Lübecks Töchter. Der Traum von Bildung und Freiheit - Anna Husen - E-Book

Lübecks Töchter. Der Traum von Bildung und Freiheit E-Book

Anna Husen

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Beschreibung

Jetzt das eBook zum Einführungspreis sichern! Zwischen Liebe und Berufung: Eine junge Lehrerin kämpft für ihren Traum – und um ihr Glück »Der Traum von Liebe und Freiheit« ist der erste Band von Anna Husens historischer Familiensaga »Lübecks Töchter«. Die junge Lehrerin Amélie hat einen großen Traum, als sie 1874 in ihre Heimatstadt Lübeck zurückkehrt: Gemeinsam mit ihrer Schwester Clara will sie ein Seminar zur Ausbildung von Lehrerinnen gründen. Denn es braucht dringend mehr Frauenbildung, damit die Töchter von heute später selbst über ihr Leben bestimmen können. Doch Ferdinand Rubens, Beamter der Oberschulbehörde, setzt alles daran, ihren Plan zu vereiteln. In dieser schwierigen Zeit ist es Amélies Kindheitsfreund Richard, der ihr wieder neuen Mut gibt. Mit jeder hoffnungsvollen Begegnung kommt Amélie dem jungen Witwer und seiner kleinen Tochter näher. Und doch weiß sie in jedem zärtlichen Moment, dass sie sich zwischen ihrem Traum und ihrer Liebe entscheiden muss … Historischer Roman mit dem Zauber Lübecks und einem zeitlosen Thema: Frauenbildung Anna Husen lebt selbst an der Ostseeküste und entführt ihre Leserinnen in der historischen Roman-Reihe und Familiensaga »Lübecks Töchter« mit viel Atmosphäre in die zauberhafte Hansestadt. Wie die Schwestern Amélie und Clara Ende des 19.Jahrhunderts gegen das Patriarchat aufbegehren und für ihren Traum kämpfen, lässt uns mitfiebern und mitleiden. Und hoffnungsvoll in eine bessere Zukunft blicken. Die historische Roman-Reihe zum Mitfiebern erscheint in folgender Reihenfolge: - Lübecks Töchter. Der Traum von Bildung und Freiheit - Lübecks Töchter. Der Traum von Liebe und Gemeinschaft Entdecke auch Anna Husens historische Familiensagas am Timmendorfer Strand: - Die Frauen der Villa Sommerwind. Das Glück am Horizont - Die Frauen der Villa Sommerwind. Die Hoffnung am Horizont - Die Frauen der Villa Sommerwind. Die Liebe am Horizont Und Anna Husens historischen Liebesroman in Lübeck: - Der Duft von Marzipan

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Seitenzahl: 564

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Anna Husen

Lübecks Töchter

Der Traum von Bildung und Freiheit

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Zwischen Liebe und Berufung: Eine junge Lehrerin kämpft für ihren Traum – und um ihr Glück

»Zwei Schwestern kämpfen für die Frauenbildung« ist der erste Band von Anna Husens historischer Familiensaga »Lübecks Töchter«.

Die junge Lehrerin Amélie hat einen großen Traum, als sie 1874 in ihre Heimatstadt Lübeck zurückkehrt: Gemeinsam mit ihrer Schwester Clara will sie ein Seminar zur Ausbildung von Lehrerinnen gründen. Denn es braucht dringend mehr Frauenbildung, damit die Töchter von heute später selbst über ihr Leben bestimmen können. Doch Ferdinand Rubens, Beamter der Oberschulbehörde, setzt alles daran, ihren Plan zu vereiteln.

In dieser schwierigen Zeit ist es Amélies Kindheitsfreund Richard, der ihr wieder neuen Mut gibt. Mit jeder hoffnungsvollen Begegnung kommt Amélie dem jungen Witwer und seiner kleinen Tochter näher. Und doch weiß sie in jedem zärtlichen Moment, dass sie sich zwischen ihrem Traum und ihrer Liebe entscheiden muss …

Historischer Roman mit dem Zauber Lübecks und einem zeitlosen Thema: Frauenbildung

 

Anna Husen lebt selbst an der Ostseeküste und entführt ihre Leserinnen in der Familiensaga »Lübecks Töchter« mit viel Atmosphäre in die zauberhafte Hansestadt. Wie die Schwestern Amélie und Clara Ende des 19.Jahrhunderts gegen das Patriarchat aufbegehren und für ihren Traum kämpfen, lässt uns mitfiebern und mitleiden. Und hoffnungsvoll in eine bessere Zukunft blicken.

 

Entdecke auch Anna Husens historische Familiensagas am Timmendorfer Strand:

• Die Frauen der Villa Sommerwind. Das Glück am Horizont

• Die Frauen der Villa Sommerwind. Die Hoffnung am Horizont

• Die Frauen der Villa Sommerwind. Die Liebe am Horizont

 

Und Anna Husens historischen Liebesroman in Lübeck:

• Der Duft von Marzipan

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Leseprobe zu Band 2

TEIL 1: DIE ENTSCHEIDUNG

Kapitel 1

Kapitel 2

Nachwort und Danksagungen

Für all die mutigen Frauen,

damals und heute,

die niemals aufgehört haben und niemals aufhören werden,

für unser aller Rechte zu kämpfen.

Prolog

Lübeck, 1851

Sonnenlicht drang durch einen Spalt der geschlossenen Fensterläden hindurch und huschte tänzelnd über den Boden. Nur das leise Rascheln der Buchseiten erfüllte die Stille.

»Du bist dran«, forderte Amélie Roquette den Jungen auf, der neben ihr auf dem Boden saß.

Unsicher schüttelte er den Kopf, und blonde Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn. Seine dunkelblauen Augen musterten Amélie angestrengt, und er biss sich auf die Unterlippe.

»Das … das kann ich noch nicht …«, murmelte er und senkte den Blick.

»Richard!«, rief Amélie beinah empört aus und stemmte die Hände in die Hüfte. »Du kannst das. Wir haben geübt, und ich habe dir ein ganz einfaches Märchen ausgesucht.«

Richard stieß zischend die Luft aus. Einfach. Ja, für Amélie schien alles kinderleicht zu sein. Sie war die Tochter eines Lehrers am Katharineum, der Jungenschule, auf dessen Dachboden sie sich verkrochen hatten. Sie konnte lesen, schreiben und rechnen, und das schon mit gerade mal sieben Jahren. Wenn sie sprach, dann schienen selbst die Erwachsenen sie ernst zu nehmen.

Und zudem ist sie noch wunderschön, dachte Richard und spürte, wie Hitze in seine Wangen stieg.

Eilig wandte er den Blick von Amélie ab, die ihn immer noch auffordernd ansah und ihm das Märchenbuch hinhielt. Richard linste zu ihr, betrachtete ihre ebenmäßigen Gesichtszüge eingehend. Die kleine Stupsnase und die dunkelgrünen Augen. Hellbraune Haarsträhnen fielen ihr über die Schultern, denn der Zopf, den ihre Mutter ihr sicherlich heute Morgen geflochten hatte, war aufgegangen.

Ihr schlichtes blaues Kleid war mit Staub beschmutzt, genau wie ihre Wangen. Aber ihre Augen leuchteten.

»Nun komm schon«, bat Amélie eindringlich und zog die Unterlippe vor.

Gegen diese schmollende Miene konnte Richard gar nichts ausrichten. Er kam sich wie ein Versager vor. Er war fast zwei Jahre älter als Amélie und konnte doch kaum lesen. Er ging nicht mal zur Schule. Als Sohn der Köchin am Katharineum wurde ihm diese Art von Bildung nicht zuteil, sondern er musste täglich in der Küche mitarbeiten.

Doch er wollte lesen können. Er wollte verstehen, wie Buchstaben zu Wörtern wurden, und endlich begreifen, wie Amélie tagein, tagaus ihre Nase zwischen zwei Buchdeckel stecken konnte. Was sie an Geschichten so begeisterte.

»Mhm …«, machte Richard und fuhr sich durch die Haare. Seine Hände zitterten ein wenig, als er das Buch ergriff.

Grimms Märchen.

Amélie liebte Märchenbücher. Aber nicht die, in denen Prinzessinnen von Prinzen gerettet werden mussten. Nein, sie liebte die schaurigen Märchen, die, die voller Geheimnisse waren und die man nicht sogleich verstand.

Das Buch war schwer in seinen Händen, und die Seiten rochen verstaubt, irgendwie alt.

»Ich habe bis dahin gelesen.« Amélie deutete mit dem Finger auf eine Zeile. »Ab hier bist du dran. Brüderchen und Schwesterchen ist ein tolles Märchen, und die Wörter sind auch ganz einfach zu lesen.«

Ganz einfach. Da war es wieder. Richard rieb sich über den Nacken, der unangenehm zu prickeln begann. Eine Stimme ganz tief in ihm wollte Amélie an den Kopf werfen, dass für ihn rein gar nichts einfach war. Dass sie nicht von sich auf andere schließen sollte.

Doch das wäre falsch gewesen, denn Amélie wusste genau, dass er ein ganz anderes Leben lebte als sie. Deswegen saßen sie ja hier auf dem Dachboden der Schule, versteckt zwischen alten Möbeln und Kisten, nur mit einer Öllampe bewaffnet, die ihnen ein wenig Licht spendete. Staub kitzelte in Richard Nase, und er straffte die Schultern.

»In Ordnung …« Er schaute hinab auf die dunklen Buchstaben vor hellem Grund, die vor seinen Augen verschwammen.

»Keine Angst«, raunte Amélie, ergriff seine Hand, drückte sie fest und strich mit ihrem Daumen zaghaft über seine Haut. »Ich helfe dir.«

Hastig musste Richard die Tränen wegblinzeln, die sich in seinen Augen sammelten. Herrgott! Er war ein Mann, nun ja, ein Junge, aber trotzdem gehörte es sich nicht zu flennen. Männer mussten stark sein.

