. So was ist ihr völlig egal.

»Geht dich gar nichts an.« Ich bücke mich und hebe die lose Rolle meines Koffers auf.

Sie schnaubt. »Das geht jeden in der Stadt was an. Wenn du glaubst, du könntest hier einfach wieder antanzen, als wäre nichts geschehen, und wir empfangen dich mit offenen Armen –«

»Keine Bange, Amelia«, unterbreche ich sie. »Ich bin definitiv nicht scharf drauf, von deinen Armen empfangen zu werden.« Ich richte mich zu meiner vollen Größe von eins fünfundsechzig auf und versuche auf sie herabzublicken.

»Hör auf, einen Buckel zu machen, Zoey.« Octobers Stimme aus der Zeit, als wir noch Teenager waren, taucht aus meiner Erinnerung auf. »Weißt du, wie du aussiehst?«

»Klein?«

»Und wie ein verschrecktes Reh.«

»Ich bin verschreckt.« Nicht wegen ihr. Sie habe ich immer bewundert. Aber diese Stadt mit ihren tratschenden, hart urteilenden Menschen, die hat mir Angst eingejagt. Obwohl ich hier geboren bin und mein gesamtes Leben hier verbracht habe. Bis ich wegging.

»Ein verschrecktes Reh endet als Geweih an der Wand. Willst du das etwa, Zoey?«

»Nein.«

»Dann weg mit dem Buckel.« Ihre Stimme war ein gedämpftes, eisiges Zischen, doch ihre Finger waren weich und warm. Sie streiften über meine Taille, wanderten meine Wirbelsäule entlang nach oben und liebkosten federleicht meine Schultern. Und bevor ich wusste, was ich tat, hatte ich mich aufgerichtet.

Und wenn es nur war, um mit ihr auf einer Augenhöhe zu sein.

Als hätte ich mit meiner Erinnerung den Geist von Mistpoints Wonder Woman heraufbeschworen, brennt sich Amelias Blick in meine Augen und sie sagt: »October will dich hier auch nicht sehen.«

October will dich hier auch nicht sehen.

Es ist, als hätte sie ein Schwert gezogen und mir die Spitze an die Kehle gesetzt. Ich versteinere und werde wieder ganz klein, als ich Octobers Namen höre. Wenn die Roberts die Royals von Mistpoint sind, dann sind die Brambillas Götter.

Damals in der Highschool war October Brambilla selbst eine Göttin, und Amelia hat mir jeden Tag aufs Neue in Erinnerung gerufen, wie glücklich ich mich schätzen konnte, dass jemand wie October mir auch nur eine Sekunde ihrer wertvollen Aufmerksamkeit schenkt.

Was ich doch für ein Glück hatte.

»Woher willst du das wissen?«, murmele ich schwach.

Amelia muss es gehört haben, denn sie sagt: »Hast du etwa all deine Gehirnzellen in Cleveland gelassen?«

»Chicago«, verbessere ich sie.

Den Teil ignoriert sie. »October und ich sind beste Freundinnen. Immer noch. Ich kenne sie besser, als du es je getan hast. Und wie gesagt, sie würde dich hier nicht haben wollen.« Die Hände in die Hüften gestemmt, mustert sie mich langsam von Kopf bis Fuß, angefangen bei meinen abgewetzten Lederstiefeln bis hin zu meinem schwarzen Rollkragenpulli. »Spar dir die peinliche Szene, Zoey, und hau einfach ab.«

Meine Nasenflügel beben.

Ich bin nicht wegen October gekommen. Wenn sie mich also angeblich nicht hier haben will, ändert das gar nichts. Es lässt nur den Schmerz in meiner Brust aufblühen. Aber den kann ich leicht mit einer Flasche Rotwein und ein paar 70er-Hits betäuben, die ich aus vollem Halse mitsinge.

In diesem Moment habe ich jedoch weder Alkohol noch Stevie Nicks, die mir aus der Patsche helfen. Daher kann ich nicht verhindern, dass Wut in mir hochkocht. Und nichts und niemand verhindert, dass diese Worte aus mir heraussprudeln.

»Keine Ahnung, wie oft ich dir das noch sagen muss«, fahre ich sie an. »Aber ich habe nicht vor, wieder abzuhauen. Und wenn du damit ein verdammtes Problem hast, Amelia, dann verzieh dich und friss ein paar Schwänze.«

Meine Wut bringt mich in Schwung und ich drehe mich um und steuere wieder den Hafen an. Miss Mistpoint lasse ich wie vom Donner gerührt stehen.

Scheiße, hat sich das gut angefühlt. In der Schule bin ich so gut wie nie für mich eingestanden. Damals war es viel leichter, sich in dunklen Ecken zu verkriechen, als zurückzuschlagen. Doch ich hab mir bestimmt tausendmal gewünscht, diese Worte laut auszusprechen.

Na ja, vielleicht nicht exakt diese Worte … Ein paar Schwänze fressen? Das war nicht gerade ein eleganter Treffer, aber immerhin hab ich was gesagt.

Ein Schwall Endorphine überspült mich. Es ist wie ein Rausch und ich lasse mich davon weiter durch die Stadt tragen. Die Möwen schreien und fliegen auf die Promenade am Kai zu, die von Läden, Bars und Restaurants gesäumt ist. Weiter entfernt die Küste entlang stehen bunte Häuser verstreut auf den Felsen und bilden ein idyllisches Seepanorama, das viele Besucher gern auf Instagram posten. Der See, auf den die Häuser blicken, ist schier endlos. Am Horizont sind lediglich ein paar Boote zu sehen, doch irgendwo auf der anderen Seite liegt Kanada.

Vor der Hafenmole gibt es zwei Pubs, die sich gegenüberstehen wie ein Sinnbild ihrer generationenübergreifenden Rivalität. Das Fisherman’s Wharf mit dem blau-weißen Rettungsring, der, kunstvoll von einem Fischernetz umwickelt, über der Tür hängt, kommt als gehobenes Restaurant daher. Das Schild mit dem Namen leuchtet in weichem, wässrigem Türkisblau.

So gern ich jetzt dort reingehen würde, um October persönlich zu fragen, ob sie sauer ist wegen meiner Rückkehr – es geht leider nicht. Im Wharf habe ich Hausverbot.

