Lovecrafts Schriften des Grauens 12: Red Meadows - Arthur Gordon Wolf - E-Book

Lovecrafts Schriften des Grauens 12: Red Meadows E-Book

Arthur Gordon Wolf

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Beschreibung

Nora Hollisters Leben wird auf den Kopf gestellt. Sie muss erkennen, dass es unterschiedliche Gruppen gibt, die ihren Tod wollen. In lange Kutten gehüllte Kämpfer, die sich Madenjäger nennen, bringen sie zu einem geheimen Rebellenstützpunkt. Hier erfährt Nora die Wahrheit über den X-Virus, finstere Intrigen der UMC und die Weißen Männer. Die Printausgabe des Buches umfasst 210 Seiten.

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Arthur Gordon WolfRed Meadows

In dieser Reihe bisher erschienen:

2101 William Meikle Das Amulett

2102 Roman Sander (Hrsg.) Götter des Grauens

2103 Andreas Ackermann Das Mysterium dunkler Träume

2104 Jörg Kleudgen & Uwe Vöhl Stolzenstein

2105 Andreas Zwengel Kinder des Yig

2106 W. H. Pugmire Der dunkle Fremde

2107 Tobias Reckermann Gotheim an der Ur

2108 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Xulhu

2109 Rainer Zuch Planet des dunklen Horizonts

2110 K. R. Sanders & Jörg Kleudgen Die Klinge von Umao Mo

2111 Arthur Gordon Wolf Mr. Munchkin

2112 Arthur Gordon Wolf Red Meadows

Arthur Gordon Wolf

Red Meadows

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2020 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckTitelbild: Mario HeyerUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierInnenillustrationen: LupusSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-922-5Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

SEX!

Gut. Jetzt, da ich Ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit habe, lassen Sie mich erläutern, dass dies wieder einmal (!) kein Vorwort ist. Es ist ein wichtiger Hinweis. Eine Warnung! Sollten Sie dieses Buch nur wegen seines ansprechenden Covers erworben haben, könnte sich ein klitzekleines Problem ergeben. Möglicherweise war auch die Reihe verantwortlich für den Erwerb oder der Verlag, eventuell sogar der Autor. (Es gibt ja die verrücktesten Beweggründe, ein Buch zu kaufen!)

Wie auch immer: Lassen Sie mich feststellen, dass es sich bei dem vorliegenden Band um den Teil 2 von Madenjäger handelt. Wenn Sie also noch nicht Teil 1 MR MUNCHKIN gelesen haben, so lassen Sie sofort alles stehen und liegen und besorgen sich (bei dem Buchhändler Ihres Vertrauens – nur notgedrungen per Online-­Bestellung) den Anfang der Geschichte. Ansonsten dürften in der ohnehin schon verrückten Geschichte um Nora Hollister einfach zu viele Fragezeichen auftauchen. Okay, ich mag es schon, wenn meine Leser teilweise verwirrt, argwöhnisch oder konsterniert meiner Storyline folgen, doch was zu viel ist, ist zu viel! Man sollte es schließlich mit dem Enigmatischen nicht übertreiben. Außerdem entgingen Ihnen so auch Noras Erlebnisse mit ihrer besonderen (sprechenden!) Katze Mr ­Munchkin. Und wer kann Katzen schon widerstehen? Ich jedenfalls nicht. Sie fragen sich die ganze Zeit über, was dieser Schnösel hier faselt, da Sie SELBSTVERSTÄNDLICH Mr Munchkin gelesen haben. Okay, dann entschuldige ich mich an dieser Stelle für meine überflüssigen Ausführungen (jedenfalls für so schlaue Kerlchen, wie Sie es einer sind) und wünsche gute Unterhaltung mit Teil 2 Red Meadows. Begleiten Sie Nora Hollister auf ihrem weiteren Weg ins Zentrum der Untergrundbewegung, ihrer Wandlung von Nora zu Chandra und ihrem gemeinsamen Kampf mit den Madenjägern gegen Weiße Männer, korrupte Sweeper, durchgeknallte Replikanten und der alles dominierenden Thannag-Shi. Die Wege, die zur Veröffentlichung dieser beiden Bücher führten, waren fast ähnlich abenteuerlich wie Noras Odyssee; daher kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, wann wir uns wieder begegnen werden. Nur so viel: Die U.M.C.-Geschichte ist noch längst nicht zu Ende erzählt. Ich jedenfalls werde daran arbeiten, dass sich in nicht mehr allzu ferner Zukunft ein weiteres Kapitel öffnen wird. Thannag-Shi, Jorr Ze-Than! In diesem Sinne: Achten Sie auf seltsame Männer in weißen Overalls und sprechende Katzen. Und trauen Sie NIEMANDEM!