Aber hier und heute war Amélie viel stärker als er. Sie brachte ihm das Lesen bei und nicht andersherum. Sie wusste mehr als er, und komischerweise fühlte sich das für Richard gar nicht falsch an. Er atmete tief ein und aus, dann konzentrierte er sich auf die Geschichte.

»Als sie … nun ein Br… bruen… brünnl…«, setzte Richard an und brach sogleich frustriert ab. Die ersten kurzen Worte waren ihm leichtgefallen, die hatte er mit Amélie schon viele Male geübt und selbst geschrieben. Doch dieses lange Wort, das…

»Brünnlein«, half Amélie ihm und deutete auf die Buchstaben. »Das hast du schon richtig ausgesprochen, das ist ein Ü, es verniedlicht das Wort Brunnen, weißt du?«

»Warum?«, fragte Richard stirnrunzelnd und sprach das Wort erneut aus, schmeckte den Klang auf seiner Zunge.

»Weil das ein Märchen ist, du Sonnenkopf, da reden alle ein wenig gestelzt.« Sie stieß ihm ihren Ellenbogen grinsend in die Seite, und erneut spürte Richard, wie er rot wurde.

Sonnenkopf.

So nannte Amélie ihn seit ihrer ersten Begegnung. Weil seine Haare golden wie die Sonne waren und sein Lächeln so strahlte wie ein warmer Sommertag. Jedenfalls hatte sie das gesagt, als er sie auf diesen Spitznamen angesprochen hatte.

»Nun lies weiter!« Amélie lehnte ihren Kopf an seine Schulter, und ein Schauer kroch über Richards Rücken. Wärme prickelte in seinen Gliedern, und er konnte den Duft von Amélies frisch gewaschenem Haar riechen, so nah war sie ihm.

Eilig konzentrierte Richard sich wieder auf das Märchen und räusperte sich. »Als sie nun ein Brünnlein fanden, das so gli… glitzerig über die Steine sprang, wollte … das Brüder… Brüderchen daraus trinken.«

»Sehr gut!«, lobte Amélie ihn überschwänglich und legte ihren Finger auf eines der Worte. »Du hast sogar glitzerig richtig ausgesprochen …«

»Was heißt das überhaupt?«, fragte Richard und kam sich ein wenig dumm vor bei dieser Frage. Doch Amélie schaute ihn nicht verdutzt an, sie sagte ihm auch nicht, dass er ein Hornochse sei oder dämlich, so wie die anderen Küchenjungen es manchmal taten.

Stattdessen ergriff sie erneut seine Hand und zog ihn auf die Füße. »Ich zeig’s dir«, antwortete sie und führte ihn zum Fenster.

Mit geschickten Fingern öffnete sie die Fensterläden. Grelles Sonnenlicht blendete Richard. Er kniff die Augen zusammen, während Amélie aus dem Fenster schaute und gierig die frische Luft einatmete. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, und sie zog ihn noch ein Stück näher zu sich.

»Siehst du die Trave dort hinten?«, fragte sie und zeigte hinaus.

Richard stellte sich neben sie und wischte sich eilig die schweißnassen Hände an der groben Hose ab. Sein Herz schlug stolpernd in der Brust, und er kniff die Augen zusammen. Sie waren ganz oben im Katharineum, konnten beinah über alle Hausdächer schauen, doch vom blauen Wasser der Trave war nur ein schmaler Streifen zu erkennen.

»Ich glaube schon …«, erwiderte Richard und sah zu Amélie.

Ein kleines Grübchen zeigte sich auf ihrer linken Wange, als sie ihn anlächelte. »Siehst du, wie die Sonne sich auf dem Wasser spiegelt? Das ist glitzerig.«

Richard sah erneut hin, unwillkürlich rückte er ein Stück näher an Amélie heran, als er sich aus dem Fenster streckte.

»Glitzerig«, wisperte er und lauschte dem Klang des Wortes. Ja, das passte. Das goldene Sonnenlicht funkelte auf dem blauen Wasser. Es sah wunderschön aus.

»Richard?« Amélies Stimme hatte einen seltsamen Klang angenommen. Er wandte ihr den Kopf zu. Ihre grünen Augen blickten ernst, und sie ergriff seine Hand.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte Richard besorgt und musterte Amélie eingehend. »Ist dir schwindelig? Mein Vater sagt, das passiert bei Frauen öfter, wenn sie sich überanstrengen, und …«

»Papperlapapp!«, unterbrach Amélie ihn unwirsch. Eine kleine Zornesfalte zeigte sich zwischen ihren Augenbrauen, und ihre Wangen wurden rot. »Frauen sind nicht so schwach, wie alle immer tun. Sie können alles, was Männer auch können.«

Richard öffnete seinen Mund und schloss ihn gleich wieder, ohne ein Wort zu sagen. Er wollte Amélie nicht verärgern. Obwohl sie einen halben Kopf kleiner war als er, konnte sie manchmal ganz schön einschüchternd sein.

Doch er war sich ausnahmsweise sicher, dass Frauen nicht alles konnten, was Männer taten. Und dass dies auch niemand so sah wie Amélie.

Frauen sind nicht geschaffen für die höheren Dinge in dieser Welt, pflegte sein Vater immer zu sagen, und Richard glaubte ihm, auch wenn er selbst nur am Hafen arbeitete und sich in den Schenken volllaufen ließ. Dem Vater widersprach man lieber nicht, das hatte Richard auf schmerzhafte Weise gelernt.

»Wenn du das sagst, wird es wohl stimmen«, versuchte er sich aus der Affäre zu ziehen. Er kratzte sich verlegen am Kopf und lächelte Amélie scheu an. »Aber nun sag mir, warum du so ernst dreinblickst.«

Amélie drückte seine Hand und ging mit ihm zurück zu der Ecke, in der das Märchenbuch lag. »Ich möchte eines Tages Lehrerin werden«, erklärte sie in die knisternde Stille zwischen ihnen. »Ich möchte anderen Mädchen Dinge beibringen, so wie ich es jetzt bei dir tue.«

»Du wärst eine wunderbare Lehrerin.« Richard nahm das Buch auf seinen Schoß und betrachtete dieses erstaunliche, kluge Mädchen, welches sich mit ihm – dem Küchenjungen – ohne Vorbehalte abgab. »Du weißt so viel. Der Mann, der dich einmal zur Frau haben wird, ist ein Glückspilz!« Erschrocken schlug Richard die Hände vor den Mund, als er begriff, welche Worte da seinen Lippen entkommen waren. »Entschuldige …«, murmelte er und versuchte, sich wieder auf die Geschichte von Brüderchen und Schwesterchen zu konzentrieren. »Ich sollte besser weiterlesen …«

»Meinst du das ernst?«

»Was?« Verdattert sah er Amélie an, doch sie legte nur ihre Hände auf die seinen, schaute auf das Buch in seinem Schoß und hob dann wieder den Blick.

Nun zierte eine sanfte Röte ihre Wangen, und ihre Augen glitzerten verräterisch.

Nein, wollte sein Verstand sagen.

Ja, erwiderte sein Herz.

Doch das war unmöglich. Im Gegensatz zu ihm war Amélie ein feines, gutbürgerliches Mädchen. Ihr Vater war Lehrer, ihre Mutter führte einen großen Haushalt mit vielen Kindern, die alle sehr gefördert wurden.

Und er war nur ein Küchenjunge … Ein Knoten zog sich in Richards Kehle zusammen, Worte verhakten sich auf seiner Zunge, während ein Schauer über seine Glieder hinwegjagte.

Er war nichts und sie war alles.

Niemals wäre er genug für sie.

»Ich …«, setzte Richard an, doch dann fiel sein Blick auf Amélies Hände, die ein wenig zitterten. »Ja«, sagte er deswegen, beugte sich zu Amélie und hauchte einen scheuen Kuss auf ihre Wange.

So, wie er es bei einem adligen jungen Mann gesehen hatte, der mit einem Fräulein am Ufer der Trave entlangflaniert war.

»Ich wäre gerne der Glückspilz, der dich einmal heiratet«, versprach er ihr und wusste doch gar nicht, welche Bedeutung diese Worte wirklich hatten.

»Danke«, wisperte Amélie ihm zu und berührte verlegen ihre Wange. »Ich wäre auch gerne die Frau an deiner Seite.«

Instinktiv wusste Richard, dass dies nicht der Inhalt eines Gesprächs zwischen zwei Kindern sein sollte. Dass er niemals wirklich der Mann an Amélies Seite sein würde. Weil Welten sie trennten, und eine Welt überwand man nicht einfach so.

Aber das war Richard einerlei. Er wollte dieses Versprechen einlösen, nur, um Amélies Lächeln jeden Tag aufs Neue sehen zu können.

Kapitel 1

Amélie
Lübeck, September 1874

Diese Stadt schmeckte nach Heimat.

Amélie roch die salzige Luft, die vom Hafen herüberwehte. Diese Stadt fühlte sich lebendig an wie eine pulsierende Ader, sie belebte ihre Sinne, und Amélie Roquette fühlte sich wie neu geboren.

»Endlich zu Hause«, murmelte sie und drückte sich ihre Nase beinah am Fenster der Droschke platt. Das Gefährt bog gerade in die Straße zum Holstentor ab, und Amélie klopfte gegen die Wand, die sie vom Kutscher trennte. »Halten Sie bitte hier an!«

Der leicht untersetzte Mann, der eine Schiebermütze auf dem Kopf trug, brachte die Droschke zum Stehen, und Amélie schnappte sich ihre Tasche. Behände sprang sie aus der Kutsche.

»Sollte ich Sie nicht in die Glockengießerstraße fahren, Fräulein?«, fragte der Mann und neigte den Kopf zur Seite.

