Luca und die Kirchenräuber - Tom J. Schreiber - E-Book

Luca und die Kirchenräuber E-Book

Tom J. Schreiber

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Beschreibung

In diesem Jahr lässt Dad die Bombe platzen. Er ist pleite. Der einzige Ausweg: Ein Job, weit weg von zu Hause. Luca's Brüder sind aus dem Haus und so muss er allein in den sauren Apfel beißen. Er zieht mit seinem Vater aufs Land. Neue Freunde, neue Wohnung ... natürlich eine neue Schule. Nicht genug, ist die neue Penne ein Klosterinternat. Zum Glück kann Luca zu Hause wohnen. Doch bald ereignen sich mysteriöse Einbrüche, in die sogar sein Vater verwickelt scheint. Er muss die Wahrheit herausfinden. Luca's Befürchtung, dass es fernab der Großstadt langweilig zugehen würde, bewahrheitet sich nicht. Eine Katastrophe jagt die nächste, bis am Ende etwas Schreckliches passiert. Kann er den Wettlauf gegen die Zeit gewinnen?

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 390

Veröffentlichungsjahr: 2022

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für meine Familie

Tom J. Schreiber

Luca und die Kirchenräuber

© 2022 Tom J. Schreiber (tomjschreiber.de)

Umschlaggestaltung & Illustration: © 2022 Philipp Ach

Lektorat: Stefanie Brandt (steffis-buchecke.de)

ISBN Softcover:

978-3-347-64965-1

ISBN Hardcover:

978-3-347-64968-2

ISBN E-Book:

978-3-347-64974-3

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

1

Luca saß auf dem Rücksitz von Dads Wagen und beobachtete die Regentropfen auf der Seitenscheibe. Auf dem Glas aufgekommen, verharrten sie kurz, bevor sie langsam daran herunterrannen. In kleinen Wettrennen traten sie gegeneinander an, zogen Bahnen hinter sich her, die früher oder später von anderen gekreuzt wurden. Der eine Tropfen blieb in der Spur hängen und versiegte; einem anderen gelang es, den Streifen weiterzuführen. Das Rennen setzte sich in entgegengesetzter Richtung fort. Die Ziellinie war die Gummilippe, welche das Fenster zur Tür hin abdichtete. Wie barbarisch! Die Dichtung fraß sie alle auf. Eine Weile ließ sich Luca in den Bann ziehen. Sein Kopf war angenehm frei von dem, was ihn heute Morgen beschäftigte. Sein bevorstehender Schulwechsel. Die letzten beiden Jahre waren hart gewesen und fanden ihren Höhepunkt, indem sein Vater seine Firma verlor. Zum Glück hatte der rechtzeitig die Notbremse gezogen, bevor sie pleite waren. Umziehen mussten sie trotzdem. Mitten in die Pampa. Luca betätigte den silbrigen Schalter des Fensterhebers. Die Scheibe fuhr, leise surrend, nach unten. Der Regen peitschte ins Innere. Luca streckte die Zunge aus, um die Tropfen aufzufangen. Die Kühle, die in den Wagen drang, vertrieb die letzte Müdigkeit.

»Lass das«, sagte sein Vater ärgerlich. Er drückte vorn auf den Knopf und schloss das Fenster wieder. »Nur Blödsinn im Kopf!«, murrte er.

Ihre beiden Blicke trafen sich im Rückspiegel. Sie mussten grinsen. Luca mochte es, wenn sein Dad lächelte. Genaugenommen war er nicht sein Vater, sondern sein Onkel. Er hatte ihn und seinen Bruder Stephan adoptiert, weil ihre Mutter gestorben war. Sein richtiger Dad hatte sie lange zuvor im Stich gelassen. Der war auf Nimmerwiedersehen, verschwunden, als er noch ein Baby war. Luca dachte nie darüber nach. Der Typ auf dem Vordersitz war sein Dad, und zwar sein einziger. Eine Zeit lang, waren sie die glücklichste Familie auf der ganzen Welt. Überraschend, hatte Luca einen zweiten Bruder bekommen, Alex. Kurz darauf sogar wieder eine Mom. Sie war die Ehefrau seines Onkels, beziehungsweise Vaters, und die Mutter von Alex. Es ist kompliziert, aber so ist es manchmal in Familienangelegenheiten. Sein Dad hatte dreizehn Jahre lang geglaubt, dass beide tot sind.

Ihr Leben war vollkommen, bis seine neue Mom, bei einem Autounfall verstarb. Es traf alle hart. Luca hatte schon gedacht, dass Vater nicht darüber hinwegkommen würde. Nächtelang saß er in seinem Arbeitszimmer, ohne auch nur einen Ton zu sagen. Hin und wieder hockte Luca bei ihm. Es war schwer, ihn leiden zu sehen. Mit seinen Brüdern versuchte er weiterzumachen. Dabei stand ihm Alex, sein Stiefbruder, beinahe näher als Stephan. Er half ihm bei seinen Hausaufgaben, nahm ihn mit zum Joggen oder Schwimmen. Obwohl Luca viel kleiner war und manches nicht gut konnte, fiel er ihm nicht zur Last. Sie verstanden sich super. Stephan war sein leiblicher Bruder und beschützte ihn. Von ihm lernte er, das Kämpfen und zuzupacken. Mit Alex konnte er dagegen besser reden. Zuhören wär nämlich nicht Stephans Ding. Kurzum, er hatte beide lieb.

Na ja, auf jeden Fall, hatte es ein weiteres Jahr gedauert, bis Dad langsam wieder der Alte wurde. Gerade, als es anfing erneut schön zu werden, hatte er die Bombe platzen lassen. Sie würden umziehen. Zuerst glaubte Luca, dass er das kaum ernst meinen könne. Stephan hatte sich schon vorher um einen Studienplatz in einer anderen Stadt beworben. Alex stand ein Jahr vor dem Abitur. Er weigerte sich schlichtweg, die Schule zu wechseln. Sein Ausweg war Nici, seine Freundin. Er zog kurzerhand zu ihr. Bei allem, was passiert war, würde Luca das Letzte verlieren, was ihm geblieben war. Eine lange Woche stritt er mit seinem Dad darüber. Sieben Tage voller Türen schlagen, Schreianfälle und Heulkrämpfe. Eskalation auf höchstem Niveau. Alles Randalieren half nichts. Irgendwann hatte er es sich erklären lassen, einige schlaflose Nächte später verstanden. Dad ignorierte seinen Willen nicht, es war notwendig. Einfacher wurde es dadurch auf keinen Fall. Luca musste in den sauren Apfel beißen und mit Dad allein umziehen. Allein bedeutete auch, ohne Martha, ihrer Haushälterin. Luca kannte sie praktisch sein ganzes Leben. Sie war eine Zeit lang Mutterersatz und später wie eine Oma für ihn gewesen. Sie war keine Angestellte, sondern ein Familienmitglied. Als sein Vater ihr seine Entscheidung mitteilen musste, ging sie ohne lange zu überlegen in Ruhestand.

So war es gekommen, dass er jetzt auf dem Weg zu seinem ersten Tag in einer neuen Schule unterwegs war. Nur ausnahmsweise würde Dad ihn fahren. Ab morgen war wieder radeln angesagt, wie früher. Luca erwachte aus seinen Gedanken. Die Regentropfen vor seinen Augen verschwammen, dahinter tauchte ein anderes Bild auf.

»Was ist das denn?«, fragte Luca verblüfft. Hinter den Häusern war eine gewaltige Kirche erschienen.

