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Wie viele Lügen verträgt eine Beziehung? Und wie viel Mut erfordert es, für das zu kämpfen, was man liebt? Als Jannik dem attraktiven Barista Tobias in dessen Café begegnet, ist es augenblicklich um ihn geschehen. Für ein Date erklärt er sich nach einem Missverständnis deshalb sofort bereit, Tobiasʼ Laptop zu reparieren – obwohl er nicht die geringste Ahnung von Technik hat. Doch auch Tobias ist nicht der erfolgreiche Geschäftsmann, als der er sich ausgibt: Sein einst angesagtes Café schreibt rote Zahlen und sein Verpächter und Ex-Lover droht ihm mit Rauswurf. Mehr als ein Mitleids-Date mit einem schüchternen Nerd kann er deshalb nicht gebrauchen – und erst recht nicht die Gefühle, die Jannik in ihm weckt. Aber hat ihre Liebe eine Zukunft? Oder zerstören Lügen und Geheimnisse ihre Beziehung, bevor sie richtig begonnen hat?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Tina Winter wurde 1985 im Rheinland geboren, lebt aber inzwischen im wunderschönen Münster. Ihrer Leidenschaft für Bücher folgend studierte sie Bibliothekswesen und begann 2016 damit, ihre eigenen Geschichten zu virtuellem Papier zu bringen. In ihren Gay-Romance-Romanen geht es um Männer auf der Suche nach sich selbst, auffallend oft um Kaffee und Topfpflanzen, und natürlich die ganz große Liebe.
Weitere Titel der Autorin:
Pictures of you
#vanlove: Ein Sommer mit dir
#vanlove: Weihnachten mit dir
Meine Zukunft in deinen Armen (Polarherzen 1)
Meine Vergebung in deinem Herzen (Polarherzen 2)
Sturmküsse auf Juist
Reasons to Stay (Canadian Hearts 1)
Laws of Devotion
Mehr Informationen und Updates unter:
https://tina-winter.de
E-Book-Ausgabe 2021
© Tina Winter
Christine Mörs
(alias Tina Winter)
c/o WirFinden.Es
Naß und Hellie GbR
Kirchgasse 19
65817 Eppstein
Lektorat: Nina C. Hasse – www.texteule-lektorat.com
Covergestaltung: Casandra Krammer – www.casandrakrammer.de
Covermotiv: © unsplash.com, ArtOfPhotos, Mitoria – Shutterstock.com
Der Typ hinter dem Tresen war der Wahnsinn. Groß, schlank und dunkelhaarig, dazu ein Dreitagebart, der seinen markanten Kiefer betonte. Und als wäre das nicht schon genug, hatte er das umwerfendste Lächeln, das Jannik seit langem gesehen hatte. Wenn seine Schwester Kathrin mit ihrer Besprechung fertig war, würde er ihr ordentlich die Meinung dafür geigen, dass sie ihm noch nie von dem Café mit dem kryptischen Namen neunkommafünf erzählt hatte.
»Kannst du dich mal entscheiden, ob du rein oder raus willst?«, erklang eine verärgerte Stimme hinter ihm. »Es gibt hier Leute, die Termine haben und nicht den halben Tag auf einen Kaffee warten können.«
Jannik fuhr zusammen, zog sich die Kopfhörer, aus denen leise ein Song von Dean Lewis drang, herunter und stolperte einen Schritt zur Seite. Der hübsche Unbekannte hatte ihn derart in seinen Bann gezogen, dass er wie angewurzelt im Eingang des Cafés stehengeblieben war.
»’tschuldigung«, murmelte er, doch der Wichtigtuer hatte sich bereits an ihm vorbeigedrängt. Auch gut. Die Situation war schon ohne die Aufmerksamkeit der anderen Gäste unangenehm genug.
Mit brennenden Wangen rückte Jannik den Laptop unter seinem Arm zurecht und stellte sich hinter den Anzugträger, der soeben bestellte und eine Mastercard Platinum über die Theke schob. Er musste irrsinnig wichtig sein, wenn er so viel Geld verdiente, dass er keine vier Euro in bar für einen Kaffee hatte.
Jannik wagte einen Blick über die blank polierte Kaffeemaschine, die den größten Teil des Tresens beherrschte. Mr. Sexy stand davor und bereitete den bestellten Kaffee zu. Seine Aufmerksamkeit galt der Maschine und seine Bewegungen waren flink und geübt, dennoch plauderte er entspannt mit einer Kundin, die über der Snackauswahl brütete.
Er empfahl ihr gerade ein Schokoladentörtchen zu ihrem Cappuccino, als Jannik ein Räuspern hörte.
Hastig wandte er sich von dem Unbekannten ab und schaute in das Gesicht eines anderen Mitarbeiters. Mit den blonden Haaren, der dicken Nerdbrille und den Tunneln in den Ohrläppchen war der nicht annähernd so attraktiv wie sein Kollege. Trotzdem wusste Jannik instinktiv, dass er einer von der Sorte war, die eine Party nie allein verließen.
»Was darf’s für dich sein?«, fragte der Typ und pustete sich lässig eine Strähne aus der Stirn.
Jannik schaute erneut zu Mr. Sexy, der die Kundin von dem Törtchen überzeugt hatte und es mit einem Lächeln aus der Vitrine nahm, bei dem sich auch Janniks Knie in zartschmelzende Schokolade verwandelten.
Wenn er auch zur Auswahl steht, am liebsten ihn …
»Äh … einen Kaffee?«, stammelte er und verfluchte sich in der nächsten Sekunde selbst für seinen peinlichen Auftritt. Wenn er so weitermachte, konnte er sich hier nie wieder blicken lassen. Was schade wäre, denn für dieses Lächeln würde er den morgendlichen Umweg zum Münsteraner Hafen gerne in Kauf nehmen. »Ich meine, einen Espresso. Doppelt.«
Blondie sah ebenfalls zur Seite und grinste. Offenbar hatte er seine Gedanken erraten. Weil Jannik mal wieder so leicht zu durchschauen war wie ein Fenster nach dem Frühjahrsputz.
Ihm wurde heiß vor Scham – was in seinem Fall leider bedeutete, dass sein Gesicht feuerrot zu leuchten begann. Scheiße. Wie es aussah, musste er seinen Kaffee künftig doch wieder am Domplatz trinken.
»Und was für einer soll es sein?«, fragte der Typ hinter der Theke. »Dunkel und kräftig oder lieber von der milden Sorte? Und bleibst du hier oder nimmst du ihn mit?«
Bildete Jannik sich das nur ein oder waren die Fragen tatsächlich so zweideutig? Die Art, wie der Kerl ihn ansah, ließ ihn Letzteres vermuten. Sprach er mit allen Kunden so? In dem Fall sollte er sich überlegen, ob er nicht seinen Beruf verfehlt hatte und zum Telefonsex wechseln.