»Das letzte Stück gehe ich lieber zu Fuß«, erwiderte Amélie. Ihr Blick verfing sich am imposanten Holstentor. »Wissen Sie, Lübeck ist meine Heimatstadt, die ich für viele Jahre verlassen habe. Da wird es Zeit für einen kleinen Spaziergang.«

»Ich verstehe.« Der Kutscher lupfte seinen Hut, und Amélie reichte ihm seine Bezahlung.

Gemächlich rumpelte der Wagen davon. Amélie überquerte die Straße und ging auf die Grünfläche vor dem Holstentor zu. Sie legte den Kopf in den Nacken und begutachtete das wichtigste Monument der Hansestadt.

Die Sonne schien nur schwach vom Himmel, dennoch wirkte es, als würde der rote Backstein des Holstentors im blassen Licht funkeln. Unzählige kleine Fenster zierten die Fassade des Gebäudes. Die zwei Türme links und rechts schienen sich in den Himmel hinaufzuschrauben, und in der Mitte prangte die bekannte Inschrift.

Concordia domi foris pax.

Eintracht innen, draußen Friede.

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie erinnerte sich noch daran, wie ihr Vater ihr die lateinische Inschrift übersetzt hatte, als sie noch ein Kind war.

Einen Moment erlaubte Amélie sich, unter dem Torbogen zu verweilen. Lauschte mit geschlossenen Augen den Klängen dieser Stadt, die selbst am frühen Morgen schon hellwach schien. Dann atmete sie tief ein und schritt unter dem Bogen hindurch.

Droschken und Viehwagen fuhren an ihr vorbei, Botenjungen und Dienstmädchen waren schon auf den Straßen unterwegs und erledigten ihr Tagewerk. Am Ufer der Trave spazierten die feinen Damen der Gesellschaft entlang, bewaffnet mit Sonnenschirmen, damit ihre Haut die vornehme Blässe nicht verlor. Kopfschüttelnd machte Amélie sich auf den Weg die Holstenstraße hinauf.

In ihrem schlichten Kleid aus dunkelblauem Stoff, das weder große Finesse noch schicke Ornamente aufwies, fühlte sie sich fast schon fehl am Platz. Mit den raffinierten Schneidermeisterwerken der Damen konnte sie nicht mithalten. Immerhin war ihr Kleid sauber, der Stoff herrlich weich, und das Kleid schmiegte sich angenehm an ihren Körper.

Eigentlich war sie zufrieden mit ihrem Leben. Es war einfach, aber gut. Nie hatte sie Entbehrungen erdulden müssen, denen zum Beispiel die Menschen am Hafen ausgesetzt waren. Und doch … manchmal war da diese winzige Sehnsucht nach einem besseren Leben.

»Nein«, murmelte sie und ballte die Hände zu Fäusten.

Dieses bessere Leben gab es nicht. Oder nur zu dem Preis, sich als Frau einem Mann unterzuordnen. Das jedoch wollte Amélie auf keinen Fall. Nein, sie war Lehrerin, mit Leib und Seele. Und damit war eine Heirat unmöglich.

Für sie war es kein Beruf, sondern eine Berufung.

Das hatte ihr Vater immer gesagt, und auch Dr. Mettenheimer, dessen Kinder sie vor ihrer Rückkehr nach Lübeck in Schwerin unterrichtet hatte, war der Meinung gewesen, dass sie eine geborene Lehrerin war.

Deswegen würde sie sich niemals an einen Mann binden. Viel verpasste sie da eh nicht, der Illusion von großer, wahrer Liebe hatte Amélie schon vor langer Zeit abgeschworen.

Sie seufzte leise, als sie an einigen Kindern vorbeilief, die in schmutziger Kleidung über die Straße rannten. Gott, wie sehr sie sich wünschte, dass all diese Jungen und Mädchen zur Schule gehen konnten. Doch die Welt, in der sie lebten, war nun einmal nicht gerecht.

Amélie bog in die Königstraße ab und ließ den Blick über die hübschen Fassaden der schmalen Fachwerkhäuser schweifen, die mit nautischen Ornamenten versehen waren. Die Gebäude leuchteten in den verschiedensten Farben. Hin und wieder sah man einen kleinen Gang, der zu den berüchtigten Höfen der Gebäude führte. In diese Hinterhöfe sollte man sich besser nicht verirren, das hatte Amélie damals mit ihrem Kindheitsfreund Richard gelernt, als …

Wie ein Blitz zuckte das Bild des Jungen, dessen Haare wie die Sonne leuchteten, durch ihren Geist. Sie erinnerte sich an mitternachtsblaue Augen und ein verschmitztes Lächeln. An das Rascheln von Buchseiten, an Worte, die nach Glück schmeckten.

Amélie blinzelte mehrmals und stand ein wenig verloren inmitten der Königstraße. Wo kam diese Erinnerung bloß her? Das alles war über zwanzig Jahre her, doch schien ihre Heimat längst Vergangenes wieder zutage zu fördern.

Eilig lief sie die Königstraße entlang und passierte die prächtige Marienkirche mit ihren grünen Dachschindeln und dem mächtigen Kirchenschiff. Leiser Gesang war aus dem Inneren zu vernehmen, doch Amélie hörte nicht genauer hin. Stattdessen bog sie in die Glockengießerstraße ab. Je näher sie der Hausnummer 271 kam, desto heftiger begann ihr Herz zu schlagen. Ihre Beine waren weich wie Pudding, als sie vor dem weiß gestrichenen schmalen Haus stehen blieb.

Die private Töchterschule ihrer Schwester Clara.

Sie hatte die Schwester seit Jahren nicht gesehen, die Anfrage, ob Amélie an der Schule unterrichten wolle, war aus heiterem Himmel gekommen. Doch das passte zu Clara wie die salzige Luft und der Geruch nach Marzipan zu Lübeck.

Im Gegensatz zu ihr war Clara ein Sonnenschein, ein Wirbelwind sondergleichen. Amélie dagegen war ruhiger und besonnener. Eine unabhängige Frau, die zwar ebenfalls nicht verheiratet, aber den Männern nicht abgeneigt war. Das galt als unschicklich, aber das war Amélie einerlei. Sie liebte ihre Schwester von ganzem Herzen.

»Amélie? Bist du am Bordstein festgewachsen?«

Die bekannte Stimme schreckte sie aus ihren Gedanken auf, und Amélie hob den Blick. Da stand sie. Ihre Schwester Clara Roquette.

Die trug ein dunkelgrünes, hochgeschlossenes Kleid aus feinem Stoff. Beinah ein wenig zu extravagant für ihren Beruf als Lehrerin, aber es schmeichelte Claras Rundungen, so viel musste Amélie zugeben. Die dunkelblonden Haare waren zu einem strengen Knoten im Nacken gebunden, aber ihre grünblauen Augen leuchteten verschmitzt.

»Clara, ich …«, setzte Amélie an, doch da war ihre Schwester schon bei ihr und zog sie in eine stürmische Umarmung.

»Endlich bist du eingetroffen«, wisperte Clara ihr ins Ohr, und ein dicker Kloß bildete sich in Amélies Hals.

Sie war lange fort gewesen, hatte zwar Kontakt mit ihrer Schwester gepflegt, aber dieser war eher spärlich gewesen. Doch nun war Amélie zurück, und ein merkwürdiges Gefühl fuhr durch ihre Glieder.

Ist das vielleicht Glück?, fragte sie sich im Stillen, als sie sich von Clara löste.

»Gut siehst du aus«, sagte ihre Schwester und lächelte.

Clara war acht Jahre älter als Amélie, inzwischen beinahe vierzig Jahre alt.

»Du auch«, erwiderte Amélie leise und sah an der Fassade des Gebäudes hinauf. »Es ist wunderschön.«

Clara hob eine ihrer fein geschwungenen Augenbrauen und schmunzelte. »Ich finde, von außen macht es nicht viel her, aber die Schulräume sind wirklich wunderbar. Komm, ich zeige dir alles. Pauline unterrichtet die Mädchen gerade in Heimatkunde, sie wird erst nachher Zeit haben.«

Pauline – noch eine ihrer Schwestern. Manchmal vergaß Amélie beinahe, dass sie neun Geschwister hatte. Pauline war die Älteste von ihnen, ging fast auf die fünfzig zu und war – wie konnte es anders sein – ebenfalls Lehrerin. In ihrer Kindheit war sie der Ruhepol der Familie gewesen.

»Nun komm, lass uns endlich hineingehen.« Clara deutete ins Innere des Schulgebäudes, und Amélie nickte eilig.

Himmel, sie ließ sich heute wirklich von jeder Kleinigkeit und jedem noch so fernen Gedanken ablenken.

Vielleicht liegt es an Lübeck selbst, dachte Amélie, als sie die Schule betrat, weil ich hier das Gefühl habe, frei atmen zu können. Als würden meine Gedanken tanzen.

Im Inneren der privaten höheren Töchterschule roch es frisch gewischt. Der braune Holzfußboden glitzerte in der Sonne, die durch die Fenster fiel. Leises Gemurmel war aus den Räumen zu hören, die sich vom Flur in den hinteren Teil des Gebäudes erstreckten.

Amélie linste durch einen Spalt in der Tür links von sich und blieb stehen. Beinah ehrfurchtsvoll ließ sie den Blick durch das Klassenzimmer schweifen. Zehn Mädchen im Alter von ungefähr fünfzehn und sechzehn Jahren saßen an Pulten und lauschten den Worten ihrer Schwester Pauline. Diese hatte einen Globus vorne auf das Lehrerpult gestellt und deutete auf einige Länder.