»Na, eine Basilika«, sagte sein Vater trocken. »Ein mehrschiffiges Kirchengebäude«, ergänzte er. Es bereitete ihm Spaß, seinen Sohn zu necken.

»Ich weiß, was ne Basilika ist«, motzte Luca. »Was wollen wir hier?«, stellte er seine Frage anders.

Sein Dad lenkte den Wagen, um einen Brunnen, in der Mitte des Platzes und hielt vor dem Kirchenportal.

»Ich bring dich zur Schule, wie abgemacht!«

Luca blickte entgeistert aus dem Fenster. Die Kirche war so hoch, dass er die Spitze der beiden Kirchtürme nicht sehen konnte. »Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«

Sein Vater nickte. Er zeigte auf eine Gruppe Jugendlicher. »Am besten gehst du denen nach … oder soll ich mitkommen?«

Bevor sein Vater ernst machte, öffnete er die Tür. »Nein, das brauchst du wirklich nicht.« Er lachte und war im Regen verschwunden.

Was Michi wohl zu alldem hier gesagt hätte, überlegte Luca. Michi war sein bester Freund. Sie hatten sich beim allerersten Sommercamp kennengelernt, an dem Luca teilgenommen hatte, und waren danach unzertrennlich gewesen. Wahrscheinlich hätte er gelacht, ihm einen Klaps auf den Hinterkopf gegeben und gesagt: »Zeig ihnen, wer der Babo ist«, oder so ähnlich. Michi war ein unverbesserlicher Optimist und er fehlte ihm. Schon etwas mutiger, rannte er quer über den Platz zu der Stelle, an der er die anderen Teenager gesehen hatte. Sie waren durch einen hohen Mauerbogen gegangen, und nicht mehr zu sehen. Er beeilte sich, ihnen zu folgen. Direkt hinter dem Durchlass, stand er vor einem verschlossenen Holzportal. Die Jugendlichen waren weg. Es gab nur eine Möglichkeit. Luca drückte gegen die schweren Türflügel, die knarrend aufschwangen. Dahinter lag eine Art Kreuzgang. Das Dach des Ganges, bildete ein dunkles Gebälk, mit roten Tonschindeln oben drauf. Links die geschlossene Mauer zur Kirche, rechts eine halbhohe Brüstung, darauf Steinbögen, die den Blick in einen Innenhof freigaben. Ein paar Gemüsebeete, prächtige Rosenbüsche und eine akkurat gemähte Wiese. Luca dachte an die Kastanienbäume vor seiner alten Penne, mit dem Dreckacker drum herum, welcher mit etwas Glück zeitweise zum Rasen mutierte. Er sah die anderen wieder, die am Ende des Ganges, durch ein weiteres Tor, verschwanden. Seitlich an der Mauer, war ein bronzenes Schild angebracht:

GYMNASIUM ST. AGNES

KLOSTERSCHULE

Nicht dein Ernst Dad, dachte Luca und war, in Gedanken versunken, stehen geblieben.

»Kommst du?«

Ein viel zu sympathisch dreinblickendes Mädchen hielt ihm die Tür auf. Er konnte eingebildete Mädchen nicht leiden. Blond und hübsch, war eine Kombination, der er von vornherein misstraute.

»Ist das ne Klosterschule?«, fragte er irritiert.

»Na, wenns da steht.« Sie grinste. »Wusstest du das nicht?«

»Seh ich aus, als hätte ich’s gewusst?«, antwortete er reichlich unfreundlich.

»Wohl nicht.« Das Lächeln war verschwunden, und mit ihm das Mädchen.

Reiß dich zusammen, ermahnte sich Luca. Vor ihm lag ein langer Gang mit einigen Türen. Nach rechts zweigte ein anderer ab.

»Na toll, Freundlichkeit hilft«, murrte er vor sich hin. Bevor er sich allerdings groß ärgern konnte, dass er das Mädchen aus den Augen verloren hatte und jetzt nicht wusste wohin, kam eine streng dreinblickende Klosterschwester auf ihn zu.

»Bist du Luca?«, fragte sie in einem Ton, der ihn überlegen ließ, ob er etwas falsch gemacht hatte.

Jeder kennt solche Menschen, die einem sofort ein schlechtes Gewissen machen, obwohl man nicht die Spur einer Ahnung hat, warum. So eine war die Ordensfrau, die vor Luca stand. Da er sich keiner Schuld bewusst war, nickte er heldenmütig.

»Ich bringe dich in deine Klasse«, sagte sie barsch und deutete ihm zu folgen.

Luca konnte kaum Schritt halten, außerdem musste er sich unentwegt umsehen. Überall gab es was zu entdecken. Alte Gemälde bis unter die Decke, Statuen aus Stein und Holz, Türen aus Glas, dahinter Gänge oder Räume mit noch mehr Gemälden und Statuen.

»Da kann man sich ganz schön verlaufen!«, sagte er, um die angespannte Stimmung zu heben. Ohne Erfolg. Wortlos eilten sie weiter, bis zu einer alten Holztreppe, die sich um eine Säule empor schlängelte. Ist ja nicht sehr gesprächig, dachte Luca, der jetzt lieber Abstand hielt. Die Treppe war steil. Ständig hatte er ihren Rockzipfel im Gesicht. Zwei Stockwerke später, erreichten sie einen weiteren Gang. Auf der einen Seite wieder Türen, auf der anderen hohe Fensterbögen, die den Blick über die Stadt freigaben. Luca blieb keine Zeit, die Aussicht zu genießen. Die Klosterschwester hastete zielsicher zur letzten Tür, öffnete ohne anzuklopfen, und bugsierte ihn hinein. Ehe er sich versah, fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Unsicher blickte er sich um. Sie hatte ihn geradewegs in seine neue Klasse geschoben. Eine tolle Begrüßung war das. Keiner nahm Notiz von ihm. Einige Jungen und Mädchen saßen auf Stühlen, andere auf den Tischen. Der Unterricht hatte noch nicht begonnen und alle redeten durcheinander. Eine normale Schulklasse eben. Luca stand im Türrahmen und überlegte, ob er sich vorstellen sollte oder stumm irgendwo hinsetzen. Beides fand er unpassend. Sein Blick fiel auf eine Gruppe in der ersten Reihe. Erleichtert stellte er fest, dass das Mädchen von vorhin dabei war. Sie hatten keinen guten Start gehabt. Jemanden zu kennen, machte es trotzdem leichter. Er ging hinüber.

»Luca«, sagte er verhalten, ehe sie ihn bemerkt hatte. »Sorry wegen gerade. Ich bin normal nicht so. Es ist nur … das letzte Mal, war ich zur Beerdigung meiner Mom in der Kirche.«

Das Mädchen sah ihn erschrocken an. Im gleichen Moment hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Warum fing er von seiner Mom an?

Sie nickte. »Kein Ding. Tut mir leid!«

»Muss es nicht«, sagte er trocken.

Ihr Gesichtsausdruck wich Verwunderung.

»Na ja, ich war davor auch nicht oft in der Kirche.«

Das Mädchen lachte. »Dass deine Mom gestorben ist, tut mir leid.« Sie musterte ihn. »Du hast ja einen schrägen Humor.«

»Liegt vermutlich an der fremden Umgebung«, rechtfertigte er sich. Sie hatte recht. Er sollte sich am Riemen reißen. Ironie gehörte nicht zu seinen bevorzugten Charaktereigenschaften.

»Kann ich mich zu euch setzen?«

»An sich gern, ist nur kein Platz.« Sie sah enttäuscht aus.

