Luca und der alte Bahnhof - Tom J. Schreiber - E-Book

Luca und der alte Bahnhof E-Book

Tom J. Schreiber

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Beschreibung

Hinter dem alten Bahnhof entdeckt Luca einen vergessenen Eisenbahnwaggon. Grund genug, mit seinen Freunden loszuziehen, um das gute Stück zu erkunden. Doch jemand scheint bereits vor ihnen dort eingezogen zu sein. Ein mysteriöser Junge taucht auf. Ist er verantwortlich für die vielen Diebstähle in letzter Zeit und wer verbreitet die fiesen Mobbingbotschaften, die plötzlich in der Schule auftauchen? Kaum ist Weihnachten vorbei, stecken die Freunde mitten in ihrem nächsten, spannenden Abenteuer. Denn da wäre auch noch dieser neue Mitschüler, der sich, als Starspieler des benachbarten Eishockeyclubs, so gar nicht in die Schulgemeinschaft integrieren möchte. Und das Stadtfest muss schließlich ebenfalls noch vorbereitet werden. Am Ende gerät nicht nur die geplante Theateraufführung in Gefahr.

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EPUB
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Seitenzahl: 368

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Tom J. Schreiber

Luca und der alte Bahnhof

© 2023 Tom J. Schreiber

Illustriert von: Philipp Ach (philippach.com)

Lektorat: Dorothea Gerl, Monika Kleinau

ISBN Softcover: 978-3-347-90241-1

ISBN Hardcover: 978-3-347-90246-6

ISBN E-Book: 978-3-347-90247-3

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung »Impressumservice«, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Luca und der alte Bahnhof

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***

Die Kälte war angenehm. Das Eis hing in feinen Kristallen unbeachtet in der Luft. Im Licht der Scheinwerfer glitzerte es wie Millionen kleine Sterne. Wahrscheinlich war Luca der Einzige, dem das auffiel, aber es faszinierte ihn. In sich versunken, saugte er alles auf, was seine Sinne berührte:

Die vielen Menschen um ihn herum, die aufgeregt durcheinanderredeten, sodass die Worte nur mehr als ein einziges Geräusch an seine Ohren drangen.

Den Geruch, der ihm in die Nase stieg und den er kaum definieren konnte. Irgendetwas zwischen Neuschnee und abgestandener Toilette.

Da, ein neuer Eisnebel, der auf ihn herabfiel, gefolgt von einem lauten Scheppern, das ihn zurück in die Wirklichkeit holte. Direkt vor ihm war einer der Eishockeyspieler gegen die Bande gecheckt worden. Luca sah sein Gesicht, das schmerzverzerrt an das Glas gedrückt wurde. Kurz hatte er Blickkontakt, bevor der Kopf verschwunden war.

»Jaaa, Mann!« Hinter ihm war einer der Zuschauer aufgesprungen.

Luca sah zu seinen Freunden, die neben ihm saßen und fasziniert das Spiel verfolgten. Sie waren sitzen geblieben.

»Alter, gehts dem gut?«, meinte Matthias mit einem Gesichtsausdruck zwischen Lachen und Besorgnis.

Die Frage beantwortete sich gerade von selbst. Der Gefoulte war aufgesprungen.

»Wow, der sieht sauer aus«, grinste Johannes.

In seiner Stimme lag so etwas wie Vorfreude.

Der Spieler war tatsächlich sauer.

Angriffslustig riss er sich den Helm vom Kopf, schüttelte die Handschuhe ab und sprang auf seinen Gegner zu. Ehe der richtig reagieren konnte, traf ihn ein Fausthieb im Gesicht. Die Halle tobte. Aus dem Durcheinander der Stimmen wurde ein Sprechgesang. Jetzt hielt auch die Freunde nichts mehr auf ihren Sitzen. Auf der Eisfläche hatte sich eine wilde Keilerei entwickelt. Einer der Schiedsrichter warf sich mutig auf die am Boden liegenden Spieler, um sie zu trennen. Er zerrte an ihren Brustpanzern, die sie unter den Trikots trugen, um sie auseinanderzubringen. Ein Zweiter eilte zur Hilfe. Immer wenn sie es fast geschafft hatten, rissen die Raufbolde sich los und fielen erneut übereinander her. Luca ließ sich von der Atmosphäre anstecken. Wild klatschend war er aufgesprungen.

»Junge wie geht’s denn hier ab!«, lachte er und fiel in die Schlachtrufe ein. »AUF GEHT’S TIGERS, AUF GEHT’s!«

Langsam beruhigten sich die Männer auf dem Eis. Sie ließen voneinander ab. Sogleich wurden sie von den Schiris zu ihrer Strafbank begleitet. Einige der Mannschaftskameraden sammelten Handschuhe, Helm und Schläger ein, die auf dem Eis zurückgeblieben waren. Sie warfen sie über die hohe Glasbarriere in die Boxen, in denen die Übeltäter ihre Zeitstrafe absitzen mussten. Noch immer bedachten sich die Streithähne mit bösen Blicken. Auf der Anzeigetafel erschienen ihre Rückennummern mit einer roten zwei dahinter.

»Was heißt das jetzt?«, wollte Luca von Johannes wissen.

»›Zwei-Minuten-Strafe‹«, antwortete der. »Die müssen zwei Minuten draußen bleiben, dann dürfen sie wieder mitspielen«, ergänzte er, da Luca ihn weiter fragend angeblickt hatte.

»Das ist alles? Für ne Schlägerei?« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Im Fußball würden die für den Rest der Saison gesperrt werden.«

Johannes zuckte beiläufig mit der Schulter und widmete sich wieder dem Spiel. Er war bereits öfter beim Eishockey gewesen, so kam ihm das nicht ungewöhnlich vor. Luca schon. Heute war sein erstes Mal und er verstand nur Bahnhof. Vermutlich war sein Problem, dass er die Regeln mit Fußball verglich. ›Abseits‹ hatte er ja noch kapiert, aber dass der Torhüter zum Beispiel eine Spielverzögerung beging, wenn er den Puck gefangen hatte und nicht sofort wieder auf das Eis fallen ließ, oder dass es einen unerlaubten Weitschuss gab, fand er unlogisch. Andererseits war das Spiel dadurch viel schneller als Fußball. Es gab eigentlich keine ruhige Minute. Situationen, in denen sich die Spieler einfach nur den Puck hin und her passten, gab es so gut wie gar nicht. Ohne Unterbrechung jagten sie der kleinen, schwarzen Gummischeibe hinterher. Es war spannend und die Stimmung in der Halle bombastisch.

