Lucy, der Himmel und ich - Volker Schoßwald - E-Book

Lucy, der Himmel und ich E-Book

Volker Schoßwald

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Beschreibung

Ein Unfall befördert einen Mann vom Diesseits ins Jenseits. Aber wo ist das Jenseits? Benny erlebt Begegnungen besonderer Art und scheint die Erfahrung zu machen, dass es auch nach dem Tod noch Liebesgeschichten gibt: Heiter, hundertprozentig fiktiv und von dem Verewigten selbst diktiert. Der Ghostwriter aus Ghostenhof legt Wert auf die Feststellung, dass er lediglich als Schreiber eines fiktiven "Ichs" fungierte, im täglichen Leben jedoch äußerst lebendig und bei bester körperlicher, geistiger und sozialer Gesundheit ist.

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Inhaltsverzeichnis

Mein feuerroter Roller

Lucy

Schlechtes Karma

Wiedersehen in der Hafenstraße

Jeanette – vergiss sie!

Date im Straßencafé

...tot im Supermarkt

Traumfamilie

Franz auf der Walz

Lucy, Louvre und Mona Lisa....

Hexen und Co

Bettgeflüster

Security für Mona

Das Model und der Alte

Objekt der Begierde der Massen

Künstler, Kiffen und Konversation

Mit Mona Lisa im Straßencafé

Das Bild und sein Räuber

Monas Heimkehr

Himmel? Ein fränkischer Biergarten

Camping mit Lucy

Die Hölle und die Teufel

Mama, Papa und Lucy

My Name is Lucy

Alphatierchen in Penny Lane

Historische Gestalten

Jesus? Das wäre das Größte!

Jesus in der Fürther Straße

Lucy im Sonnenuntergang

Nachspiel

Nachbemerkung:

Diesen Roman widme ich allen, die dieses Leben schon hinter sich haben und sich immer noch bafür interessieren...

1 Mein feuerroter Roller

„O Gott!“ dachte ich noch. Aber was hatte Gott damit zu tun? Es ging um mich… Das war das Wichtigste und sonst war gar nichts mehr wichtig und ich war auch nicht mehr wichtig. Jetzt!

Bis dahin verlief mein Tag normal. Wenn man mich gefragt hätte: Langweilig. Aber man hatte mich nicht gefragt. Naja, wer hat mich jemals was gefragt? Langeweile könnte mein Zweitname sein, wenn ich den Umgang meiner Mitmenschen mit mir richtig verstehe. Ihre Einschätzung trifft so ziemlich die meine.

„Weinerliches Weichei!“ Wer mischte sich in meine Gedanken ein? „Viele haben dich gefragt. Du hast sogar geantwortet.“

Wer schwadronierte da über mich? Wer unterbrach ungefragt meine lautlosen Selbstgespräche! Ich schaute mich um.

Ich befand mich immer noch an dieser T-Kreuzung, die ich so hasste. Von links mündete die Hafenstraße in die Eibacher Hauptstraße. Wie oft hatte ich mich über die chaotische Ampelregelung geärgert - freilich nicht nur hier. Durch zahllose Erlebnisse verdichtete sich in mir der Eindruck: Als Qualifikation für Ampelschaltungen oder Verkehrsführung benötigt man konzeptionelle Unfähigkeit. Bei der harten Konkurrenz musst du allerdings deutlich über dem Durchschnitt liegen. Wer wie wir Zweiradfahrer lange an roten Ampeln wartet, hat reichlich Zeit und situativen Anlass, solche Überlegungen anzustellen.

Wir Rollerfahrer prägen uns möglichst viele Konstellationen ein. Wir müssen die Reaktionen anderer Verkehrsteilnehmer vorhersehen. Wenn das Auto vor dir hart bremst, weil statt der grünen Welle urplötzlich die Fahrbahn in Rot erstrahlt, solltest du die Variante auf dem Schirm haben.

Ich hasste diese T-Kreuzung von absehbaren harten Stopps. Bei roter Ampel äugte ich zu den knalligen Klamotten in den Auslagen des öd-grauen Kleidungsgeschäftes links drüben, ansonsten zwang man mich an einer Ecke zum Halten, die eine der hässlichsten Architekturen im ganzen Südwesten Nürnbergs präsentierte: Nichtssagende Betonbauten oder farbverrutschte halbhohe Häuser, ein maroder Getränkeladen, eine langweilig beige Kirche, deren Uhr ich freilich zur zeitlichen Orientierung schätzte: ein Symbol verrinnender Lebenszeit an roten Ampeln.

Meinem Blick bot sich eine ungewohnte Lebendigkeit auf dieser durchaus frequentierten Kreuzung. Menschen klumpten in Kleingruppen zusammen und starrten heftig diskutierend zu dem Zweirad auf dem Asphalt:

Dort lag mein Roller! 125 rote Kubik. Ausdruck meines Lebensgefühls. Dort lag mein Roller flach auf der Straße!

Wer nannte mich weinerlich? Wer räsonierte ungefragt beleidigend über meine Befindlichkeit? Es ist ausschließlich meine Angelegenheit, ob ich weinerlich bin oder nicht. Ich bin es eindeutig nicht! Das muss mal gesagt werden. Ganz abgesehen davon, dass ich kein Wort gesagt hatte.

