5,99 €
In diesem Abenteuer gerät die junge Soziologin Lucia Madeleine Bucher, genannt Lucy, unfreiwillig in eine neue spannende Episode. In der ersten wurde sie durch ganz Afrika gejagt. Nun wird sie nach China entführt. Gut, dass sie zwei Freunde dabei hat: Dr. Justus Michelsen, ein hochbegabter Biologe, der ein Gen entdeckt hat, das Pflanzen 10x schneller wachsen lässt. Der zweite ist die Musik. Melodien lassen sie in gefährlichen Situationen nicht verzweifeln. Damit die Leserinnen diese mithören können, sind an den entsprechenden Stellen QR-Codes eingefügt, die mit YouTube abgespielt werden können. Lucy und Justus haben beschlossen, den Bauplan des 10x-Gens zu vernichten, da es das ganze Ökosystem zerstören könnte. Aber sie haben die Rechnung ohne die Roten Drachen gemacht. Diese wollen mit dem Gen eine weltweite Vormachtstellung erlangen. Ist es überhaupt möglich aus China zu entkommen? Lucy und Justus fliehen quer durch ein altes, wildes und zugleich modernes Reich. Ihre stahlblauen Augen mit einer Fähigkeit aus Kindertagen retten sie oft aus brenzligen Situationen. Ihren Humor verliert sie dabei nie. Um aus den Fängen der Roten Drachen zu entkommen, lassen sie sich auf einen wahnwitzigen Plan ein.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 282
Veröffentlichungsjahr: 2022
Lucy in the Skyund die Roten Drachen
von
Ulrich Markwald
Dann zeigte sich am Himmel eine andere Erscheinung: Ein roter Drache mit sieben Köpfen und zehn Hörnern…
Aber die Erde kam der Frau zu Hilfe. Sie öffnete sich und schluckte den Strom, den der Drache aus seinem Rachen ausstieß.
Offenbarung, 12, 3 + 15 (GNB)*
Lache nie über Drachen, solange sie lebendig sind.
Bilbo Beutlin in "Der Hobbit" von J.R.R. Tolkien
Trage immer einen grünen Zweig im Herzen, es wird sich ein Singvogel darauf niederlassen.
Chinesisches Sprichwort
In diesem Buch werden männliche und weibliche Bezeichnungen nach Möglichkeit im Wechsel verwendet.
Entführt
Gut, die chinesischen Schriftzeichen am Flugzeug hätten ihr gleich verdächtig vorkommen sollen. Aber sie war ein bisschen benebelt gewesen. Schön, dass sie sich bei den beiden netten Männern im Anzug einhaken konnte. Sie gingen rechts und links neben ihr und trugen sogar ihr Handgepäck.
Nach ihrem Vortrag über neue Möglichkeiten der Resozialisierung in der Universität von Pretoria hatten sie Lucy angesprochen und ein Upgrade für ihren Rückflug nach Berlin angeboten: First-Class! Zwischenlandung in Zürich. Obwohl sie nur ungern flog und eigentlich gar nicht auf diese Art von Luxus stand, dachte sie sich, dass sie vielleicht in der ersten Klasse ihre Flugangst besser überwinden könnte. Warum gaben sich die Männer überhaupt diese Mühe? Sie war doch keine VIP. Die Anzugträger hatten sich als Mitglieder einer japanischen Delegation ausgegeben, die größtes Interesse an ihrem soziologischen Know How hatte. Sie fühlte sich ein wenig geschmeichelt…
Im Wartebereich des Flughafens hatten sie ihr Cola mit Whisky spendiert, oder war es Whisky mit Cola? Und woher wussten sie von ihrer Vorliebe für dieses Getränk? Auf jeden Fall schwebte sie nun in die First-Class des Fliegers. Asiatische Menschen mit lächelnden Mienen wollten ihr alle Wünsche von den Augen ablesen. Aber sie hatte keine Wünsche. Sie sank einfach in die weichen Polster und fühlte sich seltsam leicht. Musik erklang von irgendwo her. Leise asiatische Weisen mit Wohlfühlfaktor ließen sie immer entspannter werden.
Man schien nur auf sie gewartet zu haben, denn die Triebwerke heulten auf, ein sanfter Schub drückte sie in den Komfortsessel und schon waren sie in the Sky. Wieder einmal. Ihr Vater hatte den Beatles-Song „Lucy in the Sky with Diamonds“ so gemocht. Sie selbst hatte ziemlich Flugangst. Lucy schaute sich in der Lounge um und entdeckte Justus in einem weiteren Sessel. Er hatte die Augen geschlossen und lächelte sanft in sich hinein. Justus war der nette junge Mann, der mit seinem Team in Berlin das 10x-Gen erfunden hatte, jenes Gen, das Bäume und eigentlich alle Pflanzen, 10mal schneller wachsen ließ. Dieses Gen schien sehr begehrt zu sein. Auf dem Hinflug nach Pretoria in Südafrika war sie deshalb in viele abenteuerliche und gefährliche Situationen gekommen. Hatte Justus da nicht auch irgendwie mitgewirkt? Sie erinnerte sich nicht mehr. Überhaupt fiel ihr das Denken immer schwerer. Sie wollte auf jeden Fall wieder nach Deutschland zurück und freute sich auf ihr Zuhause in Berlin.
