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Memorien ist die Welt, in der alle Erinnerungen der Menschen aufbewahrt werden. Flynn ist zwölf und ein toller, aber trauriger Junge. Sein Vater ist Workaholic und seine Mutter hat aufgegeben um ihre Familie zu kämpfen. Als Flynn die Chance bekommt in Memorien nach den vergessenen Kindheitserinnerungen seines Vaters zu suchen, möchte er das unbedingt. Er hofft, dass der sich erinnert wie schön es ist eine Familie zu sein. Flynn glaubt, dass sich sein Vater dann weniger um seine Arbeit und mehr um ihn und seine Mutter kümmert. Flynn muss aber einen Freund mitnehmen. Wie gut, dass sich sein bester Freund Konrad leicht überzeugen lässt. In Memorien scheint es sehr bald aussichtslos zu sein, ans Ziel zu kommen. Das Land ist viel zu groß und es lauern unheimlich Kreaturen im Omanagebirge, welches sie durchqueren müssen, um an den Ort zu kommen, an dem sie die Erinnerungen vermuten – Die Höhlen von Ike. Unterwegs begegnen ihnen zwei weitere Suchende: Bertram, ein alter Mann und Fritza, ein Mädchen in Flynns Alter. Beide haben ihren besten Freund und ihre beste Freundin in Memorien verloren. Flynn erkennt schnell, dass Bertram ein böses Spiel treibt und Konrad für seine Zwecke missbrauchen möchte. Leider ist Konrad zu leichtgläubig um Bertram ebenfalls zu durchschauen. Zunächst halten sie alle zusammen, vor allem als sie gegen die Traumflieher und Spitzriesen kämpfen müssen, während sie das Gebirge durchqueren. Doch dann kommt Bertram ans Ziel, und Konrad stellt sich gegen Flynn. Es beginnt eine Suche im Wettlauf gegen die Zeit.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Abenteuer passieren jeden Tag,
man muss nur mutig zupacken.
Tom J. Schreiber
Memorien
Mission Erinnerung
© 2023 Tom J. Schreiber
Website: www.tomjschreiber.de
Lektorat von: Lenne Lektorat, www.lenne-lektorat.de
Illustration von: Philipp Ach, www.philippach.com
ISBN Softcover: 978-3-911045-06-3
ISBN Hardcover: 978-3-911045-07-0
Druck und Distribution im Auftrag: Thomas Gerl, Brunnenstr. 3,
71701 Schwieberdingen
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne Genehmigung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Thomas Gerl, Brunnenstr. 3, 71701 Schwieberdingen, Deutschland.
Memorien,
einige Tage zuvor
Es dämmerte bereits. Weit würde er heute nicht mehr kommen. Hier im Gebirge war es weitaus gefährlicher zu laufen, als er angenommen hatte. War es doch ein Fehler gewesen, allein loszuziehen?
Zu spät.
Zurückgehen ergab keinen Sinn. Nicht nur das. Er war zu stolz dafür. Genug der negativen Gedanken. Er sollte sich besser einen Unterschlupf für die Nacht suchen. Morgen würde Bertram nachkommen. Falls der es sich nicht anders überlegte, nach ihrem Streit. Dem Feigling traute er zu, dass er womöglich nicht weiterging. Es machte keinen Unterschied. Er hatte seine Entscheidung getroffen.
War da ein Geräusch?
»Hallo«, rief er ins Halbdunkel. »Ist da jemand?«
Keine Antwort.
»Angsthase!« Er lächelte, um sich Mut zu machen.
Unheimlich hier draußen.
Aber in diesem Land war es bisher überall so friedlich gewesen. Sicher brauchte er sich nicht zu sorgen. Die Warnungen, die er gehört hatte, waren ganz bestimmt übertrieben.
Wieder das Geräusch.
»Hallo?«
Ein Schatten hob sich von dem dunklen Pfad ab. Eindeutig eine Gestalt. Warum antwortete sie nicht? Er war stehengeblieben.
Die Silhouette nicht.
Sie bewegte sich weiter auf ihn zu. Ein Cape flatterte im Wind. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, baute sich das Wesen bedrohlich vor ihm auf.
Hatten sie doch recht gehabt im Tal? War es zu gefährlich, über den Bergpfad zu wandern? Allzu bereitwillig würde er sich nicht überwältigen lassen. Seine Muskulatur spannte sich. Die Finger zu Fäusten geballt, trat er einen Schritt nach vorn. Wer auch immer vor ihm aufgetaucht war, er sollte denken, dass er keine Angst hatte.
Unvermittelt stieß die Kreatur einen Schrei aus. So tief und markerschütternd, dass er schauderte. Sie standen sich jetzt so nahe gegenüber, dass er trotz der Dämmerung ein Gesicht sehen müsste. Aber da war nichts. Nur die Kapuze und ein Schatten.
»Ich fürchte mich nicht vor dir!«, stammelte er.
Es war gelogen.
Sein rasender Puls beschleunigte sich weiter.
Sei auf der Hut, brannte sich in sein Hirn. Jeden Moment konnte der Fremde angreifen. Das befürchtete er, denn genauso hatte man es ihm erzählt – und er hatte es nicht geglaubt. Jetzt zeigte ihm das Schicksal, in welchen Schlamassel ihn seine Überheblichkeit getrieben hatte.
War es besser, dem Scheusal zuvorzukommen, das Überraschungsmoment zu nutzen? Den ersten Schritt zu machen?
Es war zu spät.
Der Schatten schnellte vorwärts. Das Monster streckte die Hände nach ihm aus. Riesige Krallen wuchsen aus dessen Fingern, welche in der nächsten Sekunde auf seinen Körper niedersausten. Wie erstarrt konnte er die scharfen Klauen nicht davon abhalten, sich in seine Brust zu bohren.
Der Schmerz lähmte seine Sinne. Er sank auf die Knie, dann verwandelte sich die Dämmerung zu Dunkelheit.
Es war vorbei.
1
Beginn ...
Ein Donnerschlag erschütterte das Erich-Kästner-Gymnasium im beschaulichen Dorf Hausen. Er war so gigantisch, dass man ihn bis in den letzten Winkel des alten Gemäuers gehört haben musste. In manchen Klassenzimmern schepperten die in die Jahre gekommenen Wandtafeln. Gleich darauf tönte das schallende Gelächter einiger Schüler über den Flur. Halbwegs überrascht, starrte Chemielehrer Rudy Geseke auf die Überreste seines Experiments. Die Panzerglasscheiben, die seinen Versuchsaufbau von der Klasse trennten, hatten zum Glück ihren Dienst verrichtet.
Rudy Geseke hatte sich schnell wieder gefangen. »Natürlich wollte ich euch mit dieser kleinen Explosion lediglich vor Augen führen, wie gefährlich dieses harmlose Pülverchen ist«, sagte der verrückte Professor (wie er von allen nur genannt wurde) so überzeugend wie möglich.
Seine Rabauken wussten genau, dass es nicht stimmte. Aber was machte das schon? Sein Unterricht war der beste am ganzen Gymnasium, und seinen Spitznamen nahm niemand böse, auch der Lehrer selbst nicht.
Nun muss man dazusagen, dass von Rudy Geseke und seiner 6b nie jemand erfahren hätte, wenn einer der Schüler nicht Flynn gewesen wäre. Flynn König war, wie die meisten seiner Mitschüler, zwölf Jahre alt. Er war ein klein wenig größer als die meisten seiner Mitschüler und von seinen blonden Haaren fiel ihm ständig eine Strähne in die Stirn, was ihn natürlich nicht zu etwas Besonderem machte. An ihm war auch sonst nichts Besonderes – außer vielleicht, dass er sehr beliebt war. Das wiederum lag vermutlich ein bisschen an seinem charmanten Lächeln, welches er in diesem Moment aufblitzen ließ.
Leider lächelte er in letzter Zeit immer weniger, aber dazu kommen wir später.
Flynn war vor allem nett. Und zwar nicht im Sinne von ›nett ist die kleine Schwester von ...‹, na ja, ihr wisst schon. Nein, er war einfach höflich. Zu Erwachsenen, selbst zu seinen Lehrern, und er war nett zu all seinen Mitschülern. Im Prinzip also zu jedermann. Dabei hatte man nicht das Gefühl, dass er nur so tat, als wäre er freundlich. Es war vielmehr sein Wesen.
Weniger seine Erziehung, aber dazu kommen wir auch später.
Nett zu sein hinderte ihn allerdings nicht daran, genau hinzusehen. Flynn vertraute nicht blindlings. Ganz im Gegenteil. Er war gerne misstrauisch, behielt das in aller Regel jedoch für sich.