»Das müssen wir unbedingt wiederholen«, war Luca begeistert, als sie nach dem Spiel zu seinem Vater ins Auto stiegen.

»Hab ich also nicht zu viel versprochen?«, freute sich Johannes, dessen Idee der Besuch gewesen war.

»Bestimmt nicht«, versicherte Luca.

Zurück im Internat ließ die gute Laune jedoch schnell nach. Morgen begannen die Weihnachtsferien und das bedeutete: Zwei Wochen lang keine Schule.

1

Luca saß auf dem breiten Fenstersims in der hintersten Ecke des Klassenzimmertraktes. Ihn fröstelte, obwohl er seine dicke Winterjacke angezogen hatte. Hier war sein Lieblingsplatz im Internat; zumindest am Wochenende und wenn er seine Ruhe haben wollte. Das kam zwar selten vor, aber ab und zu eben doch.

Heute war Montag. Trotzdem war der Flur völlig verwaist. Es war nämlich der erste Montag nach den Weihnachtsferien. Anreisetag. Luca hatte es gar nicht erwarten können ins Kloster zurückzukehren. Pünktlich um zehn war er mit Sack und Pack die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinaufgestiegen. Eine große Kunst war das nicht, schließlich wohnte er gerade mal eine viertel Stunde vom Klosterinternat St. Agnes entfernt – zu Fuß! Er teilte sich die Bude mit Johannes. Obwohl er erst seit gut vier Monaten im Gymnasium lebte, war Johannes inzwischen nicht nur sein Zimmergenosse, sondern während dieser Zeit gleichzeitig sein bester Freund geworden. Genau wie Matthias und Felix.

»Felix«, seufzte er bei dem Gedanken.

Luca’s Weihnachtsferien waren toll gewesen, dennoch hatte er häufig an Felix denken müssen. Just in diesem Moment saß der nämlich in einer ganz anderen Schule. Luca wusste genau, wie es war, als Neuer irgendwo anfangen zu müssen. Er hoffte, dass Felix genauso tolle Klassenkameraden vorfinden würde, wie er hier.

Von außerhalb der Mauern hörte Luca das gedämpfte Läuten der Basilika. Verträumt sah er durch das riesige Fenster hinunter in den Stadtpark. Ein feiner weißer Belag hatte sich über das Gras gelegt, welches aber dennoch grün zwischen dem Schnee herauslugte. Einige Fußspuren waren zu erkennen. In der Nacht hatte es zum ersten Mal geschneit. Allerdings nicht sehr viel. Ungewöhnlich spät war der Winter in diesem Jahr gekommen. Luca betrachtete die Bäume, die traurig ihre knorrigen Äste im Wind schaukelten. Sein Vater hatte ihm einmal erklärt, dass Bäume ihre Blätter im Winter deshalb verlieren, weil die viel Wasser verdunsten lassen. Da die Bäume, wegen der Minusgrade, nicht so gut Wasser aus dem Boden holen können, wirft der Baum die Blätter einfach ab. Bei Dad hatte es zwar wissenschaftlicher geklungen, aber so war es bei Luca hängen geblieben. Ziemlich schlau die Bäume, dachte er damals. Er musste schmunzeln, als er sich daran erinnerte.

Auf einmal hörte er Schritte. Vorsichtig spähte er auf den Gang. Bonsai stand vor einer Klassenzimmertür, zückte seinen Schlüssel und ging hinein. Erleichtert lehnte sich Luca zurück. Bonsai war ihr Englischlehrer und im Gegensatz zu Manne Thaler total okay. Beim Gedanken an Thaler schoss Luca in die Höhe und sprang vom Fenstersims. Womöglich würde der auch noch auftauchen, um irgendetwas für morgen vorzubereiten. Das Risiko ihn heute zu treffen, wollte Luca auf keinen Fall eingehen.

Schnell verließ er den Gang und lief hinüber zu den Schlafräumen. Vielleicht war Johannes inzwischen eingetroffen. Mit einem breiten Grinsen stieß Luca die Tür auf. Gleich verlor er es wieder. Das Zimmer war leer. Seufzend warf er sich auf sein Bett und starrte lustlos an die Decke. Seine Tasche lag noch immer unausgepackt auf dem Fußboden. Er hatte sich sowieso vorgenommen, das nächste Mal nichts mehr mit nach Hause zu nehmen. Die Sachen, die er in den Ferien brauchte, musste sein Dad einfach doppelt kaufen. Die Packerei nervte gewaltig. Das war aber auch das Einzige. Ursprünglich hatte Luca gar nicht im Internat wohnen sollen. Sein Vater hätte nie gewagt, ihm das vorzuschlagen, als sie nach den letzten Sommerferien in den Ort gezogen waren. Dennoch hatte es sich plötzlich so ergeben und jetzt konnte er es sich gar nicht mehr anders vorstellen.

Seinem Dad war es nicht ganz unrecht. Er arbeitete viel. Da er seinen Sohn allein großziehen musste, war es eine Erleichterung zu wissen, dass Luca nicht auf sich gestellt war, wenn er Überstunden machte. Leider war es inzwischen so, dass sein Sohn selbst an den Wochenenden nicht immer nach Hause kam. Es war dann sehr einsam in der großen Wohnung, aber er wusste, dass Luca im Internat glücklich war und das war die Hauptsache.

Genau das, hatte sich auch heute Morgen wieder bestätigt. Er hatte Luca nicht wecken müssen. Mit gepackter Tasche saß der noch vor ihm am Frühstückstisch und sah ungeduldig unentwegt zur Uhr. Kurz vor zehn hatte er ihn schließlich ins Auto gepackt. Ohne große Verabschiedung war Luca vor dem Kloster aus dem Wagen gesprungen und mit seiner Tasche verschwunden. Er nahm es ihm nicht übel. Luca wurde eben immer selbstständiger, genau wie seine anderen beiden Söhne.