Arthur Gordon Wolf, im Juli 2019

- 12 -

Eine Hand umfasste ihren Oberarm und rüttelte sie leicht. „Aufwachen, Miss Nora! Wir sind gleich da.“

Unwirsch blinzelte sie in Straws hageres Gesicht. „Nora reicht vollkommen“, grummelte sie. „Und hören Sie endlich auf, mich so zu schütteln! In den vergangenen Stunden wurde ich geschlagen, gezogen und gezerrt. Ich musste vor verrückten Killern und noch verrückteren Replikanten flüchten und bin halbe Schrottberge auf meinem Hintern hinabgerutscht. Ich fühle mich, als ob kein einziger Knochen mehr am richtigen Platz wäre. Hören Sie also auf damit, so an mir zu ziehen! Für die nächsten zweihundert Jahre möchte ich am liebsten in einem warmen Salzwassertank liegen und nur noch entspannen.“

Der Hüne hob abwehrend seine Hände. „Entschuldigung, falls ich zu grob gewesen sein sollte. Ich wollte Ihnen nur mitteilen …“

„Dass wir angekommen sind, ja, ja, hab ich verstanden“, vollendete Nora den Satz. Sie rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen und starrte dann durch das zerkratzte Fenster nach draußen.

Auch wenn sie von den unheimlichsten Dingen geträumt hatte, so war sie sich sicher, nur kurze Zeit geschlafen zu haben. Die bizarren Trugbilder waren sogar ein Indiz für ihre Annahme; Träume entstanden nur während der sogenannten REM-Phase, einer Art Dämmerzustand kurz vor dem Erwachen. Für einen Tiefschlaf hatte der kurze Flug nicht ausgereicht.

Sie wischte mit der Hand über das dicke Plexiglas, doch die Sicht wurde dadurch kaum besser. Draußen herrschte noch immer tiefste Nacht. Das sanfte Vibrieren des Shuttles und das höhere Dröhnen der Plasmakonverter zeigten ihr jedoch, dass sie beinahe auf der Stelle schwebten und sich nur noch in der Vertikalen bewegten. Es ging eindeutig abwärts.

Nora presste ihre Nase dichter an das Fenster, wobei sie zusätzlich mit beiden Händen das schwache Licht der Kabine abschirmte. Endlich konnte sie unter sich einen fahlen Lichtkreis ausmachen. Die Scheinwerfer erhellten ein Stück Feld oder Wiese, das teilweise von einem krummen Holzzaun abgegrenzt wurde. Am linken Rand konnte man den Schemen eines flachen, lang gezogenen Gebäudes erkennen. Ein Lager? Oder eine Fabrik?

Als das Shuttle tiefer sank, erspähte Nora weitere Bauten, wobei vier von ihnen eine Art Rechteck mit Innenhof bildeten. Besonders auffallend aber waren zwei hohe, runde Türme, die etwas abseits der Hauptgebäude standen. Da sie sich jenseits des Lichtkegels befanden, konnte Nora nicht erkennen, woraus sie bestanden oder welchen Zweck sie erfüllten. Auch wenn eine entsprechende Festungsmauer fehlte und keine Zinnen erkennbar waren, gefiel ihr der Gedanke, eine mittelalterliche Burg zu betreten. Auf dem Rücken eines Drachen wäre die Ankunft zwar standesgemäßer gewesen, doch befand sie sich nicht in einer Position, um wählerisch zu sein. Wenn ihre kleine wilde Reise schließlich in einem der sieben Reiche von Arrabor endete, so wollte sie sich nicht beschweren. Hier kannte sie sich aus. Es war ja alles nur ein Spiel. Und wenn es ihr zu langweilig oder zu gefährlich wurde, nannte sie einfach ihr Codewort oder nahm die Ray-Ban ab. Und alles wäre …

„Miss … äh … Nora?“, unterbrach Straw ihre Gedanken. „Wir wären dann so weit.“ Er war diesmal in gebührendem Abstand von ihr stehen geblieben und wies auf die geöffnete Ausstiegsluke. „Zeit zum Ausbooten.“

Vergeblich versuchte sie, den hageren Kapuzenmann in die Völker und Rassen von Arrabor einzuordnen.