Mein Blick blieb am Roller hängen. Teilnahmslos lag er einfach auf der Straße. Ungesund! Roller sollen immer aufrecht transportiert werden. Und schon gar nicht auf der Straße liegen. Es floss auch irgendetwas aus. Benzin? Bloß keine Zigarette anzünden! Aber um mich herum rauchte niemand.

Kein Wunder! Nur Männer gafften in vorderster Front. Frauen und Jugendliche hielten unverbindlichen Abstand. Die Personengruppen, die bevorzugt rauchen, blieben auf Distanz zur Explosionsgefahr.

Meinen geliebten, leuchtend roten Roller hatte es übel erwischt; hässlich zerbeult lag er neben… Ich traute meinen Augen nicht! Neben mir! Das war ich. Das war ich da drüben! In der geilen rotweißen Lederjacke: Benny, wie er leibt und…

Ich! Ich kenne mich! Vom täglichen Blick in den Spiegel, beim Händewaschen, Zähneputzen und Kämmen. Aber jetzt: Wie konnte ich mich ohne Spiegel sehen?! Unmöglich! Die Spiegel meines Rollers waren zersplittert. Ich beobachtete mich auch nicht wie im Spiegel, eher wie ein Voyeur. Da liegen 1,81cm, 87kg, fast braune Haare, graue Augen und 43 brüchige Jahre…

Da lag ich? Weshalb sollte ich da drüben liegen, während ich hier war? Gab es mich doppelt? Eine multiple Persönlichkeit oder auch nur eine duplizierte? Meinen spontanen Gedanken wollte ich überhaupt nicht denken, weder sofort noch später. Aber wer hat schon eine Chance gegen die Geschwindigkeit seiner Gedanken! Fakt: Ich hatte gedacht: „Da drüben liege ich und bin tot. Hier bin ich und sehe mich.“

Eine irre Entscheidung für Eindeutigkeit in der Realität: Bin ich der da drüben oder der da hier? Da da da… Die Entscheidung war nicht schwer. Natürlich bin ich der da hier. Denn ich bin immer hier. Hier und jetzt. Das bin ich!

Blöde Entscheidung. Eigentlich liege ich da drüben und bin – naja, ich wiederhole es nicht gerne, aber es hilft nichts: Ich bin tot. Echt! Kann man überhaupt etwas Idiotischeres sagen als „Ich bin tot“. Das streicht jeder Deutschlehrer rot an: entweder „ich bin“ oder „tot“… Tot-Sein ist schließlich kein Zustand für einen selbst – so reden nur andere über einen.

Sinnlos, darüber nachzudenken. Meine eigenen Augen bewiesen: „Ich bin tot.“ Ich dachte, dachte nach, nahm wahr…als Toter. Tot sein ist doch nicht allumfassend. Es gibt ein Leben neben dem Tod. Ich lebte neben mir, dem Toten auf der Straße: Es gibt ein Leben neben mir… Da erhält das Stichwort „Nächstenliebe“ auch noch eine egoistische Komponente - LOL.

Was für eine peinliche Situation: Ich bin hundert-Pro ein guter, ein sehr guter Rollerfahrer. Vorausschauend, riskant nur, wenn ich nichts riskierte. Abstand – zwischen so vielen Idioten. Die wild radelnden Kids, denen Mama eingebläut hatte, sie hätten immer recht, schoben sich mit 18 hinters Steuer. Auch die Motorisierung deines Fortbewegungsmittels macht dich nicht intelligenter. Umgeben von unberechenbaren Ignoranten musste ich vorsichtig sein, wenn ich klüger war.

Offenbar versagte meine Klugheit in einem entscheidenden Moment. Als Feind droht das Smartphone, die intelligente Technik für Klatsch und Tratsch. Die Intelligenz steckt allerdings im Gerät und kommt auch nicht heraus. Heraus kommt die Weisheit der besten Freundin. Die blond-lila gestylte junge Frau vor mir fuhr mit ihrem Handy am Ohr. Das zeigte mir schon ihr Fahrverhalten: Wechselnde Geschwindigkeit, meistens zu langsam, unruhiges Fahren, die Spur voll auskostend. Uns Rollerfahrern drohen ungezählte Ge-Fahrverhalten, aber die Typen mit den großen Doppelauspuffen fahren anders und auch die drei Männer mit Hut vorne im Lieferwagen...

Kritische Kreuzung mit intakter Vespa (Recherchebild)

Aber lassen wir die Sammlung sämtlicher Negativerfahrungen eines Bikers! Mein Tod galt höchstens als Fahrlässigkeit eines anderen. Der blieb auf Bewährung am Leben sowie auf freiem Fuß. Die Plaudertasche vor mir hatte gebremst - ohne erkennbaren Grund... Vielleicht hatte ihre Freundin gerade...

Bremslichter: Natürlich bremste ich sofort. Aber warum voll in die Eisen steigen? Ihr abrupt scharfes Bremsen besiegelte mein Schicksal: Mein roter Roller landete auf ihrem Heck, ohne es zu penetrieren. Ich landete auf der Straße, ohne sie zu penetrieren. Ihre hintere Stoßstange kam näher, dann sah ich nichts mehr. Oder doch? Das Auto, den Roller und mich… und die aufgeregten Leute.