In diesem Moment dachte Luca allerdings akkurat darüber nach. Vielleicht würde er heute Abend noch mal zu Hause vorbeischauen und sich für den schnellen Abgang entschuldigen. Es waren wirklich tolle Weihnachtsferien gewesen. Alex und Stephan, seine Brüder, waren nach Hause gekommen. Beide hatten auf Luftmatratzen in Luca’s Zimmer geschlafen. Es war wie früher, als sie noch zusammengewohnt hatten. Sie spielten Karten, ärgerten ihren Dad oder quatschten einfach. Luca war dabei derjenige, der am meisten zu erzählen hatte. Seine ersten Monate in der neuen Heimat waren ganz schön aufregend gewesen. Das Highlight war aber, als Martha an der Tür klingelte. Sie war extra aus München angereist, um das Weihnachtsfest mit seiner Familie zu verbringen. Früher war sie ihre Haushälterin, inzwischen aber im Ruhestand. Davon merkten sie nicht viel. Martha verwöhnte ihre Männer, wie sie immer sagte, nach Strich und Faden. Sein Vater hätte für Martha sogar sein Bett mit dem Sofa getauscht, um ihr das Schlafzimmer zu überlassen. Die neue Wohnung war so riesig dann nämlich doch nicht. Martha war aber lieber in eine kleine Pension gezogen, die sie schon von zu Hause aus gebucht hatte. Trotzdem stand sie jeden Tag früh morgens auf der Matte. Keine Spur also von Ruhestand. Bloß, das war es gar nicht. Natürlich waren die Weihnachtsgans und das Silvesterfondue mit nichts zu ersetzen, aber Martha war einfach ihre Martha. Ihre Anwesenheit machte die Wohnung endlich zu einem Heim. Ohne Martha wäre ihre Familie kaum komplett gewesen.

So hatte es Luca umso eiliger gehabt, heute Morgen zu verschwinden. Martha und seine Brüder waren gestern abgereist, was den Wunsch, seine Freunde wiederzusehen, doppelt so schwer zurückbrachte. Jetzt lag er auf seinem Bett und ärgerte sich, dass er nur an sich gedacht hatte. Sein Vater hatte schließlich gar niemanden mehr. Zum Glück drangen in diesem Moment laute Stimmen ins Zimmer.

Sofort waren die traurigen Gedanken wie weggewischt. Er sprang vom Bett und riss die Zimmertür auf. Gerade als er den Kopf auf den Flur steckte, verschwand ein Junge in einem der anderen Zimmer. Kein Johannes. Kein Matthias. Enttäuscht setzte er sich auf den Fenstersims gegenüber. Sehnsüchtig legte er seine Stirn an das eisige Fenster, um auf dem Kirchplatz Ausschau nach seinen Freunden zu halten. Es schüttelte ihn. Die Jacke im Zimmer vergessen, saß er nur mit einer Jogginghose, Pulli und Socken bekleidet auf der kalten Steinmauer.

Wann kamen sie denn endlich?

Vor allem Johannes könnte längst hier sein. Er wohnte ja auch nur um die fünfzig Kilometer entfernt. Es war bald Mittag, aber weit und breit nichts von den anderen zu entdecken. Er verzog genervt das Gesicht, hielt dennoch jedes Auto im Blick, das auf den Kirchplatz fuhr. Hoffentlich war in den Ferien bei ihnen nicht irgendwas passiert, sodass auch sie die Schule wechseln mussten, schoss es Luca durch den Kopf. Auf keinen Fall, beruhigte er sich. Johannes hätte ihm das sofort getextet. Besorgt zog er sein Handy heraus, um seine Nachrichten zu checken. Die letzte Mitteilung von Matthias hatte er an Silvester bekommen, was ihn jedoch nicht weiter verwunderte. Matthias war keiner, der andauernd schrieb. Johannes hatte sich fast jeden Tag gemeldet. Das letzte Mal allerdings am Samstag. Hier oben zeigte Luca’s Handy kein Netz an. Er überlegte, ob er hinunter zum Handyfenster gehen sollte, um nachzusehen, ob einer von den beiden vielleicht geschrieben hatte. Handyfenster nannten sie das große Fenster im Foyer, welches so gut wie der einzige Platz im Kloster mit einigermaßen Telefonempfang war.

»Buh«, machte es hinter ihm, bevor er den Gedanken zu Ende geführt hatte.

Er wusste sofort, wem das ›Buh‹ gehörte. Mit dem breitesten Grinsen, das er hinbekam, drehte er sich um. Halb hinter der Mauer versteckt stand Johannes. Er lachte ebenso vergnügt zurück.

Kennt ihr das, wenn man sich so sehr freut, jemanden zu sehen, dass man über das ganze Gesicht strahlen muss, obwohl man es gar nicht will, es aber nicht verhindern kann? Genau so war es in diesem Moment bei den beiden.

»Wo bleibt ihr denn so lang«, sprang Luca von der Mauer und fiel ihm um den Hals.

»Da freut sich ja einer«, lachte Johannes.

»Was denkst du denn«, ließ Luca von ihm ab und schnappte sich dessen Tasche.

»Das ist ja ein Service. Nicht, dass ich mich noch daran gewöhne«, feixte ihm Johannes hinterher. Im Türrahmen blieb er stehen und sah verträumt ins Zimmer. »Wie ich das vermisst habe.«

»Wir haben echt nicht alle Latten am Zaun«, lachte Luca. »Wahrscheinlich gibt es nicht noch mal solche Freaks in Deutschland, die sich freuen nach den Ferien wieder zur Schule zu dürfen.«

»Ach was. Verrückte wie uns gibt es genug.« Johannes warf sich freudestrahlend auf sein Bett, als die Tür bereits ein nächstes Mal aufflog.

»Na ihr Loser, dachte ich schau mal, ob ihr schon Sehnsucht nach mir habt«, steckte Matthias seinen Kopf ins Zimmer.

»Selber Loser«, sagten Luca und Johannes im Chor.

