Luba und andere Kleinigkeiten - Selma Mahlknecht - E-Book

Luba und andere Kleinigkeiten E-Book

Selma Mahlknecht

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Beschreibung

Luba ist humorvoll, sarkastisch, ein wenig überdreht – und vor allem völlig durcheinander. Sie ist schwanger und weiß nicht so recht, ob ihr das ins Konzept passt. Ihrem Lebensgefährten Horst erzählt sie nichts davon, sie macht sich ihre eigenen Gedanken. Die großen Pläne, die sie für ihr Leben und ihre Karriere als Radiomoderatorin hatte, sieht sie schon an sich vorbeiziehen. Dennoch freundet sie sich allmählich mit dem Gedanken an, dass sich Bernadette – so nennt sie ihr Baby – in ihr Leben schleicht. Selma Mahlknecht zeichnet in der ihr eigenen präzisen Sprache die Überforderung der Hauptfigur nach. Luba reflektiert und kommentiert den Zustand der Welt ebenso wie ihre eigene Rolle als Frau, trifft auf besondere Mitmenschen und wächst an ihren Schwächen. Letztlich geht es in Mahlknechts Roman aber um nichts Geringeres als die Liebe.

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Selma Mahlknecht

Luba undandere Kleinigkeiten

Roman

 

Edition Raetia

Zum Buch

Luba ist humorvoll, sarkastisch, ein wenig überdreht – und vor allem völlig durcheinander. Sie ist schwanger und weiß nicht so recht, ob ihr das ins Konzept passt. Ihrem Lebensgefährten Horst erzählt sie nichts davon, sie macht sich ihre eigenen Gedanken. Die großen Pläne, die sie für ihr Leben und ihre Karriere als Radiomoderatorin hatte, sieht sie schon an sich vorbeiziehen. Dennoch freundet sie sich allmählich mit dem Gedanken an, dass sich Bernadette – so nennt sie ihr Baby – in ihr Leben schleicht.

Selma Mahlknecht zeichnet in der ihr eigenen präzisen Sprache die Überforderung der Hauptfigur nach. Luba reflektiert und kommentiert den Zustand der Welt ebenso wie ihre eigene Rolle als Frau, trifft auf besondere Mitmenschen und wächst an ihren Schwächen. Letztlich geht es in Mahlknechts Roman aber um nichts Geringeres als die Liebe.

Zur Autorin

Selma Mahlknecht, geboren 1979 in Meran, lebt in der Schweiz. Studium Drehbuch und Dramaturgie an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. Bei Edition Raetia u.a. „Luba und andere Kleinigkeiten“ (2016) „Auf der Lebkuchenstraße“ (2013) „Helena. Roman“ (2010, ausgezeichnet mit dem Sir-Walter-Scott-Preis), „Es ist nichts geschehen. Roman“ (2009, übersetzt ins Schwedische), „Im Kokon. Erzählung“ (2007).

© Edition Raetia, Bozen 2016

Umschlag: Dall’O & Freunde

Umschlagbild: Maria Gapp

Druckvorstufe: Typoplus, Frangart

Lektorat: Senta Wagner, Wien

Korrektur: Ex Libris Genossenschaft, Bozen

ISBN print: 978-88-7283-571-5

ISBN ebook: 978-88-7283-584-5

Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.raetia.com

Fragen und Anregungen richten Sie bitte an [email protected]

Mütter! ’s klingt so wunderlich!

Goethe, Faust II

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Dienstag, 13. Juni

22:00 Uhr

Da sind sie, die zwei Streifen. Ich habe dumpf damit gerechnet und doch sitze ich jetzt wie gelähmt auf dem Klodeckel. Kein Gedanke, kein „oh nein“, kein „was jetzt?“. Das Erste, was mir nach einer Weile einfällt, ist ein Klischee. Frau mit gespreizten Beinen auf Liege in schneeweißem Zimmer. Arzt, der nicht recht weiß, wie er es sagen soll. „Gratuliere, Sie sind …“ oder doch eher: „Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass …“? Ich lege den Schwangerschaftstest weg und stehe auf. Im Spiegel über dem Waschbecken sieht mein Gesicht blass und müde aus. Ich schaue tief in meine geröteten Augen und sage: „Leider muss ich dir gratulieren.“

Noch weiß keiner davon. Noch sind wir ganz unter uns. Der Punkt und ich. Das Stäubchen. Noch ist es nicht viel mehr als eine Zellanhäufung. Aber es brodelt. Ein kleiner Urknall ist zugange in meinem Bauch, ein neues Universum entsteht da drinnen zwischen den Säften, die herumgeschoben werden. Ich werde umgebaut. Innerlich restrukturiert. Auf Mutter getrimmt. Bald werden mich die Hormone in eine Wahnsinnige verwandelt haben. In einen gluckegewordenen Beschützerinstinkt. Milchpumpe und Wegwerfwindeln werden meine Welt sein. Ich werde keine Wahl mehr haben. Aber das Schlimmste ist: Auch in den Augen der anderen werde ich nur noch Mutter sein. Kein weltgewandter Schöngeist mehr, der beredt über Politik, Kunst und Zeitgeschehen diskutiert, sondern die Gefangene einer Isolationshaft, in der sich alles nur noch um die Ausscheidungen eines Säuglings dreht.

Ich will es noch für mich behalten. Will mit meiner Angst noch eine Weile allein sein. Noch ein bisschen normales Leben spielen, wissend, dass damit ein für alle Mal Schluss ist. Ich will mich allein herantasten an diesen winzigen Stern, der in mir aufzuglühen beginnt. Will keine guten Ratschläge der anderen, die plötzlich alles besser wissen werden. Noch gehöre ich mir allein. Noch gehört es mir allein. Heute Nacht werde ich nicht schlafen.

Mittwoch, 14. Juni

8:00 Uhr

Habe geschlafen wie ein Murmeltier. Bin am Morgen noch eine Viertelstunde wach im Bett gelegen und habe darauf gewartet, dass mir schlecht wird. Nichts. Ich fühle mich noch genauso an wie in meinem alten Leben. Irgendwie enttäuschend.

15:00 Uhr

Im Laufe des Tages strenge Selbstbeobachtung. Ich blicke öfter nach Kinderwagen. Als ich im Café sitze und ein Baby zu schreien beginnt, fühle ich mich ertappt. Und in der Straßenbahn denke ich über Namen nach. Momentaner Favorit: Bernadette.

23:24 Uhr

Das mit Bernadette müssen die Hormone sein. Jetzt klingt der Name abstrus. Ich verwerfe ihn dennoch nicht, sondern konserviere ihn als Mahnmal.

Donnerstag, 15. Juni

18:00 Uhr

Wie soll ich es Horst sagen? Sagen muss ich es ihm. Ob er sich freut? Ob er mich in den Arm nimmt? Oder ob er nur einfach verdattert dasteht, ohne ein Wort? Sich vielleicht schweigend abwendet, die zitternden Hände ineinandergekrallt? Und was soll ich dann tun? Am besten, ich sage noch nichts. Ein paar Tage warte ich noch ab. Bis dahin kann ich mir überlegen, wie ich es ihm beibringe.

Schon seltsam. Ich komme mir vor wie jemand, der etwas ausgefressen hat. Dabei hat Horst mindestens ebenso viel Anteil daran wie ich. Trotzdem ist mir, als trüge ich allein die ganze Last. Und ist es etwa nicht so? Wer läuft denn jetzt durch die Hitze mit dem Pünktchen im Bauch? Horst setzt sich an die Bar, bestellt ein Bier und denkt sich nichts dabei. Ich hingegen kaufe Karotten und denke an das Pünktchen, ich esse ein Eis und denke an das Pünktchen, ich wasche mir die Haare und denke an das Pünktchen, ich kann überhaupt nichts mehr tun, ohne daran zu denken. Ich bin Mutter, unwiderruflich. Mein Blut kreist in neuen Bahnen, meine Zellstruktur wird aufgemischt, mein Inneres gehört mir nicht mehr allein. Was ich esse, trinke, riskiere, riskiere, trinke und esse ich für zwei. Und bei den nächsten Kopfschmerzen sollte ich mir den Beipackzettel der Tabletten ganz genau anschauen. Horst freilich kann sich Zeit lassen. Er hat noch Monate, um sich umzustellen. Ich aber bin schon mittendrin.

Freitag, 16. Juni

7:12 Uhr

Habe mich zum ersten Mal übergeben. Bin noch unsicher, ob das die Morgenübelkeit, meine Panik davor oder der Lachs von gestern Abend war.

7:51 Uhr

Gerade kommt Horst von der Toilette zurück. Es war der Lachs.

8:03 Uhr

Vielleicht war es doch nicht der Lachs. Horst hat einen schwachen Magen. Ich hingegen verkrafte sonst alles. Ich sollte vielleicht wirklich zum Arzt gehen. So ein Billigtest beweist noch gar nichts. Aber da fällt mir die Klischeeszene wieder ein. Und wenn alles ein falscher Alarm war, hat sich die Aufregung nicht gelohnt. Andererseits wüsste ich dann wenigstens, dass ich diese Testmarke nie wieder zu kaufen brauche.