Stopp!... Halt!... Stopp!!!!

Was stolpere ich hier zusammen? Ich rede, als wäre ich tot. Zurück zur Wirklichkeit. Vielleicht liege ich am Boden, vielleicht hat die Quasselstrippe wirklich zu heftig gebremst. Ich spüre zwar keinen Schmerz, aber... ich kann nicht tot sein. Das gibt es nicht. Ich lebe, ich bin, der Rest sind Hirngespinste. Andere Menschen können sterben. Ich vertraue den Todesanzeigen kritiklos.

Meine Kritik gilt allenfalls den Formulierungen... „Plötzlich und unerwartet verschied im Alter von 96 Jahren nach langer schwerer Krankheit unser geliebter Uropa...“ Wenn man schon das „unerwartet“ nicht glaubt, wie kann man dann das „geliebt“ glauben? Todesanzeigen gegenüber bin ich kritisch, die Faktizität des Todes aber gilt bei mir. Man soll sich nichts vormachen. Doch ich bin nicht tot. Death? Fuck you!!! Tot? Ich? Das hätte ich längst gemerkt. Man stirbt doch nicht einfach so… Alles lässt sich erklären. Oder auch nicht… da drüben lag ich also.

Zunehmend störte mich, dass ich einfach so rumlag, angegafft wurde, ohne mich wehren zu können. Und das in so einer peinlichen Situation. Ist doch egal, du bist ja tot! Aber es war mir nicht egal. Der Tod hatte mich nicht zu einem Ding gemacht. Ich war ein Wesen aus Fleisch und Blut mit Gefühlen… Halt! Ohne Fleisch und Blut, aber mit Gefühlen.

Offenbar verfügte ich immer noch über Gefühle. Das schien nicht mit dem Tod aufzuhören. Ich checkte zwar nicht, was los war, aber meine Neugier erwachte. Alles andere als langweilig! Wenn ich tot war, dann war jetzt ganz schön viel los. Es wurde so richtig lebendig, viel besser als vorher – natürlich sprach mich die Situation auch beruflich an; dieser Event ergäbe einen guten kleinen Artikel, noch dazu, wenn ich fotografieren könnte. Das machten aber schon die Gaffer mit ihren Handys!

Doch tot ist tot. Wie frustrierend: Da erlebt man die aufregendsten Sekunden seines Lebens oder auch Todes, und lebt gar nicht mehr.

Kann einer, der nicht mehr lebt, etwas erleben? Tod heißt Schluss! Bloß wegen dieser unscheinbaren kleinen Person da drüben, die jetzt heulend in ihr Handy quiekte. Wahrscheinlich laberte sie Sätze wie „Das habe ich nicht geahnt!“ „Wie kann der bloß so nahe auffahren?!“ „Diese Rocker sind doch einfach rücksichtslos.“... Solche Sätze angesichts meines Todes!

Eifrige Polizisten sicherten den Unfallort. Meine abgesplitterten Rückspiegel umrandeten sie mit Kreide wie auch alles andere, was irgendwo hin geflogen war. Dazu interviewten sie diverse Personen. Unfallzeugen? Fahrer nachfolgender Kraftfahrzeuge? Immer wieder hielt jemand sein Handy hoch. Jetzt bin ich bestimmt schon online! Wie viele Klicks?

Am liebsten hätte ich mitgefilmt. Alles gleich ins Internet? Oder lieber doch zu den Kollegen in der Redaktion? Eifrige und sensationsgeile Gesichter scharten sich um das Geschehen. Halt!!! Das ist mein Tod! Meiner!! Das darf nicht jeder filmen. Da habe ich allein ein Anrecht drauf.

„Scheiß drauf!“ brummte eine Stimme neben mir. Ich blickte ärgerlich zu dem taktlosen Gaffer, einem farblosen Passanten mit einem dümmlichen Gesicht, der vermutlich im Neanderthal nicht besonders aufgefallen wäre – wenngleich ich den Neanderthalern nicht zu nahe treten wollte, eher diesem respektlosen Nichts.

Break: Meine Aufmerksamkeit fesselte abrupt ein seltsames Phänomen. Eine große Wespe oder eine überdimensionale Spinne schwebte über die Szene. Gespenstisch, oder utopisch, oder wie bei Starwars: Was war das?

Ein Blitz im Hirn signalisierte: „Oh, eine Drohne!“ Dem Gaffer reichte sein Handy nicht mehr, der filmte gleich mit einem identifizierbaren Flugobjekt, aus einer Perspektive, die mehr Überblick bot als meine. Vermutlich kommunizierte er es unverzüglich im sozial-medialen Freundeskreis.

Frage: Wenn der schon vorher da war, hatte er vielleicht den Crash auch noch festgehalten? Dann könnten alle diese sensationsgeilen Kanaillen meine letzten Sekunden ansehen.