Sie umarmten ihren Freund, der die Runde komplett machte. Luca konnte es sich nicht verkneifen, den obersten Knopf an Matthias’ Poloshirt zu öffnen und ihm durch die Haare zu rubbeln. Er sah mal wieder viel zu steif aus. Matthias grinste verlegen. Eigentlich war da ja, wie gesagt, noch Felix. Er war Matthias’ Zimmernachbar und bester Kumpel. Felix war aber bei einer Erkundungstour durchs Kloster gestürzt und schwer verletzt worden. So schwer, dass er auf eine andere Schule gehen musste. Besonders schlimm war das natürlich für Matthias. Er war jetzt allein im Zimmer, was sich für ihn ziemlich trostlos anfühlte. Als Felix nach dem Unfall im Krankenhaus lag, hatte Matthias bei seinen Freunden im Zimmer, auf einer Matratze, schlafen können. Eine Dauerlösung war das natürlich nicht. Schon vor den Ferien, als feststand, dass Felix weggehen würde, hatte er sich entschlossen, allein in seiner Bude zu bleiben. Allerdings würde sich das vor allem auf die Nächte beschränken. Tagsüber wollte er bei seinen Freunden herumhängen oder in der Bibliothek Hausaufgaben machen. Da war es ihm nicht so unheimlich, wie allein im Zimmer zu sein.

»Was treiben wir denn mit dem angefangenen Tag, bevor morgen der Ernst des Lebens wieder losgeht?«, fragte Matthias, um für heute gleich vorzubeugen.

»Sollen wir ne Runde durch die Stadt? Vielleicht treffen wir ja Ferdi«, schlug Johannes vor. Er hob grinsend die Augenbrauen.

»Ich bin dabei«, sagte Luca. Er wusste gleich, auf was Johannes anspielte.

Ferdi hieß eigentlich Ferdinand und ging auf die Realschule im Ort. Anfang des Schuljahres waren sie noch verbitterte Feinde gewesen. Durch einige Umstände war er zwar nicht ihr Freund, aber irgendwie ihr Verbündeter geworden.

»Na dann los!« Johannes kickte seine Tasche unters Bett, ebenfalls ohne sie auszupacken.

»Ähm, ich war noch gar nicht auf meinem Zimmer. Ich bring noch kurz meine Sachen hin«, zögerte Matthias. »Ich komm dann einfach runter.«

Luca und Johannes sahen sich an.

»Wir begleiten dich.« Luca griff nach der Tasche, die vor der Tür stand. »Hab ich für Johannes auch gemacht. Gleiches Recht für alle«, grinste er in seiner Euphorie, dass die beiden endlich da waren.

»Cool«, freute sich Matthias und stürmte voraus, den Gang entlang. Es war ja nicht weit.

Polternd riss er die Tür auf. Anstatt hinein zu gehen, blieb er jedoch wie angewurzelt stehen. Johannes, der direkt hinter ihm war, konnte nicht mehr bremsen und stieß Matthias ins Zimmer.

Als Luca mit der schweren Tasche endlich aufgeschlossen hatte, sah er, warum Matthias so abrupt stehen geblieben war.

Auf dem freien Bett von Felix fläzte ein Junge, der sie missmutig ansah.

2

»Schon mal was von anklopfen gehört«, schnauzte der Neue sofort los.

»Tschuldigung«, stammelte Luca, der zu perplex war, um darüber nachzudenken.

»Ich wohn hier, wenn’s recht ist«, blaffte Matthias stattdessen zurück.

»Wer bist du denn?«, brachte es Johannes auf den Punkt, was sie alle wissen wollten.

Ohne zu antworten, setzte der fremde Schüler Kopfhörer auf die Ohren und wandte sich ab. Offensichtlich war die Unterhaltung für ihn beendet. Unsicher stellte Matthias die Tasche auf sein Bett. Skeptisch ließ er den Jungen nicht aus den Augen. Sein neuer Mitbewohner wirkte jünger und würde wohl nicht mit ihnen in einer Klasse sein. Er sah zwar kräftig aus, aber auch schmal und eben viel kleiner. Seine braunen Haare hatte er kurz geschoren. Zusammen mit seiner grimmigen Visage sah er irgendwie bedrohlich aus.

»Sag mal, habt ihr ne tote Ratte unterm Bett oder so?« Luca rümpfte die Nase. Johannes hatte den Gestank auch wahrgenommen und sah sich schnüffelnd um, woher es kommen könnte.

»Vielleicht«, sagte Matthias. Er hatte jetzt ebenfalls bemerkt, dass etwas nicht stimmte. »Womöglich hab ich vor den Ferien ne Maus oder sowas ins Zimmer gesperrt«, mutmaßte er.

Mit zugehaltener Nase bückte er sich unter sein Bett, um beim Suchen zu helfen. Johannes’ Blick fiel derweil auf eine mordsmäßig riesige Sporttasche, die neben dem Schreibtisch des Neuen stand. Unauffällig trat er ein Stück näher und deutete mit dem Fuß auf ein Adressetikett daran. ›Gregor Eisner‹ war darauf gekritzelt, zusammen mit einer Adresse. Johannes kniete sich hinunter, während er so tat, als müsse er sich den Schuh binden.

»Boah«, entfuhr es ihm, als ein Schwall dieses abartigen Geruches in seine Nase drang. »Das kommt aus der Tasche.« Rasch zog er den Kragen seines T-Shirts vors Gesicht.

»Hast du irgendein Problem?«, blaffte Gregor, der auf ihn aufmerksam geworden war. Eine Seite des Kopfhörers hielt er vom Ohr entfernt.

»Allerdings«, wetterte Johannes. »Was hast du denn da drin? Das riecht wie ein abgestandener Furz.«

»Und du riechst wie ein frischer Furz!«, provozierte ihn Gregor. Er stand vom Bett auf. »Das ist meine Eishockeyausrüstung. Die muss so riechen. Wenn’s euch nicht passt, haut halt ab.«

Wie ein Türsteher baute er sich vor ihnen auf. Da er einen Kopf kleiner war als die anderen, wirkte die Geste eher lächerlich. Die drei Freunde sahen sich an. Es hatte keinen Zweck das Ganze weiter auf die Spitze zu treiben. Sie fürchteten sich bestimmt nicht vor Gregor. Das Größte an ihm war seine Klappe. Im letzten Jahr waren sie zweifellos mit größeren Kalibern fertig geworden. Es gab aber auch keinen Grund die Begegnung eskalieren zu lassen. Luca deutete fast unmerklich mit dem Kopf zur Tür. Matthias ließ seine Tasche auf dem Bett stehen und die drei verließen das Zimmer.

»Was stimmt denn mit dem nicht?«, echauffierte sich Luca lautstark, als sie den Flur entlangliefen.

Johannes wechselte einen Blick mit Matthias, worauf beide lauthals zu lachen begannen.