Die Mädchen trugen saubere Kleider in gedeckten Tönen mit gestärkten weißen Schürzen darüber. Sie schienen förmlich an Paulines Lippen zu hängen. Amélie verstand nur zu gut, wieso. Ihre älteste Schwester war wahrlich das Bild einer stolzen Frau. Die dunkelblonden Haare, durchzogen von einigen grauen Strähnen, die alle Geschwister vom Vater geerbt hatten, hatte sie zu einem Dutt gebunden. Kleine Lachfältchen zeichneten die Haut um ihre Augen, und die Art und Weise, wie sie Wissen vermittelte, zog jeden in den Bann.

Ein Kribbeln fuhr durch Amélies Glieder, und sie lächelte still. Ihr Herz schlug heftig gegen die Rippen, und mit freudigen Schritten folgte sie Clara, auch wenn es ihr schwerfiel, sich vom Anblick des Unterrichts loszueisen.

Dies war alles, was sie sich jemals erträumt hatte: Lehrerin an einer Mädchenschule zu sein. Der nächsten Generation Wissen weiterzugeben, ihr zu vermitteln, dass man als Frau sehr wohl ein selbstbestimmtes und eigenständiges Leben führen konnte.

»Du siehst glücklich aus«, bemerkte Clara, als sie an weiteren Klassenräumen vorbeigingen und die Treppe ansteuerten, die in die oberen Stockwerke hinaufführte.

»Ich bin glücklich«, entgegnete Amélie und wunderte sich selbst über diese Worte, die ihr normalerweise nur schwerlich über die Lippen kamen.

Seit sie Lübeck vor zwölf Jahren verlassen hatte, hatte sie kaum einen Gedanken an ihre Heimat verschwendet. Aber nun schien ihr Herz von Heimatgefühl geflutet zu werden. Und von dem Traum, der so lange in ihr geschlummert hatte und nun wahr wurde.

»Wie schön!«, rief Clara aus und klatschte in die Hände. »Denn ich habe eine Menge vor mit dir.«

Mit gerunzelter Stirn folgte Amélie ihre Schwester hinauf. Die Treppenstufen knarzten protestierend unter ihren Schritten. Im oberen Bereich des schmalen Hauses war es ein wenig zugig.

»Sind alle Klassenzimmer unten?«, fragte Amélie neugierig und sah sich um. In dieser Etage lag dunkelroter Teppich über dem Holzfußboden, und eine angenehme Stille herrschte in den Räumen.

»Ja«, erwiderte Clara, »aber wenn sich die Dinge so entwickeln, wie ich mir das vorstelle, werde ich diese Räume hier ebenfalls brauchen. In der dritten Etage leben Pauline und ich, für dich ist ebenso noch ein Zimmer frei. Die Küche und das Wohnzimmer sind klein, aber gemütlich. Wir haben auch ein Mädchen eingestellt, das uns mit den Einkäufen hilft und die Reinigung übernimmt.«

»Nobel«, murmelte Amélie grinsend.

»Nun, ich hätte niemals gedacht, dass die private Töchterschule so gut angenommen würde. Vor drei Jahren habe ich mit sechs Mädchen angefangen, nun habe ich über vierzig Schülerinnen verschiedener Altersklassen.«

Das war in der Tat beeindruckend. Die Schule war schnell gewachsen, und Clara schien alle Fäden geschickt in der Hand zu halten.

»Wie viele Klassen gibt es?«, fragte Amélie neugierig und schaute in die noch leeren Räume.

Sie waren alle frisch renoviert, das konnte sie am glänzenden, neu verlegten Boden erkennen und am Geruch nach frischer Farbe, der in ihrer Nase kitzelte.

»Es sind fünf Klassen, zwei mit Mädchen zwischen fünfzehn und siebzehn Jahren und jeweils eine mit Mädchen zwischen sechs und acht Jahren, neun und elf und zwölf bis vierzehn Jahren. Die meisten Mädchen kommen aus gutem Hause, ihre Väter sind Ärzte oder Beamte. Leider bleiben die wenigsten lange genug, um den Abschluss zu machen oder über eine andere Zukunft nachzudenken als die ihnen vorgegebene.«

Wehmut hatte sich in Claras Stimme geschlichen, und ihre sonst so sanften Gesichtszüge waren merkwürdig verzerrt. Amélie verstand sehr gut, warum. Die meisten Mädchen wurden von ihren Eltern mit fünfzehn oder sechzehn Jahren aus der Töchterschule genommen, um verheiratet zu werden. Viel zu früh, wie Amélie fand. Sie konnte kaum ausdrücken, wie dankbar sie war, dass ihre Eltern sie nicht in eine Ehe gezwungen hatten.

»So, genug Trübsal geblasen!« Das verschmitzte Lächeln erschien wieder auf Claras Gesicht, und die Traurigkeit war wie fortgewischt. »Ich werde schon noch dafür sorgen, dass mehr Mädchen einen ordentlichen Beruf erlernen.«

»Und wie?«

»Das erzähle ich dir ein anderes Mal.« Clara zwinkerte ihr zu. »Aber nun solltest du erst mal ankommen und deine Sachen auspacken, heute Abend gibt’s ein Festessen und …«

»Fräulein Clara?« Das Gesicht eines elf- oder zwölfjährigen Mädchens erschien am Treppenaufgang. Sie trug ihre braunen Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die in Schneckenform um ihren Kopf drapiert waren. Ihre Wangen waren leicht gerötet.

»Cecile? Bist du gerannt?«, fragte Clara und neigte den Kopf zur Seite.

»Ich … es …« Das Mädchen atmete einmal tief durch und seufzte dann leise. »Herr Rubens, Sylkes Vater, ist zugegen, und er möchte unverzüglich mit Ihnen sprechen, Fräulein Clara.«

Amélie sah zu ihrer Schwester, die einmal tief durchatmete. »Nun gut, dann sollten wir den Herrn wohl nicht länger warten lassen. Danke, Cecile, und nun geh zurück in deine Klasse. Aber gehen, hörst du? Nicht rennen.«

Cecile nickte und drehte sich um, dann jedoch schaute sie noch mal zurück. »Sind Sie Fräulein Claras Schwester Amélie?«

»Die bin ich in der Tat. Es freut mich, dich kennenzulernen, Cecile.«

»Die Freude ist ganz meinerseits. Fräulein Clara hat erzählt, dass Sie uns in Französisch, Literatur und Englisch unterrichten werden!«

»Hat sie das?« Amélie schielte zu ihrer Schwester, die nur mit den Schultern zuckte.

»Ja!«, rief Cecile begeistert. »Sie sollen eine Koryphäe in der französischen Sprache sein! Mir fallen die sperrigen Worte noch sehr schwer, Sie können da sicherlich helfen und sind bestimmt um einiges fähiger als Herr Krupp, der ist …« Cecile schlug sich die Hand vor den Mund und schaute beschämt zu Boden. Ihre Wangen waren erneut rot geworden.

»Ich tue so, als ob ich das nicht gehört hätte, Cecile. Und nun ab mit dir.« Clara machte eine wedelnde Handbewegung, und eilig trollte sich das Mädchen.

»Herr Krupp?«, fragte Amélie und folgte ihrer Schwester wieder hinunter ins Erdgeschoss.

»Ein alter Pastor, den ich übergangsweise als Lehrer für die sprachlichen Fächer eingestellt habe. Er ist nicht sonderlich beliebt bei den Mädchen …«

Amélie konnte sich gut vorstellen, warum das so war. Gerade männliche Lehrer tendierten immer noch recht oft dazu, den jungen Mädchen die angeblichen Unzulänglichkeiten ihres Geschlechts unter die Nase zu reiben. Die meisten von ihnen sahen auch keinen Nutzen in höheren Töchterschulen.

»Und wer ist dieser mysteriöse Herr Rubens?«, hakte Amélie weiter nach, als sie die untersten Treppenstufen erreicht hatte.

Clara verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ferdinand Rubens ist Beamter an der Oberschulbehörde, seine zehn Jahre alte Tochter Sylke wird bei uns unterrichtet. Ein schwieriger Zeitgenosse. Er steht der Bildung von Mädchen recht kritisch gegenüber.«

»Warum schickt er seine Tochter dann auf deine Schule?«

»Prestige, nehme ich an. Die Tochter eines Beamten an der Oberschulbehörde, die keine höhere Töchterschule besucht, wäre gesellschaftlich wahrscheinlich ein Makel.«

Das klang in der Tat nach einer schwierigen Konstellation, dachte Amélie und wollte ihrer Schwester eigentlich noch eine Frage stellen. Doch da hatten sie schon die große Eingangstür erreicht. Im Flur stand ein hochgewachsener Mann mit einem kleinen, schmächtigen Mädchen. Er hatte seine schwarzen Haare streng nach hinten gekämmt und trug einen dunklen Anzug. Beinahe wie ein Soldat stand er da. Das Mädchen war mit einem hellblauen Kleid mit der typischen Schürze bekleidet. Ihre ebenso schwarzen Haare waren zu einem Zopf geflochten, doch einige Strähnen hatten sich aus der Frisur gelöst. Außerdem war die Schürze schmutzig, genau wie ihre Wangen.

»Herr Rubens«, begrüßte Clara den Herrn und reichte ihm die Hand. »Was kann ich für Sie tun?«

»Fräulein Roquette«, spuckte er aus und schüttelte mit geschürzten Lippen den Kopf. »Ich bin zutiefst verärgert, dass Sie die Mädchen offenbar ohne Aufsicht durch die Stadt laufen lassen.«

»Bitte?« Clara runzelte die Stirn und sah Sylke an, die die Schultern hochzog und zu Boden schaute.

»Ich habe Sylke auf dem Holstenplatz aufgegriffen. Zusammen mit einer ihrer wilden Mitschülerinnen, der Tochter dieses Schneiders, der auch nur ein billiger Emporkömmling ist.«

Ferdinand Rubens schnalzte missbilligend mit der Zunge und legte eine Hand auf Sylkes Schulter. Das Mädchen zuckte zusammen, und ein gepresster Laut entkam ihren Lippen.