Wie Effie Brambilla es mit quengeliger Stimme ausgedrückt hat: »Wenn ihr Durands auch nur einen Fuß ins Fisherman’s Wharf setzt, dann fliegt ihr schneller wieder raus, als Mitch Montague die Regatta von 84 verloren hat.«

Mitch hat die Regatta nach fünf Sekunden verloren, weil sein Schiff gesunken ist. Wie man im Museum nachlesen kann, dachten alle, die Scham der Niederlage sei sein Fluch. Doch es stellte sich heraus, dass er sich die Wade aufgeschlitzt hatte, als er versuchte, zum Rettungsboot zu schwimmen.

Einen Monat später starb er an der Infektion.

Es ist typisch Effie, den Tod von jemandem ins Spiel zu bringen, um uns Durands zu drohen. Sie ist ungeheuer theatralisch und hat viel zu viel Einfluss in der Stadt.

Zu dumm, dass sie Octobers Tante ist.

Nachdem ich das Fisherman’s Wharf von der Liste meiner möglichen Ziele gestrichen habe, wende ich mich der Konkurrenzbar zu. Dem Drunk Pelican.

Die Tür schreit nach einem neuen Anstrich und das D und das C auf dem hässlich selbst gemachten Schild drohen jeden Moment herunterzufallen. Und ich habe alles Recht der Welt, es hässlich zu nennen, schließlich habe ich es bemalt. Nachdem das letzte Schild verrottet und abgefallen war, hatte mein Vater mich mit einem neuen beauftragt.

Ein Teil von mir wird dieses kleine Drecksloch von Pub für immer lieben.

Und der andere verachtet seine schiere Existenz.

Der Drunk Pelican ist die Ursache vieler meiner Probleme.

Und dennoch bin ich drauf und dran, durch diese Tür zu gehen. Wider besseres Wissen wahrscheinlich. Oder mit Sicherheit. Tief atme ich die frische Seeluft ein.

Ich bin hier, um einen Mann zu treffen, der mich angerufen und angefleht hat, nach Hause zu kommen. Hinter dieser Tür müsste Parry DiNapoli stehen. Jetzt gibt es wirklich kein Zurück mehr.

KAPITEL 3

 

Zoey Durand

Der Drunk Pelican hat sich kein bisschen verändert. Hätte ich vor sechs Jahren ein Foto aufgenommen, dann wäre es eine exakte Kopie dessen, was ich nun vor Augen habe.

Verschlissene Sitzecken aus Vinyl, mit Graffiti besprühte Wände, eine alte Jukebox und Weihnachtslichter, die das ganze Jahr über von der Decke baumeln, tragen zum schäbigen Charme bei.

Wie nicht anders zu erwarten, ist zudem weit und breit kein Gast zu sehen.

Ich glaube, es hat sich wirklich nicht viel verändert.

Als die Tür hinter mir zuschwingt, bimmeln die Türglocken. Ich zucke zusammen. Das Geräusch ist so laut, dass es sich anfühlt, als hätte jemand meine Ankunft mit einem Jagdhorn angekündigt. Auf der Liste der Menschen, die ich nicht sehen will, reiht sich Brian Durand ganz oben ein. Um ehrlich zu sein, hab ich keine Ahnung, ob er überhaupt hier ist.

Nachdem mein Vater den Pub aufgegeben hatte, um Seemann zu werden, hat Brian übernommen. Ich rechne nicht damit, meinen Vater anzutreffen. Er arbeitet meistens als Deckshelfer auf einem der Frachter, die die Großen Seen befahren, und die Hauptsaison hat bereits begonnen. Wahrscheinlich schippert er gerade irgendwo übers Wasser.

Aber Brian … Mein Bruder ist angespannt und verbissen genug, um jede einzelne Stunde des Tages im Pelican zu verbringen. Um zu versuchen, das Drecksloch irgendwie über Wasser zu halten.

Aber klar, sechs Jahre sind eine lange Zeit, und es ist ja nicht so, als hätte ich meinen Bruder im Auge behalten. Die Einzige, mit der ich in Kontakt geblieben bin, ist October, aber sie hat nie ein Wort über meine Familie verloren. Weil ich es so wollte.

Ich habe einfach versucht, alles aus meinem Leben zu streichen, was Heimweh in mir wecken könnte. In Chicago zu leben war schon so schmerzhaft genug.

Fragt mich jetzt bloß nicht, warum ich October nicht streichen konnte.

Ich schiebe mich weiter in den Pub und trage meinen Koffer, um das nervig schleifende Geräusch zu vermeiden.

»Bin gleich da!«, ruft jemand aus der Küche.

Die tiefe, rauchige Stimme erkenne ich sofort. Eine Stimme, die sinnlich und wie eine Anmache klingt, selbst wenn ihr Besitzer nur über Unwetter und Segelbedingungen redet.

Eindeutig nicht Brian, der klingt wie eine angepisste Krabbe, die in einem Netz gefangen ist.

All die Sorgen, die ich mir eben noch gemacht habe, verfliegen. Meine Muskeln entspannen sich und ich setze den Koffer ab.

Töpfe und Pfannen klappern und dann schwingt die Küchentür auf. Als Parrys Blick meinem begegnet, erstarrt er mitten auf der Türschwelle. Die Tür schwingt wieder zu und trifft seinen Hintern. Erschrocken stolpert er vor und lässt das Tablett mit Biergläsern fallen.

Unerträglich laut zerschellen sie am Boden. Ich zucke zusammen.

Er macht keine Anstalten, das Chaos zu beseitigen. Mit seelenvollen, meeresgrünen Augen mustert er mich, als wäre ihm ein Geist erschienen.

Ich kann den Blick nicht abwenden.

Parry DiNapoli war einer der heißesten Typen in der Geschichte der Mistpoint High. Er ist älter als ich, hatte seinen Abschluss gemacht, noch bevor ich an die Schule kam, doch sein gutes Aussehen war eine der vielen Legenden, die man sich auf den Schulfluren zuflüsterte. Olivbraune Haut, von der Sonne geküsstes goldblondes Haar, drahtige Muskeln und ein schön geschwungenes Kinn.

Er vereint immer noch all diese Dinge. Selbst seine Haare haben weiterhin den seidigen, lässigen Schwung, der an die kalifornischen Surfer der 90er-Jahre erinnert. Hinter die Ohren geschoben, folgen sie weich der Linie seines Nackens.

Soweit ich weiß, ist er in seinem ganzen Leben noch nie gesurft, doch fast immer, wenn ich Parry früher gesucht habe, fand ich ihn am See, wo er in der Sonne für ein bisschen Taschengeld das Boot irgendeines Anwohners schrubbte.