»Kräftig … denke ich. Und ich bleibe hier.«
Blondie nickte und wenn Jannik nicht alles täuschte, war er mit der Antwort zufriedener, als er sein sollte. Immerhin ging es hier um Kaffee. Nur um Kaffee. »In dem Fall empfehle ich dir unsere Barista-Edition. Er ist etwas säuerlicher, aber der Geschmack von Haselnuss und Kakao könnte dir gefallen. Nimmst du Zucker?«
Jannik hörte die Frage, doch er konnte sie nicht beantworten, denn der heiße Unbekannte war zurück an die Kaffeemaschine getreten und sah ihn über die darauf abgestellten Tassen und Gläser hinweg an.
Na gut, vielleicht sah er nicht direkt ihn an, doch schon der kurze Blick, der Jannik streifte, genügte, um die Wärme aus seinen Wangen durch seinen ganzen Körper schießen zu lassen. Er schluckte. Was würde er darum geben, in diesen blauen Augen versinken zu dürfen …
»Schicker Laptop. Deiner?«
Jannik blinzelte und fuhr mit der Zunge über seine Oberlippe, bis er die Narbe spürte. Was hatte Blondie noch gleich wissen wollen? Ach ja, ob er Zucker in seinen Espresso wollte.
»Ja, danke.«
Er konnte sehen, wie der Typ über seine Antwort nachdachte und hatte das unbestimmte Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Aber statt etwas zu sagen, hob er lediglich die Schultern und tippte ein paar Zahlen in die altmodisch anmutende Kasse. »Macht 2,90.«
Um an das Portemonnaie in seiner Gesäßtasche zu kommen, legte Jannik Kathrins Laptop vorsichtig auf den Tresen. Wenn der Computer auch nur einen winzigen Kratzer abbekam, würde sie ihn nie wieder verleihen. Oder zumindest warten, bis die bestellte Tasche endlich kam und die provisorische Plastiktüte, in der sie ihm das Gerät mitgegeben hatte, ersetzte.
Blondie druckte einen Bon für die Haselnuss-Kaffee-Porno-Mischung und schob ihn zu seinem Kollegen, der bereits mit der nächsten Kundin schäkerte. Dann beugte er sich über die Theke, um den Laptop genauer zu betrachten. »Ist das dieses krasse Modell aus der Werbung?«
Jannik reichte einen Fünfer über den Tresen, während er wiederholte, was Kathrin bei seinem letzten Besuch am Wochenende begeistert erzählt hatte: »Ja, die aktuelle Serie, aber customized, also komplett selbst zusammengestellt. Er hat den neuesten Prozessor und 32 GB Arbeitsspeicher.« Was das bedeutete, hatte er extra gegoogelt, doch die technischen Hintergründe überstiegen seinen Horizont. Sicher wusste er nur, dass der Laptop dank Kathrins Modifikationen satte 3500 Euro gekostet hatte und damit mehr wert war als sein alter Fiesta. »Nicht das Beste, was aktuell auf dem Markt ist, aber nah dran.«
Obwohl er keine Ahnung hatte, wovon er sprach, schien seine Antwort dem Typen zu gefallen, denn er grinste erneut und zwinkerte ihm sogar zu, als er ihm das Wechselgeld in die Hand drückte. »Setz dich doch schon mal da drüben hin. Ich bringe dir deinen Kaffee, ja?«
Jannik folgte seiner Geste zu einem freien Tisch an der Fensterfront und presste die Lippen aufeinander. Er hasste es, derart auf dem Präsentierteller zu sitzen, und hätte sich lieber einen Tisch im hinteren Bereich des Cafés ausgesucht. Aber er hatte keine Lust auf noch mehr seltsame Kommentare.
»Okay«, murmelte er, klemmte sich den Laptop wieder unter den Arm und ging an den hinter ihm wartenden Gästen vorbei zu seinem Platz.
Tisch und Stuhl, über dessen Lehne er sein Jackett hängte, bevor er sich auf das Kissen fallen ließ, bestanden aus mattschwarzem Stahl, genau wie der Tresen, die Vitrine und die Regale unter der Wandtafel mit der Getränkeauswahl.
Jannik streifte die Kopfhörer ab und legte sie auf den Tisch. Im ersten Moment wirkte das Mobiliar des Cafés düster, doch auf den zweiten Blick dominierte aufgeräumte Eleganz. Unterschiedlich geformte Glühbirnen, die wie Stalaktiten an langen Seilen von der Decke hingen, tauchten den Raum in warmes Licht und ließen die bepflanzte Wand, deren sattes Grün den einzigen Farbtupfer in der Einrichtung darstellte, aufleuchten.
Jannik musterte die faustgroßen Moospolster, die dicht an dicht an der Wand saßen. Ob die echt waren? Und falls ja: Wie goss man sowas?
»Die ist cool, oder?«
»Ja«, erwiderte Jannik, ohne sich von der ungewöhnlichen Dekoration abzuwenden. Dann wurde ihm klar, wer die Frage gestellt hatte.
»Hi«, sagte Mr. Sexy, der mit einer Tasse an seinen Tisch getreten war. »Hier ist dein Espresso. Darf ich mich kurz setzen?«
Jannik war zu perplex, um zu antworten. Also nickte er bloß und sah fassungslos zu, wie der Typ die Tasse vor ihm abstellte und ihm gegenüber Platz nahm. Hatte er irgendwas verpasst?
»Hoffentlich schmeckt er dir«, sprach der andere Mann weiter. »Ich bin übrigens Tobias.«
»Jannik«, sagte Jannik heiser und zupfte mit übertriebener Sorgfalt sein Hemd zurecht, damit der Typ – Tobias – nicht bemerkte, wie heftig seine Hände zitterten.
Aus der Nähe sah er sogar noch besser aus. Ein schlichtes schwarzes Shirt, unter dessen linkem Ärmel die geometrischen Linien eines Tattoos hervorblitzten, betonte seine breiten Schultern und saß eng genug, um definierte Brustmuskeln und einen flachen Bauch erahnen zu lassen. Dazu die lässig verwuschelten Haare und seine Hände, die zwar kräftig aussahen, aber sicher unglaublich zärtlich sein konnten …
»Arbeitest du … Bist du hier Kellner?«
Tobias lachte und die Art, wie er dabei das Kinn senkte und zu ihm hoch grinste, ließ Janniks Haut kribbeln.
Er flirtet mit mir, durchfuhr es ihn mit der Wucht eines Stromschlags. Tobias steht auf Männer!
»Ich bin Barista, kein Kellner«, erklärte Tobias mit der Geduld von jemandem, der diese Frage nicht zum ersten Mal hört. »Das neunkommafünf gehört mir.«
»Oh«, hauchte Jannik dämlich. Zu mehr war er nicht in der Lage. Nicht, solange er gegen das drängende Bedürfnis ankämpfen musste, sich über den Tisch zu beugen und diese wundervollen Lippen zu küssen. Oder sich zumindest vorzustellen, es zu tun, denn natürlich würde er sich das niemals trauen. Nicht bei einem Mann wie Tobias, der gleich mehrere Ligen über seiner eigenen spielte.