War Greg eigentlich auch da? Der war so süß gewesen, und sie hatte sich irgendwie in ihn verknallt. Hihi, wie das klingt. Sagt man das heute noch? Verknallt? Und wo war Urs, dieser aufdringliche Schweizer Geheimdiensttyp? Er hatte gesagt, er flöge bis Zürich mit. Der sagte am Ende fast jeden Satzes: oder? Irgendwie… alles merkwürdig … aber sie wurde so schön schläfrig … jetzt nur ein wenig ausruhen … die letzten Tage waren soooo anschtrengend gewesen …sie hadde essich verdient …war da noch was annneres inner Gola oder im Wissgi gewesen? Ersma schlaaaafen…
Urs in Bern
Urs Hüetli hatte sich inzwischen in die Lufthansa-Maschine nach Zürich begeben. Er wunderte sich, dass Lucy und Justus nicht mit an Bord kamen. Ihre Plätze waren gebucht, aber nicht belegt. Man hatte sie auch schon mehrfach ausgerufen. Hatten die beide etwas miteinander angefangen, im Hotel verschlafen und verpassten nun den Flieger? Er holte sein Smartphone heraus und rief beide nacheinander an. Jedes Mal:
The person you have called is temporarily not available.
Er sprach etwas enttäuscht auf die Mailbox. Als das Flugzeug dann auf die Startbahn rollte, war er ein wenig traurig, denn er hatte Lucy schätzen gelernt, vielleicht sogar ein wenig liebgewonnen. Justus, der Biologe und Genforscher war zwar ein Nerd, aber ein netter. Er hatte dieses brandgefährliche Gen entdeckt. Na, hoffentlich war diese Angelegenheit jetzt erledigt, denn sie hatten den Chip mit den Daten des Genbauplans gemeinsam in Botswana entsorgt.
Dann würde er sie vermutlich in diesem Leben nicht mehr wiedersehen, oder? Vielleicht liefen sie sich zufällig mal wieder über den Weg. Er dachte noch einmal über die letzten Tage nach.
Eigentlich sollte er eine Mitarbeiterin des südafrikanischen Geheimdienstes sicher nach Pretoria begleiten. Denn sie hätte den Chip mit den gespeicherten Informationen und dem Bauplan des 10x-Gens bekommen sollen, um ihn auf einer internationalen Konferenz vorzustellen. Aber irgendwer hatte Mist gebaut, hatte sie mit einer ziemlich ähnlich aussehenden Touristin verwechselt, und der falschen Frau den Chip aus Versehen in die Jacke appliziert. Das war Lucy gewesen. Sein Fehler war gewesen, dass er das nicht rechtzeitig erkannte und mit der falschen Frau, nämlich Lucy, aus dem Flieger sprang, weil eine Bombe an Bord war. Diese sollte wohl Chip und Transporterin vernichten. Es stellte sich dann aber heraus, dass die Bombe wegen eines Defekts nicht explodieren konnte. Später erwies es sich allerdings als gute Fügung, denn Lucy verhielt sich dermaßen clever, dass ihr niemand den Chip abluchsen konnte. Ihr gelang es dann auch mit Hilfe des Buschpiloten Greg, mehreren Mordanschlägen zu ent-gehen und den Chip sicher nach Südafrika zu bringen. Er selbst, Urs, war dann erst in Botswana wieder dazu gestoßen. Und es war gleich mit einem Bombenanschlag auf sie weiter gegangen. Aber es gab dann doch ein Happy End in Pretoria. Am letzten Abend hatten sie draußen unter Palmen noch gefeiert.
Nach der Landung in Zürich begab sich Urs Hüetli mit einem Leihwagen, den ihm sein Arbeitgeber, der Schweizer Nachrichtendienst, zur Verfügung gestellt hatte, nach Bern. Dort betrat er die Zentrale, musste eine Weile warten und wurde dann vorgelassen. Ihm war gesagt worden, dass er dort nicht mit dem obersten Chef des NDB (Nachrichtendienst des Bundes), sondern gleich mit der Chefin des VBS (Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport), Viola AmBerg, sprechen sollte.
Er hatte sie nur einmal gesehen, oder besser gehört. Sie war gefürchtet und hatte die Angewohnheit, jeden Satz mit einem harten Ä zu beenden. Die Mitarbeitenden trauten sich nicht darüber zu lachen. Aber hinter ihrem Rücken zählten sie die Ä und schlossen Wetten ab, wer jeden Tag auf die richtige Anzahl käme.
Er ging gleich fröhlich auf sie zu:
Frau Bundesrätin, schön Sie zu sehen.
Ob das für Sie schön wird, wollen wir mal abwarten, ä!
Sie machte nicht die geringsten Anstalten ihm die Hand zu geben. Ihr Gesichtsausdruck war hart und ließ kaum eine Regung erkennen. Bis sie ihn anfauchte:
Hüetli! Wo - ist - der - Chip?
Zwischen jedem Wort ließ sie eine Pause. Ja, der Chip – darauf war er jetzt nicht vorbereitet. Er dachte, er hätte genügend Zeit, einen Bericht zu schreiben, in dem er auch erklären wollte, warum er den Chip nicht hatte. Er hätte sich in einem positiven Licht dargestellt, wie er Lucy, d.h. Frau Bucher gerettet hatte und mit ihr auch den Chip, auf dem die Informationen über das 10x-Gen waren. Dieses Gen war imstande, wenn man es in Pflanzen implementierte, diese 10mal schneller wachsen zu lassen. Alle möglichen Leute, vor allem Geheimdienste, Drogen-Mafia, Agrarkonzerne, Futtermittelindustrie, sogar Religionsgemeinschaften waren hinter diesem Gen her. Eigentlich war es nur zur Rettung der tropischen Regenwälder von deutschen Wissenschaftlern unter der Federführung von Justus Michelsen in Berlin entwickelt worden. Der Justus, der sich wahrscheinlich jetzt in Südafrika mit Lucy im Bett wälzte, und er, Urs, konnte die Sache hier ausbaden!