Das Wunder des Lebens. Von der bloßen, fast zufälligen Ansammlung einiger Zellen zum Nobelpreisträger. Greenpeace-Aktivisten. Schwerverbrecher. Talkshowgast. Alle haben sie klein, nein, winzig, mikroskopisch angefangen. Oder was heißt schon: haben sie. Sie selbst haben gar nichts. Sie wurden begonnen, oft unbeabsichtigt, als mehr oder weniger erwünschte Nebenwirkung. Eine Kettenreaktion, ein sich Überschlagen von Ereignissen – Zellteilung, Maulbeere, Eihaut, Mutterkuchen –, eine bizarre Kochshow, bei der gebacken und gebraut wird, bis der Striezel aus dem Ofen geschossen kommt. Und dann geht es erst so richtig los mit dem Wunder und mit dem Leben. Auch dem, der schon Beine hat, müssen Beine gemacht werden. Der Kopf sitzt erst richtig, wenn er zurechtgerückt wurde. Und bis uns die Augen aufgehen, verstreichen Jahrzehnte. Wir laufen halbfertig durch die Welt, als work in progress, vom ersten Anstoß an, und als Halbfertige pflanzen wir neue Halbfertige auf den Planeten, der selbst nie fertig wird mit uns. Und jetzt bin auch ich, Luba, Teil dieser Bewegung und leiste meinen unausgegorenen Beitrag zum Erhalt der Spezies. Das hat uns gerade noch gefehlt.

Das Wunder des Lebens. Ein Schlagwort für Frau Hopf und ihre Bibelrunde. Da sitzen sie dann alle im Kreis, die ungeschminkten Vierzigjährigen im Leinenkleid. Frau Hopf legt Meditationsbilder aus: Regentropfen auf Grashalm, in dem die Sonne glänzt. Schwimmende Ente mit einer gelben Kette flaumiger Küken im Schlepptau. Kleine Hand in großer Hand. Laubbaum im Abendrot. Nackter Bauch einer Schwangeren.

„Das Wunder des Lebens“, sagt Frau Hopf mit dem Tonfall, mit dem sie alles Religiöse ausspricht: ehrfurchtsvoll gedämpft, mit leichtem Vibrato. Dann schlägt sie die Klangschale an. Klääääng. Die Leinenkleidfrauen schließen die Augen und denken an Sex. Natürlich nicht konkret. Das würden sie sich nie erlauben. Sie denken an die Folgen von Sex, nur an die, weil das ihre einzige Art ist, mit Sex umzugehen. Allein Frau Heinemann legt sich eine Hand so verdächtig auf die Schenkelinnenseite. Lächelt. Frau Hopf, die beim Meditieren immer spitzt, ob die anderen auch die Augen geschlossen haben, bemerkt es. Kläääng. Die Meditation ist vorbei. Frau Huber schildert ihre Visionen: Schmetterlinge, Hundewelpen, sich öffnende Blumenkelche. Frau Heinemann lächelt noch immer. Heute Abend wird Frau Hopf unzufrieden sein und den Bauch der Schwangeren aus ihren Meditationsbildern verbannen.

16:00 Uhr

Habe Jetta das Kohlert-Interview vor der Nase weggeschnappt. Sie ist ein bisschen blass geworden vor Wut, und ihre dünnen Lippen waren noch ein bisschen dünner. Dann hat sie mit fast gar nicht künstlich wirkendem Lächeln geflötet: „Ja, mach du das, Luba. Ich hab sowieso mit der Gartensache zu tun.“ Ich hätte ihr am liebsten ins Gesicht gelacht. Seien wir doch ehrlich, Jetta. Über das Niveau der „Gartensache“ wirst du nie hinauskommen. Du bleibst auch in Zukunft „unsere Frau für das Bodenständige“, wie der Chef zu sagen pflegt, und nein, es klingt nicht wie ein Kompliment. Ich hingegen schwinge mich in höhere Sphären. „Interview Today“ ist fest in meiner Hand. Mehr und mehr entwickle ich mich zur Society-Reporterin. Gut so. Nicht mehr lange, und ich genieße selbst Prominentenstatus. Das Kohlert-Interview wird ein Meilenstein. Er ist ja so berühmt. Annelies hat fast einen Infarkt bekommen, als ich ihr von dem Interview erzählt habe.

„Du musst mich unbedingt mitnehmen. Sag, ich bin die Visagistin.“

„Ich arbeite noch immer beim Radio, Annelies.“

„Na und? Sag ihm, dass man ein schönes Gesicht auch hören kann.“

„Haha. Ich könnte dich höchstens als Fußschemel mitnehmen, auf den er seine dreckigen Stiefel stellen kann.“

„Für den Kohlert tu ich alles.“

Was an dem dran ist? Ich schaue sein Foto an. Ja, die verwegene Haarwelle über dem rechten Auge gibt ihm etwas vom jungen Johnny Depp. Ist das der Grund, warum die Frauen bei seinen Konzerten Plakate hochhalten, auf denen „Ich will ein Kind von dir“ steht? Die Gene eines gutaussehenden Star-Pianisten sind vielleicht wirklich keine schlechte Sache. Ich denke an Horst. Der hat mir eigentlich nie gefallen. Als ich ihn kennenlernte, war er ein leicht bierbauchiger Hobbit mit einer hohen Stirn und einer unpassenden Hornbrille. Jetzt, nach drei Jahren, sind Stirn und Bierbauch noch größer geworden. Immerhin, die Hornbrille ist heute ansehnlicher. Dennoch: Schön finde ich Horst noch immer nicht, und es hat schon Momente gegeben, wo ich mich für ihn geschämt habe, bei Jettas Geburtstagsparty etwa, als er partout das rot-grün karierte Holzfällerhemd über der zu tief geschnittenen Hose tragen musste, womit er wie eine Schwangere im Endstadium aussah. Na, wenigstens würde er mir nicht auf die Nerven fallen, wenn es bei mir so weit sein würde.

Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich genieße ab sofort Narrenfreiheit. Die Hormone spielen verrückt, richtig? Ich esse jetzt für zwei, richtig? Das heißt, ich kann endlich auf den Putz hauen. Mir ein zweites, drittes Stück Torte nehmen. Den Postboten anschreien. Mitten in der Nacht in voller Lautstärke Hair hören und mitgrölen. Meterweite Kleider tragen. Im überfüllten Bus sitzen bleiben. Im Bett bröseln. Die teuren Bio-Shrimps kaufen. Sagen, was ich denke. Auf gesellschaftliche Konventionen pfeifen. Mich unmöglich machen und mir dann verzeihen lassen. Mit anderen Worten: wieder ein Kind sein.

Samstag, 17. Juni

00:23 Uhr

Ich kann nicht schlafen. Nachdem ich wahrscheinlich eine Million Schafe über die Klinge habe springen lassen, schäle ich mich vorsichtig aus Horsts Umklammerung. Er grunzt ein wenig, ich schiebe ihm mein Kissen in die Arme. Leise tappe ich ins Badezimmer. Gut, dass ich mir am Abend einen zweiten Schwangerschaftstest gekauft habe. Hatte mir plötzlich eingebildet, Horst könnte merken, dass der alte nicht mehr an seinem Platz ist. War natürlich eine völlig überflüssige Sorge. Horst merkt so was nicht. Deswegen kann ich den neuen Test jetzt auch genauso gut verwenden. Ich öffne die Packung, lese die Anleitung. Es ist die gleiche wie beim alten. Ich lese sie zur Sicherheit noch einmal. Nein, kein Zweifel, genau das gleiche Prozedere. Ich setze mich auf die Klobrille. Dann merke ich, dass ich nicht kann. Entspann dich, rede ich mir zu. Ich denke an rauschende Wasserfälle. Unendliche Meeresweiten. Plätschernde Gebirgsbäche. Nichts. Ich gehe in die Küche, trinke ein großes Glas Wasser und dann gleich noch eins. Unterdessen lese ich zum dritten Mal die Gebrauchsanleitung des Tests. Dann beschließe ich, dass das bescheuert ist, und lege den Test an seinen Platz zurück.

2:45 Uhr

Habe jetzt zwei Folgen MacGyver angesehen. Unglaublich, was mitten in der Nacht so läuft. Ich überlege mir, was mir an Richard Dean Anderson mal gefallen hat. Es muss diese Frisur gewesen sein. Da fällt mir wieder der Kohlert ein. Vor dem Zu-Bett-Gehen habe ich noch darüber nachgedacht, ob die Frage: „Welchen Stellenwert hat Glenn Gould für Ihr Schaffen?“ einerseits zu hochtrabend daherkommt („für Ihr Schaffen“? Der Mann ist Pianist, kein Bildhauer oder Hobbybastler!), andererseits wahrscheinlich zu den zehn naheliegendsten Fragen gehört, die er so gestellt bekommt. Ich hatte mich dann entschieden, ihn zu fragen, was er vor einem Konzert isst. Und welche Kleidung er beim Üben trägt. Immerhin, seine Fangemeinde besteht fast ausschließlich aus Frauen. Die könnte so etwas tatsächlich interessieren. Oder sollte ich gleich mit seinem Privatleben anfangen? Ob er auf so etwas überhaupt eingeht? Ich überlege, wie es wäre, wenn ich von mir interviewt würde. „Sorry“, würde ich zu mir sagen, „Sie sind eine impertinente Person. Mit so jemandem red ich doch gar nicht.“ Ich würde wohl recht perplex auf so eine Antwort reagieren. „So eine unhöfliche Kuh“, würde ich denken. Und dann: „He, was soll’s. Sie ist schwanger.“