Doch heute – heute bleibt mein Blick an etwas anderem hängen. Eine große Narbe zieht sich über seine linke Gesichtshälfte. Dick und knotig beginnt sie auf der Stirn, teilt den unteren Schwung seiner linken Augenbraue und endet am Kinn.

Was ist mit ihm geschehen?

Ich habe sechs Jahre verpasst.

Der Gedanke lässt sich nicht mehr abschütteln und löst in meinem Kopf ein heilloses Durcheinander aus. Ich habe so viel verpasst. Während ich fortgegangen bin, sind alle, die mir nahestehen, dageblieben. Und die Leute aus meiner Klasse, die Schulfreunde meiner Brüder – wahrscheinlich hat sie alle längst irgendein Unglück erwischt.

Heilige Scheiße, Parry ist inzwischen dreißig.

Er ist der beste Freund meines Bruders Colt, schon seit Kindertagen.

Und obwohl Parry sechs Jahre älter ist als ich, stand er mir immer so nah wie ein Familienmitglied. Es hat Zeiten gegeben, da bin ich mit meinen Sorgen eher zu Parry als zu Colt gegangen. Er war weniger bissig. Seine unverbrüchliche Loyalität zu stadteigenem Abschaum wie uns Durands kann man durchaus hinterfragen, doch ich habe ihn dafür verehrt. Ich habe immer zu Parry aufgeblickt und wollte so sein wie er.

Jemand mit Moral und einem guten Herzen, dem man vertrauen kann. Jemand, auf den man sich verlassen kann.

Dieses Parry-DiNapoli-Level der Verlässlichkeit habe ich jedoch nie erreicht. Im Gegenteil, diese Seite von mir ist komplett zerstört. Seit ich der Stadt den Rücken gekehrt habe, konnte man sich in keiner Hinsicht auf mich verlassen.

Doch nun stehe ich hier.

Und komme nicht über unsere verlorene Zeit und seine Narbe hinweg.

Mein Atem geht schwer. »Parry …«

»Du bist gekommen.« Seine Überraschung ist nicht zu übersehen.

Verwirrt runzele ich die Stirn. »Klar bin ich gekommen. Du hast mich doch angerufen, schon vergessen?«

Er stößt einen langen Atemzug aus. »Ja, schon, aber …« Seine rauchige Stimme verliert sich, als würde er sorgfältig jedes Wort auswählen. Verlegen reibt er sich den Nacken. »Ich hätte nicht damit gerechnet, dass du kommst. Keiner macht das.«

»Für Colt würde ich immer zurückkommen.«

Er nickt heftig. »Ich bin froh, dass du hier bist.« Er schnappt sich ein Handtuch und bückt sich zu den Scherben. »Hast mir aber einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Du hättest wenigstens eine Nachricht schicken können, weißt du?« Sein Lächeln verzieht die Narbe in seinem Gesicht.

Ich versuche, nicht zu starren, doch er mustert mich ungeniert von Kopf bis Fuß.

In seinen Augen habe ich einen Sprung von achtzehn zu vierundzwanzig gemacht. Wie sehr habe ich mich wohl verändert? Ich schlucke meine aufsteigenden Gefühle herunter und presse mühsam hervor: »Ich habe dir sechs Jahre lang nicht geschrieben. Da wollte ich nicht plötzlich alles ändern.«

Er wirft ein paar Glasscherben aufs Tablett.

Ich trete einen Schritt näher, um ihm zu helfen.

Sein Kopf schnellt hoch. »Zoey, n-n-niiichttt!«, stottert er und bleibt hilflos im T hängen. Frustriert runzelt er die Stirn, doch die Angst und etwas Beschützendes in seinen Augen überwiegen.

Nur Zentimeter von den Scherben entfernt erstarre ich.

Seit seine Eltern gestorben sind, stottert Parry. Angeblich haben die beiden auf dem Rand der Welt gezeltet, einem schlichten, von Wald umgebenen Campingplatz auf den Klippen bei Mistpoint. Um das Gelände ranken sich zahlreiche Legenden von Werwölfen und es lassen sich dort viele Wildtiere wie Bären, Wölfe und Füchse beobachten.

Gehen Sie bloß nicht bei Vollmond auf dem Rand der Welt zelten, raten Einheimische den Besuchern, um sie so in das Geschäft mit den übernatürlichen Kuriositäten zu locken und ihnen mit unseren schäbigen Touristenfallen das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Das einzige Übernatürliche in dieser Stadt ist October Brambillas katzenhaftes Gleichgewicht, mit dem sie geschmeidig durchs Leben geht. Niemals sieht man sie stolpern oder schwanken. Sie ist schnell und geschickt und hat mich mit ihren weichen Händen schon oft aufgefangen.

Ich denke daran, wie Parrys Eltern bei Vollmond von einem wilden Tier getötet und damit zu einem weiteren Kapitel in Mistpoints Geschichte wurden.

Gehen Sie bloß nicht bei Vollmond auf dem Rand der Welt zelten. Sonst kommen Sie ums Leben, wie Mr und Mrs DiNapoli.

Ich glaube, dass hier in Mistpoint regelmäßig das Schicksal zuschlägt. Übergriffe von Wildtieren kommen vor, und dieser Angriff geschah eben unter einem perfekten Vollmond, wie dafür gemacht, eine fantastische Geschichte zu spinnen.

Parry hingegen hat nie daran geglaubt, dass ein Rudel Wölfe das Zelt seiner Eltern zerrissen und sie getötet hat. Er ist fest davon überzeugt, dass sie von einem Fremden auf der Durchreise ermordet wurden. Erstochen in der Dunkelheit. Und welcher Ort ist besser geeignet, um einen Mord zu verschleiern, als eine Stadt voller Geistergeschichten und schlechter Ermittlungsarbeit?

Damals war Parry fünfzehn.

Sein älterer Bruder Enzo DiNapoli wurde zu seinem Vormund und außerdem übernahm er auch den Job ihrer Eltern. Friedhofswärter. Enzo ist der örtliche Totengräber. Da er lediglich nachts das Haus verlässt, habe ich ihn nur selten zu Gesicht bekommen.

Parry hingegen verlässt nur bei Tag das Haus.

Wieder begegnen sich unsere Blicke und seiner wird eine Spur weicher. »Komm … einfach nicht näher.« Diesmal bringt er es ohne Stottern heraus. Noch immer liegen Scherben quer über die Dielen verstreut.

Da geht mir ein Licht auf. »Himmel, Parry, bloß weil ich ein paar Scherben anfasse, werde ich doch nicht gleich verflucht.« Ich trete näher und hocke mich ihm gegenüber.