»Und als Barista muss ich darauf bestehen, dass du den Kaffee probierst, bevor er kalt wird.« Da war es wieder, dieses sexy Lächeln. »Im Anschluss würde ich dich gerne was fragen.«
Jannik brauchte einen Moment, um sich an den Kaffee zu erinnern, den er bestellt hatte. Hastig nahm er die Tasse, wobei er sich den Inhalt beinahe über die Hand kippte, und trank einen Schluck. Der Espresso – Tobias’ Espresso – war heiß und bitter und … schmeckte genau wie jeder andere Kaffee, den Jannik bisher getrunken hatte. Keine Ahnung, wie Blondie auf Haselnuss und Kakao kam.
Tobias’ Blick folgte seinen Bewegungen und Jannik entging nicht, dass er ein wenig zu lang an der Narbe hängenblieb, die sich von seiner Oberlippe in gerader Linie bis zur Nase zog. Da, wo jeder Blick hängenblieb. Dieses Überbleibsel einer Operation in seiner Kindheit war eben nicht zu übersehen.
»Lecker«, sagte Jannik nach einem weiteren Schluck und stellte die Tasse vorsichtig wieder ab. Nicht, dass er vor lauter Nervosität noch Kathrins Laptop bekleckerte. »Also, ähm, was wolltest du mich fragen?«
Tobias schaute zwischen der Tasse und seinem Gesicht hin und her. Er wirkte enttäuscht. Weil Jannik nicht mehr zu seinem Kaffee einfiel? Aber was sollte er schon sagen? Er hatte von Kaffee in etwa so viel Ahnung wie von Wein: gar keine.
Tobias stieß ein leises Seufzen aus, bevor er das Lächeln zurück auf sein Gesicht zauberte. »Ich weiß, das klingt jetzt wahrscheinlich komisch, aber Aaron hat mir von deinem Laptop erzählt und ich dachte, du könntest mir vielleicht helfen.«
Jannik blinzelte verwirrt. Er? Wie könnte er Tobias helfen?
»Seit dem letzten Update bekomme ich meinen nämlich nicht mehr ans Laufen«, erklärte Tobias. »Was echt beschissen ist, weil sämtliche Daten des Cafés drauf sind.« Er zuckte mit den Schultern. »Klar, daran bin ich selbst schuld, wenn ich keine Backups mache. Aber wenn man ein eigenes Geschäft hat, geht das manchmal unter. Und da du dich anscheinend damit auskennst, habe ich gehofft, du könntest ihn dir vielleicht mal ansehen. Gegen Bezahlung natürlich.«
Jannik hörte seinen Ausführungen schweigend zu, obwohl das Rauschen in seinen Ohren laut genug war, um sogar seinen hämmernden Puls zu übertönen. Jetzt verstand er endlich, wieso Blondie – Aaron – vorhin so zufrieden gewirkt hatte. Er hielt ihn für den Besitzer des Laptops – und damit offenbar für einen Computerexperten.
Ein hysterisches Lachen stieg in Jannik hoch. Wenn Tobias nur wüsste, wie falsch er mit seiner Vermutung lag. Er hatte schon sein Smartphone nur mit Mühe und Not und unter reichlich Gefluche einrichten können, und sich Kathrins neuen Laptop nur geliehen, weil sein eigener sich jedes Mal aufhängte, wenn er versuchte, das Programmheft für den Chor zu bearbeiten.
»Du siehst nicht begeistert aus«, bemerkte Tobias. Die Verlegenheit stand ihm fast so gut wie sein Lächeln. »War auch nur so eine Idee. Tut mir leid, dass ich dich belästigt habe.«
Er schaute kurz zum Tresen, bevor er sich über den Nacken rieb und aufstand.
»Warte.«
Erst, als Tobias innehielt und auf ihn heruntersah, wurde Jannik klar, was er gesagt hatte. Er leckte sich über die Oberlippe. Was war bloß in ihn gefahren? Selbst wenn er seinen nicht existenten Erstgeborenen opferte, könnte er Tobias’ Computerproblem nicht lösen. Es sei denn …
Jannik holte tief Luft. Die Idee, die in seinem Kopf Gestalt annahm, war völlig bescheuert. Und Kathrin würde ihn umbringen, wenn er sie da reinzog. Aber er konnte – und wollte – Tobias nicht einfach so gehenlassen. Das hier war wahrscheinlich seine einzige Möglichkeit, einem Mann wie ihm wenigstens ein bisschen näherzukommen.
»Ich … könnte es ja mal versuchen.«
Allein für die Art, wie sich Tobias’ Gesicht aufhellte, lohnte sich die Lüge. Trotzdem bohrte sich das schlechte Gewissen wie die Krallen seines Katers Milow in Janniks Brust.
»Wirklich?«, fragte Tobias und trat so nah an den Tisch heran, dass Jannik sein Duft in die Nase stieg. Er roch besser, als es jede frisch geöffnete Packung Kaffee jemals könnte. »Und es macht dir echt nichts aus? Du musst das nicht tun, bloß, weil ich dich so überfalle.«
Jannik fummelte am Henkel seiner Tasse herum. Das hier war seine letzte Chance, den Irrtum aufzuklären. Stattdessen spürte er, wie er nickte und sich mit einem Selbstbewusstsein, das er nicht von sich kannte, zurücklehnte.
»Kein Problem. Ich kann ihn mir gerne mal ansehen.« Beziehungsweise Kathrin bitten, es zu tun. »Vielleicht lassen sich deine Sachen ja retten.«
»Du meinst die Daten?«
»Ja, genau. Die Daten.«
Idiot! Wenn er dir glauben soll, verwende wenigstens die Fachbegriffe!
»Okay, cool«, sagte Tobias fröhlich und schien zu Janniks Erleichterung keinen Verdacht zu schöpfen. »Ich geh kurz nach hinten und hole den Laptop.« Er drehte sich um und ging zwei Schritte, bevor er sich noch einmal zu ihm umdrehte. »Und dein nächster Kaffee geht natürlich aufs Haus.«
Jannik sah ihm nach, bis er in einem Raum hinter der Theke verschwand. Sein Herz raste und seine Gedanken überschlugen sich wie in einer Achterbahn mit Looping. Was passierte hier gerade? Hatte er diesem Mann, der jedes Kriterium für das Etikett Traumtyp erfüllte, wirklich angeboten, seinen Computer zu reparieren? War er komplett wahnsinnig geworden?
Nein, nur akut schwanzgesteuert.
Noch immer fassungslos über sich selbst zog er sein Smartphone aus der Gesäßtasche und entsperrte es. Er warnte Kathrin besser vor. Und übte schon einmal seinen besten Kleiner-Bruder-Hundeblick.