Was wollte die Schweiz damit? Sie hatte doch keinen Regenwald und keine Drogenplantagen. Ok, ihre Gletscher schmolzen, die vielen Matten (Wiesen) vertrockneten und die Milchwirtschaft litt jetzt schon unter dem Klimawandel. Keine Milch – keine Schokolade, kein Schnee – weniger Tourismus. Das kam in letzter Zeit immer häufiger vor. Denn durch fehlendes Eis und weniger Schnee wurden die Wander- und Kletterwege immer mehr von Steinschlag betroffen und mussten gesperrt werden. Ja, er hatte gelesen, ganze Berge könnten ins Rutschen kommen, wenn sie ihre Permafrostfestigkeit verlieren würden…
Während er noch darüber nachsann und nach einer Antwort suchte, hakte die Bundesrätin ungehalten nach:
Sie wissen doch, wovon ich spreche, ä? Sie hatten den Chip bereits in ihrem Besitz, wie wir von Frau Bucher erfahren haben. Wieso haben sie den nicht für die Eidgenossenschaft sichergestellt, ä?
Der Chip war mit einem Tracker versehen! rief er. Langsam gewann er seine Selbstkontrolle zurück. Er hätte uns beinahe das Leben gekostet! Ich hatte von Ihnen den Auftrag, die Transporterin des Chips zu schützen. Ich musste eine Entscheidung treffen, Leben oder Chip, oder? Was meinen Sie?
Werden Sie nicht frech, Herr Hüetli! Sie überlegte. Ich treffe jetzt auch eine Entscheidung, nämlich, was weiterhin mit Ihnen geschieht, ä. Die Bundesrätin begann auf- und abzugehen. Nach einer Weile sagte sie etwas milder: Immerhin haben Sie das Ansehen des Schweizer Nachrichtendienstes in der Welt nicht beschädigt. Im Gegenteil, es wurde überall in der Presse von ihrem heldenhaften Einsatz bei der Rettung von Frau Bucher in Südafrika berichtet.
Vor laufenden Kameras hatten Greg und er Lucy gerade noch vor einem terroristischen Mordanschlag retten können, als sie dabei war, einen flammenden Vortrag auf einer Klimakonferenz zu halten.
Nun, wir vermuten, oder besser gesagt, wir hoffen, dass der Chip nicht in die falschen Hände geraten ist. Wie Sie vielleicht wissen, ist der Entdecker des Gens, Justus Michelsen, zusammen mit Frau Bucher nach China entführt worden, ä.
Was? Das wusste ich nicht! rief Urs. Wann? Wie? Wo?
Genau das sollen Sie herausfinden! Sie sah ihn scharf an. Sie sind ab sofort dem MND (Militärischer Nachrichtendienst) unterstellt. Sie waren doch Offizier beim Gebirgsarmeekorps, ä? Sie nehmen an einer geheimen Kommandooperation an der chinesischen Grenze teil. Sie schaute ihn durchdringend an. Wir sehen chinesische Aktivitäten in der Schweiz zunehmend kritisch. China versucht, nicht nur Schweizer Firmen zu kaufen, sie stehlen schon seit Jahren Betriebsgeheimnisse und Patente unserer großen Chemiekonzerne. Wir müssen uns wappnen! Da kommen jetzt Sie und schalten sich ein.
Sie sorgen erst einmal dafür, dass Herr Michelsen möglichst schnell und lebend zurück nach Deutschland kommt, ehe er dort alles ausplaudert. Zwischenstopp in Zürich. Hier zuerst Befragung durch uns. Versauen Sie’s diesmal nicht, ä!
Und Lucy? Äh, Frau Bucher?
Falls es sich ergibt, können Sie sie auch mitbringen. Aber das wäre nur Kosmetik, ä. Der Chip und Herr Michelsen sind für die Schweiz von großem nationalem Interesse!
Eine Frage brannte Urs noch unter den Nägeln:
Hat unser Geheimdienst schon Erkenntnisse, wer der Attentäter in Pretoria war, der auf Frau Bucher geschossen hat?
Die Bundesrätin zögerte:
Unsere Kolleginnen und Kollegen sind sich wohl einig, dass es ein Auftragskiller war. Aber er äußert sich mit keinem Wort. Es gibt den leisen Verdacht, dass es sich um Illuminati, Assassinen** oder Angehörige einer Sekte handeln könnte.
Sie blickte auf ihren Monitor auf dem Schreibtisch und Urs merkte, dass sie schon in Gedanken woanders war, als sie sagte:
Worauf warten Sie noch, Herr Hüetli? Ab zur Leitstelle des MND, dort bekommen Sie ein eigenes Büro und erfahren alles Weitere, ä!
Urs hatte die Ä nicht mitgezählt. Vor lauter Sorge um Lucy. Mit Justus in China? Entführt? In Gefahr?
Greg in Zinder
Greg, der Buschpilot, war wieder mit seinem kleinen Flugzeug unterwegs. Mit diesem hatte er erst vor einer Woche Lucy nach Pretoria geflogen. Nun hüpfte er wieder von Flugplatz zu Sandpiste und umgekehrt. Sein Ziel war zuerst einmal Zinder, die Stadt im Niger, wo er Lucy kennengelernt hatte. Hier hatte er seine Dependance, von hier aus organisierte er seine Hilfsaktionen im Busch und in der Wüste. Er hatte auf seinem Handy schon wieder viele Anfragen bekommen, um Medikamente, medizinische Instrumente und Saatgut in entlegene afrikanische Dörfer zu bringen. Nicht ganz ungefährlich. In manchen Gegenden herrschte Bürgerkrieg und man wusste nie, wem man trauen konnte. Die kleine, aber technisch sehr gut ausgestattete Ein-Propeller-Maschine fand den Weg fast allein. So hatte er immer wieder Zeit zum Nachdenken.