»Das kannst du nicht wissen.« Schnell schiebt er das Glas mit einem Putzlappen zusammen. »Würde mich nicht wundern, wenn hier im Ort ein abgefahrener Eins-zu-eine-Millionen-Unfall ’ne wahre Geschichte wird.«

Kaum zu glauben.

Aber zweifellos wahr.

Wer weiß, ob sich nicht tatsächlich eine Scherbe in mein Herz rammen könnte. Doch wer in Mistpoint Harbor aufwächst, lernt schnell, mit dieser Angst umzugehen.

»Ich weiß, dass auch ich nicht unzerstörbar bin«, sage ich, als hätte er vergessen, dass ich ebenfalls in dieser Stadt groß geworden bin. »Bemuttere mich nicht, nur weil ich zurück bin.«

Der Ausdruck in seinen Augen ist noch weicher geworden.

Wie gesagt ist Parry schon seit Ewigkeiten mit Colt befreundet. Traf man den einen, war der andere für gewöhnlich nicht weit. Sie sind sogar zusammen für das Segelteam der Schule angetreten. Doch in gewisser Weise war Parry immer so was wie ein dritter Bruder für mich.

Als ich herausfand, dass ich bisexuell bin, war Parry der Erste, dem ich es erzählt habe. Weil er mir viel bedeutet und ein Mensch ist, der Geheimnisse mit ins Grab nimmt.

Mit vierzehn war ich noch nicht bereit für ein Coming-out vor allen anderen.

Inzwischen wissen die meisten Leute in der Stadt, dass ich bi bin. Hundertpro.

Mit seiner rauchigen Stimme wendet Parry leise ein: »Ich bemuttere dich nicht.« Er hält einen Augenblick inne und seufzt dann tief. »Okay, vielleicht ein bisschen. Aber Scheiße, Zo, du bist abgehauen. Und dir ist es bis jetzt gelungen, dich von dem verfluchten Mist fernzuhalten.« Er schmeißt die letzte Scherbe auf das Tablett.

Ich ahne, wo das hinführt. »Parry …«

Wir stehen zeitgleich auf. »Ich habe dich gebeten, zurückzukommen, Zoey. Ich. Und du bist verdammt noch mal hier.« Er lacht auf, als könne er es immer noch nicht glauben. »Wenn dir also irgendwas Schlimmes zustößt …«

»Dann ist es nicht deine Schuld.«

Sein Blick aus grünen Augen durchbohrt mich. »Wir beide wissen nur zu gut, dass das nicht stimmt. Tu mir einen Gefallen und versuch wenigstens, nicht in Schwierigkeiten zu geraten.« Er stellt das Tablett auf dem Bartresen ab und die Scherben klirren wie ein Windspiel.

»Halt dich von zerbrochenen Spiegeln und schwarzen Katzen fern und geh nicht unter Leitern durch. Schon verstanden«, witzele ich.

»Ich meins ernst, Zo.«

Ich weiß.

Zu versprechen, sich in Mistpoint keine Schwierigkeiten einzuhandeln, ist im Grunde gleichbedeutend damit, sich freiwillig in Hausarrest zu begeben. Das kann ich nicht bringen.

Schließlich bin ich dafür nicht hergekommen. Aber ich will auch nicht, dass Parry seine Bitte bereut.

Ich lasse meinen Koffer stehen und schwinge mich auf einen der Barhocker. »Du hast mich zu nichts gezwungen, Parry. Ich hätte Nein sagen können. Oder einfach Fick dich und lass mich in Ruhe.«

Er nimmt ein sauberes Glas aus dem Regal. »Hätte ich dir nicht verübelt.«

»Weil du viel zu nett bist.«

»Weil ich das von den Durands gewohnt bin. Dein Bruder sagt mir jeden Tag Fick dich und lass mich in Ruhe.«

Brian.

Mein ältester Bruder ist außerdem Parrys Chef. Und der einzige Grund, warum Parry weiterhin im Drunk Pelican arbeitet, ist seine größte Stärke und zugleich seine schlimmste Schwäche.

Loyalität.

»Du kannst Brian immer noch nicht ausstehen?«

»Manche Dinge ändern sich auch in sechs Jahren nicht.« Er zieht die Brauen hoch. »Die sind einfach für die Ewigkeit.« Er zapft mir ein Bier. »Dass ich Brian hasse, zum Beispiel. Oder diese kaputte Jukebox, die immer nur Frank Sinatra spielt.«

»Und das vergammelte Dach«, füge ich hinzu.

»Und deine blonden Haare.« Er starrt mich an, während er mir das Bier zuschiebt. Vielleicht hätte ich sie blau oder grün färben sollen, um weniger vorhersehbar zu sein.

Ich sehe mir seine Narbe genauer an. Sie sieht verheilt aus. Frisch kann sie also nicht sein. »Manche Dinge haben sich aber schon verändert.«

Unsere Blicke treffen sich und plötzlich liegt eine Schwere in der Luft.

»Es war ein Segelunfall«, haucht er mit einer Stimme, die Höschen rutschen lässt. Aber ich weiß, dass er nicht vorhat, mein grünes Yoda-Höschen rutschen zu lassen. Erstens ist Parry DiNapoli schwul und zweitens würde Colt ihn umbringen.

Ich lege meine Hände um das Glas. »Wir müssen nicht darüber reden, wenn du nicht willst.«

Er lächelt sanft. »Du kannst schon in dem beschissenen Museum drüber lesen, Zo. Keine Chance, hier irgendwas geheim zu halten. Außerdem wollen alle immer alles wissen. Das hat sich nicht geändert.«

»Du meinst, wir leben nicht in Gossip Harbor?« Ich täusche Erstaunen vor.

Er stößt ein kurzes Lachen aus. »Ganz genau.« Nach einem kurzen Schweigen fährt er fort. »Colt und ich sind bei der Spring Royal Regatta mitgesegelt und er hat sich in der Takelage verf-f-faaangen.« Er räuspert sich. »Ich habe ihn mit dem Messer befreit, aber dann hat mich so eine Windböe erwischt. Ich wurde zurückgeworfen und mein Messer …« Er deutet auf sein Gesicht.

Ich will etwas sagen wie Es tut mir so leid. Doch stattdessen kommt mir etwas anderes über die Lippen. Etwas viel Schlimmeres. »Trotzdem bist du noch genauso heiß wie früher.«

Er lacht. Es ist ein Lachen, das seinen ganzen Körper erfasst wie ein Erdbeben.