»Nun, Herr Rubens. Ich fürchte, Sie sind falsch informiert. Die jüngeren Mädchen machen heute einen Ausflug mit Herrn Krupp, der ihnen die Stadtgeschichte näherbringen soll. Die anderen Mädchen aus Sylkes Klasse sind noch nicht zurück. Dieser Ausflug geht bis mittags.«

»Wie bitte?« Rubens’ Gesichtszüge schienen zu versteinern. Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn, und seine Wangen wurden hochrot. »Hast du mich etwa belogen, Sylke?«

Er drehte seine Tochter zu sich und umfasste ihr Kinn. Das Mädchen zuckte erneut zusammen und schüttelte den Kopf. »Ich … nein, es …«

»Bitte, Herr Rubens.« Amélie konnte nicht anders. Sie schob sich zwischen Sylke und ihren Vater. »Ich bin mir sicher, dass die beiden Mädchen nur den Anschluss an die Gruppe verloren haben. Der Rathausplatz war heute Morgen schon sehr voll, es ist Markttag. So war es doch, oder nicht, Sylke?«

Vorsichtig nickte das Mädchen. Sie stand da wie ein scheues Reh, und ihre Hände zitterten. »Ja«, murmelte sie leise und senkte sogleich wieder den Kopf.

»Und wer, bitte schön, sind Sie?« Ferdinand Rubens musterte Amélie von oben bis unten. Sie hatte Mühe, seinem Blick nicht auszuweichen, so unwohl fühlte sie sich dabei.

»Dies ist meine Schwester, Amélie Roquette. Sie wird von nun an die Bildung der Mädchen in Herrn Krupps Unterrichtsfächern übernehmen. Sie brauchen sich daher nicht zu sorgen, dass Sylke noch einmal verloren geht.«

Der Mann murmelte etwas Unverständliches und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nun gut, aber ich verlange, dass Sie in Zukunft besser auf meine Tochter aufpassen. Frauen und junge Mädchen sollten nicht ohne Begleitung unterwegs sein, dafür sind sie nicht gemacht.« Herr Rubens drehte sich ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz um und verließ die Schule. Kurz bevor er auf die Straße trat, wandte er sich jedoch nochmals um. »Wir sprechen uns heute Abend, Sylke.«

Das Mädchen blickte erschrocken drein und verschränkte die Hände vor dem Körper. »Ja, Vater«, erwiderte sie leise.

Ferdinand Rubens nickte nur stumm und verschwand dann eilig die Straße hinunter. Amélie musterte das Kind eingehend.

»Ich weiß, du kennst mich kaum, aber sag: Geht es dir gut?«

Sylke neigte den Kopf fragend zur Seite und musterte Amélie irritiert. Die schwarzen Haare umrahmten ihr Gesicht wie Schatten, und ihre Haut war blass, fast so weiß wie Papier.

»Sie schimpfen auch nicht mit mir?«

Amélie lächelte matt und sah zu Clara hoch. »Nun, ich denke, das wird meine Schwester übernehmen. Aber ihr ist es sicherlich genauso wichtig, dass es dir gut geht.«

»Das stimmt.« Clara beugte sich zu Sylke hinunter und sah sie ernst an. »Es war sehr ungezogen von dir und Minna, zu türmen, aber nun sag: Wo ist deine Freundin überhaupt?«

»Ich habe ihr gesagt, dass sie weglaufen soll, sonst hätte der Zorn meines Vaters sie auch noch erwischt. Wir wollten uns nur ein wenig beim Holstentor umsehen. Herr Krupp ist wieder in seine langen Tiraden über die Geschichte der Stadt abgeschweift …« Sylke verdrehte mit einem winzigen Lächeln auf den Lippen die Augen, wurde aber sogleich wieder ernst. »Es tut mir leid.«

»Schon in Ordnung …« Clara winkte ab. »Doch du wirst dich bei Herrn Krupp ebenfalls entschuldigen müssen, und nun geh in deinen Klassenraum, die anderen kommen sicherlich auch bald zurück.«

»Jawohl.« Sylke straffte die Schultern, atmete tief durch und ging an ihnen vorbei.

Nachdenklich sah Amélie ihr nach. Urplötzlich war ihr eisig kalt, als würde sich eine Hand um ihre Kehle schließen.

»Und genau deswegen bin ich froh, dass du hier bist.« Clara legte einen Arm um Amélies Schulter und drückte sie kurz an sich.

»Bitte?«, fragte Amélie, noch völlig in Gedanken versunken.

»Du sorgst dich jetzt schon um das Wohl der Schülerinnen, obwohl du eben erst angekommen bist. Du bist wahrlich die perfekte Lehrerin.«

»Mhm …«, machte Amélie unbestimmt und folgte ihrer Schwester zurück zu den Klassenräumen.

Kapitel 2

Amélie
Private Töchterschule der Schwestern RoquetteLübeck, November 1874

Klirrende Kälte herrschte vor den Fenstern der Töchterschule. Kleine Eiskristalle zogen sich über das Glas, in dem sich die blasse Wintersonne spiegelte. Ruhe lag über der Schule, Ruhe, die Amélie in vollen Zügen genoss.

Die ersten zwei Schulstunden waren schon vorbei, und langsam wurde es behaglich warm im Klassenzimmer. Die Schülerinnen hatte sie ein wenig an die frische Luft im Innenhof geschickt. Zuerst hatte es den üblichen Protest gegeben, aber nun schienen sie draußen ihren Spaß zu haben.

Amélie erhob sich vom Pult und schaute aus dem Fenster. Es hatte begonnen zu schneien, und die Mädchen im Alter von vierzehn und fünfzehn Jahren betrachteten die weißen Himmelsflocken selig, formten mit ihren Händen sogar zarte Schneebälle, um sich damit gegenseitig zu bewerfen.

Eigentlich war das ziemlich unschicklich für junge Damen, die einmal feine Ehefrauen werden sollten. Aber Amélie war das einerlei. Sie wollte den Mädchen diese kostbare Zeit der Unbeschwertheit nicht nehmen. Sie mussten ohnehin so schnell erwachsen werden.

Erst heute war der Vater einer ihrer Schülerinnen, Anja, aufgetaucht und hatte sie darüber informiert, dass er seine Tochter im Frühjahr aus dem Unterricht nehmen würde. Er hatte einen passenden Mann für sie gefunden, und nun war es für Anja an der Zeit zu heiraten.

Gott, ich wünschte mir, dass sie wenigstens eine Wahl hätten, dachte Amélie und biss sich auf die Unterlippe.

Dieser Gedanke, dass alles, was sie den Mädchen beibrachte, am Ende ohnehin nur Schall und Rauch war, quälte sie. Natürlich, kein Mann wollte eine Frau an seiner Seite haben, mit der er kein vernünftiges Gespräch führen konnte. Ein wenig gebildet sollte sie schon sein. Aber nicht zu viel, denn am Ende waren sie vor allem eins: für den Haushalt verantwortlich und Mütter. Es musste doch irgendwie möglich sein, den Mädchen zu zeigen, dass eine Hochzeit nicht das Einzige war, was sie im Leben erreichen konnten. Wobei, das eigentliche Problem waren natürlich die Eltern, die ihre Töchter zu stillen Ehefrauen erzogen.

Es klingelte zur nächsten Stunde, und Amélie schüttelte eilig den Kopf, versuchte, die dunklen Gedanken loszuwerden.

Als Nächstes stand Literatur auf dem Plan. Sie würde mit den Mädchen Gedichte analysieren.

Langsam füllte sich der Klassenraum mit schnatternden Mädchenstimmen. Amélie wartete geduldig, bis sie ihre Mäntel an die Haken im hinteren Teil des Raumes gehängt und wieder Platz genommen hatten. Es dauerte einen Moment, bis Ruhe einkehrte, doch dann sah sie in elf erwartungsvolle Gesichter.

»Ist euch warum genug?«, fragte sie als Erstes.

Anja, die bald nicht mehr bei ihnen sein würde, ergriff das Wort. »Herr Krupp hätte uns das niemals gefragt.«

»Nun …« Amélie neigte den Kopf zur Seite. »Wie gut, dass ich nicht Herr Krupp bin, nicht wahr?«

Leises Gekicher erfüllte den Raum, und Amélie begann damit, die Bände mit den Gedichten von Bettina von Arnim auszuteilen. Sie war dankbar, dass ihre Schwester Clara mit außerordentlicher Weitsicht von beinah jedem Buch mehrere Exemplare bestellt hatte. So mussten sich meist nur zwei Mädchen ein Exemplar teilen, was beinah Luxus war im Gegensatz zu anderen Schulen, in denen es jeweils nur ein Buch pro Klasse gab.

Bettina von Arnim war eine von Amélies Lieblingsdichterinnen. Eine Frau, die geschickt mit Worten umgehen konnte, sich von den Männern nie hatte einschüchtern lassen und sogar mit Goethe befreundet gewesen war.

»Schlagt die Bücher bitte auf Seite 27 auf, wir lesen das Gedicht Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt. Ich möchte, dass ihr die Sprache analysiert und die Botschaft des Gedichts deutet, dann fassen wir alles an der Tafel zusammen und besprechen unsere Ergebnisse.«

»Wir dürfen allein arbeiten?«, fragte nun ein anderes Mädchen namens Stine. Sie hatte dunkelrotes, lockiges Haar und Sommersprossen.

»Natürlich. Ich halte euch für fähig, selbstständig eine Aufgabe durchzuarbeiten und später alles mit mir zusammenzutragen. Und ja, mir ist bewusst, dass Herr Krupp anders unterrichtet hat. Aber langsam solltet ihr mich doch kennen, oder nicht?«

»Ja, Fräulein Amélie«, antworteten die Mädchen im Chor, was ihr ein leises Lachen entlockte.