Von wegen: Alles nur ein Spiel!

Mit einem Stöhnen erhob sie sich von der Pritsche. Ihre Beine gaben aber sofort nach und sie musste sich an einer Querstrebe festhalten, um nicht sogleich wieder nach hinten zu fallen.

Straw stürzte sofort zur Hilfe, wagte es aber selbst jetzt nicht, sie zu berühren. „Alles in Ordnung, äh … Nora?“

„Schon gut, alles kein Problem“, entgegnete sie ungehalten. „Mir ist nur während der Fahrt ein Bein eingeschlafen.“ Tatsächlich spürte sie eine unendliche Müdigkeit in sich aufsteigen. Als sie den ersten zögernden Schritt machte, fühlte sie sich auf einen Planeten mit fünffacher Schwerkraft versetzt. Zusätzlich schmerzte ihr Körper an Stellen, die sie nicht einmal benennen konnte.

Spiel? Oh ja, sie befand sich in einem Spiel. Und sein Name lautete Wirklichkeit.

Mühsam kämpfte sie sich vorwärts. Am Ausstieg reagierte sie zu langsam und stieß sich den Kopf an.

„Scheiß Spiel!“, fluchte sie und torkelte, sich die Stirn reibend, die Rampe hinunter.

Ihr Empfangskomitee bestand aus niemand anderem als Mr Leary. Der kleine Mann lächelte ihr entgegen, als ob er ihren Fluch nicht gehört hätte.

„Ah, da sind Sie ja, meine Liebe!“, rief er erfreut. „Ich hoffe, Sie hatten eine einigermaßen angenehme Reise.“

Nora unterdrückte Lästerungen, die selbst einem Kanalarbeiter die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte, und murmelte stattdessen etwas Unverständliches.

Leary, nun ganz der galante Gastgeber, nahm auch dies offenkundig als positive Bestätigung auf. Er vollführte eine übertriebene Verbeugung, wobei sein linker Arm in Richtung der nahen Gebäude wies und sagte: „Willkommen auf Red Meadows, meine Liebe! Eine der letzten Enklaven, die frei ist vom Joch der großen Konzerne.“

Noras Verstand war viel zu benebelt, um den Sinn seiner Worte genau zu erfassen. Als sie erneut strauchelte, gab ihr Leary mit erstaunlicher Kraft Halt. Diesmal wehrte sie sich nicht gegen die Hilfe.

„Kommen Sie, meine Liebe“, hörte sie ihn säuseln. „Sie müssen sich erst einmal so richtig ausruhen. Die vergangenen Stunden dürften höchst anstrengend für Sie gewesen sein.“

Anstrengend?, dachte sie. Das war in der Tat die Untertreibung des Jahrhunderts. Noch immer wehrte sich jede Zelle ihres Körpers dagegen, diesen Albtraum überhaupt als Realität zu akzeptieren. Aber Ausruhen klang gut. Höchst verlockend.

„Wenn ich erst einmal richtig ausgeschlafen habe, werden die Dinge in einem ganz anderen Licht erscheinen. Und vielleicht … vielleicht wird sich herausstellen, dass ich doch alles nur geträumt habe.“

Nora nahm kaum noch wahr, wie sie in eines der Häuser geführt, eine Treppe hinaufgeleitet und in ein Zimmer gebracht wurde. Ein Mädchen oder doch schon eine junge Frau führte sie zu einem großen mit Holzschnitzereien verzierten Bett, das so auch in Arrabor hätte stehen können.

Arrabor!, dachte sie sehnsuchtsvoll. Also doch!