Beim Abschied in Pretoria war ihm, dem knallharten ehemaligen amerikanischen Navypiloten, doch das Herz schwer geworden. Er hatte sich nach dem gemeinsamen Sky-Trip mit Lucy vorstellen können, weiter mit ihr an seiner Seite den afrikanischen Kontinent mit Hilfslieferungen zu versorgen und zu bereisen. Ja, sein hartes Herz hatte in ihrer Nähe begonnen weich zu werden. Und dann diese Augen. Lucys stahlblaue Augen, in deren Tiefen hatte er sich verloren. Aber wehe, jemand versuchte ihr etwas anzutun, dann konnten diese Augen zur Waffe werden: verwirren, paralysieren, willenlos machen. Er hatte es mehrmals auf dem Flug nach Pretoria bei anderen Personen, die ihr ans Leder wollten, erlebt. Gott sei Dank nicht an sich selbst.
Aber vielleicht wollte Lucy gar nicht mit einem Buschpiloten um die Häuser, oder vielmehr um die Hütten, ziehen. Sie hatte ihr eigenes interessantes Leben. Er konnte zwar mit soziologischen Studien nicht viel anfangen, aber sie machte einen mit ihrem Leben zufriedenen Eindruck. Und das Leben in Berlin war sicher nicht langweilig. Gregs Mutter war Berlinerin gewesen. Er war in den Staaten aufgewachsen, aber hatte mit ihr ab und zu Berlin besucht. Er mochte das Leben in dieser quirligen Metropole. Warum nicht dort leben? Mit Lucy?
Lucy in the Sky
Lucy erwachte langsam. Träge öffnete sie ein wenig die Augen. Sie musste mal. Sie sperrte ihre Augen ganz auf und fand sich mit einer Decke zugedeckt. Ach ja, die Luxus-Lounge und die Japaner… Es war alles in ein Halbdunkel gehüllt. Eine Melodie summte in ihrem Kopf herum: Big in Japan – von wem war das nochmal? Sie konnte sich nicht erinnern. Hatte ihr auch nicht so gefallen.
Lucy stand auf und taumelte zu einem grünen Pfeil mit unbekannten Schriftzeichen. War das jetzt japanisch oder chinesisch und wieso gab es in einer Lufthansa-Maschine keine deutschen Hinweisschilder? Sich immer wieder an Geländern festhaltend gelangte sie zu einer Treppe. Auch hier nur sanfte Beleuchtung. Wahrscheinlich führte die zur Business-Klasse. Ihr war immer noch ein wenig schwindelig. Ob dort die Toilette war? Oder war sie schon daran vorbei gegangen? Sie stieg hinab und erstarrte: Alle Sitze waren leer! Jetzt wurde sie auf einmal wacher. Was ging hier vor? Sie torkelte in die Economy-Class, ebenfalls leer. Einige Sitzreihen waren sogar ausgebaut – da standen große Plastikboxen herum.
Ein wenig wackelig auf den Beinen stolperte sie zu den Kisten: Schriftzeichen, die sie nicht kannte. Rote Drachen prangten mittig auf jeder Seite. Dann ein Aufkleber, den sie identifizieren konnte: diplomatic pouch, Diplomatengepäck.
Miss Bucher! eine ärgerliche Stimme hinter ihr ließ sie aufhorchen.
Sie erschrak nicht, denn irgendwie wirkte das Mittel noch, und das wusste sie jetzt: Es war kein Alkohol gewesen. Diese Wirkung unterschied sich gewaltig. Sie tat so, als ob sie immer noch völlig benommen sei und drehte sich um. Einer der netten Männer, die sie ins Flugzeug gebracht hatten, stand hinter ihr und schaute nicht mehr so nett.
Ganschön wenich Paschaschiere, murmelte sie.
Der nicht ganz so nette Mann packte sie am Arm und sagte:
Kommen Sie, Miss Bucher, ich bringe Sie zu ihrem Platz.
Mrs. Bucher heißt das, fauchte sie ihn an und versuchte ihm in die Augen zu schauen. Es gelang ihr nicht, er drehte den Kopf weg.
Ssuerst mussich aba Pipi! Toilet, schu know? nuschelte sie ihn an.
Bruchlandung
Lucy war wieder fest eingeschlafen. Sie wurde von Turbulenzen des Flugzeugs wach. Die zwei Männer kamen lächelnd auf sie zu, guckten wieder freundlich, setzten sich ihr und Justus gegenüber.
Frau Bucher, Heh Michelsen. Wi landen gleich. Usprünglich wollten wi nach Beijing, abe da tobt ein Unwette und wi nehmen einen Ausweichflughafen.
Bevor Lucy und Justus, jetzt sichtlich klarer, dazwischenfragen konnten, fuhr der andere Mann fort:
Wi wollen Ihnen von Anfang an die Wahheit sagen und hoffen, Sie sind auch ehlich zu uns. Wi interessieren uns wirklich für Ihr soziologisches Konzept, Frau Bucher. Ihr Votrag in Pretoria ist intenational gut aufgenommen woden. Aba das Gen ist im Moment wichtige! Ja, es stimmt, wi haben Sie in Sicheheit gebracht, ohne Sie zu fragen. Aber nu zu retten ih Leben. Die russische Mafia, möglicheweise soga von Moskau gesteuet, wollte Sie in Pretoria entführen und Ihnen die Infomationen zu 10x-Gen-Chip mithilfe von Wahheitsdrogen stehlen.