11:25 Uhr

Heute habe ich so richtig lange ausgeschlafen. So habe ich gar nicht bemerkt, dass Horst schon früh raus ist. An einem Samstag! Normalerweise ist er vor zehn nicht aus den Federn zu bekommen. Als ich aber gegen halb elf langsam die Augen aufmache, ist der Platz neben mir leer und in der Wohnung riecht es verführerisch nach ofenfrischem Gebäck. Dazu höre ich Horst summen. Ein paar Sekunden lang bleibe ich noch wohlig im Bett liegen. Mein Mann macht Frühstück und summt glücklich vor sich hin. Wie schön. Dann aber fahre ich wie von der Tarantel gestochen hoch: Mein Mann macht Frühstück und summt glücklich vor sich hin! Da ist etwas faul. Und ich weiß auch schon, was. Er hat sich verliebt. Also doch. Dabei hat er vor einer Woche noch beteuert, die neue Kollegin (Wespentaille, süßes Lächeln, unschuldiger Augenaufschlag) sei lediglich „recht sympathisch“. Ich springe aus dem Bett und brause durch den Flur. Vor der Küche bremse ich ab und luge vorsichtig durch den Türspalt. Horst hat Blumen besorgt und strahlt über das ganze Gesicht. Blumen! Ganz ohne Anlass! Oder hat er ein schlechtes Gewissen? Nein, seine Augen funkeln vergnügt. Wann habe ich ihn zuletzt so glücklich gesehen? Ich bin unschlüssig, ob ich in die Küche gehen soll. Vorher möchte ich wissen, was auf mich zukommt. Hat etwa seine Mutter ihren Besuch angekündigt? Wohl kaum. Seit Horst mit mir zusammen ist, ist der Besuch seiner Mutter kein Grund zur Freude mehr für ihn. Es muss also etwas anderes sein. Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Wahrscheinlich hat er meinen Schwangerschaftstest im Müll gefunden und stellt sich gerade vor, wie er mit seinem Kind auf dem Teppich sitzen und die Modelleisenbahn zerlegen wird. Ja, das wird es sein. Gar kein Zweifel. Ich sehe ihm noch ein bisschen zu, wie er wie ein kleiner Junge vom Spülbecken zum Backrohr zum Tisch tänzelt und sich freut. Horst wird ein großartiger Vater sein, denke ich. Zugleich ärgert es mich, dass er die Neuigkeit aus dem Müll erfahren hat und nicht von mir. Ich hätte zu gern sein Gesicht gesehen. Etwas enttäuscht schiebe ich die Tür auf. Als er mich sieht, nimmt er mich in den Arm und tanzt mit mir durch die Küche. „Guten Morgen, Spatz!“ Ich lasse mich mitreißen, doch den leisen Argwohn in meinem Blick kann er nicht übersehen. „Och, mach doch nicht so ein Gesicht, Spatz. Ist heute nicht ein herrlicher Tag? Schau mal, das Wetter!“

Er weist zum Fenster, vor dem der Sommer balzt.

„Ja, schön“, erwidere ich mit fragendem Unterton.

„Jetzt setz dich erst mal hin“, befiehlt Horst und legt mir eine Topfentasche auf den Teller. Dann setzt er sich zu mir und kann sein Grinsen kaum unterdrücken.

„Ich hab es getan“, verkündet er mit diebischer Freude. Ich antworte nicht und warte ab.

„Ich hab deinen Rat befolgt.“

Er reißt das Ende einer Nussschnecke ab und steckt es sich in den Mund. Er macht es gern spannend. Endlich rückt er mit der Sprache heraus.

„Ich war joggen! Und es hat sogar gut geklappt! Das mach ich jetzt öfter. Dann wirst du sehen, wie schnell ich fit bin!“

Ich muss schlucken. Auch das noch.

„Und die da?“

Ich weise auf die Zuckerbomben im Brotkörbchen. Horst winkt ab.

„Mit irgendwas muss man sich doch belohnen. Und außerdem ist das nur heute. Für den Anfang. In Zukunft gibt es nur noch Joghurt. Versprochen.“

Phantastisch. Drei Jahre lang habe ich auf Horst eingeredet, er soll etwas für seine Gesundheit tun. Und ausgerechnet jetzt, wo ich im Begriff bin, sämtliche Regeln linienfreundlicher Ernährung über Bord zu werfen, springt er darauf an. Ein schlechteres Timing kann man sich kaum vorstellen.

„Aber Schatz, das ist doch überhaupt nicht nötig“, setze ich an.

„Doch, natürlich ist das nötig. Sieh mal, hier!“

Er nimmt eine Speckrolle seines Bauchs demonstrativ in die Hände und hält sie wie eine sehr dicke Salami.

„Ich mag deinen netten Wummi“, protestiere ich.

„Jetzt komm schon, Luba. So eine kleine Diät wird uns gut tun. Das sagst du doch auch immer. Und jetzt bin ich endlich bereit dazu.“

Am Anfang unserer Beziehung hatte ich nämlich noch geglaubt, ich müsste die Traumfrau mimen. Also habe ich mich vor Horst immer besonders figurbewusst gegeben, auch wenn das an meinen zu breiten Hüften und dem großen Busen nichts änderte. Mit der Zeit jedoch habe ich mich mehr und mehr damit abgefunden, dass Horst keinen großen Wert darauf legte, ob ich auf Schokolade verzichtete oder Bauch-Beine-Po-Gymnastik machte. Er mochte mich, und zwar mit und ohne Hüftspeck. Trotzdem wusste er es zu schätzen, dass mir eine ausgewogene Ernährung wichtig war. Das regte ihn wiederum dazu an, öfter einmal die vegetarische Platte zu wählen und nicht den deftigen Grillteller. Aber ein Pin-up-Girl brauchte ich deswegen nicht zu sein. Das hat mich entspannt. Irgendwann habe ich mit den Quälereien aufgehört und nur noch das gemacht, was ich wirklich wollte. Es gab also wieder Lasagne und lange Fernsehabende statt Selleriestangen und Power-Yoga. Und in unserer Vorratskammer hielten Kekse Einzug. Kurz, wir hatten es schön in der letzten Zeit. Fast schon harmonisch.

„Aber was gefällt dir denn nicht mehr an unserem Leben?“, frage ich Horst.

Er bleibt gelassen.

„Es gefällt mir ja, Luba. Sehr. Und ich denke, es kann noch schöner werden. Ich entwickle mich weiter, das ist alles.“

„Und was, wenn ich mich auch weiterentwickle?“

„Na, dann umso besser, dann entwickeln wir uns gemeinsam.“

„Und wenn ich mich jetzt in eine ganz andere Richtung entwickle als du?“

„Ich hoffe, das merken wir früh genug. Dann lässt sich bestimmt etwas machen.“

„Das werden wir dann ja sehen“, knurre ich.

Er sieht mich etwas erstaunt an.

„Wie meinst du das jetzt? Ist was passiert?“

„Nein“, schnappe ich, „nichts. Alles in Ordnung. Wart’s nur ab.“

Zum ersten Mal an diesem Morgen zieht Horst die Brauen zusammen.

„Luba, du machst mir Angst.“

„Schon gut, vergiss es.“

„Nein. Du hast doch irgendwas. Sag es mir einfach, dann weiß ich Bescheid.“

„Nein! Es ist nichts.“

Er bleibt hartnäckig.

„Ich seh doch, dass was ist. Jetzt zier dich nicht.“

Sein Ton klingt zunehmend gereizt. Ich fühle mich bedrängt und will seinem Blick ausweichen, mit dem er mich jetzt unerbittlich durchbohrt. Aber ich kann ihm doch nicht, es geht doch noch nicht, es ist zu früh, und was, wenn … Meine Augen füllen sich mit Tränen.

„Warum verstehst du mich denn nicht, Horst?“

„Aber …“

„Ach, sei einfach still!“

Ich renne ins Bad und werfe die Tür hinter mir zu.

Ich weiß, warum er mich nicht versteht. Wie sollte er auch?

Er weiß ja nichts von meinem Geheimnis. Und auch ich selbst will davon nichts wissen. Da gibt es auch überhaupt nichts zu wissen. Ich habe mir alles nur eingebildet. Da ist kein Fünkchen, kein Pünktchen, kein Stern, kein winziger Urknall in mir. Der Test hat mich betrogen, um drei Tage betrogen. Es ist alles wie sonst. Ich mutiere nicht zur Mutterbestie. Es ist alles gut. Warum nur laufen mir die Tränen aus den Augen?

Ich krame nach dem Test. Nein, es ist eben doch nicht bescheuert, ihn noch einmal zu machen. Solche Produkte haben Mängel, das weiß man ja. Ein überschrittenes Verfallsdatum oder eine falsche Lagerung oder die Luftfeuchtigkeit können die Ergebnisse verfälschen. Und außerdem hatte ich vielleicht eine Blasenentzündung oder aus sonst einem Grund verunreinigten Urin. Das muss ja alles aseptisch vor sich gehen, sonst teste ich womöglich die Schwangerschaftshormone irgendwelcher Kleinstlebewesen aus der Darmflora. Der neue Test wird zeigen, dass ich mich umsonst gesorgt habe. Habe ich mich gesorgt? Ach was. Gedanken gemacht. Völlig umsonst natürlich.

Da sitze ich nun also schniefend im Bad und warte, dass der Test sein Ergebnis zeigt. „Komm schon“, feure ich ihn zwischen zwei Weinkrämpfen an. „Du bist der gute. Zeig Mami, dass sie gar keine Mami ist.“

Als die zwei Streifen erscheinen, schluchze ich laut auf. Auch dieser Test hat mich schnöd im Stich gelassen. Ich weine noch eine Weile einfach so vor mich hin. Es ist sinnlos und beruhigend. Auf Horsts Klopfen an der Tür gehe ich nicht ein. Als er ruft, dass er verspreche, gleich morgen mit dem Joggen wieder aufzuhören, putze ich mir geräuschvoll die Nase. Er wird das als Zeichen meiner Dankbarkeit zu deuten wissen.