An der Seite reckte sich ein Penner in grauen Jogginghosen, dem das Bier schon aus den stumpfen Augen tropfte: Der hat bei meinem Tod nichts verloren! zensierte ich die Wirklichkeit. Neben ihm stierte der akkurate Mann aus der Nachbarschaft mit dem abschweifenden Blick alle Details in sich hinein. Ein unscheinbarer Jeanstyp flüsterte grade einer plakativen jungen Frau etwas in Ohr. Mit ihrem äußerst knappen orangen Rock und dem grellgrünen T-Shirt gab sie einen guten Farbtupfer ab. Doch nach dem Blick auf ihren Rock und das T-Shirt desillusionierte das Gesicht den ersten Eindruck. Was für ein langweiliges Wesen geilte sich am Geschehen auf – affig gaffig. Dem Gelalle des Nachbarn schenkte sie wenig Aufmerksamkeit und bediente ihr Handy: Dem Foto folgte eine Worteingabe – oder übernahm sie als moderne Analphabetin die androide Wortvorgabe des Smartphones? Bei ihr erschien mir die Behauptung, Frauen an sich seien multitasking extrem unwahrscheinlich. War dieses Wesen überhaupt singletasking? Den Bonus ihres Minirocks verspielte ihre Augenpartie und den Rest ihre sensationsgeile Attitüde.

Blieb die Frage: Wer bediente die Drohne? Im abgesperrten Bereich sah ich einen Mann auf einer Konsole spielen. Ah! Eine Glühbirne leuchtete virtuell über meinem spirituellen Schädel auf: Die Drohne flog im Auftrag ihrer Majestät, der Polizei. Sie sollte alles festhalten für die Analyse. Unfallursache etc… Bestimmt laden sie mir die ganze Schuld auf, weil ich ja aufgefahren bin, wie blöd auch immer die Frau sich verhalten hatte. Die Drohne wäre vor dem Unfall so sinnvoll wie eine Torkamera. Aber so weit sind wir noch nicht.

Selbst wenn sie eine Teilschuld bekäme: mit einer Buße von vermutlich 35 € wäre mein Leben abgegolten gewesen. Schon hart, wie wenig man im Strafrecht wert ist.

War ich nun wütend? Oder traurig? In welche Stimmung hatte mich mein Tod versetzt? Keine Trauer. Ich packte es zwar nicht, aber ich spürte Ärger: Warum musste mir das passieren?! Nein, nicht die physikalischen Gründe. Die reichten natürlich für das Ergebnis aus.

Auch nicht die sozialen Gründe: ein doofes Weib hatte… ich meinte: überhaupt: Weshalb musste ich, ich betone: ICH, Opfer der Unachtsamkeit dieser unscheinbaren Person werden? Wenn sie gegen einen Baum gefahren wäre, o.k., selber schuld. Aber schließlich starb ja nicht sie an ihrer Blödheit, sondern ich. Warum musste ich an der Dummheit eines anderen Menschen sterben?

Auch wenn sich diese Frage Millionen Menschen auf unserem Planeten stellten: Die anderen ließen mich so kalt wie einen Toten etwas kalt lassen kann. Entscheidend war: Warum ich? „Warum???!!!“ schrie ich. Ich konnte es mir leisten. Die Schreie eines Toten hört niemand. Wer sollte mich auch hören? Wer sollte mir wirklich eine Antwort darauf geben? Wer wäre verantwortlich? Das Wortspiel gefiel mir: In verantwortlich steckt „Antwort“.

Müsste mir diese Frau antworten? Abgesehen davon, dass sie mich nicht hörte, könnte sie nur sagen: „Weil ich so blöd bin, beim Autofahren zu telefonieren.“ Eine solche Antwort erhellt nicht mehr als die eines Physikers. Das erklärte mir nicht, warum es gerade ich war, den ihre Gedankenlosigkeit tötete.

Ist das nicht furchtbar: Du stirbst, und es gibt keinen einleuchtenden Grund dafür? Nichts erklärt deinen Tod? Dabei fürchte ich: Auch nichts erklärt mein Leben.

Eine Erklärung für mein langweiliges Leben! Es hätte mich nicht geben müssen. Die Erde hätte sich weiter um sich gedreht, wäre weiter um die Sonne gekreist, die sich in der Galaxie auf ihrer Bahn befand, während die Galaxie sich in ihren Galaxienhaufen einordnete, um nicht zu kollidieren und der Haufen respektvollen Abstand zu anderen Haufen hielt, um keine Crashs zu provozieren, die dem Aufprallen eines Rollers auf das Heck eines Fiat Panda entsprächen.

„Fiat Panda“! Mein Tod war eine Beleidigung für mein ganzes Leben. Ferrari... klänge nach einer respektablen Todesursache. Vier Millionen Fiat Pandas in 23 Jahren – wer hat je ihre Relevanz für den Unfalltod erforscht? Fiat Panda blondiert mit Handy... Was für ein sinnloser, degradierender Tod. Das Leben erniedrigt, aber so ein Tod erhöht nicht... Warum konnte mich nicht Nico Rosberg über den Haufen fahren? Oder Donald Trump? Warum musste es ein Panda-Bärchen sein?