Außerdem war Flynn auch sehr clever. Jetzt zum Beispiel wusste er haarklein, was Rudy Geseke bei seinem Experiment falsch gemacht hatte. Freilich war er viel zu nett, um es ihm unter die Nase zu reiben. Was hätte es schon gebracht. Er würde nur als Klugscheißer dastehen. Es war besser, mit allen anderen über die kurzweilige Stunde zu lachen und davon zu träumen, mit seinem Vater endlich das Baumhaus zu bauen, was der ihm seit langer Zeit versprochen hatte. Die Tatsache dieser leeren Versprechung war übrigens wirklich ernst zu nehmen. Flynn war gerade fünf Jahre alt geworden, als Pa diesen Eid leistete. Warum sich Flynn ausgerechnet in diesem Moment daran erinnerte? Er wusste es selbst nicht. Manchmal kam ihm das Baumhaus tage-, ja wochenlang nicht in den Sinn. Es war auch schon vorgekommen, dass er einen geschlagenen Monat nicht daran denken musste. Aber zuweilen fiel sein Blick aus dem Fenster seines Kinderzimmers, geradewegs auf den kleinen zugedeckten Holzstapel, der weit hinten im Garten unter einer dichten Hecke lag. So wie heute Morgen. Und genau diese Bretter waren früher schon einmal ein Baumhaus gewesen. Das Baumhaus seines Vaters, welches der wiederum mit seinem Vater, also Flynns Opa, gebaut hatte. Tja, und dann ging es ihm tagelang nicht mehr aus dem Kopf. Na ja, und jeder, der aufgepasst hat und nur ein bisschen rechnen kann, hat von ganz allein bemerkt, was los ist. Obwohl Flynn erst fünf Jahre alt gewesen war, sah er seinen Vater in solchen Momenten genau vor sich und erinnerte sich an seine Stimme, als würde sie gerade jetzt zu ihm sprechen.
»Sobald es Frühling wird, werde auch ich dir ein Baumhaus daraus bauen«, waren seine Worte mit Blick auf den Holzstapel.
Inzwischen war oft Frühling gewesen, aber die Bretter lagen trotzdem noch unter der Hecke.
Flynn wusste selbst nicht, warum er so versessen auf das Baumhaus war und nicht einsehen konnte, dass sein Vater keine Zeit dafür finden würde. Vielleicht lag es schlicht daran, dass Flynn fand, dass man Versprechen einhalten musste.
Zum Glück hatte Flynn rundherum eine Menge anderer Interessen. Genauso viele, wie er auch Freunde hatte. Ihm wurde deshalb selten langweilig. Trotzdem spürte er häufig eine tiefe Leere in sich.
Die Schulglocke riss ihn aus seinen Träumereien und kündigte das Ende der Chemiestunde an. Wie in jeder Klasse gab es diejenigen, die als Erste zur Tür rannten, um so schnell wie nur möglich nach draußen zu kommen. Dann gab es welche, die gründlich zusammenpackten und immer gemeinsam mit einer Freundin oder einem Freund den Raum verließen und natürlich gab es ein paar, die es überhaupt nicht eilig hatten. Flynn gehörte zu keiner dieser Kategorien, oder besser gesagt, gehörte er Mal zu der einen und Mal zu der anderen. Am Mittwoch nach Physik hatte er es in Gedanken sehr eilig. Das hatte damit zu tun, dass im Anschluss zwei Stunden Sport folgten. Flynn liebte Sport. Er war nämlich nicht nur schlau, sondern auch unheimlich sportlich. Die Ursache, warum er nur in seiner Vorstellung als Erster aus dem Klassenzimmer flitzte, war sein bester Freund, Konrad. Der hasste Sport leider unheimlich. Konrad pressierte es deshalb rein gar nicht.
»Jetzt komm schon«, drängelte Flynn. »Wegen dir versäumen wir noch die Hälfte der Stunde.«
Flynns Unruhe bestand nicht ganz grundlos. Bis zur Sporthalle war es zu allem Unglück ein Stück zu gehen, und als ordentlicher Sportler wollte er sich natürlich vor dem Unterricht aufwärmen. Obwohl Konrad jede Woche dasselbe Theater vollführte, wäre Flynn nie auf die Idee gekommen, ohne ihn abzuhauen. Zugegeben, es war nervig, aber Konrad beschwerte sich auch nicht über Flynns Macken und davon gab es mehr als genug.
Nachdem sie die Sporthalle endlich erreicht hatten, ging das wöchentliche Trauerspiel erst richtig los. Konrad war dummerweise genau das Gegenteil von Flynn.
An dieser Stelle wäre es nicht angemessen, eine exakte Beschreibung von Konrad abzugeben. Allgemein ist zu sagen, dass die äußere Erscheinung eines Menschen sehr häufig zu falschen Rückschlüssen auf dessen Charakter führt. Vor allem bei denjenigen Leuten, die Aussehen und innere Werte nicht gut voneinander trennen können. Jedenfalls könnte es im Falle von Konrad zu solchen Verwicklungen kommen und deshalb ist es besser, darauf zu verzichten. Er hatte es ohnehin schon schwer genug mit seinen Klassenkameraden. Für die Geschichte ist es ausreichend zu wissen, dass Konrad in Bezug auf den Sportunterricht weder Ausdauer noch Geschicklichkeit oder Kraft besaß. Egal, was auf dem Programm stand, Flynn wusste genau, dass sein Freund dabei versagen würde. ›Versagen‹, pff, was für ein bescheuertes Wort. Konrad konnte es halt nicht. Dafür konnte er die tollsten Bilder malen, die Flynn je gesehen hatte. Konrad hatte außerdem die besten Ideen, wenn es darum ging, sich im Laub zu wälzen oder sich Eissorten auszudenken. Den größten Spaß hatten sie dabei, sich im Supermarkt hinter den Regalen zu verstecken und Leute zu ärgern, die arglos ihre Einkäufe tätigten. Einmal hatte sie Herr Schmitzke (ihm gehörte der Supermarkt – das glaubte Flynn zumindest) sogar hinauswerfen müssen, weil Konrad auf die Idee gekommen war, den Gang, wo es Soßenpäckchen und Konservensuppen zu kaufen gab, mit reichlich Mehl zu bestreuen. Er wollte wissen, ob man darauf gut schlittern konnte. Natürlich hatten sie das Mehl zuvor an der Kasse bezahlt. Rausgeflogen waren sie trotzdem. Konrad konnte auch ganz prima das Sonnensystem erklären und davon träumen, ein berühmter Wissenschaftler zu werden. Was machte es also, dass er unsportlich war?
Flynn wusste genau, was es machte: Es machte Konrad traurig. Jede verflixte Woche machte es Konrad traurig, und Flynn gleich mit.
Nein, Flynn machte es nicht traurig. Flynn machte es zornig.
Es machte ihn zornig auf seinen Lehrer, seine Mitschüler, die sich seine Freunde schimpften und die Mädchen, die manchmal oben auf der Tribüne hockten und bewundernd zu ihm heruntersahen. Es machte ihn zornig, wenn sie über Konrad lachten, weil er nicht genügend Schwung hatte, um über den Bock zu springen, oder beim Brennball abgeworfen wurde, weil er gestolpert und hingefallen war. Flynn machte es zornig, dass sie seinen besten Freund jede Woche so traurig machten und er nicht wusste, wie er es verhindern konnte. Es machte ihn zornig und unbeherrscht, obwohl Flynn für gewöhnlich ein wirklich netter Junge war. Wahrscheinlich verstand er genau deshalb nicht, warum sie Konrad, der nie irgendjemand etwas Böses getan hatte, nicht einfach in Ruhe lassen konnten. Das Einzige, was ein bisschen half, war, dass er ihm Mut machte und auf ihn aufpasste, wenn ihm die anderen zu sehr auf die Pelle rückten. Dass er dabei selbst manchmal in die Schusslinie geriet, störte ihn herzlich wenig.
Heute hatte er leider nicht auf Konrad aufpassen können. Der Lehrer hatte sie beim Handball in verschiedene Mannschaften eingeteilt. Es gab vier Teams und Flynn war nicht einmal auf dem Feld, als er mitansehen musste, wie einige Jungen sich einen Spaß daraus machten, Konrad mit harten Bällen anzuspielen. Sie wussten genau, dass er sie nicht gut fangen konnte. Blöderweise wurde aus dem Spaß ernst, als ein Wurf Konrad mitten auf die Nase traf. Flynn war außer sich vor Wut. Ohne nachzudenken war er auf den Jungen losgerannt, der Konrad das angetan hatte. Er hatte ihn zu Boden geworfen, sich auf ihn gesetzt und angeschrien.
»Du denkst also es ist lustig, wenn man einen Ball ins Gesicht bekommt«, hatte er geschrien und ihm mit der Faust auf die Nase gehauen. Es hatte Flynn sofort leidgetan, aber da war es schon zu spät.
Am Ende saßen Konrad und Leon (der Ballwurfkünstler) in einer Arztpraxis, um sich die Nase versorgen zu lassen, und Flynn saß beim Direktor, der ihm eine Verwarnung verpasste. Seine erste überhaupt. Der Direktor meinte zu Flynn, dass er ihn nur deshalb nicht von der Schule verweisen würde, weil er wisse, wie nett Flynn eigentlich sei und er hoffe, dass er sich darin nicht täuschte. Beim nächsten Mal könne er nämlich nichts für ihn tun. Flynn verstand das natürlich. Er wusste selbst, dass es nicht in Ordnung gewesen war, Leon eine reinzuhauen. Was er an der ganzen Sache aber nicht verstand, war, dass der Lehrer, der es einfach tatenlos hatte geschehen lassen, keine Strafe bekam.
Und das Allerschlimmste in der Angelegenheit war, dass sich zu Hause niemand darüber aufregen würde, dass er eine Verwarnung bekommen hatte, aber dazu kommen wir ja gleich noch.
~
»Tut mir echt leid«, sagte Flynn, als sie endlich den Heimweg angetreten hatten.