14:00 Uhr

Am Nachmittag gehen wir am Fluss spazieren. Wir holen uns ein Eis und sehen den Rollerbladern und Fahrradfahrern und Hundegassiführern zu. Wir sehen auch die Pärchen mit den Kinderwagen, und ich spüre, wie es in meinen Wangen zu prickeln beginnt. Horst drückt meine Hand.

„Geht es dir wieder besser?“

Ich nicke wortlos. Dann stehen wir auf der Brücke, schauen ins Wasser, das hier oben noch zischend und schäumend über die Steine holpert und sich dann weiter unten in einem breiten, still fließenden Strom verliert. Am Ufer stehen die Bäume dicht an dicht wie Wartende, die nach Schiffen Ausschau halten. Ihr Anblick rührt mich. Eines Tages werden sie auf eine Fähre steigen und fortfahren, den Fluss hinuntergleiten zum Meer. Sie werden mir fehlen.

17:20 Uhr

Anita vom Palomar hat mir den grünen Salon reserviert. Er hat schalldichte Türen und ist für ein Interview perfekt. Seit zwanzig Minuten sitze ich nun hier und warte auf den Kohlert. Schon komisch, dass so einer wie er einwilligt, zu so einem öffentlichen Ort zu kommen. Ich dachte immer, solche Leute bestellen die Journalisten zu sich. Er aber wollte unbedingt, dass ich den Ort des Treffens bestimme. Er kenne die Stadt nicht und wolle sie sich ein wenig ansehen. Das hatte sympathisch geklungen. Auf den Fotos kommt er sonst nicht so sympathisch rüber. Macht eher einen auf Möchtegern. Möchtegerntiefsinnig. Möchtegern-sinnlich. Das weiche Haar, das ihm in die Stirn fällt, der verträumte Blick in die Ferne. Ein Posterboy wie aus einem Teenie-Magazin. Na, das wird sich ja jetzt herausstellen. Ich werde ihn in die Enge treiben und ihm alle Peinlichkeiten entlocken, die meine Hörerinnen interessieren. Ob er schwul ist? So Künstler sind doch meistens schwul. Ob ich ihn das fragen soll? Vielleicht nicht so direkt. Eher subtil. Wie so sein Verhältnis zu Frauen ist. Das ist bestimmt ein guter Aufhänger.

Wieder und wieder gehe ich die Fragen durch, wieder und wieder sehe ich zwischendurch nervös auf die Uhr. Keine Angst, es ist noch Zeit. Zeit, die Frage nach der Pflegespülung für die perfekte Welle doch wieder zu streichen. Zeit, mich zu verwünschen, dass ich die Fotos für unsere Homepage selbst machen wollte. Zeit, mich zu fragen, warum ich eigentlich noch immer in diesem Job herumhänge. Ich habe doch mal Größeres mit mir vorgehabt. Karriereträume. Chefredakteurin meiner eigenen feministisch-modisch-intellektuellen Frauenzeitschrift mit Pep, Charakter und Sex-Appeal (Titel: „Luba“, „Luba’s World“ oder „Alles Luba“). Liebesträume. Ein Mann mit dunklen Geheimnissen und einer einzigen großen Leidenschaft: mir. Rasende Ritte auf weißen Pferden über einsamwild-romantische Landstriche wie bei Rosamunde Pilcher. Besitzträume. Ein Schloss in Schottland („McLuba Castle“). Ein Château in der Provence („Château Loubeau“). Einen hochlukrativen Bio-Bauernhof im Burgenland mit dem europaweit gefragten Label „Bioluba“. Na schön, all diese Träume stammen aus einer Zeit, in der ich dreizehn war und mich für den Mittelpunkt des Universums hielt. Die kopernikanische Wende kam erst später, als ich allmählich bemerken musste, dass das Universum auf seinen Mittelpunkt offenbar sehr gut verzichten konnte. Heute habe ich mich damit abgefunden, einfach irgendwer zu sein. (Habe ich das wirklich? Wirklich wirklich? Luba, sei ehrlich!) Wie hat mir meine damalige beste Freundin Sabrina Bachler so tiefsinnig und herzergreifend in mein Englischheft geschrieben? For the world you are somebody. For somebody you are the world. Ich erinnere mich, dass unsere Englischlehrerin Miss Hirschfeld diesen Spruch unter meiner

Hausaufgabe entdeckte. Wir diskutierten dann eine Stunde lang über den Sinngehalt dieser Weisheit. Miss Hirschfeld war eine, die wohl selbst an so etwas glaubte. Jedenfalls kamen wir uns nachher alle sehr reif und erwachsen vor. Heute will ich nicht mehr reif und erwachsen sein. Zum Glück weiß ich jetzt auch, dass ich das nie war. Aber wie viel Zeit habe ich damit verschwendet, auf andere so zu wirken! Oder eigentlich nicht: auf andere. Auf „somebody“. Auf den „Somebody“ aus Sabrinas Weisheitsperle, auf jenen „Somebody“, für den ich die Welt sein würde, eines Tages.

Ob ich für Horst die Welt bin? Ist Horst für mich die Welt? Ich stelle mir vor, wie ich ihn frage: „Horst, bin ich für dich das Wichtigste auf der Welt?“ Und er dreht sich im Halbschlaf um und murmelt: „Aber natürlich, mein Spatz.“ Dann träumt er wieder von Haubenmeisen.

Ich habe manchmal den Verdacht, dass in Wahrheit Haubenmeisen das Wichtigste für Horst sind. Haubenmeisen oder Schwanzmeisen. Oder vielleicht noch Braunkehlchen. Das ist am Anfang schwierig gewesen. „Der Kerl hat eine Meise“, hat es Annelies formuliert. Mir war die Tragweite dieses Satzes nicht bewusst gewesen. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, Horst mit irgendwelchem Kleinstfedervieh zu teilen. Aber zugleich ist mir auch klar: Nein, die Welt bin ich nicht für ihn. Nicht einmal, wenn ich ganz lieb tschilpe.

Es wird Zeit, dass sich mein Über-Ich einschaltet. Es hat die Stimme meiner Mutter und den längsten erhobenen Zeigefinger der Welt. „Jetzt hör aber mal auf“, sagt es in Mutters gereiztestem Tonfall. „Für jemanden die Welt sein zu wollen, welch Selbstüberschätzung. Wer braucht so was? Wir stehen jeder für sich allein und wandeln im Nebel herum und das ist auch gut so, oder hast du deinen Hesse nicht gelesen?“

Ich hasse es, wenn mein Über-Ich literarisch wird. Es nimmt dann die arrogante Haltung eines Kritikers ein und erklärt alles, was ich nett, lustig, hübsch finde, für oberflächlich, blödsinnig, kitschig. Mein Über-Ich würde am liebsten den ganzen Tag nur Bücher über Frauen lesen, die in leer stehenden, weiß getünchten Zimmern am Fenster sitzen, in die Ferne starren und „die blauende Aura der Seelenmembran“ zittern fühlen. Oder nicht: „zittern“. „Beben“. In solchen Büchern kann man doch gar nicht ordentlich zittern. In solchen Büchern ist alles aus Glas, fragil, verwundbar, kristallin, schwingend, schmetterlingsflügelzart, hauchgefährdet. Eben so, wie ich auch einmal sein wollte. Mein Gott, was ich mir alles vorgestellt habe. Die Frau mit den dünnen Handgelenken wollte ich sein, bleich, fast durchscheinend, im hochgeschlossenen Puritanerkleid, lebensschwach, rettungsbedürftig. Mit großen Rehaugen, die scheu in die Welt blicken. Nichts könnte weiter entfernt von der Realität sein.

Aber ich frage mich doch, ob das wirklich aus den Büchern kommt, die ich während meines halbherzigen Germanistik-Komparatistik-Ethnologie-Anthropologie-Philosophie-Psychologie-Studiums lesen musste (und die mich letztlich dazu bewogen haben, auf Publizistik umzusteigen), oder ob das nicht eher das schwere Erbe einer jahrzehntelangen Hollywood-Vergiftung ist. War nicht immer schon Rhett Butler mein heimliches Männerideal? Und fand ich diese freche, verwöhnte, überhebliche Scarlett nicht einfach nur schrecklich? Weil nämlich ich, ICH, die angebetete Rehfrau in Clark Gables fünffach geduschter Achselhöhle sein wollte? Und hätte ich nicht alles dafür gegeben? Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstständigkeit, weil ich nämlich gar nicht frei und unabhängig und selbstständig sein wollte, sondern verehrt, angebetet, vergöttert? Und diese bebenden Blaufrauen in ihren lebensfernen sterilen Buchstabenkammern, wollen sie nicht insgeheim auch dasselbe? Na, was sagst du dazu, Über-Ich? Ich habe dich durchschaut. Deine Träume kommen gar nicht von Yukio Mishima, sondern aus der Traumfabrik, für dich mit einer Extraportion Bilderkitsch. Erfinde dir einen blutleeren Text aus hochtrabenden Worten und es wird ein Büchner-Preis daraus. Oder eines dieser verkannten Genies, die bekifft auf einem Berg Schmutzwäsche sitzen und über das metaphysische Grauen beim Anblick einer Stubenfliege schreiben, „dieses facettenäugigen Monsters, an dem sich der Widerstand der Welt tausendfach zerschillernd bricht“. Sich das Leben in die Depression zu schreiben ist doch nun wirklich keine Leistung. Das Leben deprimiert uns schon ganz von allein.