Das Flugzeug machte einen Satz. Diese Turbulenzen waren nichts für Lucys Magen. Wurde ihr davon übel, oder von dem Geschwätz der Männer?
Der Chinese fuhr ungerührt fort: Wi sind andes. Wi möchten Sie beschützen und übezeugen. Schauen Sie sich est einmal unser Foschungszentrum und unse bisherigen Egebnisse in Ruhe an. Vielleicht ekennen Sie dann, dass diese Foschung von der Volksrepublik China ganz uneigennützig zum Wohle de Menschheit geschieht. Wi wollen auch die Natu und das Klima retten. Aba ich will ebenfalls sagen, dass China daran denken muss, die Ernährung von chinesische Volk auf lange Zeit sichezustellen.
Wow, dachte Lucy, der hat beim letzten Motivationstraining gut aufgepasst. Sie versuchte in seine Augen zu blicken, aber ein Blitz erhellte die ganze Kabine. Das Flugzeug kam rüttelnd in Schräglage.
Falls wi Sie dennoch nicht übezeugen können, sprach der Mann unbeeindruckt weiter, düfen Sie wieder in Ih Land zurückreisen. Jetzt aber bitten wi Sie est einmal zu unserem Foschungsteam mitzukommen und uns zu helfen. Er machte eine Pause. Wi müssten jeden Moment landen. Bitte schnallen Sie sich jetz an.
Während Justus noch sprachlos da saß, rief Lucy:
Dann kann ich ja gleich zurückreisen, ich bin Soziologin und keine Genforscherin! Sie blickte zu Justus und versuchte mit einem Auge zu zwinkern.
Plötzlich ein Blitz, ein Schlag, ein Ruck ging durch den ganzen Rumpf und die Beleuchtung fiel aus. Ein ohrenbetäubendes Kreischen entstand, als die schwere Maschine mit einem Flügel die Landebahn berührte, sich im Kreis zu drehen begann, und alles in der Kabine durcheinander flog, samt den Chinesen. Gut, dass sie noch angeschnallt waren. Die Chinesen hatten das wohl vergessen. Das schleudernde Flugzeug stieß gegen irgendetwas. Sie sahen dunkle Felsen und Bäume draußen vorbeirasen. Lucy betete, dass jetzt bitte nichts explodieren möge und versprach, nie wieder in ein Flugzeug zu steigen – schon wegen der Ökobilanz. Sie würde das Versprechen nicht einhalten können.
Irgendwann war das Drehen vorbei. Die Triebwerke liefen immer noch, aber fürchterlich unrund. Bis auf einige Notlämpchen war es absolut dunkel, drinnen und draußen. Die Chinesen waren nicht zu sehen, sie hörten aber entfernte Schmerzenslaute.
Lucy rief: Los, abschnallen und raus hier!
Nimm Dein Handgepäck mit! schrie Justus, denn inzwischen setzte ein durchdringendes Heulen ein. Ein Triebwerk, das sich gerade verabschiedete und kurz vor der Explosion stand?
Urs Büroarbeit
Hier ist Ihr neues Büro.
Die freundliche Mitarbeiterin ließ ihn stehen. Sein Nachname stand schon an der Tür, ohne Dienstbezeichnung, ohne alles. Hüetli. War das hier alles so furchtbar geheim? Oder hatte man ihn degradiert? Oder sagte man hier keine Vornamen? Er öffnete die Tür und blieb enttäuscht stehen. Karger könnte ein Raum nicht eingerichtet sein: Ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Telefon, eine Lampe. Wer kann an einem solchen Ort kreativ arbeiten? Als erstes würde er ein Laptop beantragen. Ein paar Bilder und Blumen. Immerhin gab es ein Fenster, aber da blickte er auf eine Hauswand. Enttäuscht ließ er sich auf den Stuhl fallen. Sollte das in nächster Zeit sein Arbeitsplatz sein? Wollten sie ihn bestrafen? Kaltstellen? Hätte er bloß nichts mit diesem Chip zu tun gehabt. Er seufzte.
Da fiel ihm Evelyn ein, die Geheimdienstmitarbeiterin aus Südafrika. Die sollte eigentlich damals den Chip transportieren. Eine tolle Frau. Unabhängig, stark, selbstbewusst und sah verdammt gut aus. Und sie hatten sich prima verstanden. Er hob den Hörer des Diensttelefons ab und hauchte zum Spaß hinein:
Evelyn, bitte komm‘ und rette mich!
Kann ich Ihnen behilflich sein? Ertönte eine kalte männliche Stimme mit Schweizer Tonfall aus dem Hörer.
Erschrocken legte Urs auf. Er hatte nicht daran gedacht, gleich mit der Zentrale verbunden zu sein. Dann nahm er sein Handy und rief Evelyns Nummer auf.