Die Schwestern wurden in der höheren Töchterschule mit Vornamen angesprochen, denn es war schnell klar geworden, dass man bei drei Fräulein Roquettes nur durcheinanderkommen konnte.

Amélie wählte Anja aus, das Gedicht vorzulesen. Die junge Frau hatte eine wunderbare, klangvolle Stimme. Alle lauschten ihr wie gebannt, während sie Zeile für Zeile vortrug und spielend leicht an den richtigen Stellen die perfekte Betonung setzte.

Als Anja geendet hatte, gab Amélie den Mädchen weitere Anweisungen, und sie begannen in Stillarbeit, das Gedicht zu analysieren. Federkiele kratzten über Papier, und der Geruch von Tinte erfüllte den Raum. Amélie beobachtete ihre Schülerinnen genau, denn wenn sie eines in den letzten Jahren als Gouvernante und Lehrerin in Schwerin gelernt hatte, dann, dass jedes Kind anders war. Dass jeder anders lernte und begriff. Deswegen machte sie im Unterricht immer wieder Fragerunden mit den Mädchen, um sie besser kennenzulernen.

Sie ergriff die Kreide und begann schon einige Stichworte an die Tafel zu schreiben, als das Gesicht ihrer Schwester Clara im Türrahmen erschien. Ihre Wangen waren gerötet, einzelne Strähnen fielen aus ihrem strengen Dutt. Der Glanz in ihren Augen hatte etwas Ungezügeltes, beinahe Aufgeregtes.

»Clara?«, sagte Amélie irritiert, und einige Köpfe drehten sich zur Tür. »Mädchen«, wies Amélie sie mit milder Strenge in der Stimme an, sich wieder auf ihre Aufgaben zu konzentrieren.

Die Schülerinnen begannen leise miteinander zu flüstern, und Amélie ging zu ihrer Schwester, die im Flur wartete und wie ein kleines Kind von einem Bein auf das andere tippelte.

»Was in Gottes Namen ist mit dir los?«, fragte Amélie und konnte eine leichte Verärgerung in ihrer Stimme nicht unterdrücken. Sie liebte ihre Schwester, aber sie schätzte es wenig, wenn jemand den Unterricht störte, auch wenn es Clara Roquette war.

»Nun blick nicht so grimmig drein«, wies die Schwester sie pikiert zurecht. »Deine Schülerinnen sind zahme Lämmchen, sie werden ihre Aufgaben auch ohne dich erledigen.«

Amélie verzichtete auf einen Kommentar und wedelte ungeduldig mit der Hand, um ihre Schwester zum Weitersprechen zu animieren. »Nun sag schon, was du von mir möchtest.«

»Erinnerst du dich daran, dass ich dir von meinem Plan erzählen wollte, den ich verfolge?«

»Jetzt?« Amélie zog die Stirn in Falten und konnte ihre Irritation kaum verbergen. »Das hat doch auch bis heute Nachmittag Zeit.«

Natürlich erinnerte Amélie sich daran, dass ihre Schwester vor zwei Monaten, als sie in Lübeck eingetroffen war, große Pläne angedeutet hatte. Doch in den letzten Wochen hatte Clara sich in Schweigen gehüllt und ein riesiges Geheimnis daraus gemacht. Wann immer Amélie sie darauf angesprochen hatte, war sie ausgewichen.

»Ich platze beinahe und kann nicht bis heute Nachmittag warten«, rief Clara etwas zu laut aus und schlug sich sogleich die Hand vor den Mund.

Gott, manchmal konnte Amélie nicht glauben, dass ihre Schwester wirklich beinah vierzig Jahre alt war. Sie benahm sich eher wie ein halbwüchsiges Mädchen.

»Dann erzähl endlich, damit ich die Sauerei nicht wegmachen musst, wenn du platzt«, entgegnete Amélie trocken, und ihre Schwester schnappte nach Luft.

»Oi!«, rief sie aus, und Amélie verdrehte die Augen.

»Wenn du so weitermachst, dann halten dich die Leute bald für ein Waschweib vom Hafen und nicht für eine Lehrerin.«

»Bist du wirklich meine Schwester?«

»Nun sprich endlich, Clara!« Amélie konnte sich zwar ein Lächeln nicht verkneifen, aber sie wollte wirklich zurück in den Unterricht.

»Wir werden ein Gesuch bei der Oberschulbehörde einreichen, um ein Lehrerinnenseminar an dieser Schule anzugliedern!«

Es dauerte einige Sekunden, bis die Worte ihren Weg in Amélies Kopf fanden. Sie sickerten zäh durch ihren Verstand, und nur langsam schien sie die Bedeutung zu verstehen.

»Ein … ein Lehrerinnenseminar?«, wiederholte Amélie und verschränkte die Arme vor der Brust. Ein Kribbeln, als würden tausend Ameisen über ihre Glieder huschen, erfüllte sie.

»Ja!« Clara breitete die Arme aus. »Wir bilden in Zukunft Lehrerinnen aus. Damit geben wir jungen Frauen die Möglichkeit, einen ehrbaren Beruf zu erlernen, mit dem sie selbstständig Geld verdienen können.«

»Aber …«, setzte Amélie an, doch Clara hob die Hand und schnitt ihr das Wort ab.

»Wir werden genauso ein Seminar aufbauen wie unser Schwager Hermann Lorenz, bei dem du gelernt hast. Wir werden ihm und Minna einen Brief schreiben und uns einiges abschauen.« Clara sprach wie ein Wasserfall, sie war nicht mehr aufzuhalten. Ihre Wangen glühten förmlich, und dieser Glanz in ihren grünblauen Augen sorgte dafür, dass Amélie leise auflachen musste.

»Was?«, fragte die Schwester argwöhnisch, doch Amélie winkte nur ab.

»Nichts, nur …« Zögerlich sah Amélie durch den Türspalt ins Klassenzimmer, ihr Blick streifte Anja, die von ihren Mitschülerinnen mit Fragen zu dem Gedicht gelöchert wurde. Das Mädchen war mit Abstand die Klügste in der Klasse. Eine Hochzeit mit einem Mann, der das nicht zu schätzen wusste, wäre eine Verschwendung ihres Intellekts.

»Das ist eine wunderbare Idee, Clara. Doch ich bin mir nicht sicher, ob ich dem gewachsen bin. Zukünftige Lehrerinnen zu unterrichten, meine ich …«

»Natürlich bist du das! Du stellst dein Licht mal wieder unter den Scheffel. Du hast das Lehrerinnenseminar bei Hermann in einem statt in drei Semestern absolviert. Du bist mit Abstand eine der klügsten Frauen, die ich kenne. Lass uns gleich heute Abend den Brief an Minna schreiben, und dann gehen wir zusammen durch, ob wir alles für unser offizielles Gesuch beisammenhaben.«

Amélie seufzte leise und legte eine Hand auf ihre Brust, sie spürte ihren Herzschlag unter den Fingerspitzen pulsieren und dachte an ihre ältere Schwester Minna –Amélie war die Jüngste aller Geschwister – und ihren Mann Hermann. Hermann Lorenz Roquette war Prediger der französisch-reformierten Kirche in Königsberg. Bei ihm hatte sie gelernt, was eine gute Lehrerin ausmachte. Sowohl fachlich als auch pädagogisch. Ihr Vater hatte sie dorthin geschickt, als Amélie achtzehn Jahre alt war. Er hatte offenbar früher als sie selbst erkannt, dass sie zu Höherem berufen war. Doch bisher hatte ihr der Mut gefehlt, von einem eigenen Lehrerinnenseminar auch nur zu träumen. Außerdem …

»Denkst du wirklich, dass die Oberschulbehörde diesem Gesuch stattgeben wird? Wir sind Frauen, Clara, wir …«

»… sollten am Herd stehen und kochen? Wir können nicht das schaffen, was Männer tun?«, unterbrach ihre Schwester sie harsch.

Eine Welle des schlechten Gewissens schwappte über Amélie hinweg, und sie knetete unruhig ihre Hände. Sie hatte die Idee ihrer Schwester nicht in der Luft zerreißen wollen.

»Clara …« Vorsichtig streckte sie die Hand nach ihrer Schwester aus, doch die trat einen Schritt zurück.

»Du findest meinen Plan also nicht gut«, erwiderte sie und presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie weiß wurden.

»Nein, nein, ich …«

»Dann werde ich Minna eben selbst schreiben. Ich werde schon dafür sorgen, dass wir jungen Mädchen eine Zukunft geben können. Mit oder ohne deine Unterstützung!«

»Clara!« Ihre Worte waren schneidend, gefährlich leise und doch unendlich laut im menschenleeren Flur. »Unterbrich mich nicht ständig, verflixt und zugenäht!«

Ein Tuscheln erklang hinter Amélie, und sie drehte sich langsam um. Die Mädchen hatten sich zusammen um Anjas Tisch geschart, aber nun waren sie verstummt.

»Fräulein Amélie hat geflucht«, wisperte Frieda, eine gute Freundin von Anja.

»Wie ungezogen«, flüsterte Anja zurück, konnte sich jedoch ein Grinsen nicht verkneifen.

Amélie verdrehte die Augen und sah wieder zu ihrer Schwester. Jetzt mit den Schülerinnen zu schimpfen, würde zu nichts führen.

Clara hatte die Arme verschränkt und wippte mit dem Fuß auf und ab. »Ich höre, Frau Oberst«, sagte sie spöttisch, schien jedoch versöhnlicher gestimmt, was Amélie an einem angedeuteten Lächeln und der hochgezogenen Augenbraue ablas.