Wenn ich jetzt zum Beispiel ernsthaft über den Pickel nachzudenken beginne, der seit ein paar Tagen über meiner Lippe sprießt, werde ich binnen weniger Gedankensprünge daraufkommen, dass meine Haut ein kraterübersätes Schlachtfeld ist, auf dem die Pubertätsakne sich hartnäckig neben der Alterszerrunzelung behauptet, auf dem zugleich die Anzahl der krankhaften Auswüchse mit den Jahren mehr und mehr gestiegen ist, was letztlich nur die Vorboten eines sich anbahnenden flächendeckenden Krebsgeschwürs sein können, das mich nach langem, kräftezehrendem Kampf vernichten wird, worauf ich zum Schluss erkenne, dass ich mein ganzes Leben vertan habe und nur noch sinnlos auf den Tod warten kann. Oder ich lasse den Pickel Pickel sein und bestelle einstweilen noch einen Himbeervanillestreuselkuchen. Oberflächlich? Lebensqualitätssteigernd.

Ich merke, wie meinem Über-Ich die Argumente ausgehen. Gut so. Für heute brauche ich mich also nicht mehr vor mir selbst für mein Leben zu entschuldigen. Stattdessen fotografiere ich die feinen Papierstreifen, die ich von den Servietten im Halter abgerissen und kunstvoll auf der Tischdecke drapiert habe. Mit dem kleinen Teelicht leuchte ich mein Miniaturset aus und sorge für einen perfekten Schattenwurf. Eigentlich hätte ich Kunstfotografin werden können. Ach was, das kann ich immer noch! Gleich morgen reiche ich meine Bilder bei einem Wettbewerb für junge Talente ein. „Der gerissene Faden“ werde ich meinen Bilderzyklus nennen. Dies in Anspielung auf das Sprichwort „Papier ist geduldig“ einerseits, auf die Streifenform der Serviettenschnipsel und auf die Redewendung „Mir reißt die Geduld“ andererseits. Schon allein diese subtile Titelfindung wird die Kritiker begeistern. Ich stelle mir meine Vernissage vor. Eine kleine erlesene Galerie in der Innenstadt. An allen Wänden Serviettenstreifen im Riesenformat. Eine aufgedonnerte Galeristin mit unmöglichem Kopfputz spricht mit weit aufgerissenem, feuerrot bemaltem Mund zu den fünf verstreut Herumstehenden (Horst, meine Mutter, Werner, Annelies und eine Frau, die eigentlich das Klo sucht) über die „zwingenden Verstrickungen unmöglich gewordener Beziehungen, meisterhaft in Szene gesetzt in der suggestiven Gestaltung einer brüchig vernetzten Seelenlandschaft, die das Individuum letztlich auf sich selbst zurückwirft“. In allen Gesichtern Ver-, aber auch leise Bewunderung. Stummes Abschreiten der Bilder. Ein flüchtiger Blick aus dem Fenster, dann stürzt Horst hinaus. „… meise“, höre ich ihn noch rufen.

Ich lösche etwas verärgert die Serviettenstreifenbilder vom Speicher. Ist eine feine Sache, so eine Digitalkamera.

Allmählich beginne ich mich zu fragen, wo er bleibt. Der Kohlert. Aber auch der Kuchen. Er wird doch nicht aus sein? Ich stehe auf und strecke meinen Kopf aus der Tür. Ein fast ohrenbetäubendes Stimmengewirr reißt mich aus meinem wattierten Elfenbeinturm in die Realität zurück, und ich entdecke einen geduldig, aber zunehmend hilflos lächelnden Kohlert in einer zwitschernden Horde von Frauen im gebärfähigen Alter, während im Hintergrund ein kleines Tablett mit einem Teller Himbeervanillestreuselkuchen über den Köpfen schwebt, hochgehalten von einer nahezu unhörbar „Achtung! Achtung!“ rufenden Anita. Ich schlage mich durch die Menge und packe den Kohlert am Arm. Er schaut mich verdutzt an. „Vertrauen Sie mir“, raune ich ihm knapp zu und zerre ihn ins Séparée. Als ich die Tür zuschlage, ist es wieder himmlisch still. Er schaut mich dankbar und zugleich etwas angstvoll an. Ich lächle und halte ihm die Hand hin.

„Ich bin Luba. Wir haben telefoniert.“

Er setzt sich erleichtert und ich nehme die Kamera.

„Darf ich?“, frage ich. Er nickt zerstreut.

„Tun Sie einfach so, als ob ich gar nicht da wäre.“

Das brauche ich ihm nicht zu sagen. Er wendet den Kopf ab, schaut aus dem Fenster. Sein Profil ist weich und doch männlich-herb (männlich-herb? aber: ja, genau das denke ich unwillkürlich bei seinem Anblick: männlich-herb. Das hat man davon, wenn man zu viel Parfümwerbung sieht). Ein paar Sonnenstrahlen spielen in seinem Haar. In diesem Licht haben seine Augen den matten Glanz von altem Jadeschmuck. Jetzt sieht er her, an der Kamera vorbei. Er ist wirklich ein schöner Mann, denke ich, so melancholisch. Jetzt lächelt er. Für die Kamera? Für mich? Ich knipse noch ein paar Mal, dann lege ich die Kamera weg. Er lächelt noch immer. So einer kann nicht schwul sein.

Anita kommt herein, stellt den Kuchen vor mich hin.

„Und was darf ich Ihnen bringen?“, fragt sie den Kohlert.

Der lässt den Blick über den Tisch schweifen, dann antwortet er: „Ich denke, ich nehme das Gleiche wie die Dame.“ Anita geht. Der Kohlert sieht mich mit seinen schimmernden Jadeaugen an. Ich merke, wie mir etwas heiß wird. Ruhig Blut. Ich bin ein Profi, das kriege ich schon hin. Ich stelle mein kleines Aufnahmegerät zwischen uns auf den Tisch.

„Wenn es Ihnen recht ist, fangen wir gleich mit dem Interview an. Zuerst stelle ich nur ein paar Fragen, um warm zu werden, ist das in Ordnung?“

Er nickt, ohne den Blick abzuwenden.

„Herr Kohlert“, beginne ich.

„Sagen Sie Daniel“, unterbricht er mich. Daniel. In meinen Ohren beginnt das Blut zu rauschen, und ich muss mich an der Tischkante festklammern, um nicht in diesen Augen zu ertrinken. Professionell bleiben, Luba, denk an Lois Lane, Anne Will, heißen, ungezügelten Sex und eine Strohhütte unter Kokospalmen. Oder an den selten gewordenen Zitronengirlitz. Was hat Horst noch gleich darüber erzählt?

„Daniel“, fahre ich also fort, „Sie sind …“

„Oh, bitte“, schaltet er sich wieder ein. „Dieses Vornamennennen und zugleich Siezen ist doch Nonsens, nicht wahr? Bleiben wir doch gleich beim Du.“

„Einverstanden“, stammle ich und merke, dass ich die Frage vergessen habe, die ich eigentlich stellen wollte. Ich setze noch einmal an.

„Also, Daniel, du bist … ein schöner Mann.“

Verdammt, was rede ich da?

„Viele deiner Fans zumindest sehen das so. Hast du nicht manchmal Angst, dass durch deine Schönheit deine Kunst zur Nebensache wird?“

Gut gerettet, finde ich.

Er atmet tief ein. „Das ist eine gute Frage. Es ist wahr, dass viele Menschen, vor allem Frauen, wohl hauptsächlich deswegen zu meinen Konzerten kommen, weil sie mein Gesicht sehen und weniger, weil sie meine Musik hören wollen. Am Anfang hat mich das natürlich beschäftigt. Mittlerweile sehe ich das etwas entspannter. Ich habe durch mein Aussehen einen enormen Vorteil, das stimmt. Dadurch kommen viele erst dazu, sich für mich zu interessieren. Mit der Zeit jedoch entdecken sie vielleicht auch meine Kunst und beginnen mich deswegen zu schätzen. Es wäre also falsch, wenn ich behaupten würde, dass mein Aussehen mir nicht wichtig ist. Es ist meine Visitenkarte, mein Empfehlungsschreiben der Natur.“

„Wow. ‚Empfehlungsschreiben der Natur‘, sehr poetisch.“

„Ist ehrlich gesagt nicht von mir. Ich glaube, ich habe es einmal bei Schiller gelesen.“

„Du hast noch Zeit zum Lesen?“

„Zeit hat man nie, Zeit muss man sich immer nehmen.“

„Ist das auch von Schiller?“

„Ich denke nicht. Oder wer weiß, womöglich. Wenn mir eine gute Formulierung gelingt, habe ich häufig den Eindruck, dass ich unbewusst zitiere. Ich habe in meinem Leben so viel Kluges gelesen. Das kann man sich nicht alles merken. Es sickert ins Unbewusste und kommt dann in Form guter Interviewantworten wieder zum Vorschein. Vielleicht kriegen Sie ja nach der Sendung ein paar Anrufe von Hörern, die Ihnen sagen, von wem die Gedanken sind, die ich da als meine eigenen ausgebe.“

„Ich dachte, wir sind per Du?“

„Oh ja. Richtig. Wie war doch noch dein Name?“

„Luba.“

„Ljubav? So wie Liebe?“

„Nur Luba. Das andere konnten meine Eltern nicht aussprechen.“

Schnell Thema wechseln.