»Ich erinnere mich da an einen Typen, der im Sommer auf unsere Schule kam. Ist gar nicht so lange her«, sagte Johannes. »Ich dachte genau dasselbe über ihn, als er den Mund aufgemacht hat.«

Luca sah Johannes von der Seite an.

»Genau!«, nickte der.

Es war klar, dass er Luca meinte. Der hatte sich auch ziemlich unverschämt verhalten, als er am ersten Tag in der Klasse aufschlug. Alles war fremd für ihn gewesen. Anstatt freundlich auf die anderen zuzugehen, hatte er cool getan und sich hinter einer Maske und dummen Sprüchen versteckt.

»Blöder Klugscheißer«, lachte Luca. »Erstaunlich wie schnell man vergisst, wie es sich anfühlt der Neue zu sein«, fügte er verlegen hinzu.

Auch Matthias nickte vielsagend. Bei ihm hatte es am längsten gedauert, bis er Luca akzeptieren konnte. Allerdings war es damals einfach für ihn gewesen Luca links liegen zu lassen. Er hatte Felix gehabt, seinen besten Kumpel. Jetzt war besagter Gregor sein Zimmernachbar.

»Aber diese Tasche voller Gülle, will ich trotzdem nicht in meinem Zimmer«, maulte er.

»Eurem Zimmer«, verbesserte Johannes grinsend, worauf Matthias die Augen verdrehte.

»Ich hoffe, dass du dich trotzdem noch für uns interessierst, mit deinem neuen Freund«, setzte Luca einen oben drauf.

Matthias reagierte einfach nicht mehr.

Sie gingen die große Treppe ins Foyer hinunter. Inzwischen war einiges los in der Schule. Die drei drängten sich durch die Meute, um zum Ausgang zu gelangen. Plötzlich wurden sie auf jemanden aufmerksam.

»Wer ist der denn?« Luca deutete zu einem jungen Mann. Er stand in der Nähe der Pforte und machte den Eindruck eines Dirigenten, der für sein erstes großes Konzert übte.

»Vielleicht ein Schülerlotse, oder so?«, mutmaßte Matthias.

»Starker Witz«, prustete Luca los.

»Ein Schülerlotse für drinnen?« Johannes hob die Augenbrauen.

»Ist doch auch egal, wird sich uns schon noch vorstellen«, sagte Luca voller Tatendrang. Er zog seine Freunde weiter. »Lasst uns endlich raus hier und zusammen die Stadt unsicher machen.«

»Warte kurz«, bremste ihn Johannes. Er bugsierte sie zum gegenüberliegenden Flur. Dort war das Büro des Schulrektors, Dr. Breit.

»Willst du Breiti Hallo sagen? Findest du das nicht übertrieben?«, meinte Luca verdutzt.

»Nö. Bestimmt geht der Schlamassel mit dem Neuen doch auf Breitis Konto!« Er klopfte bereits.

Ohne nennenswerte Verzögerung ertönte ein »Herein« nach draußen.

»Ah ihr seid’s.« Der Rektor sah ihnen freundlich entgegen, als sie sich durch die Tür drängten. »Was verschafft mir denn die schnelle Ehre? Ich hoffe, es wurde nirgends eingebrochen?« Belustigt zwinkerte er mit dem Auge.

Der Direktor schien gut gelaunt und bot den Jungen an, sich zu setzen. In der Ecke mit den gemütlichen Ledersesseln waren allerdings massenhaft Bücher gestapelt. Oben auf lagen Notizzettel mit roten Zahlen. Auf dem Schreibtisch des Schulrektors sah es nicht besser aus. Es blieben nur die Stühle davor, um sich zu setzen. Luca hoffte inständig, dass ihr Rektor Hilfe für das alles bekommen würde. Aber Dr. Breit war ja der Chef. Sicher musste er sich keine Sorgen machen.

»Ha Ha«. Mit einem leicht sarkastischen Unterton reagierte Johannes auf Breitis Kommentar. Höflicherweise begann er dabei zu schmunzeln.

Im letzten Vierteljahr waren sie einige Male in diesem Büro gesessen. Meist war der Anlass nicht so erfreulich. Dr. Breit hatte aber stets zu ihnen gehalten. Sie hatten ihn nicht nur als Lehrer kennengelernt, sondern auch als Menschen. Was er gerade gesagt hatte, war eine Anspielung auf die Ereignisse, die allen noch im Gedächtnis waren – nicht nur im Guten.

»Eigentlich haben sie gar nicht so unrecht«, mischte sich Luca ein.

»Wie bitte?«, war Dr. Breit unverzüglich alarmiert.

»Na in Matthias’ Zimmer sitzt ein fremder Junge auf dem Bett.«

»Ja, und er hat eine Tasche dabei, die fürchterlich stinkt. Er behauptet, es wäre eine Eishockeyausrüstung, aber das glaube ich nicht. Da muss irgendwas drin sein, was gerade verwest«, sagte Matthias.

Dr. Breit sah erst erleichtert aus, dann musste er lachen. »Es tut mir leid, Matthias, dass ich dich nicht vorwarnen konnte. Der Junge heißt Gregor. Er wurde vom Eishockeyclub unserer Nachbargemeinde in die Jugendmannschaft geholt.«

»Der spielt Eishockey«, unterbrach ihn Matthias. »Der Dreikäsehoch!«

»Bei den Tigers?«, fiel Johannes die Kinnlade herunter. Er schien ehrlich beeindruckt.

Dr. Breit lächelte.

»Ja und wohl nicht mal schlecht. Er wurde quasi eingekauft. Er hat bisher irgendwo in Baden-Württemberg gespielt und kann natürlich nicht pendeln. Da es bei den Tigers kein eigenes Sportinternat gibt, wohnte er bisher bei einem Mannschaftskameraden in der Familie und ging auch drüben zur Schule. Irgendwie hat das aber nicht funktioniert und so hat man mich gefragt, ob wir ihn hier aufnehmen können. Nachdem Felix weggezogen ist hatte ich eigentlich gehofft, mit der Tat gleich zwei Menschen glücklich zu machen.« Er sah die Jungen an. »Sehr begeistert seht ihr aber nicht aus.«

»Felix ist doch kein Hund, den man einfach so ersetzt«, entfuhr es Matthias etwas schroff.