Er lief neben Konrad her und schielte unauffällig auf dessen Nase. Eigentlich sah sie ganz gut aus. Sie hatte aufgehört zu bluten und es schauten nur noch zwei kleine Wattebäusche aus den Nasenlöchern der kleinen Stupsnase.
»Du kannst doch nichts dafür. – Danke, dass du Leon eine verpasst hast«, grinste er.
Konrads braune Kulleraugen leuchteten, wie sie es immer taten, wenn er den Schulvormittag endlich hinter sich gebracht hatte.
Flynn verzog den Mundwinkel. »Lass dir auch nicht immer alles gefallen«, sagte er ernst.
Konrad senkte schüchtern den Kopf. »Ich weiß, aber ich bin eben nicht so mutig wie du«, antwortete er bedrückt.
Sie bogen in die Straße, in der die ungleichen Jungen, nur zwei Häuser voneinander entfernt, wohnten.
»Kommst du wieder mit zu mir?« Flynn sah Konrad bittend an.
Konrad wusste, was Flynn befürchtete, wenn er ihn bat mitzukommen. Die letzten Tage ging er fast jeden Mittag nach der Schule noch zu Flynn. Einer der Gründe, warum Flynn in letzter Zeit nur wenig lachte und sein Verweis in der Schule unbemerkt bleiben würde, war nämlich, dass Flynns Mutter mehr Alkohol trank, als es gut für sie war.
»Ist es so schlimm zurzeit?« Konrad schielte jetzt seinerseits verstohlen zu Flynn.
Der zuckte in sich gekehrt mit der Schulter. »Was heißt schlimm. Sie macht ja nichts – außer albernes Zeug reden, aber ich mag es nicht, dass sie mich umarmt und nach Alkohol riecht. Wenn du dabei bist, bleibt sie im Wohnzimmer und später schläft sie ein. Dann ist es leichter zu ertragen. – Du kannst doch auch bei mir Hausaufgaben machen«, schlug Flynn vor, der Konrads Frage missverstanden hatte.
»Na klar, kein Problem«, sagte Konrad.
Flynn hätte ihn gar nicht bitten müssen, geschweige denn befürchten, dass er nicht mitkommen würde. Er war gerne mit ihm zusammen und seiner Mutter hatte er bereits beim Frühstück gesagt, dass er nach der Schule noch mit zu Flynn gehen würde.
»Dann sieht meine Mutter schon das hier nicht.« Konrad schmunzelte und zeigte auf seine lädierte Nase.
Das schmiedeeiserne Gartentor quietschte immer ein wenig, wenn man es öffnete. Auf dem Klingelschild stand ›J. König‹, obwohl Flynns Vater Daniel und seine Mutter Christine hieß. J war der Anfangsbuchstabe von Jakob, dem Vornamen seines Opas. Sein Vater hatte, aus einem Anflug nostalgischer Gefühlsschwachheit – wie der es nannte, Flynn fand es nämlich gar nicht schwach, sondern eher schön – das Schild nie geändert. Opa lebte leider nicht mehr und Anna, seine Frau, verbrachte ihre letzten Jahre in einem Pflegestift, ganz in der Nähe. Der einzige Mensch, der Anna regelmäßig besuchte, war Flynn. Er machte das nicht nur, weil es sich so gehörte. Früher war er oft bei Oma und Opa gewesen. Oma hatte sich immer sehr um ihn gekümmert, und jetzt kümmerte er sich ein bisschen um Oma. Außer dem Klingelschild und der Gartenmauer mit dem Tor hatte Vater so ziemlich alles umbauen lassen. Nur die Unterbauten mit dem Fachwerk hatte er erhalten, der Rest des Gebäudes war modern renoviert worden. Selbst die Einrichtung der Großeltern hatten sie auf den Sperrmüll gebracht und das Haus neu ausstaffiert, obwohl Flynn von seinem Opa wusste, dass alte Möbel viel stabiler gebaut waren als neue. Er vermisste Opa. Allein deshalb hätte er die Sachen gerne behalten, aber sein Vater fand sie nicht mehr schön. Weil sein Pa eine Menge Geld verdiente, kam es nicht darauf an und weil sich Geld nicht von allein verdient, war Flynns Vater kaum zu Hause.
Jetzt versteht wohl auch jeder, warum Flynn in letzter Zeit wenig lächelte und warum es so schlimm für ihn war, dass niemand von seinem Schuleintrag Notiz nehmen würde.
Konrad legte seinen Daumen auf den Sensor neben dem Türschloss. Es surrte und er konnte die Haustür aufdrücken. Heimlich, weil es seinem Vater sicher nicht recht gewesen wäre, hatte Flynn die Programmierung seiner eigenen Fingerabdrücke geändert. Der linke Daumenabdruck war jetzt der von Konrad. So konnte Konrad ihn besuchen, wann er wollte, und vor allem musste Flynn nicht nach unten gehen, wenn Mutti schlief und Vati nicht zu Hause war. Konrad war dermaßen stolz darüber, dass er immer einen Schritt vorauslief, um als erster an der Haustür zu sein.
»Füin, bist du das?«, tönte eine undeutliche Stimme aus dem Wohnzimmer.
»Wer denn sonst, Mama«, rief Flynn halb genervt, halb traurig zurück. »Konrad ist mitgekommen. Wir machen Hausaufgaben in meinem Zimmer.«
Flynn hatte recht gehabt. Seine Mutter tauchte nicht im Flur auf. Sie antwortete nicht einmal mehr.
Zusammen ging er mit Konrad die gläsernen Stufen hinauf ins obere Stockwerk.
Flynn hatte ein tolles Zimmer. Es war groß und hell. Alles funktionierte elektrisch. Er konnte das Licht einschalten, indem er nur »Licht an« sagen musste. Im Prinzip konnte er was er wollte mit seiner Sprache bedienen. Zum Beispiel die Rollläden schließen und öffnen, die Heizung oder die Klimaanlage steuern und sogar Musik hören. Sobald er sich im Haus befand, wurde eine Verbindung mit seinem Telefon hergestellt und Flynn konnte die Funktionen darüber abrufen. Es war praktisch möglich, dass er auf dem Bett lag und über sein Zimmer Telefongespräche führte oder ein Video an die Wand streamte, die dafür extra einen Spezialbelag hatte. Vermutlich glaubte sein Vater, ihm mit dem ganzen Schnickschnack einen Traum erfüllt zu haben. Aber nur deshalb, weil er nie danach gefragt hatte. Hätte er das je getan, wüsste er, dass für Flynn das Schönste an seinem Zimmer der Ausblick auf den großen Garten war. Zugegebenermaßen war es mehr ein Urwald als ein Garten und die Nachbarn beschwerten sich regelmäßig darüber. Aber wenn es etwas Gutes daran gab, dass sein Vater nie zu Hause war und seine Mutter lieber Alkohol trank als sonst was, dann, dass sie sich nicht um den Garten kümmerten. Flynn fand es herrlich hinauszusehen. Es tummelten sich Eichhörnchen auf Nahrungssuche darin, Katzen gingen auf die Jagd nach Mäusen, manchmal leider auch nach Vögeln. Flynn versuchte die Vögel, von seinem Fenster aus, zu warnen beziehungsweise zu verscheuchen, was selten gelang. Ab und zu jagten sich die Katzen sogar gegenseitig über die Wiese. Einmal hatte er beobachtet, wie zwei Eichhörnchen eine Katze vertrieben, die auf die große Eiche in der Mitte geklettert war. Flynn hatte herzhaft darüber gelacht, weil es so niedlich ausgesehen hatte. Man muss wohl kaum erwähnen, dass der Garten im Sommer auch ein toller Abenteuerspielplatz war. Man konnte viele Geheimnisse entdecken und wunderbar Verstecken spielen.
Das Einzige, was man in diesem Garten nicht zuwege brachte, war ein Baumhaus mit seinem Vater zu bauen.
»Erde an Flynn«, hörte er Konrad sagen und gleichzeitig sah er dessen Hand, die ihm vor den Augen herumwischte. »An was denkst du denn gerade?«
Flynn lächelte. Auf einmal wusste er, warum er so besessen war, das Baumhaus zu bauen. Es würde bedeuten, Zeit mit seinem Vater zu verbringen. Das wiederum würde bedeuten, dass sein Vater einen ganzen Tag lang mehr an seinen Sohn als an seine Arbeit dachte, und vielleicht würde auch seine Mutter einen ganzen Tag lang keinen Alkohol trinken. Eventuell würden die beiden dann endlich merken, dass es Spaß machte, eine Familie zu sein, und Flynn müsste sich nicht weiter fühlen, als wären seine Eltern ohne ihn viel besser dran.
»Hilfst du mir?«, sagte Flynn.
»Bei was denn?«
»Beim Baumhaus bauen!«
Flynn war sich sicher, wenn er erstmal angefangen hatte, würde sein Vater bestimmt mithelfen. Konrad hingegen war sicher, dass Flynn das nicht ernst meinen konnte.
»Weißt du überhaupt, wie das geht?«
»Nein, aber du findest es bestimmt heraus. Wer von uns beiden will denn Wissenschaftler werden?«
Lachend rannte Flynn aus dem Zimmer. Sein Vorhaben duldete keinen Aufschub.
»Komm schon«, rief er und war die Treppe bereits zur Hälfte hinuntergelaufen.