„Du sprichst mehrere Sprachen?“

„Wenn man so viel herumkommt wie ich, ergibt sich das fast von allein.“

„Ich denke, deine Sprache ist die Musik?“

„Natürlich.“

„Und man sagt doch, Musik sei eine universelle Sprache. Ist das auch deine Erfahrung?“

„Gute Frage. Vielleicht schon. Aber nur, wenn man davon ausgeht, dass man in jeder Sprache missverstanden werden kann. Auch in der Musik.“

„Wie meinst du das?“

„Anders als ein Text oder ein Bild ist Musik noch sehr viel weitläufiger und vieldeutiger. Das ist natürlich toll. Aber das nimmt ihr auch etwas von ihrer Gültigkeit in der Aussage. Ich mache ein Beispiel: Für Elise von Beethoven. Das kennt jeder, hat jeder schon in der Warteschleife am Telefon gehört oder als Handyklingelton. Bei vielen weckt die Melodie Erinnerungen an ihre eigenen Klavierstunden. Musik ist sehr vom Kontext abhängig, in dem sie gehört wird. Das gilt natürlich auch für andere Kunst. Aber nur die Musik ist dermaßen emotional. Und wenn ich jetzt Für Elise spiele, dann bewegt das in mir und vielleicht noch in ein paar anderen sehr viel. Und wieder ein anderer denkt vielleicht nur mit Grauen an irgendwelche Fingerübungen. Deswegen würde ich lieber Musik spielen, die die Leute zum ersten Mal hören. Improvisierte Musik zum Beispiel. Dann nämlich muss sich das Publikum wirklich darauf einlassen, anstatt meine Version ständig mit der Version zu vergleichen, die es zu Hause auf CD hat. Und vielleicht lässt es sich dann wirklich vom Rausch der Töne mitreißen, anstatt darüber nachzudenken, welche Pflegespülung ich benutze.“

Die Frage ist also gestorben. Ich versuche es anders.

„Wie hast du denn selbst zur Musik gefunden?“

„Sie war einfach immer schon da. Ich erinnere mich an keinen einzigen Tag in meinem Leben, den ich ohne Musik verbracht habe. Meine Mutter hat viel gesungen. Sie war eine fröhliche Frau. Beim Kochen, Putzen, Waschen, was immer sie tat, sie hatte stets ein Lied auf den Lippen. Abends hat sie oft auf dem Klavier gespielt. Das war für uns Kinder immer der schönste Moment des Tages. Klar, dass wir da mitmachen wollten. Wir haben uns regelrecht gestritten, wer als Erstes üben darf. Als meine Zwillingsschwester dann mit dem Geigenunterricht begonnen hat, hatte ich das Klavier endlich für mich. Und dann … Ja, da bin ich jetzt.“

„Du warst also ein Wunderkind?“

„Was heißt schon Wunderkind. Ich war begabt, das bestimmt. Viele Kinder sind begabt. Meine Mutter hat mich sehr gefördert. Sie hat auch meine Schwester gefördert. Und wir hatten beide gute Lehrer. Wenn Katja nicht diesen Unfall gehabt hätte, hätte sie es weit bringen können.“

„Unfall?“

„Sie ist mit vierzehn vom Fahrrad gestürzt. Hat sich das Handgelenk gebrochen. Da war sie schon auf der Akademie, und es schien zuerst eine unbedeutende Verletzung zu sein, aber der Knochen ist schlecht zusammengewachsen. Katja hat das zu spät bemerkt. Und, na ja, mit der Konzertkarriere war dann nichts mehr. Sie gibt heute Unterricht. Aber sie ist ganz zufrieden damit, denke ich. Sie macht ihre Sache gut.“

„Dann bist du also der einzige Star in der Familie?“

„Ja, kann man so sagen. Obwohl ich nicht finde, dass das stimmt. Ich habe viel Glück gehabt. Aber ein Star … Ein Star bin ich vielleicht in den Augen meiner Fans. Und ich habe hart gearbeitet, um so weit zu kommen. Aber auch die anderen in meiner Familie hatten es nicht leicht. Meine Schwester, wie gesagt. Aber auch meine Mutter. Sie hat uns allein großgezogen und auf vieles verzichtet, damit wir unsere Talente entfalten konnten. Sie hätte vielleicht selbst Karriere machen können. Aber unsere Zukunft war ihr wichtiger als ihre eigene. Sie lebt bis heute ganz zurückgezogen in unserer alten Wohnung. Für mich ist sie der wahre Star in der Familie. Ich verdanke ihr einfach alles.“

„Sie ist bestimmt sehr stolz auf dich.“

„Ja. Das war sie immer schon. Schon bei meinem ersten Auftritt. Da war ich fünf. Es war ein furchtbares Fiasko. Ich war viel zu nervös. Ich habe mitten im Spiel nicht mehr weitergewusst. Einfach so. Die Finger fanden die Tasten nicht mehr. Dabei hatte ich das Stück so oft geübt. Aber vor all den Leuten … Ich konnte plötzlich einfach nicht mehr. Ich saß also da und es war ganz still, und die Leute haben mich angestarrt. Und plötzlich hat jemand in der hinteren Reihe zu klatschen begonnen. Es war meine Mutter. Sie klatschte und rief bravo, als ob das Stück schon fertig wäre. Da haben auch die anderen Leute geklatscht. Ich bin vom Stuhl gerutscht und habe mich verbeugt. Nach dem Konzert ist meine Mutter mit mir nach Hause gefahren. ‚Du warst sehr gut‘, hat sie gesagt. Kein Wort davon, dass ich das Stück nicht zu Ende gespielt habe. Bis heute haben wir nie darüber geredet. Ich habe das Stück übrigens auch nie mehr gespielt. Ich glaube, das könnte ich gar nicht. Für mich ist es dort zu Ende, wo ich damals aufgehört habe.“

„Das ist eine wunderbare Geschichte. Erzählst du die bei allen Interviews?“

„Nein. Normalerweise wollen die Leute ganz andere Dinge hören. Zum Beispiel, was für ein Verhältnis ich zu Frauen habe. Oder welchen Stellenwert Glenn Gould für mein Schaffen hat. Das sind so die Fragen.“

„Wirklich? Auf so etwas wäre ich nie gekommen.“

„Zum Glück. Ich meine, ich gebe Interviews nicht ungern.

Und ich rede auch über Glenn Gould, klar. Aber irgendwie hoffe ich doch immer, dass einfach mal ganz was anderes gefragt wird.“

„Zum Beispiel?“

„Zum Beispiel … Fragen, die mich selbst auch beschäftigen. Die wirklich wichtig sind. Für mein Leben, vielleicht auch für das Leben anderer Leute.“

„Der Klimawandel?“

„Ja, warum nicht? Darüber denke ich auch oft nach. Ich bin ja viel mit dem Flugzeug unterwegs.“

„Schlechtes Gewissen?“

„Na sicher. Es wird einem ja andauernd eingeredet, wofür man sich alles schämen soll. Dass man warm duscht. Dass man die Wohnung heizt. Dass man Maßanzüge trägt.“

„Und du schämst dich dafür?“

„Du etwa nicht?“

„Ich trage keine Maßanzüge.“

„Ach so. Na ja. Ich finde einfach, dass es so schwierig geworden ist, anständig zu leben. Sogar als Musiker. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass es unmoralisch sei, für Kunst Geld zu verlangen. Wenn man etwas schon gern tue, dann dürfe man es nicht vermarkten. Die Kunst müsse sich aus den Mühlen des Kapitalismus heraushalten.“

„Siehst du das auch so?“

„Ich weiß nicht. Ich lebe für die Kunst. Wenn ich das auch in Zukunft machen will, muss ich auch von der Kunst leben können. Das klingt schäbig und vielleicht ist es auch schäbig, dass ich nicht in Würde verhungern möchte. Vielleicht ist es schäbig, dass ich mich elegant kleide und vor dem Konzert von einer Maskenbildnerin abpudern und frisieren lasse. Vielleicht begehe ich damit Verrat an der Kunst, was weiß ich. Ich brauche eine Hochglanzfassade, um mich verkaufen zu können. Ich kaufe mir teure Seidenschals und spiele auf gläsernen Klavieren. Ich habe meinen Preis und für diesen Preis kann man viel von mir verlangen. Ich mache den dressierten Affen, gebe Interviews, sage das, was man von mir hören will. Wenn es nötig ist, konzertiere ich vor Militärdiktatoren und Konzernmanagern und trete bei spektakulären Galas auf, bei denen die Musik nur eine Nebenrolle spielt. Und wenn ich genügend Geld verdient habe, kaufe ich meiner Mutter eine Reise oder eine teure Handtasche. Sie mag so was. Ich habe ihr auch schon oft angeboten, ihr eine neue Wohnung zu kaufen. Sie schlägt das jedes Mal aus. Aber eine neue Kücheneinrichtung oder Damastbettwäsche, Ohrringe oder eine neue Halskette nimmt sie dankbar an. ‚Dann denke ich immer an dich‘, sagt sie.“

„Aber aus der Wohnung will sie nicht raus?“

„Nein. Jedes Zimmer ist so voller Erinnerungen für sie. Und sie weiß, dass Katja und ich gerne zu ihr zu Besuch kommen. Dann schlafen wir immer in unseren alten Betten. Diese Wohnung hat einen einzigartigen Geruch für uns. Den Geruch von Geborgenheit. Ich habe ihn nirgends sonst auf der Welt gefunden.“

Er verstummt. Ich müsste jetzt etwas fragen, aber es gelingt mir nicht. Woher nur kommt diese Traurigkeit in seiner Stimme?