Evelyn in Holidays
Evelyn van Dert nippte genüsslich an ihrem Morgenkaffee. Im Hintergrund lief Here comes the Sun. Die Sonne war schon aufgegangen und strahlte in ihr Wohnzimmer. Von ihrer kleinen Wohnung in Pretoria hatte sie einen wunderbaren Blick auf das Regierungsviertel mit den erhabenen Gebäuden und den vielen Palmen. Hier war auch eine Niederlassung der State Security Agency, des Geheimdienstes von Südafrika, ihrer Arbeitgeberin. Für ihren umsichtigen Einsatz bei der Rettung von Lucy hatte sie drei Tage Extraurlaub bekommen. Eigentlich hatte sie mit mehr gerechnet, aber die Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten war nur bedingt positiv ausgefallen. Sie hatten erwartet, dass sie den Gen-Chip sicherstellte. Was man dann damit gemacht hätte? Vernichten – das war der Wunsch von Lucy und Justus gewesen – kam für ihren Chef eher nicht in Frage. Kann ein Geheimdienst, bzw. ein Land wie Südafrika, das enorm vom Klimawandel betroffen ist, dieses Pfand aus der Hand geben?
Man hätte den Chip erst einmal selbst analysiert und dann in dem besten Tresor des Landes, in dem auch das südafrikanische Gold aufbewahrt wurde, hinterlegt.
Als sie noch darüber nachdachte, was sie wohl mit den drei freien Tagen anfangen sollte, klingelte ihr Telefon die Melodie der Nationalhymne - Nkosi Sikelel' iAfrika – God bless Africa. Sie sah im Display, dass es Urs war, den sie bei der Terroraktion in der Townshall zusammen mit Lucy kennengelernt hatte. Sie hatten anschließend eine schöne und aufregende Nacht miteinander verbracht und waren dann am andern Morgen zufrieden auseinander gegangen. Keiner von beiden wollte eine Bindung eingehen. Sie hatten nur „goodbye“ gesagt.
Sie drückte die grüne Taste ihres Smartphones:
Guten Morgen Urs, hast Du es Dir anders überlegt? sie lächelte. Aber nur einen kurzen Moment.
Lucy in the mud
Flucht, Flucht! Nur weg von hier! Panik erfasste Lucy, als das Flugzeug zum Stillstand gekommen war. Mehrere schrille Alarmsignale tönten durch die Lounge. Beißender Rauch quoll aus dem vorderen Teil des havarierten Flugzeugs. Eine Tür im hinteren Teil öffnete sich automatisch. Mit einem Knall entfaltete sich eine orangefarbene Rutsche.
Raus, los raus, schrie auch Justus, und sie fassten sich bei der Hand. Sie stolperte über ihr Bordcase, das heruntergefallen war. Schlagartig war Lucy klar im Kopf, sie schnappte das kleine Case und rannte vorbei an den bewusstlosen Chinesen, sprang in die Rutsche und landete unsanft auf einer Wiese. Das Kreischen wurde lauter und inzwischen waren auch einige Crewmitglieder auf die Beine gekommen. Instinktiv rannten alle weg vom Flugzeug, einfach ins Dunkle hinein.
Ohne sich umzudrehen hetzte Lucy in die Ungewissheit. Justus blieb direkt hinter ihr. Das musste er auch, denn zusätzlich hatte ein dichter Nieselregen eingesetzt, dass sie kaum etwas sehen konnten. Nur Blitze erhellten ab und zu die Landschaft, und so konnten sie sich ein wenig orientieren.
Erst als sie eine Atempause einlegen mussten, weil sie vor Seitenstechen nicht weiterkonnten, drehten sie sich um. Das Flugzeug wurde nun von Einsatzfahrzeugen beleuchtet, die inzwischen mit Blaulicht und Sirenengeheul herbeigeeilt waren. Ein Hubschrauber kreiste knatternd über der Unglücksstelle. Es gab bisher kein Feuer, sodass auch die anderen Insassen hoffentlich unbeschadet davongekommen waren.
Sie setzten ihren Weg fort, jetzt auf einem kleinen Pfad, auf dem sie nicht befürchten mussten zu stürzen oder in ein Loch zu fallen. Irgendwann ließen ihre Kräfte nach. Die klatsch-nasse Kleidung und das Wasser in den Schuhen behinderten ein schnelles Vorankommen.
Dann hörten und sahen sie, wie der Hubschrauber immer größere Kreise über der Unglücksstelle zog. Mit einem scharfen Scheinwerferstrahl. Wurden sie schon gesucht? Sie mussten sich verstecken! Sie liefen ein paar Schritte weg vom Pfad und landeten in einer großen Schlammpfütze. Weiter, nur weiter.
Sie stolperten immer wieder über Wurzeln und Steine, als sie den Pfad verließen. Mittlerweile hatte das Flugzeug doch begonnen zu brennen. Die Flammen erleuchteten ein wenig das ansteigende Gelände. Sie bekamen kaum noch Luft und liefen langsamer. Ihre Bordcases hinderten sie auch am Vorankommen. Sie blickten sich um, aber niemand folgte ihnen. Die Leute waren selbst damit beschäftigt sich in Sicherheit zu bringen. Ein stärkerer Regen hatte eingesetzt. Gut, dass es warm war. Auf welchem Breitengrad waren sie hier wohl unterwegs?
Sie stolperten weiter. Warum eigentlich? Sie hätten doch auch das Angebot der freien Rückreise annehmen können. Aber hätten sie diese Freiheit wirklich gehabt? Hätte man sie unbehelligt gehen lassen?
Ehe sie weiter darüber nachdenken konnten, hörten sie wieder das Geräusch des Hubschraubers. Er hatte nun weitere Suchscheinwerfer eingeschaltet und fahndete wohl nach ihnen, denn er umrundete die Absturzstelle in immer größer werdenden Kreisen.
Hoffentlich haben sie keine Wärmebildkameras, flüsterte Justus.