Ich versuche mit aller Macht ein Lächeln zu unterdrücken, wo ich doch schon so taktlos war. »Sorry, das wollte ich nicht sagen. Ist mir einfach rausgerutscht.«

Er kann nicht aufhören. Lachend stützt er sich mit den Fäusten auf die Bar und krümmt sich nach vorn. »Von wegen rausgerutscht.«

»Ich bin eben ein Trampeltier«, sage ich und versuche weitere verbale Kotzattacken mit einem großen Schluck Bier zu ertränken. Ich kann einfach nicht gut mit traurigen Situationen umgehen. Wenn Menschen Mitgefühl und Umarmungen brauchen. Keine Ahnung, wie man sich da richtig verhält. Das hat mir nie jemand gezeigt. Und hier in Mistpoint hat man das Gefühl, alle machen so viel Mist durch, dass die Worte Es tut mir so leid ohnehin kein Gewicht mehr haben. Dafür sitzen einfach zu viele von uns in der Scheiße.

Parry hält sich die Seiten und versucht sich zu beruhigen. »Vielen Dank. Das habe ich gebraucht.«

»Hat dir etwa noch keiner gesagt, dass du immer noch heiß bist?«, frage ich stirnrunzelnd.

Gedankenverloren neigt er den Kopf zur Seite. »Sagen wir mal, mein Ego ist in den letzten Jahren ziemlich gebeutelt worden.«

»Lass mich raten, Brian schlägt darauf herum?«

»Er nennt mich ungefähr fünfzehnmal am Tag Frankenstein. Dabei habe ich dem Blödmann erklärt, dass Frankenstein der Arzt und nicht das Monster ist. Aber das geht Jackass am Arsch vorbei.«

»Klingt, als wäre er immer noch angepisst, dass du damals Colt das Segeln beigebracht hast.« Parry hat Colt sogar ins Segelteam geholt. Und wie Mitch Montague – der Typ, der bei einem Regatta-Unfall im Jahr ’84 gestorben ist – so beeindruckend unter Beweis gestellt hat, ist Segeln hier eine gefährliche Angelegenheit.

Aber manche Menschen sind dazu geboren, auf dem Wasser zu sein und den Wind im Gesicht zu spüren.

So eine Liebe kann niemand zerstören.

»Ja, Brian ist immer noch echt angefressen meinetwegen«, sagt Parry. »Er findet es beschissen, dass ich Colts bester Freund bin. Dass ich hier in der Bar Koch bin.« Er mustert mich von Kopf bis Fuß. »Und es wird ihn erst recht anpissen, dass ich dich hergebeten habe.«

»Er muss ja nicht wissen, dass du dahintersteckst. Ich hab eine wasserdichte Erklärung. Vollkommen ab von der Wahrheit.« Ich beuge mich nach vorn über die Bar. »Für Brian und den Rest der Stadt bin ich wegen einer Recherche hier. Ich schreibe ein Buch über Mistpoint Harbor.«

»Zoey.« Parry verzieht das Gesicht und stöhnt. Dann fährt er sich besorgt mit der Hand durch sein perfektes Haar. »Bist du lebensmüde? Eine Durand, die hier herumschnüffelt und Profit aus der Geschichte der Stadt schlägt? Dem Ort, den sie verlassen hat?«

»Ich weiß, dass ich ein paar Leuten ans Bein pinkeln werde.«

»Ein paar?«

»Okay, vielen Leuten. Aber gehts nicht gerade darum, die Leute anzupissen? Vor lauter Wut werden sie gar nicht dazu kommen, sich zu fragen, warum ich wirklich hier bin.«

Parry schaut noch immer unglücklich, aber er nickt. »Vielleicht hast du recht.« Dann schenkt er sich ein Bier ein und ich genehmige mir einen weiteren Schluck von meinem. Sein Blick huscht zu mir. »Kaum zu glauben, dass du jetzt tatsächlich über einundzwanzig bist. Jetzt muss ich dir dein Bier nicht mehr in einer Kaffeetasse servieren.«

Ich lächle traurig.

Es ist kein schönes Gefühl, so viel verpasst zu haben.

»Ich bin froh, dass ich wieder hier bin«, sage ich. Und meine es tatsächlich so, trotz meiner bescheidenen Begegnung mit Amelia.

Er trinkt einen Schluck und der kleine Silberring an seinem linken Ohrläppchen glänzt im Schein der Lampen. »Wie war Chicago?«

»Ganz in Ordnung.« Ich zucke die Schultern. Meine sechs Jahre in Chicago fühlen sich an wie ein vollkommen anderes Leben. Nicht meins, um ehrlich zu sein. Eher wie das von jemand anderem. Es tut weh, an dieses Leben zu denken, während ich hier sitze. »Ich will nicht über mich reden«, sage ich. »Ich bin wegen Colt hier, schon vergessen? Seit du mich gestern Abend angerufen hast, sind mir eine Million schlimme Dinge eingefallen, die ihm passiert sein könnten. Gehts ihm gut? Müssen wir gleich zum Leuchtturm?«

»Im Moment kommt er klar.« Parry umklammert sein Bierglas fester und blickt zum Fenster hinaus. »Und es wird bald dunkel. Er mag es nicht, abends gestört zu werden. Besser, wir besuchen ihn morgen früh.«

»Hast du … mal versucht, ihn abends zu besuchen?«, frage ich und spüre geradezu, wie sich eine Spannung zwischen uns aufbaut. Der unausgesprochene Teil meiner Frage bereitet mir Unbehagen, doch ich will dagegen ankämpfen.

October hat mir das beigebracht.