Dr. Breit runzelte die Stirn.

»Gregor ist nicht gerade ein Wonneproppen«, ging Johannes schnell dazwischen.

»Natürlich ist Felix kein Hund«, schmunzelte Dr. Breit. Er schien keineswegs sauer zu sein. »Gebt Gregor eine Chance. Der Umzug in die bayrische Provinz ist für einen weltoffenen Teenager eben ein kleiner Kulturschock. Er ist halt fremd hier.«

Er sah Luca an.

»Ich weiß schon«, sagte der genervt. »So fremd wie ich letztes Jahr.«

Dr. Breit nickte lächelnd. »Genau.«

Die Jungs sahen sich stumm an.

»Na gut«, ließ sich Matthias erweichen, »aber die Tasche muss weg.«

Dr. Breit lachte herzhaft. »Ich sorge persönlich dafür«, versprach er.

Sie wollten schon gehen, als Luca sich noch mal umdrehte. »Und wer ist der Typ da draußen, der den Wegweiser spielt?«

Dr. Breit stutzte und lief an ihnen vorbei, um selbst nachzusehen.

»Ach unser neuer Kaplan.« Dem Rektor entfuhr ein schallendes Lachen. »Sein Name ist Benedikt Link. Er hat heute seinen ersten Tag. Der Pfarrer meinte, es wäre eine gute Gelegenheit, dass er die Schüler gleich kennenlernt.«

»Echt nicht normal hier«, schüttelte Johannes den Kopf und verließ das Büro.

Vergnügt schloss Dr. Breit die Tür hinter den Jungen. »Wie schön, dass die Ferien vorüber sind«, murmelte er.

3

Ein kalter Wind empfing sie, als sie nach draußen traten.

»Boah, ganz schön unfreundlich«, lamentierte Johannes. »Sollen wir vielleicht doch im Kloster bleiben?«

»Sei kein Weichei«, hänselte ihn Luca. »Kommt mit, ich zeig euch was.«

Er führte die Jungen durch die Kleinstadt. Vorbei an ›da Toni‹, der Eisdiele, die längst geschlossen hatte.

»Bestimmt sitzen die jetzt in der Sonne und verprassen ihre Einnahmen aus dem Sommer«, bibberte Matthias.

Die anderen lachten.

Luca führte sie am Freibad entlang, dessen Becken ebenfalls geleert waren und am Sportplatz vorbei, der direkt neben der Realschule lag. Er hielt insgeheim Ausschau nach Ferdi. Er hätte sich gefreut, ihn zu treffen. Weit und breit war jedoch niemand zu entdecken.

»Dauert es noch lang?«, wollte Johannes wissen und zitterte, dass es eine helle Freude war.

»Hier war ich bisher nie«, wunderte sich Matthias, als sie eine verlassene Fabrikhalle entlangliefen, die mehr aus Schutthaufen von Ziegelsteinen bestand, als dass man erkennen konnte, was hier einmal produziert worden war. Luca hatte die Jungen bis fast an den Stadtrand geführt.

»Sind gleich da«, antwortete er geheimnisvoll.

Sie bogen um eine letzte Kurve. Ein paar Schritte weiter, standen sie vor einem alten Gebäude. Die eine Hälfte war total zerfallen und passte bestens zur Ruine der Fabrikhalle. Die andere, war eine Art Wohnhaus und ganz gut erhalten. An der Mauer waren riesige verblasste Buchstaben zu erkennen. ›DB‹. Man hätte deshalb vermuten können, dass das Gebäude früher ein Bahnhof gewesen war. Allerdings fehlten dafür die Gleise. Vor der Ruine waren sie stehen geblieben. An der Wand zum angrenzenden Wohnhaus, flatterten auf einer verwitterten Pressspanplatte, Fetzen eines alten Zugfahrplanes. Also doch ein Bahnhof! Große Holztüren gaben den Blick ins Innere der ehemaligen Schalterhalle frei. Die Verglasungen der Türen waren herausgebrochen, sodass Laub und Unrat herumlag. Links war früher wohl die Wartehalle gewesen. Die Fenster waren ebenfalls kaputt. Auch hier konnte man ungehindert hineinsehen. Die Tür zum Wohnhaus war in Takt. Dort konnte man nicht nach drinnen.

»Früher hat da bestimmt der Bahnwärter oder irgendein anderer Bediensteter gewohnt«, schätzte Luca.

Auch seine beiden Freunde waren mit dem Blick dort hängen geblieben.

»Wow!« Matthias war fasziniert.

»Hab ich in den Ferien mit meinen Brüdern entdeckt«, verkündete Luca stolz.

»Der alte Bahnhof«, murmelte Johannes nachdenklich.

»Na klar. Ganz vergessen, dass du ja hier aufgewachsen bist!«, schlug sich Luca mit der Hand vor die Stirn.

Johannes und seine Eltern waren eigentlich hier Zuhause. Also in der Gegend, nicht in dem Bahnwärterhäuschen. Als seine Eltern arbeitslos wurden, mussten sie den Wohnort wechseln. Johannes entschloss sich, ins Klosterinternat zu ziehen, um auf seiner Schule bleiben zu können.

»Meine Oma hat immer erzählt, dass vor dem Krieg täglich Züge hier durchgefahren sind. In der angrenzenden Tschechei gibt es viele Kurorte und früher sind die meisten Leute mit dem Zug gereist. Ein Auto hatte ja fast keiner. Als durch den Krieg dann die Grenzen geschlossen wurden, gab es immer weniger Züge. Irgendwann wurde die Bahnstrecke ganz eingestellt. Die Gleise durch den Ort hat man weggerissen und Straßen gebaut.« Gedankenverloren blickte er erst zum Bahnhof, danach zu seinen Freunden. »Wer weiß, vielleicht sind dahinter noch welche zu sehen. Warst du schon mal drin?«, fragte er Luca.

Der schüttelte den Kopf. »Sollen wir?«

»Ist das nicht verboten?«, gab Matthias zu bedenken, der manchmal ein kleiner Angsthase war.

»Wenn schon«, grinste Johannes und stieg durch einen der kaputten Türflügel nach drinnen.

»Ich seh auch kein Verbotsschild«, folgte ihm Luca.

»Na gut«, murrte Matthias, bevor er hinterherging.