»Ständig überrumpelst du mich mit deinen Plänen, mit all diesen Luftschlössern, die du dir schon in unserer Kindheit gebaut hast …«, begann Amélie und räusperte sich. »Abgesehen davon finde ich die Idee hervorragend. Nur sollten wir uns darüber im Klaren sein, wie viel Arbeit und Vorbereitung eine solche Bewerbung bedeutet.«

»Heißt das, du bist dabei?«, wagte Clara zu fragen.

Dass Clara das Seminar auch ohne Amélie eröffnen würde, war ihr klar. Da war es ihr lieber, dass sie mit ihrer Schwester gemeinsam diesen Weg ging. Und Amélie wollte das auch. »Natürlich, werte Schwester.«

Clara jubelte und warf sich in Amélies Arme.

Herrjemine, sind wir tatsächlich miteinander verwandt?, dachte Amélie und tätschelte ihrer Schwester etwas ungelenk den Rücken.

Clara löste sich nach einiger Zeit von Amélie und lächelte sie breit an. »Ich hatte solche Sorge, dass du mich für größenwahnsinnig hältst.«

»Darf ich nun zurück zu meiner Klasse?«

»Natürlich!« Clara machte eine wedelnde Handbewegung. »Geh nur, aber heute Abend beginnen wir mit den Vorbereitungen für das Seminar.«

»Sehr wohl, Fräulein Roquette«, erwiderte Amélie neckisch und ging wieder zurück in den Klassenraum.

Ihre Schülerinnen hatten bereits begonnen, ihre Ergebnisse zur Analyse des Gedichts an der Tafel zusammenzutragen. Anja stand vorne und notierte die Antworten. Eine geschäftige Atmosphäre lag über dem Klassenzimmer, die nur von leisem Gemurmel und dem Quietschen der Kreide durchbrochen wurde.

»Fräulein Amélie«, Anja sah sie erwartungsvoll an, »ist alles in Ordnung?«

»Ja, alles bestens.«

Anja wollte ihr die Kreide geben, doch Amélie winkte lächelnd ab, während so etwas wie Stolz in ihrer Brust anschwoll.

»Nein.« Sie lächelte Anja aufmunternd an. »Macht ruhig weiter. Du scheinst die Klasse gut im Zaum zu halten, Anja.«

Das Mädchen grinste Amélie an und vollführte einen Knicks. »Sehr gerne, Fräulein Amélie.«

Während Anja ihre Mitschülerinnen drannahm und mit ihnen über die Analyse sprach, setzte Amélie sich in eine der hinteren Reihen und beobachtete die Mädchen. Sie kam nicht umhin, sich jedes von ihnen als Lehrerin vorzustellen.

In ihrem Kopf malte sie sich schon aus, welche Fächer sie im Seminar unterrichten würde. Wie der Stundenplan aussehen könnte und welche Bücher sie neu kaufen müsste, um auf dem neusten Stand der Bildung zu sein. Im Geiste notierte Amélie sich eine Reihe von Fragen, die sie ihrem Schwager Hermann stellen würde.

Amélie lächelte versonnen. Plötzlich hatte sie das Gefühl, Teil von etwas Großem zu sein. Wenn es gut läuft, können wir ein neues Zeitalter für die Mädchenbildung einläuten.

 

Der Wind pfiff um die Häuserecke und dröhnte in Amélies Ohren. Sie schlug den Kragen ihres Mantels hoch, als sie die Trave erreichte, deren Oberfläche von kleinen Wellen gekräuselt wurde. Der Himmel war wolkenverhangen, aber es regnete zumindest nicht.

Doch Amélie genoss diesen kleinen Spaziergang an der frischen Luft sehr. Nach einem langen Tag an der Schule hatte sie sich angewöhnt, jeden Abend durch ihre alte Heimat zu spazieren. Die Orte zu besuchen, die sie als Kind wie ihre Westentasche gekannt hatte und die ihr nun manchmal fremd vorkamen.

Sie überquerte die Straße An der Untertrave und ging auf eine der Bänke zu, die auf der Grünfläche zur Trave standen. Zufrieden setzte sie sich und holte eine zerknitterte Tüte aus ihrer Manteltasche. Sofort hörte sie Flügelschlagen, und einige Enten und sogar eine Möwe scharten sich um die Bank.

Amélie begann, die Vögel mit dem alten Brot vom Vortag zu füttern, und genoss die herrliche Ruhe der Natur und des plätschernden Wassers, welche am Abend langsam Einkehr in die Stadt fand. Die Sonne hatte sich bereits hinter dem Horizont zurückgezogen, und die Luft schmeckte herrlich herb und salzig auf ihrer Zunge.

»Mögen Sie es auch, die Vögel zu füttern?«, fragte plötzlich eine Stimme neben ihr. Amélie sah irritiert auf.

Vor ihr stand ein Mädchen in einem dunkelblauen groben Kleid, das ein wenig zu klein schien. Der Stoff spannte sich an den Ärmeln, und die Knöchel des Mädchens blitzten unter dem Saum hervor. Ihre blonden Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten, die als Kränze am Kopf anlagen. Mitternachtsblaue Augen blickten Amélie neugierig an.

»Ja, schon als Kind hat mir das große Freude gemacht«, erwiderte Amélie. »Möchtest du auch?«

»Darf ich?« Das Mädchen sah sie begeistert an, und das Leuchten ihrer Augen erinnerte Amélie an Sterne. An eine längst vergangene Erinnerung, die ihr Herz zum Pulsieren brachte.

»Natürlich.« Amélie reichte dem Kind, das nicht älter als acht Jahre sein mochte, die Tüte.

Mit einer niedlichen Begeisterung begann das Mädchen die Vögel zu füttern und quietschte vergnügt auf, als eine Ente ihr ein Brotstück aus den Fingern stibitze.

Amélie sah sich irritiert um, entdeckte jedoch niemanden, zu dem das Mädchen zu gehören schien. Doch sie konnte unmöglich allein am frühen Abend in der Stadt unterwegs sein. Ihre Kleidung war nicht neu, aber sie wirkte trotzdem wohlgenährt und sah gepflegt aus. Sie musste …

»Natalie!«, erscholl da ein Ruf, und das Mädchen sah sich ertappt um. Sie biss sich auf die Unterlippe und senkte den Blick, als ein Mann die Straße überquerte und auf sie zugerannt kam.

Amélie sah ihn an, und ihr Herz setzte einige Sekunden aus. Das war nicht irgendein Mann. Nein, das war …

»Du sollst doch nicht einfach weglaufen, wenn ich gerade Geschäftliches bespreche. Es gehört sich nicht, dass du allein in der Stadt herumstreunst.«

»Aber Papa!«, ereiferte sich das Mädchen – von dem sie nun wusste, dass es Natalie hieß – und stemmte empört die Hände in die Hüften. »Mir war langweilig.«

»Das …« Der Mann kratzte sich am Kopf, dann fiel sein Blick auf Amélie, und er erstarrte zur Salzsäule.

Ihr Herz schlug plötzlich mit einer Heftigkeit weiter, dass Amélie schwindelig wurde und die Welt vor ihren Augen verschwamm. Ihre Kehle zog sich zu, während Erinnerungen wie eine Welle über sie hinwegschwappten.

Glitzerig – was heißt das überhaupt?

Du wärst eine wunderbare Lehrerin.

Raschelnde Buchseiten. Sonnenlicht, das über den Boden tanzte, und Staub, der aufgewirbelt wurde. Das glitzernde Wasser der Trave. Ihre Hand, die seine streifte.

Wilde blonde Locken, die sich um seinen Kopf wanden.

»Sonnenkopf«, flüsterte Amélie und schlug sich sogleich peinlich berührt die Hand vor den Mund.

»Amélie?«, fragte der Mann – fragte Richard, ihr Richard Halberstett. Der Junge, dem sie vor über zwei Jahrzehnten das Lesen beigebracht hatte, auf dem Dachboden des Katharineums.

»Richard …« Sie musste sich räuspern, sie musste aufstehen, den Boden unter ihren Füßen fühlen. Denn die Welt schien aus den Angeln gehoben zu sein. Ihre Fingerspitzen kribbelten, und sie konnte nicht glauben, was ihre Augen deutlich sahen.

»Du … bist es wirklich.«

»Ja«, antwortete sie schlicht. Zu mehr Worten war sie nicht fähig. Da stand ihr alter Kindheitsfreund. Der Küchenjunge, der ihr Märchen vorlas.

Der Mann, der dich einmal zur Frau haben wird, ist ein Glückspilz! Seine Worte von damals hallten durch ihren Kopf, dröhnten in ihren Ohren, und ein sanftes Lächeln bahnte sich den Weg auf ihre Lippen, als sie an ihn dachte. Gott, es war ewig her, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte. Und nun stand er hier vor ihr, kaum verändert.

Oder vielleicht doch?

Bei genauerem Hinsehen schien er doch ein anderer zu sein. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen, sein Jackett war zerknittert, und er wirkte erschöpft.

»Papa …« Natalia neigte den Kopf fragend zur Seite und schaute verwirrt zwischen ihnen hin und her. »Kennst du die Dame?«

Amélie presste die Lippen aufeinander und rieb sich mit den Händen über die Unterarme. Sie musste die Verwirrung über dieses plötzliche Treffen abschütteln.

Auch Richard schien verwirrt und fuhr sich durch die Haare, straffte die Schultern und lächelte seine Tochter an.

»Das tue ich in der Tat. Die Dame ist Amélie Roquette, eine alte Freundin aus meiner Kindheit. Wenn mich nicht alles täuscht, ist sie Lehrerin, oder nicht?«

»Lehrerin?«, rief Natalie, bevor Amélie überhaupt antworten konnte. »Sie sind Lehrerin? Wirklich? Wie großartig! Ich möchte auch gerne Lehrerin werden, aber ich gehe noch nicht mal zur Schule …«

Ein melancholischer Ausdruck huschte über die feinen Gesichtszüge des Mädchens, und sie starrte auf ihre Schuhspitzen.