Gib dich nicht einfach dem Unbehagen hin. Tu was dagegen. Also wage ich einen Vorstoß: »Ich meine, vermeidest du es immer noch, im Dunkeln rauszugehen?«

Er stößt ein frustriertes Schnauben aus. »Du meinst wohl eher: Hast du immer noch Angst im Dunkeln, Parry?«

Ich widerspreche nicht. »Und? Hast du?«

»Ja«, gibt er angespannt zu und schiebt dann schnell nach: »Trotzdem habe ich schon versucht, ihn abends zu besuchen, zusammen mit Enzo. Hier gehts nicht um meine Angst. Wie gesagt, er mags einfach nicht, abends gestört zu werden. Morgens ist es besser.«

Der Druck auf meiner Brust ist immer noch da. »Am Telefon hast du gesagt, er ist ganz schön durcheinander. Was soll das heißen?«

»Es soll heißen, dass er durcheinander ist. Keine Ahnung, wie ich das sonst beschreiben soll. Morgen wirst du’s schon selber sehen. Vielleicht holst du ihn ja da raus.« Er stößt den Atem aus. »Das hoffe ich zumindest.«

Und was, wenn ich ihm nicht helfen kann? Den Gedanken behalte ich jedoch für mich und wende mich wieder meinem Bier zu. Dann frage ich: »Machst du vor Sonnenuntergang Feierabend?«

»Nein, ich bin der einzige Koch. Und der einzige Wirt. Und manchmal auch der einzige Barmann und der einzige Kellner.«

Das gibt mir einen Stich. Hätte ich mir ja denken können. Natürlich ist er derjenige, der dieses Drecksloch vor dem Untergang bewahrt. Schon mein Vater hatte Schwierigkeiten, jemanden für die Bar zu finden, und Parry springt immer noch ein. »Meine Familie hat dich nicht verdient, Parry.«

»Doch, hat sie«, sagt er leichthin, als wäre das völlig klar. »Aber Brian nicht.«

»Hört, hört«, stimme ich zu und hebe mein Bier.

Er wischt einen klebrigen Fleck vom Tresen. »Eine halbwegs nette Sache hat er allerding gemacht, wenn auch eher für sich.«

»Was denn?«

»Er hat sich bereit erklärt, mich jede Nacht nach Hause zu bringen, nur damit ich bis zwei Uhr morgens hierbleibe. Seine Begleitung ist zwar die reinste Folter, aber immerhin foltere ich ihn auch.«

Ich lächle. Mir gefällt, dass Brian seine eigene bittere Medizin schlucken muss.

Parry sieht mich durchdringend an. »Ich weiß noch nicht mal, was du jetzt überhaupt so treibst. Bist du wirklich Autorin? Mit dem College bist du doch schon seit ein paar Jahren durch, oder?«

»Nee, Autorin bin ich nicht. Ich habs nicht so mit Grammatik.« Ich lächele in mich hinein. »Ganz ehrlich, ich würde lieber einen Finger in den Anspitzer stecken, als ein fünfseitiges Essay zu schreiben. Von einem Buch ganz zu schweigen.« Wenn jemand mitkriegt, dass ich keine Virginia Woolf oder Agatha Christie bin, steht meine Tarnungsgeschichte ziemlich wackelig da. Aber eine andere habe ich nicht. Verlegen meide ich seinen Blick. »Und ja, ich hab vor zwei Jahren meinen Abschluss gemacht.«

Er neigt erwartungsvoll den Kopf und schweigt.

Ich starre in mein Glas. »Keine Ahnung, wo ich anfangen soll, Parry. Es ist so viel Zeit vergangen. Außerdem bin ich nicht hergekommen, um dir von meinem traurigen Leben zu erzählen. Ich will nur Colt helfen.«

Und dann bin ich wieder weg.

Parrys Stirnrunzeln vertieft sich. »Warum traurig? Was ist in Chicago passiert?« Er lässt den Blick über mich wandern, als würde er nach Verletzungen suchen.

Schweigen. »Hast du jemanden gedatet?«, fragt er versuchsweise.

Ich wusste, dass diese Frage kommt.

Eine, von der ich nicht sicher war, wie ich mit ihr umgehen soll.

»Ich …«, setze ich an, doch meine Worte werden im Keim erstickt.

Die Pubtür klingelt vernehmlich.

Parrys und mein Kopf schnellen herum.

Oh nein. Innerlich stöhne ich auf.

Mein ältester Bruder.

Brian steht mit einer Kiste gefrorener Krabbenscheren im Drunk Pelican. In seinem dunklen Regenmantel, die Mütze tief über das dunkelbraune Haar gezogen und mit dem dichten, aber sorgfältig gekämmten Bart wirkt er noch mehr wie der typische schroffe Einheimische, als ich es in Erinnerung habe.

Als hätte die Herrin vom See ihn geboren.

Mich ignoriert er glattweg. Stattdessen wendet er sich an seinen Koch. »Verpiss dich«, sagt er zu Parry.

Parry blinzelt noch nicht einmal. »Wir haben geöffnet, Brian. Was, wenn Gäste kommen? Du verbrennst doch alles, was du anfasst. Aber wenn du Holzkohle servieren willst, meinetwegen.« Er nickt meinem Bruder zu.

Brian schlendert zum Fenster und dreht das Geöffnet-Schild um. Geschlossen. »Katastrophe abgewendet. Und jetzt verschwinde.«

Parry grummelt vor sich hin und schmeißt das Handtuch auf den Tresen. Sein Blick huscht zu mir herüber. »Ich schreibe dir, Zoey.«

Der Blick meines Bruders durchbohrt uns. Als würde er jedes Fitzelchen Information sammeln, an das er gerät.

»Klingt gut. Bis dann, Pear.«

Parry nickt mir ein letztes Mal zu. Als er auf dem Weg nach draußen an Brian vorbeikommt, zischt er ihm wütend zu: »Friss Scheiße und stirb.«

»Fick dich, Parry«, schießt Brian zurück.

Mit einem Fußtritt öffnet Parry die Tür und Brian starrt seinem Schatten nach.

Ich verziehe das Gesicht.

Auch vor sechs Jahren haben die beiden sich gehasst, doch damals war es ein leiser, schwelender Hass. Unterdrückte Flüche und verdrehte Augen. Jetzt liegt alles blank und offen da. Als würde ein einziger Funke genügen, damit sie sich endgültig an den Hals gehen.

Eines ist sicher: Brian darf nie erfahren, dass Parry mich hergebeten hat.

Ich hoffe, meine Lügengeschichte funktioniert. Sonst fliegt uns das Ganze um die Ohren.

Ohne Parry ist die Luft zwischen mir und Brian zum Schneiden dick. Er kommt zum Tresen und setzt die Krabbenkiste mit einem Ächzen auf dem Hocker neben mir ab.

Um seine Augen bilden sich Fältchen, als er konzentriert vor sich hin starrt, und an den Schläfen ist sein Haar bereits ergraut.

Neununddreißig.

Shit, ich kann nicht glauben, dass mein Bruder bald die Vierzig erreicht. Als ich gegangen bin, war er gerade mal dreiunddreißig.

Uns trennen ganze fünfzehn Jahre, was jedoch nicht weiter seltsam ist, wenn man bedenkt, dass wir nur Halbgeschwister sind. Brian, Colt und ich haben alle denselben Vater, aber unterschiedliche Mütter.