Nora war eingeschlafen, bevor ihr Kopf das riesige mit Daunen gefüllte Kopfkissen berührt hatte.

- 13 -

Als sie erwachte, war es noch immer dunkel. Oder schon wieder? Es dauerte eine ganze Weile, bis sie den Mut fand, aufzustehen. Alles um sie herum war fremd. Wo zum Teufel befand sie sich nur? Dies hier war eindeutig nicht ihre Wohnung.

Ein matter gelblicher Lichtschimmer erfüllte das Zimmer und warf gespenstige Schatten an die Decke. Sie erkannte massive Naturbalken über sich, so wie es in Häusern der Brauch gewesen war, die man vor vierhundert oder mehr Jahren errichtet hatte. War sie etwa in einem VR-­Adventure eingeschlafen?

Auf der Suche nach der Lichtquelle drehte sie sich zur Seite. Auf dem hölzernen Nachttisch stand nicht etwa eine blakende Kerze, sondern ein gedimmter Xenon-Strahler. Was suchte ein solches Ding inmitten dieses mittelalterlichen Ambiente?

„Entweder hat dieses Adventure einen Bug, oder ich liege hier tatsächlich in einem riesigen Bett inmitten eines Raums mit unsinnig hohen Wänden und einer Decke, die aus roh behauenen Eichenstämmen zu bestehen scheint?!“

Sie fand den Regler der Lampe und schob ihn auf Maximum. Das unscheinbare Ding explodierte förmlich in einem gleißenden Lichtball. Wie eine Miniatur-Sonne fraß sie alle Schatten auf oder verdrängte sie in die hintersten Winkel des Raumes.

Das Zimmer war nicht nur sehr hoch, sondern auch überaus weitläufig. Nora schätzte, dass mehr als die Hälfte ihrer Wohnung hier Platz gefunden hätte. Neben dem wuchtigen Bett führte ein dicker mit Blumenornamenten geschmückter Läufer zu einer Art Anrichte, hinter der ein hoher ovaler Spiegel thronte. Teile des Lichts wurden von dort wieder in ihre Richtung reflektiert, wodurch sich die Helligkeit im Zimmer noch weiter steigerte.

Vor der Anrichte erkannte sie einen Stuhl mit hoher Rückenlehne, und auf dessen geschwungenen Armlehnen sorgsam gefaltete Kleidungsstücke, die jedoch nicht ihre waren. Sie schwang nun endlich die Beine aus dem Bett und bemerkte zu ihrer Verwunderung, dass sie ein langes, weißes Rüschennachthemd trug. Wer hatte ihr dieses antike Gewand angezogen? Und – was sie noch viel mehr interessierte – wer hatte sie zuvor entkleidet? Ein Erinnerungsblitz jagte beinahe schmerzhaft durch ihre Glieder. Sollte etwa dieser grinsende Gnom seine fettigen Wurstfinger an sie gelegt haben? Wie war noch sein Name gewesen? Sirius? Sushi? Nein, Sunil. Sunil Gerardo Leary. Sie malte sich soeben genüsslich aus, wie sie dem Frevler jeden einzelnen Finger und noch so einiges mehr abschneiden würde, als ein weiterer Erinnerungsfetzen ihr Bewusstsein durchdrang. Der Schemen einer gesichtslosen jungen Frau. Nicht Leary, sondern diese Unbekannte, die sie in ihr Zimmer geführt hatte. „Okay“, schnaufte sie, „wie’s scheint, bist du noch mal mit einem blauen Auge davongekommen, alter Grinse-Mönch.“

Sie stand auf, wartete jedoch ab, ob ihre Beine die Last auch tragen konnten. Noch immer spürte sie diverse Prellungen an ihrem Körper, doch zum Glück blieben jegliches Zittern oder Schwindel aus.