Bevor er die Nachricht abschicken konnte, kam Tobias zurück und stellte eine zweite Tasse sowie einen ziemlich ramponierten Laptop samt Lederhülle auf dem Tisch ab.
Jannik zog die Augenbrauen hoch. Selbst ohne das von Tobias beschriebene Problem hätte das Gerät seine besten Zeiten längst hinter sich.
Tobias verstaute den Laptop in der Tasche, legte einen Zettel dazu, auf dem wahrscheinlich das Passwort stand, und schob sie zu ihm. »Wenn du das hinbekommst, rettest du mir das Leben«, gestand er und sah dabei so süß aus, dass Jannik beinahe verzückt geseufzt hätte. »Und was die Bezahlung angeht –«
»Du musst mich nicht bezahlen«, platzte es aus Jannik heraus. Tobias den Nerd vorzuspielen war eine Sache. Auch noch Geld dafür zu nehmen, eine gänzlich andere, die er nicht mit seinem Gewissen vereinbaren konnte.
»Aber ich will dir etwas dafür geben. Du kennst mich schließlich gar nicht und opferst deine Freizeit. Wenn du allerdings kein Geld nimmst …« Tobias zögerte, bevor sich ein Ausdruck auf seinem Gesicht ausbreitete, der ein heißes Prickeln zwischen Janniks Beine jagte. »Gibt es vielleicht etwas anderes, das ich für dich tun kann?«
Da fiel Jannik eine Menge ein und sein Schwanz zuckte schon beim bloßen Gedanken daran. Obwohl auch sein Penis wissen musste, dass er jemanden wie Tobias nicht ins Bett kriegen würde. Nicht in tausend Jahren.
»Ähm … Ich würde … Ich meine …« Himmel, er musste aufhören, so zu stottern! »Vielleicht könnten wir … mal einen Kaffee zusammen trinken?«
Glückwunsch, Jannik. Das war fast ein vollständiger Satz.
Um Tobias’ Mundwinkel zuckte es und Janniks Blick blieb wie ein Magnet an seinen Lippen hängen. »Tun wir doch gerade.«
»Oh, klar.« Dämlich, dämlich, dämlich! »Oder was essen … Falls du Zeit hast.«
Tobias nippte genüsslich an seinem Kaffee und sah ihn über den Rand der Tasse hinweg an. »Fragst du mich nach einem Date?«
Ein Beben erfasste Janniks Körper. Tat er das?
»Keine Ahnung«, nuschelte er und trank den letzten Schluck Espresso, obwohl der inzwischen nur noch lauwarm war. Jetzt kam es: Erst die spöttische Nachfrage, ob er es ernst meinte, dann die mitleidige Versicherung, dass er sicher ein total netter Kerl war, und zu guter Letzt die Abfuhr. Wie hatte er auch nur im Traum auf die Idee kommen können, jemand wie Tobias würde mit ihm ausgehen?
»Vergiss es einfach.«
»Soll ich wirklich? Ich wollte nämlich gerade Ja sagen.«
Jannik starrte ihn an. Träumte er oder hatte Aaron sich einen Spaß erlaubt und ihm etwas in seinen Kaffee gemischt?
»Ist das dein Ernst?«
»Warum so erstaunt? Es war schließlich deine Idee. Und wenn das dein Preis für Laptop-Notfälle ist, bin ich gerne bereit, ihn zu zahlen.«
Jannik kratzte sein klägliches Selbstvertrauen zu einem Häufchen zusammen und nickte zaghaft. »Ich brauche noch deine Nummer. Damit ich dich anrufen kann, wenn ich bereit bin … Ich meine, wenn dein Laptop fertig ist. Nachdem ich ihn repariert und die Daten gerettet habe.«
Seine Hoffnung, Tobias würde über den peinlichen Teil seiner Ansprache hinwegsehen, zerschlug sich, als Jannik sein Grinsen bemerkte. Scheiße, wie sollte er ein Date überstehen, wenn er sich keine fünf Minuten mit Tobias unterhalten konnte, ohne sich zum Affen zu machen?
»Klar.« Tobias deutete auf sein Handy. »Schreib mir, wenn du bereit bist.«
Jannik entsperrte sein Smartphone und rief die Kontakte auf, dankbar für die Sekunde, in der er Tobias nicht ansehen musste. Da war definitiv irgendwas in seinem Kaffee gewesen, anders war das hier nicht zu erklären.
Er beobachtete Tobias, während der seine Nummer eintippte und ihm das Handy anschließend zurückgab.
Jannik überflog den Eintrag und konnte sein Glück kaum fassen. Tobias’ Nummer. Zwischen denen von Kathrins Mann Simon und Walter aus dem Chor. Wahnsinn.
»Danke.«
»Ich habe zu danken.« Tobias schob den Stuhl zurück und stand auf. »Ich würde gerne weiter mit dir plaudern, aber ich muss wieder an die Kaffeemaschine.«
»Oh,« entfuhr es Jannik. Irgendwie hatte er gehofft, noch etwas mehr über Tobias zu erfahren. »Klar. Du bist ja der Chef.«
»Bin ich«, bestätigte Tobias und nahm ihre Tassen. »Also, Jannik. War nett, dich kennenzulernen. Und vielen Dank nochmal.«
Jannik wartete, bis er wieder hinter der Theke stand. Dann rief er die angefangene Nachricht an Kathrin auf. Er wollte sie gerade abschicken, als sie ihm zuvorkam. Es täte ihr leid, aber sie hätte doch erst nach Feierabend Zeit für ihn. Offenbar dauerte die vorgezogene Besprechung mit ihrem Abteilungsleiter länger als erwartet. Er kam also völlig umsonst zu spät zur Arbeit in der Bank.
Jannik stand auf, löschte seine Nachricht und tippte eine neue.
Jannik, 9:12 Uhr
Sag mir Bescheid, wenn du Schluss machst.
Und habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, wie sehr ich dich liebe?
Kathrins Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Kathrin, 9:12 Uhr
Was hast du getan?
»Wenn ich das wüsste«, murmelte Jannik, streifte das Jackett über, setzte die Kopfhörer auf und drehte auf dem Weg nach draußen die Musik lauter.
Vielleicht war es am Ende eine Fügung des Schicksals, dass Kathrin ihn versetzte. So schuldete sie ihm einen Gefallen. Hoffte er zumindest.
Andernfalls war er nämlich ganz schön am Arsch.
Von seinem Arbeitsplatz hinter dem Tresen aus beobachtete Tobias, wie Jannik das Café verließ und sich draußen noch einmal verstohlen umdrehte, bevor er Richtung Hauptstraße davoneilte. Als könnte er gar nicht schnell genug von hier – oder seiner eigenen Courage – wegkommen.
Tobias’ Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. In den sieben Jahren, die er als Barista arbeitete, hatte er einiges erlebt. Doch die Begegnung mit dem schüchternen Nerd war selbst für ihn ungewöhnlich gewesen. Hoffentlich hielt Jannik sein Versprechen und brachte den Laptop schnellstmöglich zurück.