„Du musst …“, setze ich an. Aber ich komme nicht weiter, bleibe mitten im Satz an Daniels ernstem Blick hängen. Ganz nach innen gerichtet scheint er nun, und seine Augen haben eine dunklere Färbung angenommen.

„Bist du glücklich?“, frage ich endlich. Er sieht nicht auf.

„Ich stelle mir selbst oft diese Frage. Ich sollte glücklich sein, oder? Ich bin berühmt. Ich kann Musik machen. Freilich, nicht immer die Musik, die ich machen möchte. Aber ich bin trotzdem privilegiert. Es geht so vielen so viel schlechter. Und es gibt so viele, die nie eine Chance hatten. Ich aber hatte Glück. Ich hatte Glück, weil so viele andere Pech hatten. Ich habe die richtigen Leute getroffen. Gute Berater gehabt. Ich verwirkliche einen Traum. Viele sind neidisch auf mich. Manche auch zu recht. Aber bin ich deswegen glücklich? Vielleicht könnte ich glücklich sein, wenn ich nicht ständig daran denken müsste, dass mein Glück ein gestohlenes ist. Ich habe es meiner Mutter gestohlen. Meiner Schwester. Den vielen Unbekannten, die gescheitert sind, während ich Erfolg hatte.“

„Bist du da nicht zu streng mit dir selbst?“

„Möglich. Aber ich kann mir einfach nicht vormachen, dass ich das alles wirklich verdient habe. Natürlich, ich habe jahrelang an mir gearbeitet, täglich bis zur Erschöpfung geübt. Ich habe auf vieles verzichtet. Noch immer muss ich auf vieles verzichten. Mein Leben ist unstet. Ich habe kaum Freunde, werde vielleicht nie Ruhe in einer eigenen Familie finden. Aber auf der anderen Seite genieße ich so viele Vorteile. Ich werde hofiert und gefeiert, kann mir mit Leichtigkeit Wünsche erfüllen. Während andere …“

„Müsste es nicht uns allen so gehen? Müssten wir nicht alle ein schlechtes Gewissen haben?“

„Das ist natürlich auch keine Lösung. Ich weiß auch nicht, warum mir das so nahe geht. Ich habe einen Fonds eingerichtet, er heißt ‚Klingende Münze‘. Ein Zehntel meiner Einnahmen fließt direkt dorthin. Als mein Agent diese Nachricht an die Presse weitergab, hieß es, ich wollte mich über die Charity-Schiene beliebt machen.“

„Journalisten können ganz schön fies sein.“

„Ja. Andererseits konnte ich es verstehen. Ich hätte vielleicht auch so etwas gedacht, wenn ich das von einem anderen gehört hätte. Oder ich hätte gedacht, dass auch das nur eine billige Lösung ist, sein Gewissen zu beruhigen.“

„Du bist ein richtiger Gutmensch.“

„Womöglich, ja. Das hat man mir auch schon vorgeworfen.

Nach einem Busunglück in Polen habe ich ein Benefizkonzert für die Opfer gegeben. Ich war zufällig ein paar Tage in Warschau. Die Presse hat mich verspottet, dass ich ein Opportunist sei. Natürlich, durch das Konzert bekam ich viel Publicity. In Polen habe ich heute mit meine treuesten Fans.“

„Das ist doch schön für dich.“

„Ist es. Gewiss. Aber deswegen habe ich es nicht getan. Ich wollte wirklich helfen. Es schmerzt, wenn man mir vorwirft, ein Gutmensch zu sein. Es schmerzt, dass es falsch sein soll, ein Gutmensch zu sein. Es schmerzt, weil es wirklich sogenannte Gutmenschen gibt, die in ihrer vorgetäuschten Nächstenliebe nur auf ihren eigenen Vorteil aus sind.“

Da ist es. Das Wort. Nächstenliebe. Ganz unwillkürlich zucke ich zusammen. Wie lange habe ich das nicht mehr gehört. Oder gar benutzt! Es ist ein anrüchiges Wort geworden seit den Tagen bei Frau Reiter. Die war unsere Religionslehrerin in der Volksschule, eine lebenslustige, unerschütterliche Frau. Bei ihr haben wir Plakate über die unsichtbaren Engel des Alltags gebastelt und Briefe mit Fragen an den lieben Gott geschrieben. Bei ihr hatte das Wort Nächstenliebe noch einen guten Klang, einen Klang wie Schwarzbrot und Kompott. Es gehörte zu unserem Alltag. Liebt einander, helft einander. Das war niemandem peinlich, das war einfach so. Und dann wurden wir erwachsen, und alles war anders. Die Engel des Alltags entpuppten sich mehr und mehr als selbstsüchtige Opportunisten. Gott schickte keine Antworten zurück. Und das Wort Nächstenliebe wurde ein modriger Pilz. Gutes tun, auch nur so eine Kinderei für religiöse Schwärmer. Und da sitzt jetzt dieser Klavierhusar vor mir und spricht von seiner sozialen Verantwortung, als ob er damit sein Geld verdienen würde. Er sieht nicht aus wie ein religiöser Schwärmer. Aber vielleicht ist er ein verkappter Zeuge Jehovas, wer weiß.

„Woher kommt dein Engagement? Ist in deinem Leben einmal etwas passiert, weshalb du dich so einsetzt?“

„Ich bin auf die Welt gekommen. Das ist passiert. Und ich habe eine Mutter, die mir früh beigebracht hat, dass es Menschen gibt, denen es nicht so gut geht wie mir.“

„Ich denke, wir alle haben so eine Mutter.“

„Vielleicht. Aber bei meiner Mutter war es mehr als nur Rhetorik. Sie hat uns gezeigt, dass wir teilen müssen. Nicht nur in der Familie, sondern auch mit Fremden. Das ist mir bis heute wichtig.“

„Du erzählst viel von deiner Mutter. Aber was war mit deinem Vater?“

Er zuckt die Schultern.

„Weg. Einfach so. Hat sich nie um uns gekümmert.“

„Und du hast ihn nie gesehen?“

„Vor ein paar Jahren hat mich ein Mann angeschrieben. Er habe sich schon seit Jahren danach gesehnt, mich endlich kennenzulernen, aber es sei nie der richtige Zeitpunkt gewesen.“

„War das dein Vater?“

„Ich weiß nicht, ob er’s wirklich war. Er wollte es mich jedenfalls glauben machen. Ich habe ihn nicht getroffen. Er hat mir dann noch ein paar Mal geschrieben. Aber ich habe seine Briefe verbrannt.“

„Warum? Warst du nicht neugierig auf ihn?“

„Als Kind, ja. Als Kind habe ich oft an ihn gedacht. Ich habe mir vorgestellt, wie er eines Tages in der Tür steht, die Arme voller Geschenke für uns und Mama. Ich dachte, er würde kommen und uns abholen. Aber er kam nie. Mama hat ihm wohl in den ersten Jahren noch geschrieben, sogar Fotos von uns geschickt. Keine Reaktion. Irgendwann hat sie es aufgegeben. Und auch wir Kinder haben uns nicht mehr vorgestellt, dass er noch kommt. Er ist in uns gestorben.“

„Und wenn du ihm jetzt begegnen würdest?“

„Es wäre, wie einem Fremden zu begegnen. Dieser Mann bedeutet mir nichts. Er kennt mich nicht. Hat mich nicht in seinen Armen gewiegt. Hat mich nicht getröstet, wenn ich geweint habe, mich nicht geschimpft, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Dieser Mann ist kein Vater für mich, sondern einfach nur irgendwer. Er kann jetzt nicht daherkommen und an mir und meinem Ruhm Anteil nehmen.“

„Und du glaubst, er hat sich deswegen bei dir gemeldet? Weil du jetzt berühmt bist?“

„Ich kann mir keinen anderen Grund vorstellen.“

„Vielleicht sehnt er sich nach einer Familie? Vielleicht seid ihr die Einzigen, die er hat?“

„Familie ist nicht etwas, was man geschenkt bekommt. Familie muss man sich erarbeiten. Erstreiten. Erweinen. Familie ist kein Band des Blutes, sondern der Tränen und des Schweißes. Mein Vater hat sich vor diesen Tränen und vor diesem Schweiß gedrückt. Er hat keine Anstrengungen unternommen, um uns zu seiner Familie zu machen. Jetzt ist es zu spät.“

Wie bitter seine Stimme plötzlich klingt.

„Also verdient dein Vater keine Chance mehr?“

„Nein.“

„Obwohl du dich sonst so sehr für andere einsetzt, lässt du deinen eigenen Vater fallen?“

Er stockt.

„Das ist etwas anderes.“

Aber so recht scheint ihm kein Argument einzufallen. Er kommt ins Grübeln.

„Er hatte seine Chance. Er hatte seine Chance, als wir noch sehr klein waren. Er hat sich gegen uns entschieden. Und er war nicht irgendjemand. Er war unser Vater. Er hätte eine Pflicht gehabt. Uns gegenüber. Mutter gegenüber. Er war feige. Er hat sie im Stich gelassen. Er hat uns im Stich gelassen. Und das hat er immer wieder getan. Jedes Mal, wenn Mutter ihm schrieb, hat er sich erneut gegen uns entschieden. Jahrelang. Er hat seine Chance gehabt, mehr als einmal.“

„Aber …“

„Du verstehst das nicht. Mutter … Mutter hat einfach ja gesagt. Sie hat ja gesagt zu allem, was passiert ist. Sie hatte gar keine andere Wahl. Es war nicht einfach, aber sie hat es durchgezogen. Er hat die Wahl gehabt. Und er hat uns fallen lassen. Wir haben ihm nichts bedeutet.“

„Das tut dir noch immer sehr weh.“

„Nein. Eigentlich nicht. Ich habe damit zu leben gelernt. Ich habe andere Dinge, die mich ausfüllen. Ich habe meine Musik. Und auch die Musik ist zu einer Art Heimat für mich geworden. Ich habe gelernt, mich nicht so sehr auf andere Menschen zu verlassen.“

„Außer auf deine Mutter.“

„Außer auf meine Mutter. Mütter sind doch das Wunderbarste auf der Welt, oder?“

Er lacht, aber sein Lachen schneidet mir ins Herz.