Konrad fand Flynn im Keller wieder. Er war hier unten noch nie gewesen und staunte nicht schlecht. Bis an die Decke stapelten sich alte Kartons verschiedenster Sachen. Da war zum Beispiel die Box eines Kaffeevollautomaten, ganze drei Verpackungen von Fernsehern sowie verschiedener anderer Geräte, und sogar die riesige Schachtel eines Rasenmähers war nicht entsorgt worden.
»Wusste gar nicht, dass dein Vater Rasen mäht«, sagte Konrad verwundert.
Flynn hob kurz den Kopf, der in einer Kiste mit allerlei Werkzeug steckte, nur um gleich wieder darin unterzutauchen. »Macht er ja auch nicht«, war seine Stimme dumpf zu vernehmen. »Das meiste Zeugs, was er kauft, benutzt er nicht. Genau wie die.« Ohne aufzusehen, zeigte er auf eine Reihe von Gartenmöbeln, die in der hintersten Ecke aufgestapelt waren und sogar noch in der Transportfolie steckten.
Nach einer ganzen Weile Kramerei tauchte Flynns Kopf von Neuem auf. »Hier, halt mal.« Er streckte Konrad eine Schachtel entgegen, die er bis zum Rand mit Schrauben und Nägeln gefüllt hatte. Nachdenklich verzog er den Mund. »Dann brauchen wir noch einen Hammer, Akku-Schrauber, Zollstock, Säge ...« Er legte den Finger an sein Kinn, während er mit den Augen das Werkzeugregal scannte. Konrad hätte gerne beim Überlegen geholfen, aber er hatte überhaupt keine Ahnung, wie man ein Baumhaus baute. Flynn winkte ab. »Egal, den Rest holen wir später«, beschloss er gutgelaunt.
Durch die Waschküche trugen die beiden alles über die kleine Außentreppe nach oben, hinaus in den Garten. Konrad hatte seinen Freund seit langem nicht mehr so fröhlich gesehen. Mit einem breiten Lachen legte Flynn das Werkzeug unter die große Eiche und rannte hinüber zum Holzstapel.
»Holen wir erst alles herüber«, rief Flynn. »Dann sehen wir, was wir haben.«
Mit einem Ruck zog er die Plane von den Brettern. Staub und Dreck flog ihnen um die Ohren, aber nicht nur das. Konrad entfuhr ein gellender Schrei. Eine riesige Spinne war blitzschnell zwischen dem Holz verschwunden. Dazu wälzten sich dicke weiße Maden auf den Latten und eine Unzahl von Käfern krabbelten aufgeregt in allen Richtungen davon. Eines der Kriechtiere war von der Plane durch die Luft geschleudert worden und direkt im Ausschnitt von Konrads T-Shirt gelandet. Der hüpfte wie wild umher und versuchte, das Tier abzuschütteln. Er bewegte sich dabei viel schneller und viel mehr, als er das je im Sportunterricht getan hatte.
»Jetzt hab dich nicht so. Die machen doch nichts«, kicherte Flynn, der Konrads Affentanz amüsiert zusah.
»Ich fass das nicht an«, sah Konrad angewidert auf den Holzstapel, nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte. Mit vor Ekel verzogenem Gesicht wandte er sich ab.
»Sei nicht langweilig. Du kriegst auch meine Handschuhe«, versprach Flynn großzügig. »Wir legen alle Bohlen einzeln ins Gras, dann werden sie von der Sonne getrocknet und die Viecher verziehen sich von selbst.«
Widerwillig ließ sich Konrad umstimmen. Schnell griff er nach den Handschuhen, bevor Flynn sich sein Angebot womöglich anders überlegte. Widerstrebend hob er die erste Holzlatte mit den Fingerspitzen an. Pedantisch achtete er darauf, dass keines der schmierigen Bretter auch nur ein kleines bisschen seine Klamotten berührte. Anfangs. Schließlich musste er doch kräftiger zupacken. Die Holzplanken waren teils lang und schwer. Außerdem ragten hie und da rostige Nägel heraus. Es war wichtiger, darauf zu achten, sich nicht daran zu verletzen, als von dem Siff auf die Hose zu bekommen.
Erschöpft setzten sich die Jungen an den Zaun, vor dem sich gerade noch der Holzstapel befunden hatte und ließen sich die Nachmittagssonne auf den Bauch scheinen. Es hatte länger gedauert als gedacht, aber alle Bretter lagen verteilt im Garten.
»Wird dein Vater nicht sauer, wenn er das sieht?« Konrads Blick wanderte über ihr Werk. Es war kaum ein Fußbreit vom Rasen übriggeblieben, den sie nicht mit Holzlatten belagert hatten.
Flynn winkte ab. »Dem ist der Garten komplett egal. Außerdem ist es längst dunkel, bis er heimkommt. Er hockt dann in seinem Arbeitszimmer oder auf der Couch. Er war ewig nicht hier draußen. Ist ja nur für heute Nacht. Morgen fangen wir gleich an zu bauen.«
Im selben Moment, als Flynn das ausgesprochen hatte, fuhr ein Windstoß unter die Plane, die achtlos neben der Hecke lag. Hektisch sprangen die beiden Jungen auf, um ihr nachzujagen.
»Vielleicht können wir die für das Dach gebrauchen, als Dichtung«, überlegte Flynn. »Legen wir ein paar Latten drauf, dass sie nicht ein zweites Mal wegfliegt.«
»Da liegt noch was.«
Konrad deutete auf eine glitzernde Kiste, die sie beim Abtragen des Holzstapels übersehen hatten.
Neugierig hob Flynn sie auf. Es war eine Blechdose, etwa so groß wie ein DIN-A4-Blatt und ungefähr zehn Zentimeter hoch. Als wäre es ein wertvoller Schatz, trug er die Dose vorsichtig zur Eiche hinüber und setzte sich in den Schatten darunter. Konrad war aufgeregt gefolgt. Er ließ Flynns Finger nicht aus den Augen, die jetzt langsam den Deckel anhoben. Zum Vorschein kam eine verknitterte Plastiktüte. Die beiden Jungen sahen sich vielsagend an, bevor Flynn sie hervorholte, auffaltete und hineingriff. Als Erstes brachte er eine kleine blecherne Taschenlampe ans Tageslicht. Am Schraubverschluss hatte sich ein weißer Belag gebildet. Vermutlich waren Batterien darin, die ausgelaufen waren. Flynn drückte auf den Schalter. Es tat sich nichts. Behutsam legte er die Lampe neben sich ins Gras und griff erneut in die Tüte. Diesmal zog er ein schmales Notizbüchlein hervor. Es war dunkelblau und hatte einen vergilbten Aufkleber auf dem Einband. Mit der krakeligen Schrift eines Kindes war ›Daniels Baumhausbuch‹ darauf geschrieben. Flynns Herz pochte vor Aufregung. Das musste die Handschrift seines Vaters sein, als der noch ein kleiner Junge war. Sein Vater hieß ja Daniel und hatte ihm selbst erzählt, wie Opa das Baumhaus für ihn gebaut hatte. Seine Hände zitterten, als er das Büchlein aufschlug. Gleich auf der ersten Seite hatte jemand eine Skizze hineingemalt. Flynns Herz klopfte bis zum Hals. Er hatte den größten Schatz gefunden, den er sich nur vorstellen konnte. Unter der Zeichnung stand:
Daniels Baumhaus
Diesmal keine Kinderschrift. Bestimmt hatte Großvater das geschrieben. In Gedanken sah Flynn, wie Opa die Skizze zeichnete. Auf dessen Schoß ein kleiner Junge, der gespannt mit großen Augen verfolgte, was sein Vater (also Flynns Opa) da entstehen ließ.
Es entstand erst auf diesem Blatt Papier und später draußen im Garten. Ganz in echt. Ein richtiges Baumhaus.
Eine Träne rann über Flynns Wange. Es war wegen der schönen Vorstellung und gleichzeitig der Sehnsucht, weil Flynn nie so auf dem Schoß seines Vaters gesessen hatte. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. Schnell wischte er die Träne weg und blickte verstohlen zu Konrad. Blöderweise hat der es bemerkt, aber er war ja sein Freund. Es gab also Schlimmeres.
»So will ich es auch bauen! Bist du dabei?«, sagte er, um keine peinliche Stille entstehen zu lassen.
Konrad nickte. Er hatte zwar keine Ahnung, wie sie das hinkriegen sollten, aber das würde sich dann schon irgendwie ergeben. Er spürte, wie wichtig seinem Freund das Baumhaus war, und er würde ihm auf jeden Fall helfen.
Flynn legte das Büchlein sorgsam auf seine Knie, bevor er erneut die Plastiktüte schnappte, sie auf den Kopf drehte und schüttelte. Der restliche Inhalt purzelte in die Blechbüchse. Es fielen einige Steine heraus, ein paar Holzfiguren – wie es aussah selbstgeschnitzt – und eine Lupe. Während Konrad verstohlen auf sein Handy schaute, griff Flynn interessiert nach dem Vergrößerungsglas und beobachtete eine Ameise, die über sein Bein krabbelte. Konrads Blick zum Telefon war ihm aber nicht entgangen.