Du brauchst nicht zu flüstern, Mikrofone werden sie vermutlich nicht haben, rief Lucy. Aber so richtig zum Lachen war ihr nicht zumute. Sie wäre jetzt eigentlich schon in Berlin, wahrscheinlich sogar in ihrem eigenen Bett, könnte sich in ihre Kissen kuscheln und bei einem Glas Rosé Netflix schauen. Oder sie würde alle Freundinnen anrufen. Oder Greg? Mensch Greg, wo bist Du, wenn ich Dich so dringend brauche?!
Inzwischen hatte sich die Landschaft in ein einziges Matschgelände verwandelt. Es roch nach Gülle und Tieren. Sie konnten allerdings keine Gebäude, Stallungen oder Tiere entdecken. Dafür wateten sie inzwischen durch knöcheltiefen Schlamm und waren damit beschäftigt, ihre Schuhe nicht zu verlieren. Das Knattern des Hubschraubers kam näher.
Mist, rief Lucy, die haben uns gleich.
Justus antwortete: Los wir werfen unser Gepäck unter diesen Busch und uns in den Schlamm und decken uns damit zu!
Was, in dies stinkende Zeug? Lucy ekelte sich, weil sie nicht einmal genau sah, in was sie sich da reinlegen sollte.
Der Hubschrauber kam immer näher und seine Scheinwerfer streiften schon fast über sie hinweg. Justus gab ihr einen Stoß, warf Schlamm über sie und tauchte dann selbst in die dunkle, weiche Masse ein. Der Hubschrauber flog eine ganze Weile über ihrer Gegend herum, blieb auch immer wieder einmal stehen, weil er scheinbar irgendetwas entdeckt hatte. Justus und Lucy ahnten noch nichts von den Tieren in dieser Gegend. So wurden sie von den Wärmebildkameras nicht entdeckt. Der Schlamm war warm, der Geruch aushaltbar. Ihr fiel ein Song ein: DIRT. Darin wächst alles Leben aus dem Schlamm heraus. Was sie wohl werden würde, wenn sie eine Pflanze wäre?
Es wurde still, nur ein paar Grillen zirpten noch, und bald schliefen sie erschöpft ein.
Evelyn fragte Urs:
Was kann ich denn tun? Ich bin hier in Südafrika. Ich habe Urlaub und bin raus aus der Geschichte.
Urs antwortete überrascht: Sind Dir die beiden denn egal?
Natürlich nicht. Aber hier scheint noch niemand davon zu wissen. Ok. Sie machte eine Pause. Ich denk‘ drüber nach, wie wir von hier aus helfen können. In zwei Tagen melde ich mich wieder bei Dir. Oder sollen wir uns irgendwo treffen? Ich meine natürlich nur dienstlich – obwohl wenn ich an unsere letzte Nacht denke …
Urs: Ja, ich mag mich gerne daran erinnern, kann Dich auch nicht vergessen. Du bist so … er kam ins Stottern …
Was könnte er jetzt am Telefon sagen, dass es nicht blöd klang. Hinzu kam, dass er nicht wusste, ob sie nicht abgehört würden, oder war das eine Geheimdienst-Paranoia?
Evelyn sagte: Bis zum nächsten Mal. Kannst Dir ja überlegen, was Du mir sagen möchtest. Dann legte sie auf und schmunzelte, aber ihr Herz schlug ein wenig schneller.
Yakbutter
Am nächsten Morgen erwachte Lucy, weil jemand zärtlich an ihrem Hals herumleckte. Noch im Halbschlaf murmelte sie:
Greg, nicht doch, Greg!
Dann merkte sie, dass die Zunge ziemlich groß war, sehr groß. Sie öffnete die Augen und schrie laut auf. Ein riesiges zotteliges Tier stand über ihr und fuhr mit seiner Zunge genüsslich über ihr Gesicht. Der Schrei ließ das Yak mit einem Grunzen zur Seite springen. Dann hörte sie ein lautes Lachen. Sie setzte sich auf und entdeckte einen älteren Mann mit großem Reisstrohhut, vermutlich den Hirten der Yak - Herde. Er kriegte sich vor Lachen kaum noch ein. Und rief immer wieder:
Zuò'ài … (ZooEi - Liebe machen)
Lucy erhob sich und suchte nach Justus. Sie brauchte eine Weile, bis sie ihn in einer Schlammmulde entdeckte. Sie watete träge zu ihm hin und stupste ihn mit dem Fuß an. Auch er kam nur langsam zu sich.
Aufstehen! Frühstück ist fertig! Und da will Dich jemand sprechen. Sie schaute sich um. Boah, ich habe geschlafen wie eine Bärin. Was haben die uns nur vor dem Flug eingeflößt? fragte sie ihn. Und sag mal, sind das wirklich Yaks? Ich dachte, die gibt’s nur in Nepal.
Er musste sich erst getrockneten Schlamm aus den Ohren kratzen. Sie wiederholte die Frage.
Wir werden es vermutlich nie erfahren, was die uns da verabreicht haben, antwortete er. Und ja, Yaks gibt’s auch hier. Die Chinesen kreuzen sie schon lange mit anderen Rinderarten.
Inzwischen hatte der alte Hirte sich wieder beruhigt und machte ihnen lächelnd Zeichen, ihm zu folgen. Hinter dem nächsten Hügel lagen einige einfache mit Reismatten bedeckte Hütten. Rückseitig befand sich tatsächlich eine Dusche, die von einem Bambuszaun umgeben war. Das Wasser war zwar kalt, aber die Sonne machte sich schon bemerkbar und heizte einen schwarzen Wasserbehälter auf dem Dach auf. Schnell hatte Lucy sich ihrer Kleider entledigt und genoss die Wasserstrahlen. Als sie sich sauber fühlte, bemerkte sie, dass sie weder Handtuch noch saubere Kleidung hatte. Da stand plötzlich eine kleine ältere Frau vor ihr und reichte ihr mit einem Lächeln ein großes buntes Tuch, mit dem sie sich nicht nur abtrocknen, sondern auch bedecken konnte. Sie schien die Ehefrau des lachenden Hirten zu sein.