»Ist er weg?«, fragte Aaron, der am Kaffeevollautomaten stand und eine Blume in den Milchschaum eines Cappuccinos zauberte.
»Ja«, antwortete Tobias und wandte sich von dem Hof vor dem Café ab. »Und tu bitte nicht so, als hättest du uns nicht beobachtet.«
Aaron lachte. »Das war nur in seinem Interesse. So schockverliebt, wie der Kleine war, habe ich befürchtet, er kippt jeden Moment von seinem Stuhl.«
Tobias wusste genau, was er meinte. Auch ihm war Janniks Reaktion nicht entgangen. Nur deshalb hatte er ihn überhaupt um Hilfe gebeten. Und zugegeben, es war niedlich, wie Jannik versucht hatte, mit ihm zu flirten. Zu seinem Pech stand Tobias nicht auf schüchterne Jungs, die ständig rot anliefen und nicht einmal ihren Namen aussprechen konnten, ohne herumzustottern.
Bei dem Gedanken regte sich sein schlechtes Gewissen, aber Tobias kämpfte es erfolgreich beiseite. Das mit dem Date war schließlich Janniks Idee gewesen. Und selbst wenn am Ende nichts daraus wurde – was von Tobias’ Seite aus so sicher war wie das Amen in der Kirche – hatten sie ja beide etwas davon: Jannik sein ersehntes Date und er eine Reparatur und damit hoffentlich ein Punkt weniger auf seiner Liste, um den er sich sorgen musste.
»Aber ich kann’s verstehen«, fuhr Aaron fort, nachdem er den Cappuccino zu der jungen Frau vor dem Tresen geschoben hatte. »Wenn du nicht mein Boss wärst, würde ich es auch bei dir versuchen.«
»Die Mühe kannst du dir sparen, du bist nämlich absolut nicht mein Typ.«
Aaron stellte die Milch zurück in die Kühlschublade und stieß ihm auf dem Weg zu den Filterkaffeemaschinen den Ellbogen in die Seite. »Das sagst du nur, weil du nicht weißt, was dir entgeht. Ich bin eine Granate im Bett.«
»Wieso bist du dann noch Single?«
Die Frage entlockte Aaron ein derart dreckiges Grinsen, dass er sie sofort bereute. »Na, wäre doch schade, diese Fähigkeiten auf eine einzige Person zu beschränken, oder?«
Tobias verdrehte die Augen und setzte zu einer Antwort an, als die Glocke über der Tür erklang und er eine vertraute Stimme hörte.
»Streitet ihr schon wieder?«
Sie wandten sich gleichzeitig zu Sina um, die sich und ihren Babybauch zu ihrem Stammplatz in der Ecke am Fenster bugsierte. Tobias meinte, den Stuhl unter ihr ächzen zu hören. Wieder konnte er nur darüber staunen, dass sie nicht einmal der siebte Monat ihrer Schwangerschaft davon abhalten konnte, ihrem ehemaligen Arbeitsplatz einen Besuch abzustatten.
»Wir doch nicht«, antwortete Aaron. »Ich habe Tobias lediglich meine Meinung zu dem Date dargelegt, das er vorhin klargemacht hat.«
Tobias spießte ihn mit seinem Blick auf, doch es war zu spät. Sina hatte Blut geleckt.
»Ein Date?«, fragte sie und hob eine gepiercte Augenbraue, die unter ihrem schwarz gefärbten Pony verschwand. »Erzähl.«
»Ich glaube, die Frage geht an dich«, sagte Aaron und begrüßte betont freundlich den nächsten Kunden. »Einen wunderschönen guten Morgen. Was darf es sein?«
Tobias hatte große Lust, ihn zu töten. Was ihn zügelte, war einzig und allein die Gefahr schlechter Publicity, denn die konnte er noch weniger gebrauchen als einen Barista mit einem losen Mundwerk.
Seufzend wandte er sich wieder an Sina. »Was darf ich dir bringen?«
Sina schälte sich umständlich aus ihrer Jacke und legte einen tätowierten Arm über ihren Bauch. »Den besten Espresso des Tages, wie immer.«
Tobias lächelte. Diesen Dialog führten sie bei jedem ihrer Besuche und auch wenn es dämlich war, genoss er es. Momente wie dieser waren in den letzten Monaten immer seltener geworden.
»Kommt sofort.«
Er ging zum Regal hinter der Theke und holte die angebrochene Tüte mit seinen aktuellen Lieblingsbohnen herunter, einem fruchtigen Espresso, den er gerne als Cappuccino trank, der jedoch auch pur hervorragend schmeckte.
Mit der Tüte trat er vor die kleinste der drei Kaffeemühlen, füllte sie auf und lauschte dem vertrauten Brummen, mit dem sie die gerösteten Bohnen in feines Pulver verwandelte. Zurück an seiner Maschine leerte und reinigte er einen Siebträger, füllte frischen Kaffee hinein und ließ den Tamper einmal gekonnt um seine Hand wirbeln, bevor er ihn auf das Pulver setzte. Anschließend spannte er ihn wieder ein, stellte eine vorgewärmte Tasse auf das Gitter und schaltete die Maschine an.
Zufrieden sah er zu, wie der Espresso in die Tasse lief und dabei sein betörendes Aroma verströmte. Egal, wie oft er das hier machte, es begeisterte ihn immer noch genauso sehr wie beim ersten erfolgreichen Versuch vor acht Jahren.
Sina sah neugierig zu ihm auf, als er mit dem Espresso und einem frischen Croissant zu ihrem Tisch kam. Doch statt wie sonst sofort nach der Tasse zu greifen und sein Werk zu begutachten, ließ sie den besten Espresso des Tages links liegen und deutete auf den Platz gegenüber.
Zum zweiten Mal an diesem Morgen setzte sich Tobias an einen seiner Tische und stützte die Ellbogen darauf. »Das hier geht übrigens alles von meiner Arbeitszeit ab. Wir können schließlich nicht alle frei machen und uns umsorgen lassen.«
Sina deutete auf ihren Bauch. »Wir können gerne tauschen.«
»Und mir damit die Figur ruinieren?« Tobias grinste fies. »Nein, danke.«
»Lenk nicht ab, Adonis«, schoss Sina zurück. »Was ist das für ein Date, von dem Aaron gesprochen hat?« Sie hob die Hände, um ihn davon abzuhalten, sie zu unterbrechen. »Versteh mich nicht falsch, Tobias. Ich freue mich für dich. Ich habe nur nicht so bald damit gerechnet. Nicht nach der Sache mit Martin.«
Tobias schaute durch die Fensterfront nach draußen, damit sie nicht sah, wie sehr ihn die Erwähnung dieses Namens traf. Auch noch vier Monate nach der Trennung.