2 Lucy

Ich hörte ein Kichern neben mir, ein hässlich hohes Kichern. Mein Blut wallte auf! (Blut???) Da gab es einen tödlichen Verkehrsunfall – noch dazu mit mir als Opfer – und irgendjemand kicherte…Wenn ich nur zu den Lebenden Kontakt aufnehmen könnte! Ich würde sie das Gruseln lehren! Diabolische Freude brodelte in mir hoch: „Ich versetze die zivile Bevölkerung dieser seelenlosen Eibacher Einkaufsstraße in eine ungeahnte Unruhe. Eine Stimme aus dem Nichts! Meine Stimme!“ Funktioniert nicht? Versuchs doch mal! Es widerspricht den physikalischen Gesetzen? Naturwissenschaftlich gesehen war ich längst tot. Meine Existenz zerstörte mein eigenes Weltbild, indem ich meinen eigenen Tod überlebte…oder überstarb… oder…

„Hör auf zu kichern!“ schnaubte ich. Die kleine, fast schon mädchenhafte Frau drehte sich mir zu: „Ist doch süß, oder?“ He, was soll das?! Hatte sie mich doch gehört? Konnte sie mich sogar sehen? Ich hatte zeitlebens nie Tote lebend gesehen. Warum sie? Und…

Was für eine seltsam ungewöhnliche Frau! Menschen erscheinen nie als Klone. Aber sie sah noch mal anders aus, irritierend klein, nicht wie mit einem Wachstumsproblem, sondern einfach so… Als laufender Meter wäre sie sachlich beschrieben.

Ihr augenfälliger breiter Mund passte zu ihrem breiten Lächeln… Große Nasenlöcher prägten ihr Gesicht… als könne sie sehr gut schnuppern.

Woher kannte ich diese Frau? Sie erschien mir vertraut. Dabei bildete sie einen Kontrast zu den Umstehenden. Wer stand da vor mir? Ich überging ihre letzte Bemerkung und wollte sie nur kennenlernen. Klingt seltsam, eine total vertraute Person kennenlernen zu wollen, aber ich konnte sie einfach nicht in meinem Gedächtnis unterbringen…

Ihr Kichern ärgerte mich: „Was soll das? Halt den Mund! Das geht dich gar nichts an!“

Die kleine Frau zeigte ihre Zähne beim Lachen: „Reg dich nicht auf! Du bist das einfach nicht gewohnt! Du weißt doch: Man stirbt nur einmal. Das übt man nicht. „You only live twice“ behauptet James Bond, aber nach dem Tod gibt es nur eine Existenz, und in der bist du...“

Ich knurrte: „Klugscheißer!“

Sie grinste unverschämt breit: „Politisch korrekt hieße das ‚Klugscheißerin‘! Aber ich will keine Korinthenkackerin sein...“ Ganz schön frech, die Kleine! Wie alt war sie wohl? Passte sie zu mir?

„Was ist los? Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen? Störung der Totenruhe nennt man so was. Das ist strafbar!“

Da verstrickte ich mich in seltsame Begründungen. Zwar wollte ich wirklich meine Ruhe, weder streiten noch diskutieren. Trotzdem: Auf welches Weib fuhr ich hier ab? Kein Typ „Seite 1“ einer Illustrierten. Über sie hätte ich keinen Gesellschaftsartikel lanciert. Das hätte mein Chef auch nicht zugelassen. Aber ihre lebhaften Augen gehörten bestimmt keiner Toten.

Unbeeindruckt änderte das Geschöpf seinen Tonfall: „Beruhig dich! Ich will dich nicht ärgern. Aber man kann deine Gedanken von der Stirn ablesen. - Nein, nicht von der Stirn der Leiche da drüben, sondern von deiner echten Stirn. Ich kenn das alles...“

Meine Gefühle wirbelten durcheinander. Chaos beherrschte mein Innerstes. Ich wollte Klarheit: „Wer bist du denn? Haben wir uns schon mal gesehen? Kennen wir uns?“

Sie lachte: „Du hast mich bestimmt schon mal gesehen hast. Nicht in echt, aber mein Replikat. Übrigens gut gelungen. Erinnerst du dich an diese Ausstellung...?“

Meinte sie diese seltsamen Totendemonstrationen von Hagen? „Nein! Die entwürdigende Leichenausstellung dieses fragwürdigen In-Anführungs-Zeichen-Künstlers tat ich mir nicht an! Gunther von Hagen! Diese doppelte Nibelungenentgleisung. Hagen crashed Gunther… „Körperwelten“ dechiffriere ich als Nekrophilie! Damit beschmutze ich nicht mein Gehirn!“

Sie schaute ruhiger: „Erinnerst du dich an die Ausstellung ‚Vier Millionen Jahre Menschheit“? Hat es da bei dir gefunkt?“

„Vier Millionen Jahre Menschheit“? Das besuchte ich schon von Berufs wegen. Sehr plastisch führte man mir das Leben meiner Vorfahren noch vor der Steinzeit vor Augen. Neben dem Rückblick über hunderttausende von Jahren der Menschheitsgeschichte zeigte eine digitale Anzeige damals die Anzahl der gerade lebenden Menschen an – und da ich die Ausstellung mehrfach besuchte, erlebte ich praktisch am eigenen Leib das Wachstum der Menschheit! Seitdem überschritten wir eine Milliardengrenze. Doch was hatte das mit meiner Gesprächspartnerin zu tun?