»Hast du noch was vor?« Flynn fragte es, ohne das Krabbeltier – das inzwischen bis auf seinen Oberschenkel gekrochen war – aus den Augen zu lassen. Er wusste, dass Konrad meistens nach der Uhrzeit sah, wenn er sein Handy herausholte. Außer Flynn schrieb Konrad nämlich selten jemand Nachrichten.
»Wir müssen noch Hausis machen«, rief Konrad in Erinnerung.
»Hast recht.«
Ehrfürchtig legte Flynn alles zurück in die Kiste und nahm sie mit in sein Zimmer.
~
Das Fenster stand weit offen. Die Nacht brachte eine angenehme Abkühlung. Flynn ließ sie gerne in sein Zimmer. Er liebte diese lauen Abende im Frühling, die den Sommer ankündigten. Bäuchlings lag er auf dem Fußboden, spürte den Wind, der seine Arme und Beine umwehte. Konrad war längst gegangen. So spielte er allein und gedankenverloren mit den Holzfiguren aus der Blechbüchse. Eigentlich spielte er nicht, sondern betrachtete sie ehrfürchtig. Er wollte sie nämlich lieber gar nicht anfassen, um die Spuren seines Vaters nicht abzuwischen. Der oder sein Opa hatten die zahlreichen Kerben und Schnitte im Holz verursacht. Durch wer weiß wie viele Hände mussten diese Figuren schon gegangen sein? Flynn hätte wetten können, dass sein Vater die Spielsachen von dessen Vater bekommen hatte. Er fröstelte und bekam Gänsehaut. Langsam wurde es zu frisch im Zimmer. Der Frühling war eben doch nur der Vorbote des Sommers. Flynn stand auf und schloss das Fenster. In der Blechbüchse lag jetzt nur noch das Notizbuch. Er bückte sich, griff danach und setzte sich auf sein Bett. An das Kopfteil gelehnt zog er die Beine an. Ein leicht modriger Geruch drang in seine Nase, sonst war das Heft gut in Schuss. Er schlug es auf und lehnte es gegen seine Oberschenkel. Eine Zeitlang starrte er auf die Skizze der ersten Seite, als wolle er sie sich ins Gehirn brennen. In Wirklichkeit entstand ein lebendiges Bild vor seinen Augen. Die Zeichnung füllte sich mit echten Brettern und das fertige Baumhaus erhob sich in die alte Eiche. Flynn sah es tatsächlich vor sich, als wäre es Realität. Dann blätterte er gespannt weiter. Da war noch etwas hineingemalt. Diesmal eindeutig von einem Kind. Drei Strichmännchen mit einem Haus, darüber eine Sonne. Daneben ein Baum, auf dem ein zweites Haus saß. Flynn musste schmunzeln. Das Bild hatte sicher sein Vater gemalt, als er noch ganz klein war. Auf der nächsten Seite stand etwas geschrieben. Wieder von einem Kind.
›Lieber Vati! Vielen Dank für das tolle Baumhaus. Ich kann jetzt alle meine Freunde darin einladen.‹
Er hatte die Buchstaben so groß geschrieben, dass er die komplette Seite für die beiden Sätze gebraucht hatte. Flynn konnte sich fast nicht loseisen davon. Es waren so wenige und so einfache Worte, aber trotzdem drückten sie die enorme Freude aus, die sein Vater damals empfunden hatte. Ein Gefühl, dass Flynn ganz und gar nachvollziehen konnte. Vielleicht konnte man das nur als Kind empfinden. Wie anders war es zu erklären, dass sein Vater ihm diese Freude verwehrt hatte.
Immer weiter blätterte Flynn. Er hielt die spannendste Lektüre in Händen, die ihm je untergekommen war. Die Schrift wurde mit jeder Seite leserlicher und die Texte sinnvoller. Nicht nur sein Vater hatte hineingeschrieben. Auch einige andere Kinder.
Eine Silke hatte zum Beispiel gereimt: ›Werde glücklich, werde alt, bis die Welt zusammenknallt.‹
Flynn musste herzhaft lachen. Hoffentlich passiert das nicht wirklich, überlegte er aufgekratzt. Als der Gedanke immer ernstere Züge annahm, blätterte er lieber schnell weiter.
›Wenn dir deine innere Stimme sagt, werde erwachsen, lauf weg. Es ist eine Falle. Dein Oliver‹
»Das mache ich, Oliver«, murmelte Flynn schmunzelnd vor sich hin. Er hätte gerne gewusst, wer dieser Oliver war, um zu wissen, ob wenigstens der es geschafft hatte, wegzulaufen. Sein Vater schien auf die Stimme ja leider nicht gehört zu haben.
Danach folgten nur noch leere Blätter. Irgendwann hatte niemand mehr in das Buch geschrieben. Er legte es sachte zur Seite. Sein Magen knurrte. Kein Wunder. Über ihrer Arbeit mit dem Holzstapel hatte Flynn völlig das Mittagessen vergessen und die paar Erdnüsse, die er aus seiner Schreibtischschublade genascht hatte, waren nicht als Abendessenersatz geeignet gewesen. Er wunderte sich, dass Konrad nicht gemeckert hatte, aber der war inzwischen sicher fürstlich verköstigt worden. Leise schlich Flynn nach unten in die Küche. Um diese Zeit würde es ihm entweder peinlich sein, auf seine Mutter zu treffen oder sie würde schlafen. Am Abend war sie immer ziemlich betrunken. Sie redete dann völlig unverständliches Zeug und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Früher war sie überhaupt nicht so, sondern eine tolle Mami gewesen. Er hatte ihr alles sagen können. Egal ob ihn etwas bedrückte oder so sehr freute, dass er es teilen musste. Sie hatten immer viel zusammen gelacht. Deshalb war das damals wegen Vater auch nicht so schlimm. Inzwischen schienen ihm die Erinnerungen an die fröhlichen Tage mit seiner Mutter wie aus einem anderen Leben. Anfangs hatte sie nur manchmal abends was getrunken, später schon am Nachmittag, dann täglich zum Mittagessen und schließlich auch beim Frühstück. Sie machte es heimlich, aber er war zu alt, um nicht zu kapieren, was sie aus ihrer Tasse trank.
Es hatte begonnen, als Flynn älter geworden und tagsüber weniger zu Hause war, weil er sich mit Freunden traf oder zum Sport ging. Seine Mutter war dann ganz allein und deshalb machte Flynn sich Vorwürfe, mit Schuld daran zu sein. Aber er war ein Kind. Er konnte doch nicht ständig zu Hause bei seiner Mutter sitzen. Auch das wusste er, trotzdem nagte sein schlechtes Gewissen an ihm.
Flynn vermied es, vor allem abends auf seine Mutter zu treffen. Wenn er sie betrunken sah, bevor er schlafen ging, lag er die ganze Nacht wach und überlegte, wie er ihr helfen konnte. Er hatte schon einmal sämtliche Flaschen ausgekippt, weil er gehofft hatte, dass seine Mutter die Botschaft verstehen würde. Vielleicht hatte sie es auch, aber ihr Wille war zu schwach gewesen. Sie hatte danach viele verschiedene Verstecke angelegt, sodass es Flynn unmöglich war, alle ausfindig zu machen. Reden konnte man ohnehin nicht mit ihr und andere Erwachsene wollte er nicht einschalten. Bestimmt würden sie seine Mutter in eine Klinik bringen oder so etwas und das war völlig undenkbar. Allein mit seinem Vater zu wohnen, war keine Option. Das würde nämlich vor allem ›allein‹ bedeuten und weniger ›mit seinem Vater‹. Deshalb hing er auch so an Konrad. Der war der einzige Mensch, der sich nie verändert hatte, seit sie sich im Kindergarten über den Weg gelaufen waren.
Im Kühlschrank fand Flynn den Teller vom Mittagessen. Frau Hofmann hatte ihn aufgehoben. Sie kam immer morgens und erledigte den Haushalt. Sie sorgte auch für den Einkauf, und dass Vater ein Frühstück bekam. Darauf legte der besonderen Wert. Der Teller, beziehungsweise das Essen darauf, sah lecker aus. Warm machen wollte er sich aber nichts mehr und kalt schmeckte die Wurst daneben viel besser. Im Brotkasten fand er zwei weiche Brötchen. Mit den Fingern riss er sie in der Mitte auseinander, um sie zu belegen. So versorgt machte er sich auf den Rückweg. Flynn war bereits wieder auf der obersten Stufe angekommen, als er von unten den Summer vom Eingang hörte. Sein Vater kam nach Hause. Flynn beschleunigte seinen Schritt, huschte in sein Zimmer und schloss lautlos die Tür. Wenn sein Pa von der Arbeit kam, wollte er nicht gestört werden. Flynn hätte ihm gerne vom Baumhaus erzählt und was sie gefunden hatten, aber um diese Uhrzeit konnte er Vater mit so etwas nicht kommen.
Oder?
Nachdenklich biss er in ein Brötchen. Es waren schließlich alte Kindheitserinnerung. Vielleicht würde es ihm ja doch gefallen. Selbstbewusst klemmte er sich die Dose unter den Arm und schlich einen Stock tiefer. Aus dem Wohnzimmer drang Licht. Flynn setzte ein Lächeln auf und legt die Hand auf die Klinke. Er wollte schon die Tür aufstoßen, als er durch den Spalt seinen Vater sprechen hörte.