»Aaron übertreibt. Es ist kein richtiges Date.«
Sina nahm ihre Tasse und schwenkte sie leicht, bevor sie an dem Espresso schnupperte und einen Schluck trank. »Was ist es dann?«
»Eine geschäftliche Vereinbarung. Er repariert meinen Laptop und ich gehe im Gegenzug mit ihm aus.«
Sina stellte die Tasse zurück und zupfte ein Stück von ihrem Croissant ab. »Und wer ist er? Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.«
Tobias seufzte. Er hatte keine Lust, es ihr zu erzählen und sich anschließend anzuhören, er würde den armen Nerd ausnutzen. Das tat er nämlich nicht. Na gut, vielleicht ein bisschen.
»Er heißt Jannik und kennt sich mit Computern aus. Ich habe ihn gefragt, ob er mir helfen kann, und er hat zugesagt. Und ja, ich wollte ihn natürlich bezahlen, aber er hat mich stattdessen nach einem Date gefragt.«
Sina nickte. »Und ist er dein Typ?«
Die Frage brachte Tobias zum Lachen. »Nein.«
»Wieso nicht? Ist er haarig oder dick oder hat Tentakel statt Arme?«
»Das nicht«, sagte Tobias langsam, während er sich Jannik noch einmal ins Gedächtnis rief. »Er ist kein Totalausfall.« Und es gab sicher Männer, die auf unsichere Computerfreaks mit rotbraunen Locken und blasser Haut abfuhren. »Aber nichts für mich. Und ich habe momentan sowieso weder Zeit noch Nerven für Dates oder Beziehungen.«
»Schade.« Sina klang ehrlich enttäuscht. »Ich hatte so gehofft, dass mir meine Ochsentour hierher mit einer hübschen Portion Klatsch und Tratsch versüßt wird.«
»Dafür musst du wohl nochmal herkommen.«
»Sieht so aus. Und jetzt geh gefälligst wieder an die Arbeit.«
»Jawohl, Eure Hoheit. Genießt Euer Frühstück.«
Sina wedelte mit der Hand, um ihn wenig royal zu entlassen, und Tobias kehrte nach einer knappen Verbeugung in sein Reich hinter dem Tresen zurück.
Viel zu tun hatte er allerdings nicht, denn abgesehen von ein paar Geschäftsleuten aus den umliegenden Gebäuden und den üblichen WLAN-Schnorrern, die sich drei Stunden an einen einzigen Espresso klammerten, war das Café leer. Wie so oft in letzter Zeit.
»Da bist du ja wieder«, frotzelte Aaron aus dem winzigen Lagerraum, in dem sich neben ihren Vorräten auch die Spülmaschine befand, die er gerade befüllte. »Dachte schon, sie lässt dich gar nicht mehr gehen.«
»Und wem habe ich das zu verdanken? Dafür könnte ich dich feuern, ist dir das klar?«
Aaron kehrte in den Thekenbereich zurück und lächelte ihn honigsüß an. »Ist es. Aber das tust du nicht, du brauchst mich schließlich.«
»Und wofür? Wenn ich dumme Sprüche will, melde ich mich bei Twitter an.«
»Unterhaltung«, sagte Aaron schlicht. »Und als Vermittler von Computerreparaturen.«
Zumindest der letzte Punkt stimmte, das musste Tobias widerwillig zugeben. Trotzdem machte er sich eine geistige Notiz, es Aaron bei nächster Gelegenheit heimzuzahlen.
»Chef?«
»Hm?«
»Du siehst aus, als würdest du bereits meine Beerdigung planen.«
Jetzt lachte Tobias doch. Eins musste man Aaron lassen: Er verfügte über Menschenkenntnis. Wahrscheinlich war er deshalb so gut in seinem Job.
Während Aaron wieder nach hinten verschwand, um die Spülmaschine einzuschalten, bediente Tobias die nächsten Kunden, zwei Designer aus einem der renovierten Glaspaläste am Hafen, die jeden Morgen kamen.
»Doppelter Espresso und großer Milchkaffee?«
Der Größere der beiden, ein hellblonder Typ namens Lukas, lächelte, was seine niedlichen Grübchen betonte. »Jepp, wie immer.«
Tobias kassierte und nahm zwei Tassen von der Siebträgermaschine. Lukas war heiß. Aber leider stockhetero.
Er hatte die Getränke der beiden gerade fertig und sich noch ein letztes Lächeln von Lukas abgeholt, als er draußen ein vertrautes Rattern hörte.
»Post ist da!«, rief er nach hinten.
»Komme!«, brüllte Aaron zurück und schoss im nächsten Moment um ihn herum zur Tür.
Tobias beobachtete ihn neugierig und obwohl nicht er es war, der auf das Prüfungsergebnis der Ausbildung zum Fußballtrainer wartete, schlug sein Herz schneller.
»Und?«, fragte er, als Aaron mit einem Bündel Briefe zurückkam und einen davon schon im Gehen aufriss.
»Gleich«, sagte Aaron, ohne von dem Brief aufzusehen. »Du musst übrigens auch raus, Gerd hat ein Einschreiben für dich.«
Ein ungutes Gefühl breitete sich in Tobias’ Magengegend aus, während er Aarons Geste vor das Café folgte.
»Morgen, Gerd.«
»Gleichfalls«, grüßte Gerd zurück und hielt ihm einen Zettel hin. »Hätte ihn ja deinem Kollegen mitgegeben, aber Vorschrift ist Vorschrift.«
Tobias nickte und quittierte den Empfang, ohne einen Blick auf den Zettel zu werfen. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt dem Brief, den Gerd ihm überreichte. Er kam direkt aus Martins Büro. Scheiße.
»Danke«, murmelte er und musste für ein paar Sekunden dagegen ankämpfen, nicht die wenigen Meter zum Hafenbecken zu laufen und den Brief ungeöffnet hineinzuwerfen. »Kann ich Ihnen noch was Gutes tun?«
Gerd winkte ab und schwang sich wieder auf sein gelbes Fahrrad. »Keine Zeit. Beim nächsten Mal aber gerne.«
»Okay«, hörte Tobias sich sagen, doch seine Gedanken waren längst woanders. Was wollte Martin von ihm? Und wieso sagte er es ihm nicht persönlich, sondern schickte ein verdammtes Einschreiben?
»Alles in Ordnung?«, fragte Sina, als er zurück ins Café kam. »Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
Hatte er auch. Den Geist der beiden Jahre, die er an Martin verloren hatte.
»Nein, alles bestens. Sicher nur eine Info über anstehende Bauarbeiten oder sowas. Hoffentlich ohne Baugerüst und Lärm. Ich habe keine Lust, wochenlang in einer Baustelle zu arbeiten.«
Sina schien nicht überzeugt, doch nach kurzem Zögern widmete sie sich dem Rest ihres Croissants.
Und Aaron sah nicht so aus, als hätte er ihnen überhaupt zugehört, denn er hielt sein Smartphone in der Hand und tippte in Windeseile darauf herum.