Eigentlich hatte Luca sie viel zu hübsch gefunden, um sympathisch sein zu können. Langsam glaubte er, dass sie es ehrlich meinte, wenn sie hinter ihren blauen Augen hervor lachte. Luca ärgerte sich, dass er nicht von Anfang an, freundlicher zu ihr gewesen war.

»Setz dich am besten zu Johannes und den anderen. Die sind bestimmt nett.« Das Mädchen zwinkerte ihm zu, als könne sie Gedanken lesen. Sie zeigte auf drei Mitschüler weiter hinten. Einer von ihnen, lümmelte auf dem Tisch. Er hatte pechschwarze Haare, die er sauber zu einem Seitenscheitel frisiert hatte. Auf seiner Nase trug er eine schwarze Hornbrille und unterhielt sich mit zwei anderen, die umgedreht auf ihren Stuhllehnen saßen.

»Ich bin übrigens Maria«, meinte sie noch, während er abdrehte.

»Cool«, sagte er beiläufig.

Wenn er sich umdreht, findet er mich nett, beobachtete ihn Maria, wie er weglief.

Wenn sie mir nachsieht, mag sie mich, dachte Luca und warf einen kontrollierenden Blick zurück.

Beide sahen das Grinsen im Gesicht des anderen nicht mehr, da sie sich rasch voneinander abwandten.

»Servus, bist du neu?« Johannes, der Junge mit der Brille, hatte ihn beobachtet, wie er in die Klasse gekommen war. Gut gelaunt sah er ihm entgegen, im Gegensatz zu den beiden anderen, die ihn argwöhnisch musterten.

»Ich weiß nicht, kennst du mich schon?«

Luca war erneut viel zu patzig. Es fühlte sich sicherer an. Freunde fand man mit so einer Art eher nicht. Die Retourkutsche kam prompt.

»Arschlöcher brauchen wir eigentlich keine mehr«, blaffte ihn Johannes an. Demonstrativ legte er seine Beine auf den freien Stuhl neben ihm. Die beiden anderen lachten und schlugen mit der flachen Hand ein. Luca’s Spruch war nach hinten losgegangen. Auf den ersten Blick hatten sie wie Nerds ohne Freunde gewirkt. Als Maria sagte, die Jungs wären nett, hatte das seinen ersten Eindruck bestätigt. Diesen Anschein machten sie ihm jetzt nicht mehr. Sie ließen sich nichts gefallen. Das imponierte Luca. Er trat den Rückzug an. Zumindest ein bisschen.

»Ich mein ja nur. Ist doch offensichtlich, dass ich neu bin. Aber versteh schon, als der Neue muss man erst mal schön Wetter machen.« Er setzte ein gewinnbringendes Lächeln auf. Erfahrungsgemäß war dem schwer zu widerstehen. Es klappte auch diesmal.

»Versteh schon.« Johannes entspannte sich. »Als Neuer muss man erst mal einen auf ›dicke Hose‹ machen.« Er zog seine Beine vom Stuhl zurück.

Luca, der das für eine Einladung hielt, setzte sich.

»Darf ich vorstellen. Der mit dem Schokoriegel ist Matthias, der andere, sein Homie Felix.«

Die beiden nickten angeödet mit dem Kopf. Matthias sah von Nahem doch wieder wie ein Nerd aus. Er trug ein Poloshirt, welches er bis zum obersten Knopf geschlossen hatte. Sein Haarschnitt war aus dem letzten Jahrhundert. Wahrscheinlich ›Made bei Mama‹. Luca verkniff sich diesmal einen Kommentar.

»Bin ich ja froh, dass hier nicht alle wie Apostel oder Heilige heißen«, sagte er stattdessen. Luca hielt inne. Ohne zu überlegen, war es ihm herausgerutscht. Er musste sich angewöhnen, erst zu denken, bevor er sprach. Zweifellos war er postwendend ins nächste Fettnäpfchen getreten.

»Obacht«, sagte Felix. »Mein Name ist der Schutzpatron des Meineids!« Er sah belustigt in die Runde. »Keine Angst, war nur Spaß.«

Luca mochte ihn. Es gibt Menschen, bei denen man sofort mitlacht, wenn sie reden, egal, ob sie etwas lustiges oder ernstes sagen. Genau so einer, war Felix. Seine Grübchen, in den Wangen, verstärkten diesen Effekt vermutlich.

»Brauchst dir nichts denken«, sagte Johannes. »Ist halt ne katholische Gegend hier. Ansonsten sind wir aber ziemlich normal.«

»Dann ist’s ja gut.« Luca warf seinen Rucksack vor sich auf den Tisch. Auch Johannes gefiel ihm. Er war ohne Vorbehalte und das, obwohl Luca saublöd zu ihm gewesen war.

»Mal sehen, ob sich der Neue mit uns Landeiern überhaupt abgibt«, konnte sich Matthias einen Kommentar nicht verkneifen. Er drehte sich um und ließ sich von der Stuhllehne gleiten.

»Howgh, Matthias hat gesprochen.« Felix grinste.

Gerade, als auch er sich auf den Sitz fallen ließ, ging die Klassenzimmertür auf. Während Luca sich wunderte, woher die Jungs gewusst hatten, dass der Lehrer im Anmarsch war, betrat ein schlaksiger Mann das Zimmer. Vor sich her, schob er einen Rollentisch, auf dem sich ein Laptop mit einem Beamer befand.

»Das ist Bonsai«, raunte Johannes. »Eigentlich, Herr Baumann«, ergänzte er, »aber alle sagen nur Bonsai. Keine Ahnung warum.« Er schmunzelte.

»Passt ziemlich gut«, flüsterte Luca spöttisch.

»Es freut mich, unsere Honoratioren, vergnügt und voller Vorfreude auf den Unterricht zu sehen.« Bonsai, also Herr Baumann, schritt auf die vier Jungen zu.

»Du musst Luca sein«, blieb er direkt vor ihm stehen.

»Luca Schäfer, wie der Beruf«, streckte er ihm die Hand entgegen.

Einige kicherten.

Bonsai begrüßte ihn, legte dann den Zeigefinger auf seine Lippen, als würde er nachdenken. »Hätte nicht gedacht, dass man als Stadtkind noch echte Schafe kennt.«

Die ganze Klasse prustete los. Luca sah sich peinlich berührt um. Der Lehrer hatte es sicher nicht böse gemeint, das spürte er. Dennoch, Witze auf seine Kosten konnte er nicht leiden. Vor allem, wenn er fremd war.

»Sparwitzkönig Bonsai.« Johannes verdrehte die Augen, als Luca sich gesetzt hatte.

Die Doppelstunde verging wie im Flug. Nicht zuletzt, weil sie die Hälfte davon einen Film schauten.

»Bonsai ist ziemlich cool«, schwärmte Luca, der seinen Ärger, angesichts des kurzweiligen Unterrichts, vergessen hatte.

Die Jungs lümmelten im Flur, auf einem der Fenstersimse, um ihre kurze Pause zu verbringen. In dem alten Kloster waren die Mauern so dick, dass sie locker zu viert Platz fanden.

»Das kannst du laut sagen. Da kommen auch noch andere«, warnte Felix.

»Mal den Teufel nicht an die Wand …«, sagte Luca und hielt im Satz inne. »Sorry, das war unpassend.«

»Was denkst du eigentlich, was wir für Weicheier sind? Nur weil wir im Kloster wohnen, sind wir keine Mönche.« Johannes winkte ab.

Luca riss die Augen auf. »Ihr wohnt hier?«

»Klar!« Felix musste grinsen. »Weißt ja nicht so viel über deine neue Schule!«

»Mein Dad hat schon gewusst, warum er mir nichts darüber erzählt hat.«

»Wärst dann gar nicht erst aufgetaucht, oder was?« Matze sah sich in seiner Meinung bestätigt.