„Ja und... Ich verstehe gar nichts mehr!“

Die Frau blickte mich durchdringend an: „Damals hast du mich angeschaut wie kein Zweiter bei dieser Ausstellung. Du bist sogar mehrmals gekommen. Ich fühlte mich echt geschmeichelt. Und? Erkennst du mich wieder?“

Ich schaute genauer hin. War ich ihr wirklich begegnet? Mich umgaben so viele Besucher. Vielleicht hatte sie mich beachtet, aber ich sie bestimmt nicht... freilich wirkte sie im Vergleich zu meinem Bekanntenkreis sehr fremdartig. Ich soll sie sogar angestarrt haben?! So indezent kenne ich mich nicht!

Verschmitzt lachte sie mich an: „Wenn ich dir nun sage, dass ich – ehrlich, eine Frau sagt das nicht gerne; also würdige es bitte, dass ich so offen bin... also: ich bin über drei Millionen Jahre auf dieser Welt...“

Vermutlich stand mein Mund offen, bis ich stotterte: „Bist du... ...äh...“

Sie nickte auffordernd: „Na,... und... wer...?“

„Bist du Lucy?!“

Ihr breiter Mund weitete sich: „Aber natürlich.“ Gespielt schnippisch klagte sie: „Eigentlich hättest du das sofort und feststellend sagen sollen.“

„Lucy? Ich glaube es nicht!“ Wirklich. Ich glaubte es nicht, und war mir doch ganz sicher. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Das war Lucy. Ohne Alternative. Natürlich hatte ich sie erkannt, zumindest mein Unterbewusstsein, aber es war zu unwahrscheinlich, also konnte sie es nicht sein.

Ich blickte mich um, ob irgendjemand mir diese historische Begegnung bezeugen konnte. Aber alle schienen zu leben. Lebende Zeugen gelten nach dem Tod vermutlich nicht mehr. Andererseits: Hinter der Absperrung stand ein Typ Casanova mit beigen Hosen und blauem Jacko, der fast schon unverschämt intensiv auf Lucy schaute. Ein Mann, der sie zu erkennen und zu kennen schien… Ein eigenartiger Groll grummelte in meinem vergeistigten Bauch. Bevor ich dem Schnittchen mehr Aufmerksamkeit schenken konnte, dominierte wieder herausfordernd die prähistorische kleine Domina.

„Na?! Und jetzt?! Gefalle ich dir noch immer?“

Keine Zweifel! Trotz meiner Verwirrung: Dieses nette, sympathische, attraktive kleine weibliche Wesen sollte meine Lucy aus der Urzeit sein? Rein äußerlich gerierte sie sich als Vertreterin des 21. Jahrhunderts, mit Affinität zu Harley-Davidson-Fahrern. Das sind diese bulligen Typen, die bei den Rockkonzerten ihre jeansberockten Babys auf die Schulter nehmen, so dass unsereins trotz Presseausweis nichts mehr von der Bühne sieht. Diese Rockerbraut stand nun da und fragte impertinent, ob sie mir gefiel. Ich sollte es ihr lieber gar nicht sagen, so peinlich war es mir. Dass sie mir gefiel, war jenseits aller Diskussionen. Aber ich! Ich konnte dieser Überfrau doch gar nichts bieten außer Anerkennung. Dem fragenden Blick konnte ich nicht ausweichen: „Du siehst total prick aus… Ich finde dich...“ Ich verkniff mir das Wort ‚geil‘, aber meine Augen verrieten es vermutlich. So lenkte ich ab: „Sag mal, wenn Du aus einer ganz anderen Zeit stammst, weshalb trägst Du dann diese modischen Klamotten? Bei der Ausstellung hast du viel natürlicher ausgesehen.“ Lucy schaute mich vorwurfsvoll an: „Ich bin eine Frau. Ich achte auf mein Äußeres! Daran hat sich in drei Millionen Jahren nichts geändert.“

„Drei Millionen und 200.000!“ Korrigierte ich witzelnd korrekt.

Lucys Blick enthielt eine komplette Eiszeit: „Man sollte eine Frau nicht mit ihrem Alter konfrontieren, und schon gar nicht nach oben erweitern.“

Mir wurde ungemütlich. Sie hatte Recht. Andere Frauen zeigen sich schon bei wenigen falschgeschätzten Jahren ungehalten. Die 200.000 hätte ich ihr schenken können. Ich versucht, die Situation zu retten: „Naja, aber denk mal, wenn Du mit Deinen – frei geschätzt – optischen 22 Jahren...“

Sie gewann ihr Lächeln wieder: „Schmeichler!“ Das traf zwar den Kern, aber sie lächelte weiter; angesichts meiner etwas unbeholfenen Bemühung. Ich blieb beim Thema: „Also, Alter hin oder her. Wieso trägst du nicht die Haute Couture deiner Zeit…“

„Ph!“ machte sie schnippisch: „Soll ich Jahrtausende lang dieselben Felle tragen. Bin ich für dich keine echte Frau?...“ Schrill keifte sie gespielt: „Schatz, mein Kleiderschrank ist voll. Ich habe nichts anzuziehen!“ Aus die Empörung mutierte zur Ärgerlichkeit: „Glaubst du, ich hatte noch nicht mal Kleider und bist nur ein verkappter Voyeur?“ Ihre Augen blitzten: „Genau! Du Spanner willst mich nackt sehen, am besten splitterfasernackt. Lustmolch!“ Ein voller Meter Empörung mit der Vitalität von 3 Millionen Jahren, das brachte mich schier zum…