„Okay, dann machen wir uns mal auf Erkundungs-Tour.“

Vorsichtig schlurfte sie zu einem angrenzenden Fenster hinüber, dessen Flügel bis hinunter zum Boden reichten. Beinahe hätte sie „LOUIS, bitte öffnen!“ gerufen; stattdessen bewunderte sie den kupfernen Schließmechanismus, der in Form eines gewundenen Eichenblattes gestaltet war. Nora zog es zurück, und sogleich öffnete sich der hohe Flügel des Fensters. Ein warmer, seltsam würziger Nachtwind umspielte sanft ihre Haut. Neugierig trat sie auf eine Art Balkon hinaus, der allerdings kaum breiter als ein Holo-Book war. Sie überblickte einen länglichen Innenhof, der aus unterschiedlichsten Gebäudeteilen gebildet wurde. Am hinteren linken Ende des Rechtecks verbreitete eine Halogenlampe einen blassen Schimmer. Unter der Lampe befand sich ein grob zusammengebauter Schuppen, dessen Tor halb offen stand. Etwas großes Metallisches lugte dahinter hervor. Nora kannte die Geräte zwar nur aus diversen Holoscreen-Dokus, doch sie war sich sicher, dort die Riesenschaufel einer Ernte­maschine zu erblicken. Sie erinnerte sich jetzt auch wieder an die dunklen Gebäudeschemen, die sie bei ihrer Ankunft von oben gesehen hatte. Dies hier war keine Fabrik oder ein Warenlager. Das Kapuzen-Team hatte sie auf eine waschechte Farm entführt.

„Eine Farm mit Spitzennachthemden, mechanisch zu öffnenden Fenstern und modernsten Hyper-Crop-­Erntemaschinen.“ Sie schüttelte den Kopf. Bei diesen verrückten Kapuzen-Heinis schien offenbar so einiges komplett durcheinanderzulaufen.

Sie sog die milde Luft tief in ihre Lunge. Das, was ihr zuvor als würzig erschienen war, hatte plötzlich einen eher wilden, rohen Charakter angenommen. Seltsam. Es roch beinahe so streng wie in den Dschungeln von ­Xilbar, einem der sieben Reiche von Arrabor. In der virtuellen Spielewelt hatte es immer so gerochen, wenn sich große Beißer in der Nähe befanden. Wilde Fleischfresser, die wie eine Mischung aus Tiger und Pferd aussahen.

Sie musste lächeln. Beißer, die auf einer Farm gehalten wurden? Wohl kaum. Als sie das Fenster wieder schloss, zögerte sie kurz.

„Vorsicht, Mädchen!“, rief ihr eine innere Stimme zu. „Diesen Feuerhütern ist einfach alles zuzutrauen.“

Die nächste Überraschung erwartete sie bei der Anrichte. Zuerst konnte sie sich keinen Reim daraus machen, was eine hohe Karaffe mit Wasser und eine leere Porzellanschüssel dort zu suchen hatten. Wenn dies dort Trinkwasser sein sollte, so fehlte eindeutig ein Glas. Oder trank man hier auf dem Land etwa aus riesigen Schüsseln?

Erst als sie neben der Schüssel ein Stück Seife und ein überraschend flauschiges Handtuch entdeckte, ging ihr ein Licht auf. „Xenon-Strahler und Hyper-Crops, aber kein fließendes Wasser!“, prustete sie. Das wurde ja immer besser.

Nora wusch sich, so gut es die Umstände zuließen, und begutachtete dann die Kleidung auf dem Stuhl. Einfache Unterwäsche, ein langer hellbrauner Faltenrock aus Baumwolle und eine blau-gestreifte Bluse mit schmalem Stehkragen. Alles war gebügelt und in tadellos sauberem Zustand. Sie seufzte. Die Sachen konnten es zwar nicht mit ihrem Jill DaCosta-Ensemble aufnehmen, doch immerhin hatte man ihr keine dieser hässlichen Kutten hingelegt.

Nachdem sie ihr Haar ausgiebig mit einer Bürste in Form zu bringen versucht hatte, warf sie einen prüfenden Blick in den Spiegel. Ohne Make-up und immer noch etwas verschlafen, sah sie zwar nicht gerade wie die Ballkönigin persönlich aus, doch ihre Mutter würde sie wohl erkennen. Auf den zweiten Blick zumindest, dachte sie.

Aus Gewohnheit wollte sie wenigstens eine Spur Lippenstift auflegen und griff nach ihrer Telli-Bag. Aber die Tasche war nicht da.