»Jetzt lass ihn halt mal in Ruhe.« Felix puffte ihm in die Seite.

Matthias, der mindestens einen Kopf größer war, ließ es sich gefallen, rümpfte jedoch die Nase, glitt vom Sims und trottete in die Klasse.

»Er hat schon recht. Ein Kloster, als Schule mit Internat, wär jetzt nicht meine erste Wahl gewesen. Ich glaube, hier zu schlafen, wär mir unheimlich. Da bin ich froh, dass mein Dad ne Wohnung in der Nähe gefunden hat. Wie seid ihr denn hier gelandet?«

»Meine Eltern wohnen gar nicht weit weg«, sagte Johannes. »Wie von den meisten hier, sind sie beide berufstätig. In der Region ist es nicht so mit den guten Jobs. Am Anfang bin ich an den Wochenenden heimgefahren. Jetzt nur noch in den Ferien.«

»In der Freizeit, ist es auch am coolsten hier«, fiel ihm Felix ins Wort.

»Akkurat! Außerdem lernt man viel besser, weil die anderen auch lernen und man sich gegenseitig hilft. Meine Eltern sind sowieso froh, wenn sie am Wochenende ihre Ruhe haben. Arbeiten ja die ganze Zeit und ich nerv nur, wenn sie mal frei haben.«

»Na toll«, sagte Luca frustriert. »Ihr habt selbst keine Jobs und mein Dad zieht hierher, weil es der einzige Ort war, an dem er Arbeit gefunden hat. Verkehrte Welt.«

Insgeheim fand er es schrecklich, dass Johannes so über seine Eltern dachte. Er selbst, hatte auch oft Streit mit seinem Vater, aber genervt hatte er ihn noch nie. Er und sein Dad hatten sich lieb, dessen war er sich ganz sicher.

Felix lachte, was man nicht erwähnen muss, da er immer lachte. Nicht dieses nervige Gekicher, was manche Menschen, als schlechte Angewohnheit haben. Es war ein ›Gute-Laune-Lachen‹, das die eigenen Mundwinkel automatisch animierte mitzumachen.

»Meine Mutti arbeitet hier im Klosterladen. Meinen Erzeuger hat sie vor zwei Jahren rausgeworfen. Er hat zu oft jemand anderes kennengelernt.« Er zwinkerte ihnen zu. »Ich verbringe ab und zu die Ferien bei ihm, ansonsten bin ich aber lieber in der Nähe von Mom«, erzählte er geradeheraus.

»Bist du dann kein richtiger Internatsschüler?«, fragte Luca.

»Klar«, erklärte Felix. »Mutti hat ein Zimmer hier im Kloster. Sie lernt ab und zu mit mir, oder wir sind einfach ein wenig zusammen und so, aber die meiste Zeit bin ich bei den Jungs.«

»Na prima, da bin ich ja der perfekte Außenseiter. Der Neue aus der Stadt und dann noch Heimschläfer. Kein Wunder, dass Matthias misstrauisch ist.«

»Ach was, das wird schon.« Johannes klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Matze misstraut jedem und allem. Der kriegt sich bestimmt ein, mit der Zeit.«

»Dein Wort in Gottes Ohr …«, sagte Luca.

Die drei sahen sich an und bekamen einen Lachflash.

»Na, die Sprichwörter hast du ja drauf«, wieherte Johannes.

»DIE HERREN BRAUCHEN WOHL EINE EXTRAEINLADUNG«, ertönte eine Stimme, die sich beinahe überschlug vor Empörung.

In der Klassenzimmertür stand ein untersetzter Mann. Er war offensichtlich weitsichtig. Auf seiner Nase saß eine nicht sehr schmeichelhafte Brille, mit ›Vergrößerungsgläsern‹. Er trug eine graue Hose, graues Hemd, grauer Pullunder und sah die drei mürrisch an.

»Verdammt!« Johannes sprang vom Fenstersims. Luca folgte hastig seinen beiden Schulkameraden, die sich eilig, der Aufforderung des Lehrers beugten. Luca war der Letzte in der Klasse, der sich gesetzt hatte.

»Kollege Baumann hat schon erzählt, dass ein weiterer Witzbold, den Weg zu uns gefunden hat.« Er kam auf Luca zu und fixierte ihn mit festem Blick. »Ich möchte dich vorwarnen! In meinem Unterricht ist nichts mit Sperenzchen.«

Luca nickte rasch. Das Wort Sperenzchen hatte er noch nie gehört. Er wusste trotzdem, was es bedeutete. Zu scherzen, wie mit Bonsai, war ihm nicht zu Mute. Scheinbar zufrieden, drehte sich der Lehrer um, schritt zur Tafel und wortlos schrieb er seinen Namen daran:

Manfred Thaler

2

»Welche Laus ist dem denn über die Leber gelaufen?«, fragte Luca. Der Unterricht war beendet. Zusammen mit den anderen war er auf dem Weg zum Speisesaal.

»Das meiste ist heiße Luft«, winkte Felix ab.

»Zu unterschätzen ist er aber nicht«, sagte Johannes ernst.

»Nur weil er dich mal wochenlang zum Nachsitzen verdonnert hat.« Matthias klopfte ihm auf die Schulter. Darüber fiel ihm fast sein Schokoriegel aus der Hand. Abgesehen davon, sah er dabei mit oberlehrerhafter Miene, der biederen Frisur und dem akkurat zugeknöpften Poloshirt, besonders streberhaft aus.

»Was isst du eigentlich andauernd? Es gibt doch gleich Mittagessen«, bemerkte Felix.

»Ja und?« Matze tat verwundert.

»Für nichts und wieder nichts, musste ich nachsitzen.« Johannes griff erneut auf, worüber sie sich unterhalten hatten. Es war zu erkennen, dass er nach wie vor darunter litt, sobald er nur daran dachte.

»Ihr meint wirklich, ich kann mit zum Spachteln?« Luca wechselte besser das Thema.

»Logisch. Mittagessen gehört dazu, ganz offiziell!«, sagten die drei im Chor.

Einige Gänge und Holztüren später, gelangten sie in einen erst kürzlich, renovierten Flur. Er war lichtdurchflutet und wirkte moderner, als der Rest vom Kloster, den Luca bislang gesehen hatte. Anstelle des zugigen Säulenganges, der hier mal gewesen war, zierten Glasfronten die einst offenen Zwischenräume. Der Regen hatte nicht nachgelassen und peitschte ungemütlich gegen die Scheiben.

»Das wurde erst vor paar Jahren neu gemacht. Die Nonnen haben hier auch Gästezimmer und ein Restaurant«, sagte Johannes, der Luca’s staunenden Blick bemerkte. »Bevor du dich zu früh freust. Wir bekommen nicht von der Karte.« Er grinste. »Wir kriegen das, was die Schwestern auch essen. Ist aber in aller Regel ziemlich lecker.«

Im Speisesaal herrschte reges Treiben. Die meisten der Tische, waren voll belegt. Zielstrebig lief Johannes vorneweg, zu einigen freien Plätzen. Luca ließ staunend seinen Blick durch den Raum gleiten. Beinahe wäre er über den Stuhl gestolpert, den Johannes für ihn herausgezogen hatte. Obwohl hier viele Schüler bewirtet wurden, war die Atmosphäre nicht so kalt wie sonst in solchen Speisesälen. Zumindest in welchen, die Luca bisher gesehen hatte. Alles war ansprechend dekoriert und jeder Tisch mit Hingabe gedeckt worden.