„Lucy, ehrlich, ich hatte überhaupt keine Nebengedanken. Es ist nur alles so neu für mich. Da muss ich Sachen verstehen, die für dich selbstverständlich sind.“

Lucy runzelte die Stirn. „Okay, als Frau fragt man sich: Was hält er von mir? Wie findet er mich? Habe ich das Richtige angezogen?“

Was stellte sie denn für Fragen? Wie sollte ich darauf reagieren? „Äh, ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht. Aber andererseits: ich finde dich total interessant.“

Lucy lachte hohl wie in einer Steinzeithöhle: „Interessant?“ Affektiert imitierte sie die Ansprache für ein Publikum: „Er findet mich interessant! Er hält mich wohl für die Miniaturausgabe eines Dinosauriers. Kleine Jungs lieben ja Dinos. Du meine Güte, was hat mich nur dazu gebracht, mir seinen Tod anzuschauen! Als ob es nichts Spektakuläreres gäbe! George Cloony zum Beispiel… Kennst du den?!!! Zu dem seinen Tod hätte ich gehen sollen! Aber der stirbt ja so unspektakulär. Rollerunfall, dachte ich mir, klingt aufregender. Aber dann kommt so ein kleiner Junge mit seiner Vorliebe für weibliche Dinos ums Leben.“

Ihr Sarkasmus stieß mir sauer auf. „Geh doch zu Johnny Depp, wenn du einen Lover suchst! Der bietet dir auch jede Augenfarbe, auf die du stehst, du Schatz der Karibik!“ Weshalb sollte ich den Vorstellungen dieser… wer war sie eigentlich? Irgendwie meine Urururundsoweitergroßmutter.

„Sag jetzt bloß nichts Falsches!“ schnitt eine scharfe Stimme in meine Überlegungen. “Ich gebe Dir noch eine Chance, weil du noch nicht mal unter der Erde bist“ (Meines Wissens hatte sie ihrerseits einige Millionen Jahre im Staub gelegen, auch wenn man ihr das nicht ansah…).

Freilich lag ich noch nicht unter der Erde, sondern auf dem Asphalt. Da drüben: meine Leiche, quasi frisch, neben einem vergleichsweise nur leichtverbeulten leuchtend roten Roller und einer weiblichen Person mit verschmiertem lila Liedschatten. Daneben ein widerlicher Schönling mit blauem Sakko über den beigen Hosen, der Lucy mit den Blicken zu verschlingen schien; ein Optik-Kannibale…

„Also, Leichtrockerrollerfahrer, warum leuchten deine Augen so unverschämt?“ Der warme Klang ihrer Stimme vibrierte in meine Brust hinein. Jetzt musste ich cool bleiben.

„Lucy Baby, was willst du? Eine Liebeserklärung? Einen banalen Spruch? Aber wenn’s dir hilft: Angesichts der zahllosen langweiligen Menschen, die mich umschwirren, bist du die inkarnierte Lebensfreude, mit der Power, die aus deinen Augen blitzt, mit dieser lebenssprühenden Energie!“

„Lebenssprühend!“ sie glühte lachend: „Für eine tote Frau ist das eine abgefahrene Beschreibung! – und ‚inkarniert’, ins Fleisch geschlüpft… da lässt du dich durch die Optik täuschen.“

„Ich sag’s doch: Du zeigst Wirkung.“

Lucy brummte versöhnt. „Hm, obwohl du ein Mann bist, verrate ich dir mein Geheimnis: Ich kleide mich gerne hübsch und liebe eure Mode. Für uns Ewigen machen handgeschneiderte Gewänder keinen Sinn. Wir bevorzugen imaginäre Kleidungsstücke. Genial: die passen absolut. Maßgeschneiderte Einbildung kann auf Konfektion verzichten.“

In der Tat präsentierte sie das perfekte Outfit. Die kurzen Haare auf ihren Händen und an ihren Beinen minderten nicht ihre attraktive Weiblichkeit, die sie durch ihre Kleidung unterstrich. Ihr Geschmack hatte sich durch ihre lange Lagerung nicht verflüchtigt. Aber von den vielen Fragen, die mir durch die Seitengänge meines Gehirns schossen – Quatsch, hier ging es gar nicht mehr um Gehirn. Das lag harmlos deaktiviert drüben bei meiner zugedeckten Leiche. Aber mein Denken funktionierte offenbar noch wunderbar. Denken ohne Hirn, quasi substanzlos – aber sehr effektiv... und vor allem sehr lebendig. Jetzt endlich konnte ich Antworten auf Fragen bekommen, die ich vor dem Tod nicht einmal hatte

„Lucy, eines verstehe ich nicht…“

Sie kicherte und ihre Lippen wurden noch breiter: „Eines? Praktisch alles… - Aber frag nur.“

„Sag mal, weshalb können wir uns verständigen: Du stammst aus einer ganz anderen Zeit und bist Vollafrikanerin, während ich zum zentraleuropäischen Völkergemisch gehöre…“

(Recherchiert:) Naturkundliches Museum: ein männlicher Homo afarensis schaut wach in seine Umgebung, ein weiblicher Homo sapiens küsst hemmungslos, was ihm vor die Lippen kommt… ein männlicher bewundert das Schlankheitsideal.