»Lass mich raten: bestanden?«
Aaron blickte von seinem Handybildschirm auf und strahlte ihn an. »Vor dir steht der neue Trainer der E-Jugend.«
Tobias rang sich ein Lächeln ab. »Gratuliere. Aber denk dran, dir deine private Post zukünftig wieder nach Hause schicken zu lassen. Ich bin schließlich keine Packstation.« Er fummelte an dem Umschlag herum. »Ich bin kurz draußen, ja?«
»Klar. Ich rufe, wenn was sein sollte.«
Tobias klopfte ihm auf die Schulter und schob sich an ihm vorbei in den Lagerraum, an dessen Ende eine Feuerschutztür ins Freie führte. Sein Magen rumorte und als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, hätte er sich am liebsten übergeben. Er atmete ein paarmal tief durch, dann riss er den Umschlag auf. Der enthielt einen ganzen Stapel Papier, doch schon die erste Seite genügte, um ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Es war die Kündigung für das Ladenlokal.
Taubheit breitete sich in ihm aus und der Text verschwamm zu grauem Brei. Was ihm auch nicht half, denn die Botschaft war eindeutig: Martin schmiss ihn aus seinem Café. Gesetzte Frist: sechs Wochen.
Seine Finger zitterten, als er sein Smartphone aus der Tasche zog und Martins Nummer aufrief. Es war Wochen her, seit sie zuletzt miteinander geredet hatten, und er würde einiges dafür geben, das letzte Gespräch, bei dem er Martin mitten in der Nacht und völlig betrunken angerufen hatte, aus seinem und Martins Gedächtnis zu löschen. Aber das hier war anders. Hier ging es um mehr als sein gebrochenes Herz. Hier ging es um seinen Lebenstraum.
Er legte den Kopf in den Nacken und schloss für einen Moment die Augen, bevor er auf den grünen Hörer drückte. Was Martin gleich auch sagte, er durfte nicht wieder die Fassung verlieren.
Es klingelte viermal, bis Martin ranging und mit der tiefen Stimme, die Tobias so liebte, seinen Namen sagte. »Was willst du?«
Tobias schluckte hart. Der abweisende Tonfall traf ihn. Noch immer. »Kannst du dir das nicht denken? Immerhin hast du mir diesen beschissenen Brief geschickt!«
»Worüber regst du dich auf? Es ist die Kündigung für mein Ladenlokal und ich räume dir eine großzügige Frist ein, um auszuziehen. Was ich nicht müsste, nebenbei gesagt, da du mit der Pacht im Rückstand bist.«
Kälte griff nach Tobias’ Herz. Als Martin mit ihm Schluss gemacht hatte, hatte er genau dieselbe Frage gestellt. Als wären die zwei Jahre davor nichts gewesen. Als hätte es das Wir, das er so leichtfertig fortwarf, nie gegeben.
»Du hast es mir versprochen. Du hast gesagt, ich bekomme noch sechs Monate. Das kannst du mir nicht antun!«
»Du hattest Zeit genug. Trotzdem sehen die letzten Zahlen nicht besser aus.«
»Weil ich noch nicht alles verbucht habe.«
»Dann hol das nach.«
Tobias atmete tief durch. »Das kann ich nicht«, gestand er dann. Was nicht nur an seinem kaputten Laptop lag.
Als er letztes Jahr zugestimmt hatte, das neunkommafünf nach einer Übergangszeit von Martin zu übernehmen, war er überzeugt gewesen, es auch allein hinzukriegen. Wie schwer konnte es schon sein, sich neben Espresso und Latte Art auch um die Buchhaltung zu kümmern? Zumal Martin versprochen hatte, ihm finanziell den Rücken freizuhalten, bis er auf eigenen Beinen stand.
Daher hatte sich Tobias keine großen Gedanken gemacht, als das Café nach ein paar Monaten nicht mehr so gut lief wie kurz nach der Eröffnung. Er brauchte einfach ein wenig Zeit, sich in seine neue Rolle als Geschäftsführer einzufinden. Zumindest hatte er sich das eingeredet. Denn als nach der letzten Deutschen Barista-Meisterschaft erst ihre Beziehung und anschließend das neunkommafünf zunehmend in die roten Zahlen rutschte, konnte auch er die Probleme nicht länger ignorieren. Inzwischen brachten ihn allein die Gehälter für Aaron und seine Aushilfe und die wöchentlichen Warenlieferungen an den Rand des Ruins, von der Pacht, die Martin von ihm verlangte, ganz zu schweigen.
»Das ist aber dein Job. Und wenn du nicht einmal das hinkriegst, wie willst du dann ein Geschäft führen?«
»Ich könnte es, wenn du mich nicht fallengelassen hättest. Wenn du mich unterstützen würdest und wir wieder zusammen –«
»Du übersiehst eine Sache, Tobias«, unterbrach Martin ihn schroff. »Ich bin nicht dein Freund. Ich bin Geschäftsmann.«
»Ja, das hast du mehr als deutlich gemacht«, fauchte Tobias zurück und war selbst überrascht, wie ätzend er klang. »Hauptsache, du hattest jemanden, den du nach der Arbeit ficken konntest. Alles andere war dir doch von Anfang an egal.«
Am anderen Ende der Leitung stieß Martin ein genervtes Stöhnen aus. »Ich werde jetzt auflegen. Wenn du noch etwas zu klären hast, wende dich an meine Anwältin. Die Kontaktdaten findest du in den Unterlagen.«
»Du kannst mir nicht kündigen!« Tobias würde sich nicht derart abwürgen lassen, nicht dieses Mal. »Ich will wissen, warum du –«
Doch Martin legte einfach auf.
Die darauffolgende Stille senkte sich wie eine schwere Last auf Tobias’ Schultern, bis er das Gefühl hatte, nicht länger aufrecht stehen zu können. Seine Knie zitterten, genau wie die Hand, die das Smartphone umklammerte, bis er glaubte, es knirschen zu hören.
Sechs Monate. Das war die Frist, die Martin ihm zur Rettung des neunkommafünf gewährt hatte, als er kurz vor der endgültigen Übergabe die Zahlen gesehen und mit dem Ende ihrer Geschäftsbeziehung gedroht hatte. Ein halbes Jahr, von dem erst die Hälfte um war. Drei Monate, in denen Tobias alles versucht hatte. Scheiße, er hatte sich den Arsch aufgerissen! Doch als hätte Martin ihm nicht schon weh genug getan, als er ihre Beziehung eine bloße Affäre und seine Gefühle für ihn eine hoffnungslose Schwärmerei genannt hatte, verpasste er ihm jetzt den Todesstoß.
Nein. Verdammt nochmal, nein! Er würde das nicht hinnehmen. Er würde nicht hier stehen und zusehen, wie alles, was er sich aufgebaut hatte, einfach in sich zusammenfiel.
Tobias krallte die Finger in den Brief. Das neunkommafünf gehörte ihm. Und er würde es nicht aufgeben. Niemals!