»Wird das alles von den Nonnen organisiert?«

Johannes nickte. »Nach dem Mittag zeig ich dir unsere Zimmer. Hier zu leben, ist echt nicht übel.«

»Scheint mir auch immer mehr.«

»Wir müssen jetzt aber ruhig sein. Beim Essen sollen wir nicht reden«, erklärte er weiter.

»Dein Ernst?« Luca stutzte und beobachtete ihn. Es war klar, dass er ihn auf den Arm nehmen wollte. Langsam bemerkte Luca aber, wie sich das Durcheinander legte. Tatsächlich war es still geworden. Ordensschwestern waren dabei eine Suppe auszuteilen. Die Gespräche verstummten endgültig und wichen dem Klappern von Löffeln in Tellern. Luca hatte Zeit, seinen Gedanken über den Vormittag nachzuhängen. Rasch stellte er fest, dass es Sinn machte, zwischendurch mal nicht zu reden. Man konnte viel besser nachdenken … oder beobachten. Am Tisch gegenüber bemerkte er Maria, die herüber lächelte. Er grinste verlegen zurück, senkte seinen Blick aber schnell wieder. Umso länger das Mittagessen dauerte, desto mehr Fragen kamen ihm in den Sinn. Er war besorgt sie zu vergessen, dennoch hielt er sich an die ungewohnte Regel, nicht zu sprechen. Außer über seinen Tag nachzudenken, grübelte er, wie viele Menschen in der Küche arbeiteten. Es waren eine ganze Menge Teller zu füllen und später wieder abzuwaschen. Vor allem musste er anerkennen, dass das Essen richtig lecker gekocht war. Die Schulgebühr seines Dads war, zumindest dafür, bestens angelegt. Wie aus dem Nichts wurde es wieder unruhig. Das Essen schien vorüber.

Johannes stand auf. »Komm, ich zeig dir mein Zimmer.«

Aus dem Augenwinkel bemerkte Luca, wie Matthias nach einem Stück Waffel griff, welches Felix auf seinem Teller zurückgelassen hatte, bevor er folgte.

Die Jungen führten ihn zurück durch die Flure. Überall waren Schüler unterwegs, oder hockten auf den Simsen herum.

»Da geht es zu den Mädchenzimmern.« Johannes deutete auf eine Holztür, die offen stand und einen langen Flur frei gab.

»Nachts ist die abgeschlossen, aber es gibt den ein oder anderen Fluchtweg, der offenbleiben muss.« Er zwinkerte Luca vielsagend zu. Sie traten durch eine kleinere Tür, die zu einer Wendeltreppe führte. Drei Stockwerke höher, lag der Jungs-Flur.

»Voilá, hier sind wir.« Johannes blieb vor einem Zimmer stehen. Er öffnete und schob Luca hinein.

»Wow«, staunte der.

Nicht die Bude faszinierte ihn. Es war der Ausblick. Über die Wipfel einiger Bäume sah er auf einen See, dahinter ein Wäldchen. Trotz des miesen Wetters war es malerisch. Eilig ging er hinüber zu dem tiefen Mauersims und kletterte empor. Unter ihm lag der Klostergarten, durch den sich sogar ein Flüsschen schlängelte.

»Geisteskrank.« Er konnte sich kaum beruhigen. »Weißt du überhaupt, wie schön ihr’s hier habt?«

Luca drehte sich um und betrachtete das Zimmer. Die Decke war geschätzt vier Meter hoch, was den enormen Fenstern geschuldet war. Es gab zwei davon. Davor stand jeweils ein schlichter Schreibtisch mit Regalen und Schränkchen. An den Wänden entlang, je ein Bett, daneben ein Kleiderschrank; die Mauern weiß gestrichen. Direkt neben der Tür ein Kruzifix. Die linke Seite des Zimmers gehörte offensichtlich Johannes. Aus einem Bilderrahmen grinste er frech hervor. Über dem Bett hing ein überdimensionales Bild von ihm und seinen Eltern, vermutlich von einer Urlaubsreise. Die Regale waren vollgestopft mit Büchern sowie allerlei Krimskrams. Die andere Seite des Raums ließ nichts Persönliches erkennen. Leerer Schreibtisch, weißes Bettlaken. Luca fand das Zimmer umwerfend, bemerkte jedoch, dass es keine Heizkörper gab.

»Wird das nicht saukalt im Winter?« Bei diesem Gedanken war er heilfroh, dass er zu Hause wohnte.

»Zentralheizung.« Johannes hob die Augenbrauen und zeigte auf einige Schlitze in den Wänden, direkt oberhalb des Fußbodens. »Wird über ein Rohrleitungssystem, zentral aus dem Keller, befeuert!«

»Cheedo«, entfuhr es Luca, »und wer wohnt noch hier?« Er deutete mit dem Kopf auf das unbewohnt, aussehende Bett.

»Wie es scheint, leider niemand dieses Jahr.«

»Warum leider? Ist doch cool! Hast du wenigstens deine Ruhe.«

»Ja schon, aber abends jemand zum Labern oder so, wär ja auch gut.«

Luca erinnerte sich an ihn und seine Brüder, wie sie früher oft in einem ihrer Zimmer zusammengesessen hatten, um zu quatschen oder Karten zu spielen. Meistens abends, bevor sie schlafen gingen. Ja, Johannes hatte recht. Das war sehr cool. Er sagte freilich nichts, sondern warf sich auf das leere Bett.

»Dann habe ich wenigstens einen Platz für meinen Mittagsschlaf«, alberte er.

»Die Tür steht dir jederzeit offen.« Johannes machte eine einladende Geste. »Echt lit, dass du dich als ein netter Kerl entpuppst!«

»Ja, sorry noch mal. Ich war wirklich nervös heute Morgen. Blöd von mir.«

»Ach was! Schwamm drüber.« Johannes winkte ab. »Was hältst du davon, wenn wir nach Felix und Matthias schauen? Wir könnten dir die Stadt zeigen.«

»Klar!« Luca war ehrlich begeistert. Bislang hatte er sich einsam gefühlt in der neuen Umgebung. Das schien sich im Handumdrehen zu ändern. Zwei Türen weiter, trafen sie auf Matthias. Felix mussten sie suchen. Das Zimmer seiner Mom war verschlossen.

»Dann ist er sicher in der Bibliothek.« Johannes rückte seine Brille zurecht.

Die Bibliothek war holzgetäfelt und mit kunstvoll geschnitzten Ornamenten verziert. Unzählige Bücher standen in imposanten Eicheregalen, die ringsum an die Wände gebaut waren. Kaum zu glauben, dass dieser Raum für alle Schüler zugänglich war. In seiner alten Penne, hätten sich schon längst, irgendwelche geistigen Tiefflieger mit Edding, beziehungsweise noch viel dümmer, mit einem Messer, im Holz verewigt. Das schien es hier nicht zu geben. Jugendliche saßen in den roten Samtsofas, zwischen den Regalen, oder an den Schreibtischen, die in Reih und Glied im ganzen Saal verteilt waren. Sie alle waren in etwas vertieft, die meisten in ein Buch. Die Stille im Raum war fast zum Greifen.

»Wow«, entfuhr es Luca schon wieder.

Johannes lächelte stolz, obwohl er für die Bibliothek ja nichts konnte und sogar Matthias, entlockte die Reaktion einen anerkennenden Blick. Felix entdeckten sie in der hintersten Ecke des Raumes. Er fläzte auf einem der Sofas.