Er hat mich immer noch nicht angesehen. Stattdessen gräbt er in den Tiefen seines Regenmantels herum und fördert sein Handy zutage. Scrollt, klickt und tippt konzentriert. Er geht mir tierisch auf die Nerven.

»Du sagst nichts? Ist das dein Ernst?«, frage ich ihn.

»Heute Abend geht noch ein Greyhound. Ich buche dir den nächstbesten Bus aus der Stadt.«

Ich habe das Gefühl, ich falle. »Was?«

Endlich begegnet er meinem Blick. Wir haben dieselben blauen Augen, rau und stürmisch wie der See vor der Tür.

»Als du achtzehn geworden bist, habe ich dir gesagt, du sollst bleiben.« Jedes Wort ist präzise und scharf, als wären es Rasierklingen. »Ich habe dich gewarnt, was die Konsequenzen sind, wenn du gehst.«

Die Wurzeln unseres Familienbaums verrotten. Faulen. Bald sind sie verschwunden.

»Du hast gesagt, ich hätte hier dann kein Zuhause mehr«, flüstere ich kaum hörbar. »Ich weiß. Ich dachte nur …«

»Du dachtest, ich lüge?«, fragt er kalt.

»Nein, das habe ich nicht gedacht.«

»Aber du dachtest, ich würde meine Meinung ändern und dich mit offenen Armen empfangen.« Das war keine Frage.

Brian war immer schon ein harter, aufbrausender Mensch, aber früher immerhin ein anständiger Bruder. Vielleicht habe ich deshalb gedacht, dass sich irgendwas in seinem Herzen rühren würde, wenn er mich sieht. Ich hatte angenommen, seine Worte wären eine leere Drohung, um mich zum Bleiben zu überreden.

Damals hat er Team Mistpoint Harbor angeführt und sich ständig mit Team Chicago angelegt. Er brauchte Hilfe mit dem Drunk Pelican und meine Collegepläne passten nicht zu meinen Familienpflichten.

Vielleicht hat er ja recht und es war wirklich egoistisch, wegzulaufen.

Deshalb kann ich Brian die Wut, die er ausstrahlt, nicht verübeln. Aber ich bin immer noch seine kleine Schwester. Wir sind beide Durands. Wir sind als Geächtete in einer ohnehin schon verfluchten Stadt aufgewachsen. Da muss doch in irgendeiner Zelle seines Körpers ein bisschen Solidarität stecken.

»Fragst du mich gar nicht, warum ich zurück bin?«, blaffe ich ihn an.

»Das will ich nicht wissen. Und muss ich auch nicht, weil du in …«, er sieht doch tatsächlich auf seine Uhr, »… einer Stunde weg bist.«

»Ich gehe nicht, Brian. Ich bin hier, um ein Buch zu schreiben.«

»Du und ein Buch schreiben?« Er klingt, als wäre die Vorstellung völlig absurd.

»Ja, ich.« Ich schreie beinahe. »Ich bin nämlich Agatha Fucking Christie. Oder hast du etwa ein Problem damit?«

»Nee. Aber spiel Agatha Christie woanders.«

»Kann ich nicht. Es geht um Mistpoint Harbor.«

»Was geht um Mistpoint?«

»Na, das Buch!« Er macht mich fix und fertig.

Und ich bringe ihn aus dem Konzept. »Nein. Oh nein.« Sein Blick verdunkelt sich. »Du schreibst kein Buch. Nicht hier.«

»Doch, das tue ich, und ich habe nicht vor, zu gehen.«

Er holt so tief Luft, als könne er gar nicht genug Sauerstoff bekommen. Dann funkelt er mich wütend an. »Hier bleibst du jedenfalls nicht.«

»Mein Zimmer …«

»Gibt es nicht mehr. Nachdem du abgehauen bist, habe ich es in mein Büro verwandelt.«

Ich versuche den Schmerz zu ignorieren, der sich in meiner Brust ausbreitet. Ich kanns ihm nicht verübeln – zumindest versuche ich das. Schließlich habe ich mich dafür entschieden, zu gehen.

»Du schmeißt mich also raus?«

»So würde ich das nicht sehen. Du hast einen Ort, wo du hinkannst: die Bushaltestelle. Und falls du knapp bei Kasse bist, kaufe ich dir gern ein Ticket.«

»Wie nett von dir«, gifte ich und springe vom Hocker. Beinahe hätte ich ihn gefragt, ob er irgendwas über Colt weiß. Eher unwahrscheinlich. Meine Brüder haben ihre eigene stürmische Geschichte miteinander.

Ich nehme meinen Koffer. »Dein Geld brauch ich nicht. Ich finde schon einen anderen Schlafplatz in Mistpoint.«

Er schaut noch finsterer. »Keine der Pensionen hier wird eine Durand aufnehmen. Der Scheiß hat sich nicht verändert, seit du weg bist.«

Ich könnte Parry anrufen, doch wenn ich die Kluft zwischen Brian und mir irgendwie überwinden will, dann sollte ich Parry DiNapoli derzeit besser nicht um einen Gefallen bitten. Es würde die Suppe überkochen lassen, dabei will ich die Hitze runterschalten.

»Ich komm schon klar«, sage ich zu Brian. »Danke für nichts.«

Und damit lasse ich ihn im Pub stehen. Halb hoffe ich, dass er mir nachläuft. Dass er ruft: Warte! Sich eben verhält wie ein großer Bruder, der seine kleine Schwester schützen will. Andererseits wurde ich seit frühester Kindheit von allen möglichen Leuten hier in der Stadt gemobbt, und es gab nur eine Person, die mir zu Hilfe gekommen ist.

Und das waren nicht meine Brüder.

KAPITEL 4

 

Zoey Durand

ZEHN JAHRE ZUVOR

14 Jahre alt

Das kann nicht sein. Entsetzt starre ich auf meinen Stundenplan. Das gefürchtete T-Wort starrt zurück. Ich habe mich nie für die Theaterklasse eingeschrieben. Im Gegenteil, ich weiß noch genau, welche der Wahlfächer meine Favoriten waren. Theater war nicht darunter. Nicht im Entferntesten.

Ich wollte einen Kurs, bei dem ich ganz hinten im Klassenzimmer sitzen und eins mit der Wand werden kann. Unsichtbar.

Theater ist so ungefähr das Gegenteil von unsichtbar.

Wie zur Hölle bin ich dann in diesem Kurs gelandet?