»Natalie …« Richards Stimme klang warnend, aber zugleich unendlich traurig. Als würde das Gewicht der Welt auf seinen Schultern lasten.

»Ich …«, setzte Amélie an und wusste nicht so recht, was sie sagen sollte.

»Bitte entschuldige, wenn meine Tochter dich belästigt hat. Sie ist ein wenig ungestüm.«

Seine Tochter.

Erst jetzt wurde Amélie mit bestechender Klarheit bewusst, dass Natalie ihn »Papa« genannt hatte. Sie war so in Erinnerungen versunken gewesen, dass sie das Wort ausgeblendet hatte.

»Dann … dann bist du verheiratet?«

Ich klinge enttäuscht, schoss es Amélie durch den Kopf, als ihre Worte durch die Luft sirrten und dumpf zu Boden fielen. Herr im Himmel, wieso klinge ich enttäuscht? Als ob ich jemals heiraten würde!

»Ich war verheiratet«, korrigierte Richard sie mechanisch und verzog das Gesicht. »Meine Frau ist vor drei Monaten an einer Lungenkrankheit gestorben.«

»Oh«, machte Amélie. Ihr Blick huschte zu Natalie.

Das Mädchen war in sich zusammengesunken, und ein leises Schluchzen zerriss die Stille des Abends. Doch bevor Richard auf seine Tochter zugehen wollte, schnappte das Mädchen sich die Brottüte und lief hinunter zum Wasser. Die Enten folgten ihr schnatternd, und Richard blieb regungslos stehen.

»Sie spricht nicht darüber, will es nicht wahrhaben. Und wann immer die Trauer über den Verlust der Mutter sie übermannt, rennt sie fort. Darin ähnelt mein Kind mir viel zu sehr«, erklärte Richard matt und seufzte leise.

»Mein Beileid.« Amélie verschränkte die Hände ineinander und betrachtete Richard eingehend.

Dieses Wiedersehen hätte sie sich anders vorgestellt, nein, eigentlich hatte sie sich niemals vorgestellt, Richard jemals wiederzusehen. Doch wenn, dann hätte sie sich gewünscht, dass es weniger traurig wäre. Weniger verwirrend.

»Danke …« Er wandte den Blick ab und kratzte sich am Hinterkopf, schien auch nicht recht zu wissen, was er sagen sollte. Wie er mit dieser Situation umgehen sollte. »Was treibt dich zurück in die Heimat?«, fragte er nach einiger Zeit.

»Meine Schwester Clara hat vor ein paar Jahren eine höhere Töchterschule eröffnet, ich unterrichte dort.«

»Wie schön, dann bist du nun sogar eine richtige Lehrerin an einer Schule geworden, nachdem du bei Familien als Gouvernante warst. Ich erinnere mich, dass du damals deswegen fortgegangen bist. Dein Traum ist also wahr geworden.« Richard strahlte sie an, doch sein Lächeln erreichte nicht seine blauen Augen.

Amélie nickte nur schweigend und sah zu Natalie, die über die Wiese lief und die letzten Brotkrumen an die Tiere verteilte.

»Sie geht nicht zur Schule?«

Richard stieß zischend die Luft aus und setzte sich auf die Bank. Er verschränkte die Hände ineinander und starrte auf das glänzende Wasser der Trave.

Amélie blieb stehen, unsicher, ob sie sich neben ihn setzen sollte. Doch ihr Herz schien danach zu verlangen, es pulsierte heftig in ihrer Brust, und ihre Hände waren feucht.

Was ist bloß los mit mir?, dachte sie und setzte sich vorsichtig hin, darauf bedacht, genügend Abstand zwischen sich und Richard zu lassen, damit es nicht unschicklich war.

»Wir haben in Hamburg gelebt, dort habe ich meine Frau kennengelernt. Nachdem du Lübeck verlassen hast, bin ich durch die Welt gestreift, hatte nirgendwo ein Zuhause. Doch dann bin ich meiner Rabea begegnet, und wir haben uns ineinander verliebt. Sie war die Tochter eines Fleischers, ich konnte ihr nicht viel bieten als Koch, doch das war ihr einerlei …«

Ein seltsamer Glanz spiegelte sich in Richards Augen, Schmerz huschte über seine Züge.

»Wir haben geheiratet und in einer kleinen Wohnung in der Speicherstadt gelebt. Natalie wurde geboren, und unser Leben war gut. Wir hatten nicht viel, aber wir hatten uns. Doch vor einigen Monaten erkrankte Rabea. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt eine zweite Lehre bei einem Kaufmann angefangen und sollte bald seine rechte Hand werden. Doch Rabea hat das nicht mehr erlebt. Sie starb an einer Lungenentzündung, und ihr Vater, der uns bei der Wohnung unter die Arme gegriffen hatte, warf uns raus. Er gab mir die Schuld, dass seine Tochter gestorben ist … weil ich, weil …«

Er stockte und presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie weiß wurden. Amélie wollte die Hand nach ihm ausstrecken, ihren alten Freund trösten. Doch irgendetwas hielt sie auf. Eine unsichtbare Macht sorgte dafür, dass sie wie zur Salzsäule erstarrt war.

»Er sagte mir, ich wäre niemals gut genug für seine Tochter gewesen. Es sei ein Fehler gewesen, ihr diese Hochzeit zu erlauben«, spuckte Richard die nächsten Worte aus und fuhr sich durch die Haare. »Natalie und ich standen vor dem Nichts. Doch der Kaufmann, bei dem ich meine Lehre machte, Herr Markmann, hatte Mitleid mit uns. Er wollte in Lübeck ein neues Kontor eröffnen und lud mich ein, ihn zu begleiten und mit Natalie in seinem Haushalt zu wohnen. Inzwischen habe ich meine Lehre beendet, und langsam fasse ich wieder Fuß, aber ich muss noch Schulden bei Rabeas Vater abbezahlen, sodass ich mir das Schulgeld für Natalie nicht leisten kann …«

»Oh, Richard«, flüsterte Amélie und kämpfte gegen das lähmende Gefühl der Ohnmacht an. Mit aller Kraft hob sie ihre Hand und strich sanft mit ihren Fingern über die seinen. Die Berührung war, als würde ein Funkenregen auf ihrer Haut und in ihrem Herzen explodieren.

Sie keuchte auf, als er den Kopf zu ihr drehte und sie jede Regung in seinem Gesicht erkennen konnte. Die Luft zwischen ihnen begann zu knistern. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben und sie wären wieder Kinder. Zwischen raschelnden Buchseiten und heiserem Flüstern ruhte ihr Kopf auf seiner Schulter. Eine Haarsträhne kitzelte ihr Gesicht, und sie verlor sich in diesem Strudel der Erinnerungen.

»Es … es tut mir leid …«, sagte Richard nach kurzem Zögern, zog seine Hand weg und unterbrach den magischen Moment jäh. Die Zeit tröpfelte gemächlich weiter, wie der sich anbahnende Regen es wohl bald tun würde, den eine dicke Gewitterwolke ankündigte.

»Nein, mir tut es leid«, murmelte Amélie und starrte auf ihre Hand, die nun einsam auf der Bank lag. »Hätte ich gewusst, dass du …« Sie brach ab. Ja, was dann? Hätte sie gewusst, dass er geheiratet hatte und seine Frau gestorben war, dann hätte sie ihm geholfen? Ein dummer Gedanke. Sie selbst hatte auch nicht viel. Genug zum Leben, aber nichts zu verschenken.

»Es macht keinen Unterschied.« Richards Miene verschloss sich wieder, und der Knabe von damals verschwand. Nichts blieb von ihrem Sonnenkopf mehr übrig. Nichts außer Schall und Rauch. »Wir sollten jetzt gehen. Es ist schon spät und …« Richard winkte Natalie zu sich, die ihrem Vater jedoch kaum Beachtung schenkte und weiter über die Wiesen flitzte.

Eilig erhob sich Amélie, und als Richard zu seiner Tochter gehen wollte, ergriff sie seinen Arm. »Warte«, bat sie.

»Hm?« Richards Stirn legte sich in Falten, und er musterte sie eingehend.

»Sie kann auf unsere Schule gehen, Natalie meine ich. Du musst das Schulgeld nicht bezahlen oder erst, wenn du deine Schulden abbezahlt hast. Ich spreche mit meiner Schwester …«

»Ich brauche keine Almosen, Fräulein Roquette«, stieß Richard scharf aus und entriss ihr seinen Arm. »Vielen Dank.«

»So meine ich das nicht!«, rief Amélie aus und schüttelte wütend den Kopf. Er war immer noch so stur wie damals. »Sie ist sicherlich ein gescheites Mädchen und …«

»Das bin ich wirklich!«, mischte Natalie sich just in diesem Moment ein und tauchte neben ihnen auf. »Wenn ich auf den Markt einkaufen oder zum Bäcker gehe, dann rechne ich immer vorher alles zusammen und weiß auch, wenn einer der Halunken mich um mein Wechselgeld betrügen will. Zahlen machen mir Freude.«

»Natalie«, knurrte Richard gefährlich leise und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du sollst dich gefälligst nicht in die Gespräche von Erwachsenen einmischen.«

»Aber ihr habt über mich gesprochen!«, ereiferte sich das Mädchen. »Und außerdem will ich doch zur Schule gehen. Bitte, Papa!«

Amélie kam nicht umhin, einen leisen anerkennenden Pfiff auszustoßen. Natalie war wahrlich gewieft. Sie hatte ihnen die ganze Zeit zugehört, obwohl sie so getan hatte, als ob sie mit den Enten beschäftigt wäre.