»Kommst du mit? Wir zeigen Luca die Stadt.« Johannes ließ sich zu ihm aufs Sofa fallen. »Was liest du denn schon wieder?« Er riss ihm das Buch aus der Hand und betrachtete den Einband. »Abenteuer aus der Gruft«, las er vor.

»Gib her«, sagte Felix genervt. »Hab kein Bock auf euch. Ich les noch ein bisschen.«

Von allen Seiten war ein »Psst« zu hören.

Obwohl sich Felix geärgert hatte, war er nicht beleidigt. Seine Augen leuchteten und sein Mund lächelte.

»Komm doch bitte mit«, raunte Luca ihm zu. Er wollte unbedingt, dass Felix mit von der Partie war. Er war der, mit der guten Laune.

»Ich möchte, dass alle meine neuen Freunde dabei sind«, formulierte er seinen Gedanken um, damit die anderen nicht vor den Kopf gestoßen waren.

Felix sah auf. Gespielt widerwillig quälte er sich aus dem Sofa.

»Na gut … bloß weil du mich so nett bittest. Wegen diesen Banausen da, komme ich nicht mit.« Er grinste breit.

»Also, auf gehts, nicht lang labern«, sagte Johannes und war bereits zur Tür draußen.

Der Regen hatte aufgehört. Es war obendrein wärmer geworden. Sie spazierten quer über den Kirchplatz, machten an der gegenüberliegenden Fassade aber gleich wieder halt. ›Eiscafé da Toni‹ stand, in geschwungenen Buchstaben, direkt auf die Hauswand gepinselt. Außer Luca, bestellten sich alle Eiscreme.

»Was ist mit dir? Magst du kein Eis?«, fragte Johannes.

»Doch schon. Ich hab nur kein Geld dabei … dachte nicht, dass ich was brauche.« Er verzog beschämt sein Gesicht.

»Sag halt was!« Johannes streckte ihm zwei Euro entgegen.

Luca nahm sie zaghaft an. »Kriegst es wieder.«

Johannes winkte ab. »Iwo, bestimmt musst du mir auch mal aus der Klemme helfen.«

Zufrieden an ihren Eistüten leckend, schlenderten die vier weiter. In diesem Kaff, wie es Luca nannte, gab es einfach alles. Sie passierten eine Menge Einkaufsläden, Apotheken, Gasthöfe, selbst einen Hubschrauberlandeplatz, samt Heli für Rundflüge, gab es. Sie liefen eine lange Steinmauer entlang. Luca hatte das Schild ›Friedhof‹ auf dem gusseisernen Tor gelesen. Trotzdem er noch ein Junge war, hatte er bereits schmerzliche Erfahrungen mit dem Tod machen müssen und war, ohne es zu merken, still geworden. Im Gegensatz zu seinen drei Mitschülern, die lachend und quatschend vor ihm herliefen.

»Was ist denn?«, fragte Johannes, der es schließlich doch bemerkte.

Luca schüttelte den Kopf. »Nichts!«, sagte er.

»Du denkst an deine Mama, oder?«, fragte Felix behutsam nach.

Luca sah ihn erstaunt an. »Wie kommst du drauf?«

»Na ja, du sprichst immer nur von deinem Dad und verlierst plötzlich dein Lachen, wenn du an einem Friedhof vorbeigehst.« Er hob die Augenbrauen und neigte den Kopf.

Luca nickte. »Eigentlich an meine zwei Mütter«, sagte er kaum hörbar, weil er sich dabei verschluckte. »Meine richtige Mom ist schon vor langer Zeit gestorben und vor zwei Jahren dann auch noch meine Adoptivmutter.«

»Ernsthaft? Ist ja krass«, sagte Matthias für seine Verhältnisse ungewöhnlich mitfühlend. Er hatte sich umgedreht und ebenfalls zugehört.

»Schon okay, tut nur noch selten weh.«

Aber exakt in diesem Moment tat es schrecklich weh und Tränen standen in seinen Augen. Dass er vor einigen Jahren, noch dazu einen Freund hatte beerdigen müssen, verschwieg er.

Bevor sie zur Schule zurückkehrten, kamen sie am Freibad vorbei. Eine Handvoll eiserne Schwimmer zogen ihre Bahnen im Becken, ansonsten war die Liegewiese verwaist.

»Ein Schwimmbad direkt ums Eck! Ist ja cremig«, schwärmte Luca. Er verliebte sich immer mehr in die neue Heimat und seine Freunde. Er kannte sie erst seit ein paar Stunden, trotzdem liefen sie gemeinsam durch die Straßen, als würden sie sich ewig kennen. Gestern noch hatte er gegrübelt, wie ungerecht es im Leben zuging. Damit gehadert, wie mutterseelenallein er war. In diesem Moment konnte er sich an das Gefühl fast nicht mehr erinnern. Er dachte an Michi, und dass es noch mehr Spaß machen würde, wenn er ebenfalls da wäre. Sicher hätten ihn die anderen auch gemocht.

»Vielleicht hat es ja noch ein paar sonnige Tage.« Johannes blickte sehnsüchtig hinter den Zaun. »Klosterschüler haben nämlich freien Eintritt.«

Luca wurde aus seinen Gedanken gerissen. »Echt jetzt …«

»Na toll«, unterbrach ihn Felix. »Unsere Freunde von der Realschule.«

Zwei Jungen kamen den Gehweg entlang. Moderner Undercut, Lederjacke, Jeans.

»Sind das Geschwister?«, fragte Luca.

Die drei anderen prusteten los.

»Der war gut«, sagte Matthias und kringelte sich vor Lachen.

»Die laufen alle so rum. Neueste Mode scheinbar«, spottete Felix. »Musst du aber aufpassen. Die haben was gegen uns von der Klosterschule.«

Luca winkte ab. »Da bin ich in München schon mit anderen fertig geworden.« In Wahrheit hatten ihn für gewöhnlich seine Brüder beschützt.

Die beiden Jungen liefen schnurstracks auf die vier zu. Obwohl Johannes und Felix einen Schritt zur Seite machten, um sie vorbeizulassen, wurden sie von ihnen angerempelt.

»Hey, muss das sein«, brüllte Felix. »Entschuldige dich gefälligst, Huber.«

»Schnauze«, sagte der verächtlich.

Felix war entschlossen nachzusetzen, wurde aber von Matthias zurückgehalten.

»Lass gut sein, das lohnt doch nicht. Wenn du ihm eine verpasst, rennt er sowieso wieder nur zu Thaler und petzt.«

Felix entspannte sich. »Stimmt auch wieder. Der Typ hat echt keine Ehre.«

Bester Stimmung machten sich die vier auf den Rückweg.

Nach dem Abendessen verabschiedete sich Luca von seinen neuen Kameraden und machte sich auf den Heimweg. Es war ihm nicht leicht gefallen, sich zu trennen. Heute Morgen hätte er sich nie vorstellen können, wie perfekt alles sein würde.

Die ganze Zeit malte er sich aus, was seine Freunde in diesem Augenblick taten. Vielleicht hockten sie in einem der Zimmer zusammen und unterhielten sich, über den Tag, oder über morgen … oder womöglich, wie sie den Neuen fanden. Ja, das machten sie sicher. Welche Meinung hatten sie von ihm? Johannes, mochte ihn vermutlich schon ein bisschen. Felix, schien ohnehin vorurteilsfrei und Matthias, hielt ihn bestimmt nach wie vor für ein verwöhntes Stadtkind. Luca schmunzelte, als er zu Hause ankam und die Tür aufschloss. Stürmisch sprang er das Treppenhaus hinauf. Er würde ihnen ohne Frage beweisen, dass er in Ordnung war.