»Kannst du nicht ein einziges Mal nüchtern sein, wenn ich nach Hause komme?« Seine Stimme klang zornig. »Ich habe es satt, mir das jeden Tag anzusehen.«
»Ansehen?« Seine Mutter lallte mehr, als dass sie sprach. »Wann hast du mich denn das letzte Mal angesehen? Was du siehst, ist doch nur Arbeit und Geld.«
»Die alte Leier«, sagte Flynns Vater verächtlich. »Ich arbeite, dass wir uns das hier leisten können. Flynn soll es einmal besser haben als ich.«
Flynn wollte hineinrennen und ihm sagen, dass er es gut genug hatte, auch ohne ein tolles Haus mit elektrischen Rollläden, und er viel lieber mit ihm das Baumhaus bauen wolle. Aber bevor er den Mut aufbringen konnte, sprach sein Vater bereits weiter.
»Ich hoffe, er kann es besser wertschätzen, als du das kannst.«
»Flynn braucht jemanden, den er anfassen kann«, lallte seine Mutter. »Keinen arbeitssüchtigen Vater, der nur auf dem Papier für ihn sorgt.«
Flynn liefen Tränen über die Wange. Obwohl sie betrunken war, tat sie das, was sie schon immer getan hatte. Sie sagte seinem Vater, was Sache war. Es gab Zeiten, da hätte er auf sie gehört oder zumindest versucht, sich Mühe zu geben.
»Du gehst mir auf den Geist mit deiner ständigen Trinkerei. Lass dich endlich behandeln. In so einem Zustand bist du nämlich auch keine Mutter zum Anfassen.«
»Ich gehe dir auf den Geist? Denkst du, es macht mir Spaß, jeden Tag auf meinen Ehemann zu warten, der dann so erschöpft ist, dass er nichts mehr von mir wissen will? Eine Frau möchte geliebt und angesehen werden. Nicht einmal im Urlaub schaffst du es, dich um deine Familie zu kümmern. Nur wegen dir habe ich angefangen zu trinken. Ich hätte mir besser einen anderen gesucht, dann hätte diese lächerliche Ehe schon längst ein Ende.«
Das hatte gesessen. Für einen Moment war es still im Wohnzimmer. Für einen langen eisigen Moment.
»Kein Problem«, säuselte Flynns Vater. Seine Stimme hatte jeglichen Zorn verloren. »Es lässt sich alles regeln. Ich wette, die Männer stehen Schlange nach einer Trinkerin wie dir.« Was er sagte, klang kalt und endgültig.
Flynn fürchtete, dass sein Vater jeden Moment das Wohnzimmer verlassen würde. Schnell sprang er auf und rannte, seine Blechdose fest unter den Arm geklemmt, die Stufen nach oben. Er musste aufpassen nicht zu stolpern, da ihm Tränen die Sicht vernebelten.
»Daniel, bitte! Ich hab das nicht so gemeint. Ich liebe dich«, hörte er seine Mutter aus dem Wohnzimmer flehen.
Das passierte ihr leider ebenfalls, wenn sie getrunken hatte. Sie dachte über die Dinge nicht nach, die sie sagte. Ihre Worte waren sicher ehrlich, aber eben nicht clever.
Flynn lag noch lange wach in dieser Nacht. Was, wenn sich seine Eltern wirklich scheiden ließen? Was würde dann mit ihm passieren? Er wusste es nicht. Er wollte nicht ohne seine Mutter sein, aber mit ihr gehen konnte er ja auch nicht und allein mit seinem Vater stellte er sich schrecklich vor. Es würde eine schwere, gefühlskalte Zeit werden. Schließlich überkam ihn ein fürchterlicher Weinkrampf. In diesem Moment war er der traurigste Junge der Welt.
Er hatte alles, was man sich nur vorstellen konnte, aber ohne richtige Eltern hatte er nichts.
~
Als Flynn am Morgen nach unten kam, war Vater bereits zur Arbeit gefahren. Frau Hofmann räumte gerade sein Geschirr ab. Zum Glück war er schon weg. Flynn hatte gar keine Lust auf ihn.
»Morgen, Flynn«, sagte Frau Hofmann freundlich. »Bist du krank?« Sie hatte erst nur kurz aufgesehen, musterte ihn jetzt aber einfühlsam.
»Nein, hab nur schlecht geschlafen«, murrte Flynn unfreundlicher, als er es beabsichtigte.
Frau Hofmann war wirklich nett und außerdem lag ihre Frage auf der Hand. Er hatte sich selbst beim Zähneputzen im Spiegel gesehen und brauchte sich nicht darüber zu wundern. Er sah fürchterlich blass aus und unter den aufgequollenen Augen hatte er dicke schwarze Ränder.
»Ist Mutti schon wach?«
Das war erst recht blöd von ihm. Um das Thema zu wechseln, hätte er genauso gut nach dem Wetter fragen können. Frau Hofmann schüttelte mitleidig den Kopf.
Flynn setzte sich an den Küchentisch. Still kaute er auf einem Brötchen herum und hatte nur einen Gedanken:
Das Baumhaus!
Es musste einfach klappen. Es ging nicht nur mehr darum, Zeit mit seinem Vater zu verbringen. Er wollte ihm zeigen, wie schön es war eine Familie zu sein. Vielleicht konnte Vati dann auch Mutti verzeihen und für sie da sein. Ob Konrad wollte oder nicht. Er musste helfen, die ersten Bretter zusammenzunageln. Wenn sie so weit kommen würden, dass Vater sein altes Baumhaus wiedererkannte, erinnerte er sich bestimmt, was er versprochen hatte, und bestenfalls auch daran, wie sehr er es als Kind gemocht hatte.
~
»Wie siehst du denn aus?« Konrad sah Flynn entsetzt an, als der auf den Gehsteig trat.
»Bescheiden, ich weiß. Meine Eltern haben gestritten und ich konnte kaum schlafen.«
»Das muss wirklich ein Ende haben«, ereiferte sich Konrad.
»So schlau bin ich selbst«, sagte Flynn. Er sah seinen Freund geheimnisvoll an. »Ich hab auch schon einen Plan, wie.«
Voller Eifer erzählte er, was er sich ausgedacht hatte.
»Und du meinst, das funktioniert?« Konrad wirkte eher skeptisch.
»Wenn nicht, ist alles verloren«, ließ Flynn den Kopf hängen.
»Wir probieren es. Ich hab’s dir ja sowieso schon versprochen.« Aufmunternd klopfte Konrad seinem Freund auf die Schulter. »Ich hab gestern Abend noch ein paar Anleitungen im Internet angesehen. Wie man am stabilsten Bretter verbindet und solche Sachen.«
»Du bist der Beste!«, freute sich Flynn.
An der Stelle könnte man denken, dass Konrad ohnehin nichts anderes zu tun hatte und seine Hilfe deshalb nichts besonderes wäre, aber das stimmte nicht. Konrad hatte zwar nicht sehr viele Freunde, genau genommen nur Flynn, aber er hatte viele Hobbys, die ihn in Anspruch nahmen. Hobbys, für die man keine Freunde brauchte und die er selbst mit Flynn nicht teilen wollte. Man brauchte dafür Ruhe und einen klaren Kopf, keine Ablenkung. Es war Konrad also durchaus nicht unrecht, wenn Flynn mit einem seiner vielen anderen Kumpels unterwegs war. Zum Beispiel war Konrad gerade dabei, ein geheimes System zu bauen, welches die Menschheit revolutionieren würde. Dafür konnte er wirklich niemanden gebrauchen und es kostete viel Zeit. Es war also keineswegs selbstverständlich, dass er wegen des Baumhauses recherchierte, und Flynn wusste es zu schätzen.
Am Nachmittag war Regen aufgezogen. Kein normaler Regen. Fäden, länger als Spaghetti, prasselten vom Himmel und bildeten tiefe Pfützen hinter dem Haus. Betrübt sah Flynn aus seinem Fenster in den Garten hinunter. Die Holzlatten waren im Gras versunken. Statt zu trocknen hatten sie sich mit Feuchtigkeit vollgesogen und wenn es nicht bald aufhörte, würde er besser einen Gartenteich anlegen, als ein Baumhaus bauen. Konrad war kurz vorbeigekommen, dann aber wieder nach Hause gegangen. Es machte null Sinn. Die dunklen Wolken nahmen kein Ende und selbst wenn es irgendwann aufhören würde, war alles so nass, dass man nicht daran denken konnte, mit dem Bau zu beginnen.
»Hoffentlich klappt es morgen«, seufzte Flynn und warf sich auf sein Bett.
Er nahm wieder die Kiste zur Hand und besah sich den Inhalt. Vielleicht konnte er wenigstens die Taschenlampe zum Laufen bringen. Mit neuem Elan setzte er sich an seinen Schreibtisch, zog ein Blatt Papier aus der Schublade und breitete es vor sich aus. Sachte drehte er den Verschluss des Batteriefaches ab. Es purzelten zwei Batterien heraus, die mit einer kristallisierten Flüssigkeit überzogen waren. Flynn schnupperte daran und entschied sich, die Dinger besser nicht anzufassen. Direkt vom Papier aus landeten sie in einer kleinen Tüte, die er irgendwann im Supermarkt abgeben würde. Dort gab es ja eine Sammelstelle für Altbatterien. Zwei neue Batterien hatte er auch schon im Auge. Eine Zeitlang war er ganz versessen auf ferngesteuerte Autos gewesen. Seit Ewigkeiten standen drei Stück unbeachtet in einem Regal. Mit etwas Glück würde er passende Batterien darin finden. So war es. Mit einem kleinen Schraubenzieher kratzte er die Kontakte an der Taschenlampe sauber, legte die Batterien ein und baute alles zusammen. Gespannt drückte er auf den Schalter. Für einen kurzen Augenblick flammte das Birnchen auf, um gleich darauf schwarz zu werden.