Sie sprang auf und durchsuchte jeden Winkel ihres riesigen Schlafgemachs; sie klopfte sogar die Wände nach verborgenen Schränken ab, doch das Resultat blieb dasselbe. Die Feuerhüter hatten doch tatsächlich ihr wichtigstes Überlebenswerkzeug gestohlen!

„Dieses diebische Pack!“, rief sie empört aus. „Wenn ihr meiner kleinen Sky auch nur ein virtuelles Härchen gekrümmt habt, dann Gnade euch Gott!“

Schnaubend vor Zorn streifte sie sich ein Paar weicher Mokassins über und stürmte aus dem Zimmer.

Als sie den Gang betrat, wurde ihr Elan allerdings sofort wieder gebremst. Sie kam aus einem lichtdurchfluteten Raum in nahezu vollkommene Dunkelheit. Nora hatte das Gefühl, vor eine unsichtbare Mauer gerannt zu sein. Notgedrungen blieb sie stehen und wartete ab, bis sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten. Endlich erspähte sie einen schwachen Schimmer, der vom Ende des schmalen Flurs her drang. Deutlich langsamer als geplant, steuerte sie auf die Lichtquelle zu.

Sie erreichte schließlich das obere Ende einer Treppe. An einer grob verputzten Wand entlang führten die Stufen in gerader Linie hinab ins Erdgeschoss. Das Licht kam eindeutig von unten.

Dort also hatte sich das Räubergesindel versteckt. Nora ergriff das Geländer und stampfte mit neu erwachtem Kampfeseifer auf ihre Widersacher zu. In ihrem Zorn machte sie sich keinerlei Gedanken darüber, wie es ihr ohne Waffe überhaupt gelingen wollte, drei oder mehr Personen zu überwältigen.

Unten angekommen, sah sie, dass das Licht aus einem Raum rechts von ihr drang, dessen Tür halb offen stand. Ohne zu zögern, stürmte sie in das Zimmer, nur um festzustellen, dass es vollkommen leer war. Bis auf einen langen massiven Holztisch, um den sich eine Bank und mehrere Schemel gruppierten, sowie einige einfache Hängeschränke an den Wänden konnte sie nichts entdecken. Das Licht kam von einem weiteren Xenon-­Strahler, der auf dem Tisch stand.

Nora spürte, wie ihr Adrenalin begierig nach einem Ziel suchte. Sie war wie ein Damm, der kurz vor dem Bersten stand. Das Zeug musste raus aus ihr. Wenn sie nicht bald etwas Lebendiges anträfe, würde sie wohl damit anfangen, das Mobiliar zu zertrümmern.

Glücklicherweise stieg ihr in diesem Moment ein besonderer Duft in die Nase. Es war eine verführerische Mischung aus gebratenem Fleisch, geschmorten Pilzen, Knoblauch und unzähligen fremden Gewürzen. Schnuppernd hielt sie nach dem Ursprung jener köstlichen Woge Ausschau und entdeckte erst jetzt eine Tür, die zu einem angrenzenden Raum des Hauses führte.

Nora preschte vor und fand sich mit einem Mal in einer riesigen Küche wieder. Überall hingen Kellen, Töpfe und getrocknete Kräuterbüschel von der Decke. Auf mehreren mit Holz oder Kohle befeuerten Herden köchelten die unterschiedlichsten Speisen vor sich hin. Die Ausdünstungen der verschiedenen Gerichte drohten ihre Sinne zu überfordern. Nie zuvor hatte sie etwas Vergleichbares wahrgenommen. Trotz aller Bemühungen von Seiten der Food-Designer existierten kein Synth-Steak und keine Synth-Soße, die auch nur annähernd verführerisch geduftet hätten. Wie muss das dann erst schmecken?, überlegte sie.

Mit einem gebührenden Sicherheitsabstand zu den heißen Platten schob sie sich weiter in den mit nebligem Wasserdampf verhangenen Raum hinein.

Betrachtete man die Menge und Größe der diversen Töpfe und Pfannen, so wurden hier eindeutig mehr Menschen als nur das ihr bekannte Kapuzen-Trio verköstigt. Das ganze Zeug hätte beinahe für die gesamte Kantine bei Telli-Bags gereicht. Der Gedanke brachte sie zu ihrem eigentlichen Anliegen zurück.