»Hallo«, sagte er beschwingt, zu der älteren Dame, die in der Wohnung unter ihnen wohnte. Er war so stürmisch gewesen, dass er sie fast angerempelt hätte. Sie musterte ihn böse, erwiderte aber nichts. Nicht so nett, dachte Luca. Seine gute Laune ließ er sich von der griesgrämigen Alten aber bestimmt nicht verderben.

Sein Dad war nicht zu Hause, also warf er sich aufs Bett und zog sein Tablet unter der Decke hervor. In der Seitenleiste war bereits ein roter Punkt, der ihm signalisierte, dass jemand angerufen hatte. Natürlich Michi. Schnell drückte er auf das Hörersymbol, um zurückzurufen.

»Servus, na, wie war’s? Konntest du der Höhle der Löwen noch mal entkommen?« Michis fröhlicher Lockenkopf erschien auf dem Bildschirm.

»Blödmann.« Luca lachte zurück. »War eigentlich ganz okay«, erzählte er wahrheitsgemäß. Sie unterhielten sich ziemlich lange. Luca wollte natürlich auch wissen, was zu Hause so alles passierte. Dem zu Hause, was gar nicht mehr sein Zuhause war, sich aber immer noch so anfühlte.

»Ich muss dann ins Training«, verabschiedete sich Michi nach einer Weile. »Melde dich morgen wieder, okay?«

»Logisch«, versprach Luca und drückte ihn weg. Danach verschickte er noch eine Nachricht an Alex. Halbwegs erschöpft ließ er sich ins Kissen zurückfallen. Schon komisch, wie wenig er sie alle vermisst hatte, tagsüber. Jetzt, wo er allein war, fehlten sie ihm dafür umso mehr. Nachdem er eine Weile an die Decke gestarrt hatte, griff er noch mal zum Tablet. Er öffnete einen Browser und tippte den Suchbegriff ›Luca Heiliger‹ ein. Es erschienen 7.460.000 Treffer. Aufgeregt begann er zu lesen. Das meiste bezog sich auf Lukas. Er war Evangelist, Arzt und Maler. Nicht schlecht, dachte Luca. Die Geschichten faszinierten ihn.

Versonnen blickte er aus dem Fenster. Draußen war es dunkel geworden. Wieder schweiften seine Gedanken zu den Jungs. Sie waren normale Teenager und trotzdem anders. Sie hielten zusammen. Sie hänselten einander, dennoch fühlte man sofort, dass sie etwas verband. Luca gingen Johannes’ Worte nicht mehr aus dem Kopf, dass es schön wäre, Gesellschaft zu haben. Er hatte bisher nie über Internat nachgedacht oder wenn, dann hatte er ein grässliches Bild vor Augen. Eltern, die für ihre Sprösslinge nichts übrig hatten und Kinder, die sich mit schrecklichem Heimweh, jede Nacht in den Schlaf weinten. Niemals hätte er zugestimmt, wäre sein Vater mit einer solchen Idee zu ihm gekommen. Heute hatte er einen anderen Eindruck gewonnen. Kurz kam ihm der Gedanke, ob es eine Option war, ins Internat zu ziehen. Rasch verwarf er ihn wieder. Er konnte Dad nicht allein lassen. Apropos Dad, wo war er so lange?

Als Luca das nächste Mal wach wurde, war er zugedeckt. Es brannte kein Licht mehr. Sein Vater musste heimgekommen sein. Er lächelte, bevor er schnell wieder einschlief.

3

Sonnenstrahlen kitzelten Luca an der Nase. Sie bahnten sich ihren Weg durch den halb geöffneten Rollladen. Yes, dachte er und sprang aus dem Bett, um im Kleiderschrank nach seiner Badehose zu suchen. Wenn der Tag hielt, was er in diesem Moment versprach, würde er noch heute seinen ersten kostenlosen Freibadbesuch einlösen. Während er seinen Rucksack packte, hörte er eine Sprachnachricht ab, die ihm Alex geschickt hatte. Im Hintergrund hörte er Nici, wie sie dauernd dazwischen quatschte. Er musste über die beiden lachen. Es war ein toller Morgen. Irgendwie war doch alles gar nicht so schlimm, wie er es sich vorgestellt hatte. Im Flur warf er den gepackten Rucksack vor die Wohnungstür und ging bestens gelaunt zu seinem Vater ins Esszimmer. Der war in seine Frühstücksvorbereitungen derart vertieft, dass er Luca erst bemerkte, als sich dieser lautstark auf einen Stuhl setzte.

»Guten Morgen.« Sein Dad lächelte. »Na, wie war der erste Schultag?«, fragte er vorsichtig nach.

Dass er seinem Sohn nicht alles über seine neue Schule erzählt hatte, lag ihm schwer im Magen. Normalerweise hielt er nichts von Heimlichkeiten, aber Luca war die letzten Wochen so niedergeschlagen gewesen, dass er sich nicht getraut hatte, von einer Klosterschule zu erzählen. Die Details hätten ihn nur noch mehr geärgert. Natürlich wollte er sich auch weiteren Streit mit ihm ersparen. Es gab ohnehin keine Alternative und so hatte er entschieden, Luca ins kalte Wasser zu werfen. Gestern, als sein Sohn aus dem Auto gestiegen war, hatte es sich allerdings nicht mehr gut angefühlt. Früher hatte er in solchen Momenten immer Rat bei Martha gesucht. Auch er vermisste seine Haushälterin … fast so sehr wie seine Frau und seine Schwester.

»Ziemlich okay«, log Luca und griff sich ein Brötchen. Der Tag war weit mehr als okay gewesen, aber Vater sollte ruhig noch eine Weile ein schlechtes Gewissen haben.

»Hättest mir wirklich sagen können, dass ich auf ne Klosterschule komme!«

Sein Dad lächelte verkniffen. Er wusste nicht genau, ob Sohnemann nun sauer war oder nicht.

»Vielleicht werde ich in Zukunft dort frühstücken. Ist ja im Preis drin.« Luca blickte forschend, von seinem Brötchen auf.

»Das wäre aber schade«, sagte sein Dad, der einerseits erleichtert war, dass es ihm zu gefallen schien, andererseits aber ebenso gerne mit ihm frühstückte. »Dann sehen wir uns ja kaum noch.«

»Dann komm halt abends früher nach Hause«, antwortete Luca schnippisch.

»Ich hab dir doch erklärt, dass das momentan schwierig ist. Sobald das geht, mache ich das! Versprochen!«

»Ich denke über das Frühstück nach! Versprochen!« Luca griff nach einem zweiten Brötchen, nahm hastig einen Schluck Kakao und stand auf. »Ich muss los. Die Jungs warten bestimmt schon.«

Ehe sich sein Dad recht wundern konnte, war Luca zur Tür draußen. Voller Elan holte er sein Fahrrad aus dem Keller und ließ die Haustür, etwas zu schwungvoll, hinter sich ins Schloss fallen.

»Wenn der Krach nicht aufhört, beschwere ich mich bei der Hausverwaltung!«

Luca drehte sich um und sah die alte Schreckschraube, aus der Wohnung unter ihnen, über das Fensterbrett lehnen. Sie hatte Lockenwickler in den Haaren. Mit erhobenem Zeigefinger schimpfte sie zu ihm herunter.

»Entschuldigung«, rief er halbherzig zu ihr hinauf. »Alte Ziege«, murmelte er vor sich hin, sodass sie es nicht hören konnte. Eilig sprang er auf sein Fahrrad und trat fest in die Pedale, dabei wich er einem Jungen aus, der gerade aus dem Nachbarhaus auf den Gehweg trat. »Tschuldigung«, rief er auch ihm zu. Ohne sich weiter umzudrehen, radelte er los.