»Schade«, seufzte Flynn. »So eins hab ich nirgends herumliegen.«
Er legte die Lampe zurück in die Büchse und zog die Holzfiguren heraus. In Reih und Glied stellte er sie auf das Papier. Ihn überkam dieselbe sehnsüchtige Stimmung von gestern Abend. Der Letzte, der diese Figuren angefasst hatte, war sein Vater. Genau wie alles andere in der Dose. Erneut griff er zu dem Notizheft, um sich noch mal die Skizze vom Baumhaus anzusehen. Als er es aufschlug, war da aber keine Zeichnung, sondern ein Text. Überrascht drehte Flynn das Heft um. Er hatte es versehentlich mit der Rückseite vor sich gelegt. Den Eintrag ganz am Ende hatte er gestern übersehen, weil davor so viele leere Seiten gewesen waren. Er hatte gedacht, es würde nichts weiter drinstehen. Begierig begann er zu lesen:
›Liebes Baumhaus, wir hatten eine sehr schöne Zeit miteinander. Leider glaube ich, dass es langsam vorbei ist. Ich komme immer seltener zu dir und eigentlich bin ich auch wirklich zu groß geworden, um dich zu besuchen. Bitte verstehe das. Vergessen werde ich dich nie. Wie könnte ich das. All die schönen Stunden, die ich und meine Freunde in dir verbringen durften. Du warst ohne Quatsch das Beste, was Vater je für mich gemacht hat, und deshalb verspreche ich dir, dass du auch für meine Kinder da sein darfst. Irgendwann in einigen Jahren und glaube mir, ich werde viele Kinder haben. In tiefer Dankbarkeit, Daniel.‹
Flynn musste schlucken. Das sollte sein Vater geschrieben haben? Was auch immer er in dem Baumhaus erlebt hatte, er hatte es völlig vergessen. Wie sonst war es möglich, dass er sein Versprechen nicht eingehalten hatte.
Flynn fasste einen Entschluss. Wenn sein Vater nach Hause kam, würde er ihm zeigen, was er gefunden hatte.
Ständig sah er auf die Uhr. Langsam wurde er müde. Er spürte, wie ihm die letzte Nacht in den Knochen steckte. Trotzdem durfte er sich nicht hinlegen. Womöglich würde er dann nur einschlafen und sein Vorhaben wollte er auf keinen Fall verschieben. Also tigerte er in seinem Zimmer auf und ab und wartete sehnsüchtig auf seinen Vater.
Endlich hörte er das Garagentor. Kurz darauf den Summer der Haustür. Am liebsten wäre er sofort hinuntergerannt. Nur schwer konnte er sich zügeln. Zumindest einige Minuten gönnte er seinem Vater, um etwas zur Ruhe zu kommen. Schließlich hielt er es aber nicht mehr aus. Griff, genau wie schon gestern, nach der Blechdose und trat auf den Flur. Heute würde er nicht zögern. Mit festen Schritten ging er hinunter. Im Schein einer Lampe saß sein Pa auf dem Sofa und schien zu dösen.
»Bist du wach?« Flynn hatte sich neben ihn gesetzt und vorsichtig angesprochen.
»Ich schon, aber warum bist du noch auf?«, entgegnete sein Vater tonlos.
Keine Regung, dass er sich zumindest ein wenig freute, seinen Sohn zu sehen.
»Ich hab auf dich gewartet«, sagte Flynn wahrheitsgemäß.
»Hast du was ausgefressen?«
Flynn schüttelte den Kopf. »Ich wollte dir was zeigen.«
Ohne weitere Worte stellte er die Blechbüchse auf den Wohnzimmertisch. Sein Vater runzelte die Stirn. Flynn beobachtete ihn ganz genau, konnte aber nicht sagen, ob Pa erkannte, was da vor ihm stand.
»Wegen einer alten Keksdose opferst du deinen Schlaf? Du solltest bessere Prioritäten setzen«, sagte sein Vater. »Nur ein ausgeschlafener Geist ist ein lernfähiger Geist«, hielt er ihm vor.
Flynn überlegte, ob sich sein Pa so etwas spontan ausdachte oder ob es solche Sprichwörter wirklich gab.
»Das ist nicht nur eine alte Keksdose. Schau doch mal rein«, blieb Flynn hartnäckig.
Mit einem Finger, als könne jeden Moment etwas daraus hervorspringen, hob sein Vater den Deckel an. Diesmal bemerkte Flynn, wie dessen Augenbrauen zuckten. Ohne richtig hineinzusehen, ließ sein Pa den Deckel zufallen.
»Nicht wieder das Baumhausthema, oder?« Flynns Vater schien weder genervt noch sauer. Es war eher Gleichgültigkeit, die aus ihm sprach. »Ich weiß, ich hätte es dir bauen sollen, aber das Thema haben wir doch hinter uns. Du bist zwölf und keine fünf mehr.«
»Willst du nicht mal reinschauen«, startete Flynn einen letzten Versuch.
»Nein, will ich nicht«, sagte sein Vater entschieden. »Ich würde es auch wirklich besser finden, wenn du das verwanzte Zeug nicht im ganzen Haus herumtragen würdest. Wirf es bitte in den Müll.«
Traurig stand Flynn vom Sofa auf. Zumindest mit einem hatte sein Vater recht. Für dieses Gespräch hätte er nicht so lange wach bleiben müssen. Er wollte ins Bett gehen, ließ sich dann aber doch noch mal auf das Polster zurücksinken.
»Willst du dich von Mama trennen?«
Es war nicht die Frage, die ihn schmerzte, sondern die Angst vor der Antwort. Diesmal wirkte sein Vater nicht abwesend oder gleichgültig. Er sah Flynn mit festem Blick an.
»Du bist alt genug, dass ich dir nichts vormachen muss«, sagte er. »Es ist auch für dich besser. Eine Alkoholikerin ist kein Umgang für einen Jungen in deinem Alter. Vielleicht lässt sie sich helfen, dann holen wir sie zurück, irgendwann.«
Flynn wurde es schwarz vor Augen. Die Antwort war so klar, dass sie nicht die Spur eines Zweifels offenließ. Flynn spürte das Sofa nicht mehr, auf dem er saß. Es war, als würde alles verschwinden und er gleich mit. Was sein Vater da sagte, bedeutete unmissverständlich, dass er Mutter sich selbst überlassen würde und ihr das Wichtigste wegnahm, was sie noch hatte.
Ihre kleine Familie.
Flynn wollte ihn anschreien, dass Mutter sehr wohl ein Umgang für einen Zwölfjährigen war, ihm sagen, dass er mit ihr gehen würde, wenn er sie wegschickte, aber seiner Kehle entkam kein Laut. Langsam stand er auf. Seine Beine waren weich, wie Pudding. Ohne sich zu verabschieden, verließ er das Wohnzimmer.
Völlig ausgelaugt fiel er auf sein Bett, lag da wie stumpfsinnig. Obwohl er mit seiner Mutter seit langer Zeit kaum mehr ein Wort sprach, würde das Schlimmste geschehen, was er sich nur vorstellen konnte und zu allem Übel würde er nichts dagegen tun können. Er war ein Kind und musste akzeptieren, was die Erwachsenen für richtig hielten.
Der Mond schien mit voller Kraft direkt in sein Fenster. Er tauchte das Zimmer in ein gespenstisches Licht. Die Möbel warfen lange Schatten an die Wände.
Die Zeiger der Wanduhr standen auf Mitternacht.
Trotzdem er die Erschöpfung in jeder Faser seines Körpers spürte, konnte er nicht einschlafen. Er war so wach, als hätte er mehrere Dosen Energy-Drinks hintereinander getrunken. Es fühlte sich beinahe schmerzhaft an, dennoch stand er wieder auf, holte das Büchlein aus der Blechdose hervor und las den letzten Eintrag seines Vaters erneut durch.
›Liebes Baumhaus, wir hatten eine sehr schöne Zeit miteinander. Leider glaube ich, dass es langsam vorbei ist. Ich komme immer seltener zu dir und eigentlich bin ich auch wirklich zu groß geworden, um dich zu besuchen. Bitte verstehe das. Vergessen werde ich dich nie. Wie könnte ich das. All die schönen Stunden, die ich und meine Freunde in dir verbringen durften. Du warst ohne Quatsch das Beste, was Vater je für mich gemacht hat, und deshalb verspreche ich dir, dass du auch für meine Kinder da sein darfst. Irgendwann in einigen Jahren und glaube mir, ich werde viele Kinder haben. In tiefer Dankbarkeit, Daniel.‹
In tiefer Dankbarkeit – Flynn warf das Büchlein vor Zorn in die Ecke. Wie konnte man nur so verlogen sein. Gleich hatte er ein schlechtes Gewissen und holte es zurück. Beruhigt stellte er fest, dass dem Notizheft nichts passiert war. Sollte er doch an seinem Plan festhalten? Wenn Pa schon nicht half mitzubauen, würde er es vielleicht zumindest ansehen, sobald es fertig war. Blieb das noch als Chance, Vaters Erinnerung zurückzubringen? Dann musste es auf jeden Fall ganz genauso aussehen, wie auf der Zeichnung.