„Reden wir über deine neue CD“, sage ich.

21:00 Uhr

Seit einer Stunde fahre ich nun schon mit der Straßenbahn eine Schleife durch die Stadt. Wieder und wieder habe ich mir das Interview mit Daniel angehört. So ein Muttersöhnchen. Und doch merke ich, wie mein Herz noch immer wie wild pocht. Wie er mich angesehen hat, als wir uns verabschiedet haben.

„Es hat mich sehr gefreut, Luba“, hat er gesagt.

„Mich auch, Daniel.“

Kein Wort von einem Wiedersehen. Eine einmalige Begegnung, das war’s. Es ist wohl auch besser so. Einer wie er ist ständig auf Achse rund um den Planeten. Und mit diesem Mutterkomplex: „Mütter sind doch das Wunderbarste auf der Welt.“

Draußen rollt zum vierten Mal die Oper vorbei. Heute Abend geben sie Medea. Ich habe gelesen, dass die Inszenierung ganz herausragend sein soll. Die Regisseurin kommt aus Portugal. Noémia Dal Irgendwaso. Ein neuer Stern am Theaterhimmel. Sollte ich Horst doch überreden, mit mir hinzugehen? Oder mache ich das besser mit Annelies, die für modernes Theater offener ist? Da vorne kommt meine Haltestelle. Ich sollte jetzt vielleicht doch aussteigen. Aber ich merke, dass ich noch nicht so weit bin. Dieses Interview … Im Grunde ist es ganz unbrauchbar. Bis auf die Stellen, in denen er über die Interpretation von Eric Satie oder die politische Dimension bei Schostakowitsch spricht, erzählt er nur sehr persönliches, geradezu privates Zeug. Eigentlich sollte ich stolz auf mich sein. Er hat mir sein Herz geöffnet. Das hat er auch selbst so gesagt.

„Ich habe dir mein Herz geöffnet, Luba. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht mussten diese Dinge einfach mal raus. Und du … Du siehst aus wie jemand, dem man vertrauen kann. Du erinnerst mich an meine Mutter.“

Das sind zwar nicht die Komplimente, auf die man sein Leben lang wartet, aber es war wenigstens ehrlich. Mit diesem Interview werde ich in der Redaktion ganz groß rauskommen. „Daniel Kohlert hautnah. Vergessen Sie alles, was Sie bisher über seinen Lieblingsfriseur und dessen homoerotischen Hintergrund gehört haben. Wir bieten Ihnen die ganze Wahrheit.“ Und Franzi Fischer und Lotti Lenau setzen sich ehrfurchtsvoll vor den Apparat, die Taschentücher im Anschlag. Das wird der Abend ihres Lebens. Noch in derselben Woche wird Lotti ihre beiden Töchter zur musikalischen Früherziehung einschreiben. Franzi hingegen gründet eine Selbsthilfegruppe für kinderlose Mütter. Vorher rechnet sie noch mit ihrem Vater ab, der ihr in der Pubertät zu wenig Liebe gegeben hat. Und alles nur, weil Daniel mir sein Herz ausgeschüttet hat. Mir. Mir allein! Ich merke, wie ich egoistisch werde. Ich will diesen Moment mit keiner Lotti und keiner Franzi teilen. Dieses Gespräch gehört mir ganz allein. Es ist nur für meine Ohren bestimmt, denn ich bin die Frau, der Daniel vertraut hat. Ich bin die, die ihn an seine Mutter erinnert. Und das ist auch kein Wunder, denn ich bin ja jetzt selbst eine Mutter. Und zwar eine großartige Mutter. Eine, die alles für ihr Kind opfert. Daniel hat mich durchschaut.

An der nächsten Haltestelle steige ich aus. Von hier aus ist es noch eine halbe Stunde zu Fuß bis nach Hause. Bei meiner Lieblingseisdiele kaufe ich mir ein großes Eis. Der Abend ist lau und voller Pärchen. Sie gehen unter den brennenden Straßenlaternen hin wie unter schwebenden Lampions in Kirschbäumen. Es riecht nach Orient, oder ist es das Eis? Als ich an die Promenade komme, sehe ich am Himmel die ersten zaghaften Sterne. Jeder von ihnen eine gewaltige Sonne, die in unendlicher Ferne verglüht. Ich brauche sie nicht. Ich habe jetzt meinen eigenen winzigen Stern. Von nun an werde ich nur noch ihm folgen.

22:00 Uhr

Zu Hause schalte ich das Handy ein. Vierzehn Anrufe in Abwesenheit. Acht neue Nachrichten. Vier davon gehen allein auf das Konto von Annelies. Die erste kommt noch bescheiden daher: „Und …?“ Nummer zwei: „Wie war das große Interview *schmacht?“ Die dritte: „Spann mich nicht so auf die Folter: ruf an!!“ Und zuletzt ein etwas gereiztes: „LUUUUUUUBAAAAAAA!!!!“ Sie weiß, dass ich jetzt fies vor mich hin grinse und zunächst mal überhaupt nichts tun werde. Ich muss mir erst noch überlegen, was ich aus meinem Material mache. Meine Interviews sind zwar bisher nicht schlecht gewesen, aber was ist schon eine Sylvia Baumann gegen einen Daniel Kohlert? Da mag sie sich noch so sehr mit Ypsilon schreiben und es zur einsamen Größe auf dem Gebiet der Kieselsteinmalerei gebracht haben, sie bleibt ein Insidertipp. Und das ein geheimer. Trotzdem ist mir auf meinem Fußweg nach Hause klargeworden, dass ich Daniels Vertrauen nicht missbrauchen darf. Oder interpretiere ich da zu viel hinein? Er wusste, dass das Aufnahmegerät mitlief. Die Interviewsituation war von vorneherein vereinbart. Konnte er tatsächlich so unvorsichtig sein, einfach die Wahrheit zu sagen? Oder gehörte genau das zu seiner Strategie? Wollte er sich bewusst profilieren, Stellung beziehen, war dies möglicherweise sogar seine neue Taktik zur Imageverwaltung? Nein, so viel Kalkül traue ich ihm nicht zu. Ich will weiter daran glauben, dass es nie seine Absicht war, sich der Öffentlichkeit so intim zu präsentieren. Ich weiß bestimmt, dass er noch heute Abend mit seinem Agenten sprechen wird, dass er noch heute Nacht oder spätestens morgen nach Tagesanbruch bei mir Sturm läuten und mich beknien wird, das Interview zu löschen. Seine Reputation als sinnlicher Schönling steht auf dem Spiel. Ich sehe schon die Schlagzeilen vor mir: „Kohlert von Provinz-Klatschreporterin bloßgestellt“, „Wütende Fans boykottieren Konzert“. Dass er überhaupt je so weit gegangen ist, sein Innerstes nach außen zu kehren, liegt einzig und allein an meiner unwiderstehlichen Ausstrahlung.

Ja, ich bin so jemand. Wie oft ist es mir schon passiert, dass mir irgendwelche wildfremden Leute aus heiterem Himmel ihre Lebensgeschichte anvertraut haben. Ich erinnere mich noch an Abende, an denen ich tütenweise Erdnussflips in mich hineingeschreddert habe, während mir Menschen, die sich ursprünglich verwählt hatten, von ihrer biestigen Tante Patrizia erzählten und warum sie nie wieder, nie wieder in den Häkelkurs gehen wollten. Es muss etwas in meiner Stimme sein oder gar noch etwas Transzendenteres, vielleicht ein Nachflackern meiner einstigen Aura als geistliches Oberhaupt einer Gemeinschaft von Apsara-Tänzerinnen, damals in einem meiner früheren Leben. Wie oft mag ich damals die Geschicke des frühen Kambodschas zum Besseren gewendet haben, nur durch das gekonnte Heben einer Braue und das wohldurchdachte Rollen meiner Augen? Etwas davon ist geblieben, und auch ein Weltstar wie Daniel Kohlert konnte sich dem nicht entziehen. Ich mag noch so unbedeutend sein, wer mir begegnet, bleibt von mir bezaubert, ja, geradezu behext, ein Leben lang. Heute Nacht wird Daniel sich auf seinem Lager hinund herwerfen. Mein Bild wird ihm folgen. Wochenlang wird er mit sich ringen, wird heimlich ins Palomar zurückkehren, melancholisch und versonnen im grünen Salon sitzen, nichts mehr wahrnehmen von der Welt da draußen, nur noch dem Hauch eines Nachmittags nachspüren, der sein Leben verändert hat. Er weiß, dass er mit mir nicht fliehen kann, dass es für uns keine Zukunft gibt, dass unsere Liebe ein unmöglicher, ein verrückter Traum ist, aber doch diktiert von der rasenden Leidenschaft zweier Seelen, die sich aneinander entflammt haben. Doch zuletzt wird er den Schritt nicht wagen, sondern still vor sich hin leiden und seine alleinige Zuflucht in der Musik finden. Von nun an wird er jedes Konzert nur noch für mich spielen.

So ist das. For the world you are somebody. For somebody you are the world