Diese bat sie nun mit angenehm klingenden Worten und mit vielen Gesten ins Haus. Sie sollte sich auf den Teppich am Boden setzen, konnte sie aus den Gesten erahnen. Inzwischen stand wohl auch Justus unter der Dusche. Während sie auf ihn warteten, versuchte Lucy eine Kommunikation mit der Frau mit dem freundlichen Gesicht. Ihr Alter ließ sich nur erraten. Vielleicht zwischen 50 und 100 Jahren? Weder Englisch noch Französisch schien die Frau zu verstehen. So probierte sie mit Gesten und Geräuschen sich verständlich zu machen. Einige ihrer Gesten riefen bei der Chinesin Heiterkeit hervor. Sollten ihre Bewegungen in China andere Bedeutungen haben als in Europa? Als Justus, ebenfalls in ein großes buntes Tuch gehüllt, erschien, mussten sowohl Lucy als auch die Gastgeberin lachen. Bevor Justus etwas entgegnen konnte, erschien eine weitere lächelnde Frau, vielleicht die Schwester der Bäuerin, und servierte eine herzhafte Brühe, in der dicke Klumpen von Fett schwammen. Yakbutter? Auf nüchternen Magen? Ein Kaffee wäre ihr lieber gewesen, aber sie war froh, hier bei diesen gastfreundlichen Menschen gelandet zu sein. Gelandet? Langsam, ganz langsam, fielen ihr die Ereignisse der letzten Nacht wieder ein. Sie war immer noch nicht ganz klar im Kopf. Die Flucht aus dem havarierten Flieger, die Verfolgung vom Hubschrauber, ihr Handgepäck zwischen den Felsen, der Schlamm… Ihr Gepäck! Wo war das? Wussten sie noch die Stelle?
Justus! rief sie, weißt Du noch, wo unsere Cases liegen?
Bevor er etwas sagen konnte, kam der Hirte herein, in jeder Hand eins ihrer Gepäckstücke, offensichtlich ungeöffnet. Sie sprang auf und umarmte den Mann, der wieder zu lachen begann.
Sie öffneten ihre Taschen. Sogar Lucys Handy lag noch darin.
Nicht einschalten! rief Justus. Die haben bestimmt etwas eingebaut um uns zu orten. Ich hatte mein Handy nicht im Gepäck, sondern in der Hosentasche, vielleicht ist das noch unbehandelt.
Lucy durchforstete ihr Case und sagte: Komm, wir haben viel zu viel Zeug, lass uns hier etwas verschenken. Sie wühlte ein bisschen, fand saubere Slips, T-Shirts und etwas Schminkutensilien, die sie den Frauen überreichte. Justus schenkte dem Mann zwei seiner Hemden und seine Hausschuhe. Alle waren begeistert, lachten und überschütteten sie mit Wortschwallen. Nachdem sich alle wieder beruhigt hatten, gab es noch Tee und Gebäck. Justus konnte sogar schon mit einigen wenigen Worten seinen Dank in dieser fremden Sprache ausdrücken.
Dann gingen Lucy und Justus vor die Tür um sich zu besprechen. Waren sie jetzt auf der Flucht? Sollten sie sich lieber stellen und auf einer Ausreise bestehen? War es möglich unerkannt weiter zu kommen? Was wäre der nächste Schritt?
Die Leute aus dem Flugzeug – die mit den Roten-Drachen-Kisten – würden sie sicher noch suchen. Lucy meinte:
Wir müssen in Bewegung bleiben, brauchen unauffällige Kleidung und …
… sollten Chinesisch lernen! rief Justus. Alle Schilder und überhaupt alles hier ist meist nur mit chinesischen Schriftzeichen versehen. Nur in großen Städten gibt es manchmal englische Beschriftungen für die Touristen. Und wir benötigen neue Handys. Unsere sind sicher registriert, und sobald die sich in einer Zelle einbuchen, können wir geortet werden.
Also verabschiedeten sie sich von ihren freundlichen Gastgeberinnen und machten sich auf einen Pfad in das nächste Dorf. Die Hirtenfamilie hatte ihnen den Weg mit vielen Gesten beschrieben und ihnen noch jede Menge Wegzehrung mitgegeben. Sogar ihre Kleidung war inzwischen gewaschen und getrocknet worden.
Der Himmel war zwar bewölkt, aber es war warm und die Vögel zwitscherten. Ein leichter Wind hielt die Insekten ab, und sie fühlten sich wie auf einer netten Wanderung, wären da nicht ihre Bordcases gewesen. Sie mussten diese in der Hand tragen, mal rechts, mal links, mal auf der Schulter, dann wieder vor dem Bauch. Die Rollen funktionierten auf den schmalen Trampelpfaden nicht.
Als sie nach etwa drei Stunden in ein größeres Dorf gelangten, waren sie erschöpft, verschwitzt und setzten sich auf eine Mauer an dem kleinen Marktplatz. Es war wohl Feierabendzeit. Etliche Menschen fuhren auf Fahrrädern an Ihnen vorbei, warfen zwar einen Blick auf sie, waren aber nicht besonders beeindruckt. Anscheinend kamen hier öfter Touristen vorbei. Vielleicht waren sie nicht weit von einer größeren Stadt entfernt.