Die Halle war schnell durchschritten. Die beiden Fahrkartenschalter waren mit Holzplatten vernagelt. Über einem davon baumelte ein Schild, mit der Aufschrift ›Fernzüge‹. Es wurde nur noch von einem verrosteten Nagel gehalten und drohte jeden Moment abzustürzen. Das Wort ›Halle‹ hatte das hier nicht verdient. Es waren vielleicht fünf oder sechs Meter, bis zur anderen Seite. Die Türen am Durchlass, gegenüber zu den ehemaligen Gleisen, fehlten völlig. Nur noch die Zapfen, an denen sie befestigt gewesen waren, ragten aus der Mauer. Ohne Barriere also, standen sie auf einem kleinen Vorsprung, der früher einen Teil des Bahnsteiges gebildet hatte. Sie blickten nach links und rechts, als ob sie jeden Augenblick einen einfahrenden Zug erwarten würden. Johannes stellte sich vor, wie seine Oma einst genau an dieser Stelle, nach ihrem Zug Ausschau gehalten haben könnte, der sie dann wo auch immer hinbrachte. Bestimmt war es früher eine viel aufregendere Sache gewesen, Zug zu fahren, als heutzutage.

»Achtung auf Gleis 1, Zug nach Nirgendwo fährt ein. Bitte von der Bahnsteigkante zurückbleiben«, frotzelte Matthias. Er hatte seine Stimme verstellt, um die Durchsage aus einem Lautsprecher nachzuahmen. Die Jungen lachten und sprangen den Absatz hinunter.

Sie standen tatsächlich in einem alten Gleisbett.

Es war mit Unkraut und Büschen zugewachsen, aber die Schienen waren noch vorhanden. Obwohl die Gleise direkt in ein Gebüsch führten und deshalb mit Sicherheit seit Jahrzehnten kein Zug mehr vorbeigekommen war, fühlte es sich komisch an, hier zu stehen.

»Kommt es euch auch so vor, als könnte jeden Moment die Bahn kommen«, grinste Luca.

»Verrückter«, lachte Johannes. »Was du immer denkst. Lass uns lieber sehen, wo die Gleise hinführen.«

Hinter dem Gebüsch entlang des Wohnhauses lag die Straße, über die sie gekommen waren. Das Gleis würde also gleich enden. In der anderen Richtung verschwanden die Schienen in einem dichten Gestrüpp.

»Wollen wir?« Luca sah seine beiden Freunde an.

»Du gehst voraus!«, befahl Johannes und schob ihn in die Richtung.

»Jetzt auf einmal«, lachte Luca, ging aber mutig weiter.

Im Gänsemarsch folgten die Jungen dem Gleis bis zu den ersten Ästen. Vorsichtig drückte Luca sie auseinander um hindurch zu spähen. Er konnte nicht weit sehen, aber zumindest war es möglich, hineinzuschlüpfen. Gemeinsam schlugen sie sich durchs Dickicht. Sie waren vielleicht dreißig Meter gekommen, als sich zu ihrer Begeisterung ein riesiger alter Zugwaggon vor ihnen auftat, der vom Bahnhof aus nicht zu erkennen gewesen war. Erst hatte Luca gar nicht durchschaut, auf was er da gestoßen war. Er dachte, es wäre irgendeine alte Maschine, der angrenzenden Fabrik, die man zurückgelassen hatte. Dann erkannte er die Prellböcke und die riesigen Räder, die noch akkurat in den Schienen standen. Eine Leiter führte hinauf zur Tür ins Innere.

»Ist ja krass«, entfuhr es Matthias. »Meinst du die haben den vergessen?«

Johannes zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Lass mal schauen, ob er offen ist.«

Er drängte sich an den beiden vorbei und machte sich ohne Umschweife daran am Waggon hinaufzuklettern. Die anderen beobachteten gespannt, wie er den silbernen Türgriff nach unten drückte und die Tür aufschwang.

»Krasser Scheiß«, sagte Matthias, der alle Vorbehalte über Bord geworfen hatte. Er war bereits dabei, Johannes hinterher zu klettern.

Zusammen standen sie schließlich in dem dunklen Waggon und starrten die Sitzreihen entlang.

»Mach mal einer Licht«, sagte Luca, der ganz hinten stand und über die Schultern seiner beiden Freunden etwas zu entdecken versuchte.

Johannes und Matthias zogen ihre Smartphones aus der Tasche. Sie ließen die LEDs aufblitzen. Die Sitzreihen tauchten aus dem Dunkel. Langsam leuchteten sie alles ab. Einige der Fenster waren geborsten und die Zweige der Büsche wuchsen ins Innere. Überall waren Staub und Spinnweben, die Polster fleckig vom Schimmel. Hie und da blühten Pilze auf dem feuchten Stoff. Genauso muffig roch es auch. Johannes war der Erste, der sich traute, einen Fuß in den Wagen zu setzen. Langsam gingen sie Schritt für Schritt hinein. Totenstille. Nur ihr Atmen war zu hören und das Knarzen des Bodens unter ihren Schuhsohlen. Matthias leuchtete in die Sitzreihen.

Es war unheimlich.

In jedem Lichtkegel konnte unvermittelt etwas auftauchen, was zuvor nicht zu sehen war. Augenblicklich fiel es wieder ins Dunkel, sobald sie weiterliefen. Überall wurden Spinnen oder andere Insekten aufgescheucht, die sich von den Eindringlingen gestört fühlten und mit ihren kleinen Füßchen das Weite suchten. Luca erschrak, als etwas seinen Knöchel berührte. Mit einem kurzen Aufschrei zog er instinktiv das Bein zurück.

»Ist was?« Johannes drehte sich um, sodass er ihm mit seiner Lampe ins Gesicht leuchtete.

»Nein, alles ok«, ächzte Luca und nahm die Hand vor die Augen. »Nimm die Funzel runter.«

»Schaut mal, da wohnt einer!« Matthias war an der letzten Sitzreihe stehen geblieben.

Luca rutschte das Herz in die Hose. »Was?«

Er drängte sich nach vorn und hatte erwartet, dort jemanden sitzen oder liegen zu sehen. Er starrte stattdessen auf ein paar Decken, eine abgebrannte Kerze, leere Chipstüten, wie einige geöffnete Konservenbüchsen.

»Hat gewohnt«, korrigierte Luca erleichtert.