Nora umrundete eine Ablage, auf der sich ein Riesenhaufen noch ungeschälter Kartoffeln türmte und stieß endlich auf Menschen. Es waren gleich zwei Personen, die mit geschickten Bewegungen ihrer Arbeit nachgingen. Nur wenige Meter vor ihr hüpfte ein dürrer Junge hin und her, der kaum älter als 16 Jahre zu sein schien. Ganz in Weiß gekleidet, allerdings mit verräterisch braunen Soßenspritzern bedeckt, rührte er abwechselnd in mindestens fünf verschiedenen Töpfen, schmeckte zuweilen ab und streute dann diverse Kräuter und fein gehacktes Gemüse hinzu. Weiter hinter ihm stand eine Frau über eine lange Theke gebeugt. Da sie Nora den Rücken zuwandte, konnte sie nicht erkennen, was sie tat.

Egal, dachte sie. Showtime!

Sie trat hinter ihrer Deckung (einem dicken Räucherschinken) hervor und rief: „Wo verdammt noch mal ist meine Telli-Bag?“

Während der Junge vor Schreck fast seinen Rührlöffel fallen ließ und sie verwirrt anstarrte, drehte sich die Frau dahinter lächelnd um. Sie trug ebenfalls weiße Kleidung und Schürze sowie ein weißes Kopftuch, aus dem nur ein dicker brauner Haarzopf herauslugte. Nora schätzte ihr Alter auf Mitte, Ende 20. Etwas an diesem Gesicht kam ihr merkwürdig vertraut vor.

„Oh, wie schön!“, rief die Köchin. „Sie sind endlich wach. Du meine Güte! Sie müssen ja einen Riesenhunger haben, nicht wahr?“

Die Frage brachte Nora vollkommen aus dem Konzept. Bislang war es ihr nicht aufgefallen, doch nun darauf angesprochen, empfand sie tatsächlich einen nagenden Hunger. Wann hatte sie zum letzten Mal feste Nahrung zu sich genommen? Beim heiligen Billy Gates, sie hätte locker ein halbes Schwein verdrücken können!

„Ja … äh … aber das ist nicht das Problem“, gab sie stotternd von sich. Derweil stürmte die lächelnde Fremde weiter auf sie zu. Als Nora erkannte, was die Köchin in ihrer Rechten hielt, wich sie zwei Schritte zurück. Als Machete hätte das Messer bei einer Expedition durch die Dschungel von Xilbar gute Dienste geleistet. Nervös sah sie sich nach einer geeigneten Abwehrwaffe um. Sie reckte sich gerade nach einer langstieligen Pfanne über sich, als die Frau offenbar ihr bedrohliches Arbeitsgerät bemerkte. Sie blieb stehen und brach in ein schallendes Gelächter aus. „Ratten und Schimmelpilz!“, prustete sie. Anscheinend fluchte sie wohl mit den Namen der gefürchtetsten Feinde ihres Berufsstandes. „Ich muss ja ausgesehen haben wie eine wahnsinnige Kannibalin!“

Nora widersprach ihr nicht. Immer noch halb auf die schützende Pfanne schielend, beobachtete sie, wie die Köchin das wuchtige Messer an der Schürze abwischte, um es dann in einer Lederscheide an ihrem Gürtel verschwinden zu lassen. Viel lieber hätte sie gesehen, wie sie das Mordinstrument weit von sich geschleudert hätte.

Die junge Frau wischte sich nun auch ihre Finger an der Schürze ab und streckte ihr dann eine sehr feingliedrige Hand entgegen.