Lucy machte eine wegwerfende Handbewegung… „Das ist ein Vorteil vom Tot-sein: Wenn Du überhaupt in irgendwie weiterexistierst: Verständigung wird gewährleistet. Wir sind praktisch hinter den Turmbau zu Babel zurückgegangen.“

Ich lachte verstehend, denn ich war gebildet: „Der Turmbau zu Babel, der ist grade mal 3500 Jahre her…“

„Vergiss es! Solchen Geschichten vermitteln Sinn, nicht Historie, beschreiben nicht Türme in der Wüste, die Archäologen ausgebuddelt haben und behaupten, man wollte mit ihnen in die Himmel klettern. Sie beschreiben keine statischen, sondern kommunikative Probleme. Dass Menschen sich sprachlich nicht verstehen, ist uralt. Schon zu meiner Zeit konnte man schlecht kommunizieren, wenn man auf eine andere Population traf – drücke ich mich geschickt aus? Das stammt aus meiner Liaison mit einem frisch verstorbenen Anthropologen in den 70ern, ich kenne mich aus, mit mir und meinesgleichen. Also, wir hätten in deiner Wahrnehmung gepiepst, gebrummt und geschnattert. Viel intelligenter klingt in meinen Ohren euer Geplapper meist auch nicht. Wir verfügten über weniger Worte: Ihr würdet euch mit unseren Möglichkeiten weniger missverstehen…“

„Ähhh?! -????“

Lucy grinste ihr penetrantes breites Hominidengrinsen: „Ihr digitalisierten Bipede balanciert auf babylonischem Niveau. Erinnerst du dich? Die Informatiker schufen mit „Basic“ eine global einheitliche Computersprache. Geile Idee! Eine Verständigung über die Sprachengrenzen oder unter ihnen durch, eben Basic. Effektiver als diese idiotische Kunstsprache '???' “.

Ich stutzte: „Du meinst 'Esperanto'?“

„Erinnerst du dich an diesen Witz über euren seltsamen Kanzler Kohl, der Esperanto einen Staatsbesuch abstatten wolle...“

„Ein paar Englischstunden hätten ihm mehr gebracht. Manche Politiker bleiben eben provinziell wie ihre Wähler.“

Lucy wischte über eine imaginäre Windschutzscheibe: „Weg von Kohl und seinem Klientel zu echten Themen: ‚Basic‘ war super. Aber das hielten die hyperintelligenten Informatiker in ihrer Cyberwelt nicht durch. Sie brillierten mit neuen, konkurrierenden und natürlich effektiveren Computersprachen. Prost! Genies kreierten eine neue Sprachverwirrung. Wie viele Computer stürzten ab oder wurden gehackt...? Babylon symbolisiert deine Zeit. Aber, das Leben nach dem Tod haben nicht Informatiker konstruiert, es stammt von Gott selbst und der versorgte uns mit einer alternativlosen Verständigungsform. Darum kann sich jetzt Lucy mit dir unterhalten, mein Schätzchen. Ist das klar?“

„Äh...“ ein bisschen stotterte ich. Bis hierher verstand ich alles gut. Warum brachte sie plötzlich Gott ins Spiel? Gott ist immer ein Problem, ein Störfaktor moderner Kommunikation. Ich hasste religiöse Diskussionen, Lucy offenbar auch, aber nachdem sie sich spürbar in Rage geredet hatte, animierte sie dieses Babel, sich Gedanken über die Menschheit zu machen. Paul aus der Kulturredaktion produzierte sich beim Bier mit dem Wissen, dass die Geschichte vom Turmbau zu Babel sich nicht auf Bab-El bezog, das Tor Gottes in einer semitischen Sprache, sondern Babbel, das Gebabbel von Menschen, die ihren Worten keinen Sinn mitgeben. Den führenden Paläontologen zufolge konnte Lucy allein schon aufgrund ihrer Anatomie nicht mal babbeln. Aber in unserer Sprachfertigkeit, die 3 Millionen Jahre evolviert war, erkannte sie das Problem der Sprachverwirrung a la Babbel. So legte sie jetzt mit fast missionarischem Impetus los:

„Was mich am meisten nervt: Mit den Erfahrungen von drei Millionen Jahren habt ihr nichts angefangen… Was ihr alles könnt! Ihr gottgleichen Genies! Eure krassen Erfindungen, eure gigantischen Entdeckungen, und dann spielt ihr eure Spielchen, die als Krieg enden. Was ihr alles schafft, ihr Krone der Schöpfung! Das glorreiche Ende? Immer weniger Reiche an der Spitze und immer mehr Arme und Bettelarme drunter. Ihr zeigt euch als die eigentlichen Steinzeitmenschen, obwohl ihr euch für Silikonmenschen haltet, denn eure Herzen sind aus Stein.“

Ich fühlte mich belämmert: Was war Lucy eigentlich? Eine Pastorin? Eine Predigerin? Eine Moralistin? Natürlich, freilich, selbstverständlich, unbestritten hatte sie Recht. Was ist wohl bescheuerter als die Menschheit in ihrer technischen Vorwärtsbewegung mit der ethischen Rückwärtsbewegung?