»Scheint aber noch nicht lange weg zu sein«, überlegte Johannes.

»Lasst uns lieber verschwinden. Vielleicht kommt er jeden Moment zurück. Wer weiß, was hier abläuft«, sagte Matthias mit leicht belegter Stimme.

»Hab dich doch nicht so«, bremste ihn Johannes. Er hielt sich seine Lampe unters Kinn, sodass sein Grinsen noch unheimlicher aussah.

»Idiot«, grinste Luca. »Matthias hat völlig recht. Ich hab auch kein Bock irgendwelchen Junkies zu begegnen.«

»Junkie sagt man nicht«, verbesserte ihn Johannes. »Das ist politisch inkorrekt und entwürdigend – Idiot übrigens auch.«

Luca boxte ihm gegen den Oberarm. »Du weißt genau, was ich meine, – Idiot.«

Sofort rannte er los, Richtung Ausgang, Johannes hinter ihm her.

»Wartet doch«, rief Matthias ihnen nach.

»Ich krieg dich«, schnaufte Johannes, der Luca auf den Fersen war.

Der sprang bereits durch die Tür hinunter auf die Schienen und schlug sich durchs Dickicht. Ohne anzuhalten oder sich umzudrehen, rannte er die Gleise entlang, sprang auf den Bahnsteig, durchquerte die Schalterhalle wieder auf die Straße. Erst jetzt hielt er an. Völlig außer Atem. Hinter ihm kam Johannes durch die morschen Türflügel, gab ihm kichernd den Hieb zurück und legte schnaufend den Arm um seine Schulter. Beide mussten lachen, als sie sich ansahen. Erst jetzt tauchte Matthias auf.

»Geiler Scheiß, oder?«, grinsten sie ihm zu.

»Auf jeden Fall«, bestätigte der.

»Vielleicht sollten wir nachts noch mal herkommen«, schlug Luca vor.

Im selben Moment war Matthias’ Euphorie verschwunden. Er hatte es jetzt am Tag schon als ziemlich unheimlich empfunden. »Ohne mich«, sagte er deshalb vorsichtshalber, da er nicht erkennen konnte, ob Luca einen Spaß machte oder es ernst meinte.

Pünktlich zum Abendessen waren sie zurück im Kloster. Noch immer beeindruckt von der Bahnhofsruine und dem versteckten Zugwaggon hatte Luca weder Zeit, darüber nachzudenken, dass am nächsten Tag der Unterricht begann, noch Augen für Maria, die ständig zu ihm herübersah.

»Mal ehrlich. Ich bin so froh, wieder hier zu sein. Mit euch wird’s einem echt nicht langweilig«, sagte Johannes, als das Abendessen beendet war und die Unterhaltungen wieder aufgenommen werden konnten.

Im Internat gab es nämlich eine Regel, dass man während der Mahlzeiten nicht redete. Auch wenn es sich im ersten Moment etwas seltsam anhört, war das eine der Sachen, die Luca am meisten an der neuen Schule schätzte. In einer redefreien Zeit, während des Essens, ließ sich nämlich zum Beispiel super darüber nachdenken, was man mit einem alten Zugwaggon, von dem keiner wusste, so alles anstellen konnte.

»Irgendwas müssen wir damit anfangen«, sagte Luca.

Matthias konnte gerade nicht reden, weil er die Backen voller Fleischbällchen hatte und deshalb nur zustimmend nickte. Matthias war öfter Mal der Letzte beim Essen. Nicht selten hatten die Klosterschwestern schon alle Tische abgeräumt, während Matthias noch immer auf irgendetwas herumkaute. Meistens auf dem Nachtisch von Luca oder Johannes.

»Na ja, du hast gesehen, da wohnt schon jemand«, gab Johannes zu bedenken. »Da kommen wir bestimmt welchen in die Quere.«

»Wir können bei Gelegenheit ja noch mal hin und die Lage checken«, schlug Luca vor.

Matthias’ und Johannes’ Gesichtsausdruck verzog sich zu einem Grinsen, welches so gar nicht zu dem passte, was er gerade gesagt hatte. Es spiegelte nicht die Begeisterung wieder, die er erwartet hatte. Eher als würden sie über ihn lachen. Im gleichen Augenblick schlangen sich zwei Arme um seinen Hals, dass er fast keine Luft mehr bekam.

»Hast du mich auch vermisst?«

Es war Marias Stimme, die ganz nah an seinem Ohr ertönte. Fast schien es, als würde sie ihm gleich einen Kuss geben wollen.

»Na klar!« Luca lächelte, versuchte sich dennoch, ihrer Umarmung zu entziehen.

Manchmal war Maria wirklich etwas zu persönlich. Sie war so ziemlich das einzige Mädchen, welches er richtig gut auf der Schule leiden konnte. Übertreiben musste man es ja aber nicht. Maria war nicht nur total nett, sondern – mit ihren blonden Haaren, den blauen Augen und den niedlichen Sommersprossen – auch saumäßig gutaussehend. Letzteres war nicht der Grund, warum Luca mit ihr befreundet war, oder zumindest nicht der Hauptgrund.

Maria ignorierte Luca’s Zurückhaltung und setzte sich neben ihn auf einen Stuhl, der gerade frei geworden war. Nachdem die drei Freunde sie nur stumm anglotzten, begann sie einfach von ihren Ferien zu erzählen. Auch als die Jungen aufstanden, lief sie nebenher und redete weiter. Erst an der großen Treppe verabschiedete sie sich und schlug den Weg zu den Mädchenzimmern ein.

»Was ist denn mit der los?«, sagte Johannes, als sie außer Hörweite war. »Die redet doch sonst nicht so viel.«

»Wahrscheinlich ist sie verliebt«, antwortete Matthias trocken. »Alle Mädchen reden viel, wenn sie verliebt sind.«

»Da kennt sich aber einer aus«, spottete Johannes. »Ist es dann bei Jungen genau umgekehrt? Luca hat nämlich die ganze Zeit keinen Ton rausgebracht.« Er grinste.

»Können wir vielleicht mal das Thema wechseln.« Luca war leicht aufgebracht und hatte seinen Schritt etwas beschleunigt.

»Er kann doch sprechen«, witzelte Johannes.

Zurück auf dem Zimmer, war Luca’s Ärger schnell verraucht. Irgendwie hatte Johannes ja auch recht gehabt.