Flynn blätterte Seite für Seite durch die Einträge der Kinder. Er begriff immer weniger, warum sein Vater so gefühlskalt geworden war. Seine Mutter lag absolut richtig. Er dachte nur an seine Arbeit und an Geld. Nichts anderes bedeutete ihm etwas, nur der Erfolg in seinem Geschäft. Flynn stellte sich vor, wie sein Vater als Kind gewesen war. Hätte der zwölfjährige Daniel ein Kumpel von ihm sein können, so wie Konrad? Plötzlich hatte Flynn eine neue Idee. Er griff zu einem Stift und schlug eine leere Seite im Heft auf, direkt nach dem letzten Eintrag der Freunde, die drinstanden. Er musste nicht lange nachdenken, was er schreiben wollte:
›Lieber Daniel, schade, dass ich dich als Junge nicht gekannt habe. Bestimmt wären wir genauso gute Freunde gewesen, wie du es mit all den Kindern warst, die sich in diesem Buch verewigt haben. Ich wünschte, in der Zeit zurückreisen zu können, um mit dir gemeinsam im Baumhaus zu sitzen und all die Sachen zu erleben, auf die du als Erwachsener keine Lust hast. Ich könnte dir meinen besten Freund Konrad mitbringen, der dir bestätigen würde, wie sehr man sich auf mich verlassen kann, und wir verbrächten eine Menge Zeit miteinander. Du würdest endlich mal zuhören, wenn ich dir sagte, wie du dich später verändern wirst. Dann könntest du aufpassen, nicht zu vergessen, was dir als Kind wichtig war. Ich habe dich sehr lieb. Dein Sohn Flynn.‹
Er starrte noch eine Weile auf die Zeilen. Zufrieden klappte er das Büchlein schließlich zu und legte es zurück in die Blechbüchse.
Alles war still im Haus, als Flynn auf den Flur schlich. Sicher lag Vater längst im Bett und schlief. Leise öffnete er die Tür zum Wohnzimmer und platzierte die Dose so neben dem Sofa, dass Pa sie sehen musste, wenn er am Abend dort saß. Wenn er sich unbeobachtet fühlte, würde er ganz bestimmt hineinsehen. Er las dann, was sein Sohn geschrieben hatte, und erinnerte sich an seine eigene Zeit im Baumhaus.
Zurück in seinem Zimmer, kuschelte sich Flynn müde unter die Bettdecke. Mit dem Eintrag im Büchlein fühlte es sich ganz so an, als hätte er sich alles von der Seele geredet. Zufrieden huschte ein Lächeln über sein Gesicht, bevor er innerhalb weniger Sekunden eingeschlafen war.
~
»Flynn!«
Sein Name drang von weither an sein Ohr. Gleichzeitig packte ihn etwas an der Schulter und rüttelte daran.
»Wach auf!«, flüsterte Konrad leise, aber vehement.
Flynn schoss in die Höhe. Sein Oberkörper, der eben noch völlig entspannt auf der Tischplatte gelegen hatte, schnellte gegen die Stuhllehne. Er war so sehr erschrocken, dass er das Gleichgewicht verlor und mit einem lauten Poltern mitsamt Stuhl auf den Boden fiel. Peinlich berührt rappelte er sich, unter dem Gelächter seiner Mitschüler, wieder auf.
»Tschuldigung«, sagte er kleinlaut zu seiner Erdkundelehrerin, die ihn streng ansah. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, fuhr sie mit der Schulstunde fort.
Die beiden schlaflosen Nächte und Frau Sauermilchs Unterricht über die zehn wichtigsten Flüsse Deutschlands hatten Flynn den Rest gegeben. So sehr er sich auch konzentriert hatte, er war weggenickt. Er fragte sich, wieso man über gerade mal zehn Flüsse bereits die dritte Unterrichtsstunde halten musste. Das meiste davon wusste er sowieso schon. Seine Gedanken waren also abgeschweift.
Heute Morgen war aus dem Lautsprecher des kleinen Radios, welches sich Frau Hofmann in der Küche immer anstellte, ein Wetterhoch für die kommenden Tage gemeldet worden. Das hatte automatisch auch zu einem Stimmungshoch bei Flynn geführt, das so lange angehalten hatte, bis Frau Sauermilch mit ihrem Unterricht begann.
Endlich verkündete die Schulglocke den Beginn der großen Pause.
»Bleibst du bitte noch kurz hier!«
Frau Sauermilch hielt Flynn am Arm fest, der es sich gerade so verkneifen konnte, die Augen zu verdrehen. Seine Lehrerin wartete, bis die restlichen Schüler abgerauscht waren, bevor sie weitersprach.
»Ist alles okay bei dir zu Hause?« Sie sah ihn ernst an.
»Logisch«, log Flynn. »Ich hatte gestern Abend nur ein spannendes Buch angefangen und darüber die Zeit vergessen. Es kommt nicht wieder vor«, versprach er.
Immer noch sah ihn Frau Sauermilch streng an. »Meinetwegen. Du bist ein guter Schüler. Es geht mir nicht darum, dass du nicht aufgepasst hast. Bitte achte darauf, dass du ausreichend Schlaf bekommst.«
»Kein Ding«, sagte Flynn und presste die Lippen aufeinander. »Kann ich dann gehen?«
»Klar!« Frau Sauermilch lächelte.
»Flynn«, hörte er doch noch mal ihre Stimme. Unter dem Türrahmen blieb er stehen und wandte sich zu ihr. »Du kannst jederzeit zu mir kommen. Keiner wird davon erfahren. Egal, was es ist.«
»Danke!« Flynn deutete ein Nicken an und verzog sich.
Unten am Treppenabsatz wartete Konrad auf ihn.
»Gab’s Ärger?«
Flynn schüttelte den Kopf. »Sie wollte nur mein Vertrauen gewinnen«, lächelte er. »Was grinsen die denn so blöd?« Er deutete auf einige Jungs aus seiner Klasse, die gleich hinter der Schultür auf dem Pausenhof zusammenstanden.
»Wilder Auftritt«, feixte Paul unter dem Gelächter der Umstehenden. »Solltest dein Heimkino nachts abschalten«, setzte er noch einen oben drauf.
»Sei doch ruhig«, antwortete Flynn genervt.
Für ihn war die Sache erledigt. Nicht so für Konrad.
»Ihr habt ja keine Ahnung«, schimpfte er, um seinem besten Freund beizustehen. »Flynns Eltern trennen sich vielleicht!«, platzte er heraus.
Super, genau das wollte Flynn eigentlich nicht an die große Glocke hängen. Trotzdem konnte er Konrad nicht böse sein. Sein Freund war für diese Welt einfach viel zu ehrlich, und dass der ihm nichts Schlechtes wollte, war sowieso klar.
»Ja und, ist doch nichts Schlimmes«, sagte Noah. »Meine Alten sind schon lang getrennt. Gibt es doppelte Geschenke zum Geburtstag und an Weihnachten«, grinste er.
Als würde nicht reichen, dass Flynn keinen Ausweg sah, musste er sich auch noch diesen Mist anhören. Es ging ja nicht darum, dass sich seine Eltern trennten, sondern dass er bei seinem Vater wohnen würde, der absolut nichts mit seinem Sohn anzufangen wusste, aber das konnte er seinen verwöhnten Kumpels kaum auf die Nase binden.
»Ich hänge eben an meiner Mutter«, blaffte er stattdessen seine Schulkameraden an, was womöglich genauso eine Spur zu ehrlich war.
Zum Glück läutete die Glocke und die Pause war beendet.
»Vielleicht gibt mich mein Vater sogar weg«, sagte Flynn so leise, dass nur Konrad es hören konnte, während sie in der Meute zurück ins Schulhaus drängten.
»Das glaub ich nicht«, versuchte der ihn aufzumuntern. Er kannte Flynns Vater aber auch ein wenig. Deshalb befürchtete er, dass an der Sache womöglich was dran sein konnte, und war ab diesem Moment genauso besorgt wie Flynn selbst. Schließlich war der sein einziger richtiger Freund in der Klasse.
Im Foyer drängte sich Leon an Flynn vorbei. »Du bist echt alt genug, Mamis Rockzipfel loszulassen«, lästerte er.
»Du musst es ja wissen.«
Leon war ein Spaßvogel und Flynn viel zu selbstbewusst, als dass er ernst nahm, was Leon sagte. Trotzdem rammte er ihm den Ellenbogen in die Seite, was aber als Jux gemeint war. Leider verlor Leon daraufhin das Gleichgewicht, und zwar genau in dem Moment, als er an der einzigen Säule vorbeilief, welche im Eingangsbereich stand. Da ein Unglück selten allein kommt, stolperte Leon zusätzlich über die Beine eines anderen Schülers. Krachend schlug er mit dem Kopf an den Pfosten und fand sich, mit einer blutenden Platzwunde, auf dem Boden wieder.
Wie gelähmt hatte Flynn die Szene beobachtet.
»Sorry, Mann!«, beugte er sich entsetzt zu ihm, um zu helfen. »Ich hol nen Lehrer!«