Die Fahrt durch die Straßen der Stadt war ein richtiger Genuss heute Morgen. Gestern war ihm noch alles so fremd erschienen. Durch seine Erkundungstour mit den Jungs fühlte er sich richtig angekommen. Er lächelte den Menschen zu, die ihr Tagwerk begannen, und stellte sich vor, dass er sie schon sein Leben lang kennen würde. Den Bäcker, der gerade sein Angebotsschild vor der Tür platzierte oder die Metzgerin, die ihr Schaufenster wienerte. Sie sah ihm verdutzt hinterher, weil er freundlich gewunken hatte. Luca musste herzlich lachen. Seit Wochen war er nicht mehr so vergnügt gewesen. Er kam auch an der Realschule vorbei. Automatisch hielt er Ausschau nach den beiden Jungs von gestern, konnte sie jedoch nicht entdecken. In Grüppchen standen Schüler vor dem Eingang. Unbewusst hatte er aufgehört, zu treten, und bemerkte, wie der ein oder andere zu ihm herübersah. Musst du aufpassen, die haben was gegen uns von der Klosterschule, erinnerte er sich an Felix’ Warnung. Schnell gab er wieder Gas und war froh, als er außer Sichtweite war. Vor ihm tauchte das Freibad auf. Es waren sogar schon Gäste im Becken. Bestimmt Rentner, dachte Luca. Hinter den Häusern erhoben sich alsbald die hohen Türme der Basilika. Es war ein toller Anblick. Nur noch die Hauptstraße queren, dann bog er auf den Kirchplatz ein und lenkte sein Fahrrad hinüber zum Torbogen. Gestern hatte er gar nicht darauf geachtet, wo er es abstellen konnte. So nahm er es mit durch das Tor und stellte es in den Kreuzgang. Natürlich schloss er es ordentlich ab, bevor er die Eingangstür zum Kloster öffnete. Ob seine drei neuen Kumpels schon im Klassenzimmer waren? Vielleicht würde er Johannes einfach aus seinem Zimmer abholen. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Die drei standen, lässig an die Wand gelehnt, hinter der Pforte und strahlten ihm entgegen.

»Servus.« Felix winkte ihm zu. »Bist aber früh dran«, sagte er.

»Klar, wollte euch ja nicht warten lassen.« Luca strahlte sie an. Die vier gaben sich einen Faustcheck und stiegen die Treppe zu den Klassenzimmern empor.

»Beim Frühstück gab es Gerüchte, dass heute Nacht in die Kirche eingebrochen wurde«, sagte Johannes geheimnisvoll.

Luca war sofort neugierig. »Echt? Wer bricht denn in eine Kirche ein? Ich war bisher immer froh, wenn ich nicht rein musste.«

Felix schüttelte lachend den Kopf. Seine Mundwinkel reichten dabei, von einem Ohr zum anderen. »Oh Mann, Stadtkinder.« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

»Du würdest staunen, was es zu holen gibt in Kirchen«, sagte Johannes ernst. »Anscheinend haben sie die Monstranz mitgehen lassen. 19. Jahrhundert, bestimmt zwanzigtausend Euro wert.«

»Das reicht doch gar nicht«, sagte Matthias wichtigtuerisch. »Meine Mom meinte mal, die wäre vom selben Kunstschmied, wie die Monstranz vom Vatikan in Rom.«

»Erklärt mir mal einer, was eine Monstranz ist.« Luca verstand nur Bahnhof.

»Du warst echt noch nicht viel in der Kirche, oder?« Johannes lachte. »Ne Monstranz ist so ein Sonnending aus Gold, für die Messe an Fronleichnam zum Beispiel.«

»Fronleichnam?« Luca wurde immer verwirrter.

»Ein Kirchenfest. Man feiert da, dass Jesus aus Leib und Blut war«, erklärte Felix.

»Genau! Deshalb braucht man auch die Monstranz. Da kommt der Leib rein …«

»Der Leib?«, unterbrach Luca schockiert.

»Kein echter Leib.« Felix schüttelte sich vor Lachen. »Ne Hostie, als Symbol.«

»Eine Hostie, ist wie so ne Oblate zum Essen«, half ihm Matthias zu erklären.

»Auf jeden Fall kommt die dann in die Monstranz, um sie anzubeten«, beendete Felix seine Ausführungen.

»Ernsthaft?« Luca war baff. »Man betet Essen an?«

Alle grinsten.

»Du wirst es auch noch verstehen. Man betet nicht Essen an, sondern die Hostie als Symbol für Jesus«, sagte Felix.

»Ist doch auch egal jetzt. Fakt ist, das Ding ist eine Menge Geld wert und wurde gestohlen.« Johannes kam auf das ursprüngliche Thema zurück.

»Wenn es stimmt, was behauptet wird«, gab Felix zu bedenken.

»Ich fürchte, es stimmt«, sagte Luca und deutete durch ein Fenster, hinunter auf den Kirchplatz. Dort fuhr gerade eine Polizeistreife und ein ziviles Fahrzeug, mit einem Blaulicht auf dem Dach, direkt vors Kloster. Jeweils zwei Beamte stiegen aus und gingen hinüber zum Kirchenportal, wo sie von einem Mann in einem langen, schwarzen Mantel in Empfang genommen wurden. Er führte sie hastig hinein.

»Da hat Vögelchen was zu trällern.« Johannes lachte. »Unser Pfarrer heißt Vogel«, ergänzte er für Luca, der den Witz sonst nicht verstanden hätte.

»Gehen wir nach der Schule ins Freibad?«, fragte der stattdessen. »Hab alles dabei.« Er deutete auf seinen Rucksack.

»Klar, oder Jungs?«

Alle nickten und betraten das Klassenzimmer. Wie gestern, saßen bereits einige Mädchen an den vorderen Tischen; auch Maria.

»Hey.« Luca winkte ihnen zu.

Maria hob den Kopf, lächelte und winkte zurück.

»Du legst dich mit Andreas an.« Johannes stieß ihm in die Seite und deutete auf einen Typen, der am Fenster, ein paar Reihen hinter Maria, saß. Grimmig sah er zu ihnen herüber. Es war der Junge, den er heute Morgen fast umgefahren hätte. Er kam Luca größer und kräftiger vor, als andere in seinem Jahrgang. Vermutlich war er älter und mal sitzen geblieben, dachte er. Wirklich bedrohlich wirkte er aber nicht auf ihn, mit seiner schickimicki Jeanshose und dem protzigen Markenhemd, was man aufgrund des riesigen Branding nicht übersehen konnte.

»Ist doch ihre Sache, wem sie zuwinkt«, sagte er herablassend und ließ sich auf seinen Stuhl sinken.

»Meint ihr, das stimmt, mit der Monstranz?«, fragte Felix geheimnisvoll. »Vielleicht sollten wir heute Nachmittag mal ein paar Nachforschungen anstellen.«

»Wenn du mich fragst, kriegen wir das früh genug mit. Ich hab mehr Bock die letzten Sonnentage zu genießen. Das Freibad macht eh bald zu.«

Luca nickte eifrig, um zu signalisieren, dass er Johannes recht gab.

»Was sagst du, Matthias?« Felix hoffte, noch einen Verbündeten zu finden.

»Ich bin auch für Freibad«, sagte der aber salopp.

Im selben Moment ging die Tür auf und die Mathelehrerin kam in die Klasse. Etwas untersetzt, um nicht zu sagen, pummelig. Maximal einen Meter