Das hätte ich am liebsten die Frau im Sekretariat gefragt, aber ich glaube nicht, dass mir das weiterhelfen würde. Während sie ins Telefon schnattert, wippe ich unruhig auf meinen Fußballen herum und umklammere den Griff meines schwarzen Regenschirms fester. Der Theater-Einstiegskurs ist meine erste Unterrichtsstunde. So schnell kriege ich das nicht geregelt. Ich bin jetzt schon zu spät.

Erster Tag an der Highschool.

Erster Tag an der Mistpoint High.

Und ich bin jetzt schon dabei, mein einziges Ziel weit zu verfehlen: nicht aufzufallen.

Einfach … nicht auffallen.

So schwer kann das doch nicht sein.

Durch die Grund- und die Mittelschule habe ich es mit ein paar wenigen Flurschubsern und Stößen geschafft. Zugegeben, in der Vierten hat mir Macie Byrne in der Cafeteria ein Bein gestellt, und mein Tablett mit Karottenstampf und einem trockenen Hamburger ist in hohem Bogen auf dem Boden gelandet. Der ganze Raum hat gelacht.

Diesen ekligen Fraß wollte ich eh nicht.

Ah, und dann gab es noch den Vorfall in der Siebten, als Aiden Gray in der Reihe hinter mir saß und mir Kaugummi ins Haar geklebt hat.

Ich brauchte eh dringend einen Haarschnitt …

Bis (wahrscheinlich) heute bin ich also ziemlich erfolgreich mit meiner Umgebung verschmolzen. Im Großen und Ganzen. Ich hatte sogar eine Freundin. Doch jetzt ist Vittoria fort. Die Romanos sind letzten Monat überraschend nach Milwaukee umgezogen und haben mir meine einzige Verbündete weggenommen. Da stehe ich nun und muss dieser Stadt und der neunten Klasse ohne eine einzige freundliche Begleiterin gegenübertreten.

Ich bin ganz auf mich gestellt.

Mrs Shields unterhält sich weiterhin angeregt am Telefon und tut, als gäbe es mich nicht. Ihr feuerwehrroter Regenmantel quietscht, wenn sie die Arme bewegt. Die Haare zu einem eleganten Dutt hochgesteckt, kaut sie auf ihrem Stift herum.

Vielleicht bin ich etwas zu gut verschmolzen.

Ich räuspere mich.

Sie wirft mir einen genervten Blick zu und hebt mahnend einen ihrer manikürten Finger. »Einen Augenblick, Schätzchen. Das ist ein wichtiger Anruf.« Und damit schwenkt sie auf ihrem Bürostuhl herum und kehrt mir den Rücken zu.

Na toll.

Nervös stoße ich den Atem aus. An der Wand prangt stolz die blau-weiße Dreiecksfahne der Mistpoint High. Auf dem Empfangstisch thront ein Foto vom Schulmaskottchen: ein Typ im Möwenkostüm, der während eines Footballspiels ein Schild mit Los, Mistpoint! in die Höhe hält.

Brian hat früher für das Team gespielt und behauptet zu meiner Überraschung, es hätte ihm Spaß gemacht.

Vielleicht war es bloß ein gutes Ventil für seine Wut. Zur Feier meines Highschool-Starts hat er mir ein Seagulls-T-Shirt geschenkt. Ich glaube, es war ein Versuch, meinen »Schul-Spirit« aufzupimpen, doch so öffentlich das Schulteam zu feiern, passt nicht zu meinem Plan, nicht aufzufallen.

Mit einem lauten Klicken landet das Telefon in der Ladestation und Mrs Shields schwenkt mit einem falschen Lächeln auf den Lippen zu mir herum. »So. Wie kann ich dir helfen, Liebes?«

Ich schiebe ihr meinen Stundenplan hin. »Theater habe ich nie belegt. Kann ich das irgendwie ändern?«

Eingehend studiert sie den Zettel. »Mal sehen, was sich da machen lässt.« Doch dann wandern ihre Mundwinkel nach unten. »Zoey Durand?«

Ich hole zischend Luft. »Ja, das bin ich.«

Sie stülpt die Lippen vor und schiebt mir das Blatt wieder zu. »Ich kann dir leider nicht helfen.«

»Aber … ich habe mich nie für Theater angemeldet. Und das ist doch ein Wahl–«

»Du bist neu an der Highschool. Du bekommst, was noch frei ist.«

Ich bezweifle, dass das wirklich stimmt. Dennoch gehe ich mit. »Aber es muss doch noch irgendein anderes Wahlfach mit freien Plätzen geben. Ich nehme alles.«

Sie schüttelt den Kopf. »Für einen Kurswechsel ist es zu spät.« Also, das ist jetzt eine blanke Lüge.

Die erste Glocke läutet.

Scheiße.

In einer Minute muss ich im Klassenzimmer sein.

Ich gebe mich geschlagen, nehme mit einem tiefen Seufzer meinen Stundenplan wieder an mich und rücke den Gurt meiner Tasche zurecht.

»Zoey«, sagt Mrs Shields.

Ohne jede Hoffnung auf Hilfe von ihr schaue ich auf. »Ja?«

Ihr Blick ist plötzlich wutentbrannt. »Sag deinem Vater, er soll bloß auf dem See bleiben. Da gehört er hin.«

Ein eiskalter Schauer rieselt mir über den Rücken.

Dass sie weiß, dass mein Vater vor ein paar Wochen als Decksmann angeheuert hat, überrascht mich nicht. Schließlich hat sich die ganze Stadt darüber das Maul zerrissen. Nicholas Durand wird neun Monaten im Jahr fort sein!

Meinem Vater ist die Entscheidung, auf einem der See-Frachter zu arbeiten, nicht leichtgefallen. Er liebte den Drunk Pelican so sehr, dass er jeden Cent, den er besaß, hineingesteckt hat. Doch ich weiß, dass er Brian, Colt und mich mehr liebt. Er muss gedacht haben, dass es uns das Leben erleichtern würde, wenn er die Stadt verlässt. Doch insgeheim glaube ich, dass es alles nur noch schwerer macht. Keinen Vater in der Nähe zu haben.

Ich muss schließlich schon ohne Mutter klarkommen.

Sag deinem Vater, er soll bloß auf dem See bleiben. Da gehört er hin. Die Worte der Sekretärin klingen mir im Kopf nach und ich habe schon eine patzige Antwort auf den Lippen, schlucke sie jedoch hinunter. Stattdessen nicke ich Mrs Shields nur knapp zu und schlüpfe aus ihrem Büro.