„Ich heiße Lucie“, sagte sie. „Freut mich sehr, dich auf Red Meadows begrüßen zu dürfen.“

Nora ging der entwaffnenden Freundlichkeit erneut ins Netz. Fast automatisch ergriff sie die Hand und sagte: „Freut mich ebenfalls, Lucie. Ich bin Nora. Nora ­Hollister.“

Lucie schüttelte leicht den Kopf. „Nora reicht vollkommen. Hier auf Red Meadows kennen wir keine Nachnamen.“ Sie wies in Richtung des Vorraums. „Komm! Ich bring dir erst einmal eine Kleinigkeit, die dir wieder so richtig auf die Beine hilft.“

Nora ließ sich von ihr einige Meter führen, blieb dann aber abrupt stehen. „Meine Tasche!“, rief sie aus. „Was habt ihr mit meiner Telli-Bag gemacht?“

Lucie strahlte sie selbst jetzt weiter ungerührt an. Nora fiel auf, dass ihr Gegenüber zwei verschiedenfarbige Augen besaß; eines war hellbraun, das andere von einem irisierenden Grün.

„Die schöne Tasche?“, entgegnete die junge Frau. „Keine Angst, der ist nichts geschehen. Wir mussten sie nur an einen sicheren Ort bringen. Aber das wird dir Sahil viel besser erklären können.“

„Wieso musste sie an einen sicheren Ort gebracht werden?“, fragte Nora. „Traut ihr euch etwa untereinander nicht? Und wer ist dieser Sahil?“

Lucie lachte wieder auf ihre ansteckende Weise und fasste sie leicht an der Schulter. „Oh, Nora! Du platzt ja beinahe vor lauter Fragen! Komm! Setzt dich erst einmal an den Tisch und lass es dir schmecken! Danach bringe ich dich zu Sahil. Einverstanden?“

Nora bedachte die Köchin mit einem skeptischen Blick, fügte sich aber schließlich in ihr Schicksal. Zudem verlangte ihr Magen mittlerweile schmerzend nach Nahrung.

Die Kleinigkeit, die Nora vorgesetzt wurde, bestand aus einem großen Teller dicker Bohnensuppe, einem Bratenstück mit Pilzen, Kartoffelbrei, Mais und mindestens einem Liter Soße, einem Kanten Weißbrot sowie einem gewaltigen Stück Blaubeerkuchen. Als Getränk goss ihr Lucie eine weiße Flüssigkeit in ein Glas.

Nora runzelte die Stirn. „Aber das ist ja …“

„Milch, ganz genau“, antwortete die emsige Köchin. „Ganz frisch und leicht gekühlt, so, wie sie am besten schmeckt.“

„Und die ist wirklich echt?“, fragte Nora. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals echte Milch getrunken zu haben. Das, was sich in diversen Joghurts und Quarkspeisen befand, war ausnahmslos synthetisch hergestellt worden.

Lucie nickte ihr zu. „Probier‘s doch einfach.“

Nora konnte nicht sagen, ob es an ihrem ausgezehrten Zustand lag, doch das kühle Getränk schmeckte besser als alles, was sie in den vergangenen Jahren gekostet hatte. Diese Milch musste einfach echt sein; kein noch so ausgetüftelter Geschmacksverstärker reichte auch nur annähernd an dieses Sinneserlebnis heran.

Lucie hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht erneut loszuprusten. „Nicht schlecht, oder?“

„Nicht schlecht? Das Zeug schmeckt einfach grandios!“ Auffordernd hielt Nora ihr leeres Glas in die Höhe. „Kann ich noch etwas davon haben?“

Schmunzelnd schenkte Lucie ihr nach. „Vergiss aber nicht die Suppe und das Fleisch!“, sagte sie. „Es wär doch zu schade, wenn es kalt würde.“

Gehorsam brach sich der Gast ein Stück Brot ab und begann von dem Eintopf zu kosten. War schon die Milch ein Geschmackserlebnis gewesen, so erwartete sie nun geradezu ein Feuerwerk. Unzählige unbekannte, aber gleichsam verführerische Aromen und Düfte bestürmten Gaumen und Nase. Nora war, als ob sie förmlich durch die Suppe hindurchtauchen würde.

„Uhhglaublisch!“, nuschelte sie. „Jetzt spür ich erst, dass ich einen ganzen Tag durchgeschlafen habe.“

„Einen Tag?“, erwiderte Lucie. „Es waren sogar zwei. Du bist schon vorgestern in Red Meadows eingetroffen.“

Nora ließ vor Schreck ihren Löffel fallen.

---ENDE DER LESEPROBE---