Als er zurück ins Café kam, sagte Aaron gerade etwas zu Sina, das beide zum Lachen brachte, bevor sie sich zu ihm umdrehten.
Tobias blieb stehen und sah unsicher zwischen den beiden hin und her. Redeten – und lachten – sie etwa über ihn? Hatten sie das Telefonat hier drinnen hören können?
»Hey«, begrüßte Sina ihn und wedelte mit Aarons Brief. »Sieht so aus, als bräuchtest du demnächst jemand Neues für die Wochenenden.«
Tobias’ Schultern sackten nach unten, doch der Rest seines Körpers blieb angespannt. »Dürfte nicht allzu schwer sein, einen Ersatz für den Trottel zu finden.«
Der Kommentar brachte Aaron zum Grinsen, aber Tobias entging nicht, wie er ihn musterte. Als wäre er ein Vulkan, der jeden Moment ausbrechen konnte. Was der Wahrheit beängstigend nahekam.
»Kommst du eine Weile allein klar? Ich muss noch was erledigen.«
»Klar, Chef.«
»Danke.«
Wie befürchtet wich Sina ihm nicht von der Seite, als Tobias zum Schrank mit seinen Sachen ging, die Lederjacke herauszog und den Brief in eine Seitentasche stopfte.
»Wenn es dir nicht gut geht, ruf doch Najim an, damit er Aaron hilft. Er hat heute keine Uni, oder?«
»Nein«, bestätigte Tobias, nicht im Mindesten erstaunt, dass Sina den Stundenplan seiner Aushilfe so gut kannte wie er selbst. »Und es ist alles okay. Ich habe nur noch was zu erledigen.«
Sina stellte sich in den Durchgang zum Gästebereich und verschränkte die Arme über ihrem Bauch. »So siehst du aber nicht aus. Was stand in dem Brief?«
Tobias’ Finger begannen wieder zu zittern, aber dieses Mal richtete sich die Wut nicht auf Martin. »Ich wüsste nicht, was dich das angeht. Außerdem würde ich euch bitten, eure Privatgespräche nicht innerhalb der Arbeitszeit zu führen.«
Sina starrte ihn an und Tobias musste das Flackern in ihren Augen nicht sehen, um zu wissen, dass er sie verletzt hatte. Er hatte das nicht gewollt. Aber er würde komplett ausflippen, wenn sie ihn noch eine Sekunde länger hier festhielt.
Das schien auch Sina klar zu werden, denn sie trat ohne ein weiteres Wort zur Seite und ließ ihn vorbei.
»Bin bald wieder da.«
Gleich nachdem er Martin gezeigt hatte, wie es aussah, wenn er sich wirklich aufregte.
»Warum kommen Sie erst jetzt, Herr Siebert?«, begrüßte ihn Frau Olbrich schrill, nachdem Jannik seine Jacke in den Garderobenschrank gehängt hatte. »Ihre Kollegen ertrinken in Arbeit, während Sie in Ruhe ausschlafen.«
Jannik schloss die Schranktür und presste die Lippen aufeinander, um sich davon abzuhalten, den Kommentar, der ihm auf der Zunge lag, auszusprechen. Hatte seine Serviceleiterin nichts Besseres zu tun, als wie ein Terrier hinter den Schaltern auf ihn zu warten?
»Ich war bei meiner Schwester«, erwiderte er schließlich zähneknirschend und verfluchte sich innerlich, weil es wie eine Entschuldigung klang. Bei den Überstunden und Zusatzschichten, die er machte, sollte es ja wohl drin sein, einmal im Jahr etwas später in die Geschäftsstelle zu kommen. Zumal er sogar Bescheid gesagt hatte, damit seine Berater und die ersten Kunden nicht unnötig auf ihn warteten.
»Na, dann will ich das mal durchgehen lassen«, sagte Frau Olbrich gnädig und zupfte an ihrem geblümten Halstuch herum, dessen vorherrschender Rotton perfekt zu ihren Schuhen und ihrem Lippenstift passte. »Immerhin sind Sie ja meistens pünktlich.«
Meistens?, echote Jannik in Gedanken. Jeden verdammten Tag, seit ich vor acht Jahren meine Ausbildung zum Bankkaufmann angefangen habe. Was Frau Olbrich wissen musste, immerhin war sie die Dienstälteste der Filiale und hatte erst letztes Jahr unter großem Trara den obligatorischen Blumenstrauß zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum bekommen.
»Danke«, brummte er, hängte sich die Tasche mit Tobias’ Laptop wieder über die Schulter und klemmte sich den von Kathrin unter den Arm. Hoffentlich war Nadine an ihrem Platz. Nach der Sache mit Tobias brauchte er dringend Ablenkung, bevor er noch etwas Dummes tat. Wie dem sexy Barista eine Nachricht zu schreiben. Oder ihn gar anzurufen und sich noch lächerlicher zu machen als ohnehin schon.
Frau Olbrich betrachtete ihn wie einen unartigen Enkel. Dann deutete sie auf die beiden Computer. »Was haben Sie damit vor? Eine von diesen LAN-Partys?«
Jannik musste sich zwingen, nicht zu lachen. Sogar er wusste, dass die letzten echten LAN-Partys gelaufen waren, als er noch zur Schule ging.
»Das sind nicht meine. Ich bewahre sie nur auf.«
»Aha«, machte Frau Olbrich in einem Ton, der verdeutlichte, dass sie eine weitere Erklärung von ihrem unzuverlässigen Mitarbeiter erwartete. Und Jannik war kurz davor, sie ihr zu geben, schon allein, damit sie keine Gerüchte über ihn verbreitete. Auf der anderen Seite gab es in ganz Münster keine Person, mit der er weniger über seinen Deal mit Tobias reden wollte.
Er unterdrückte ein Seufzen und deutete an ihr vorbei zu seinem Schreibtisch. Die Papierstapel darauf waren seit gestern Abend auf die doppelte Höhe angewachsen. »Darf ich? Ich habe einiges aufzuarbeiten und fange lieber gleich damit an.«
Zu seiner Erleichterung gab sich Frau Olbrich mit seiner Ausrede zufrieden und schwebte in Richtung Büro des Geschäftsstellenleiters davon.
Jannik sah ihr nach, bis sie hinter der Milchglastür verschwunden war. Hoffentlich hatte sie wirklich eine Besprechung mit Herrn Steinhauer und erzählte ihm nicht bloß brühwarm von den neuesten Verfehlungen ihrer Untergebenen. Er hatte keine Lust darauf, Gegenstand des allgemeinen Tratsches zu sein oder gar zum Mitarbeitergespräch antreten zu müssen. Er mochte Herrn Steinhauer, trotzdem war es ihm am liebsten, wenn sein Vorgesetzter ihn in Ruhe seine Arbeit machen ließ und seine Existenz bestenfalls komplett vergaß.
Er hatte die beiden Laptops gerade in die unterste Schublade seines Rollwagens geschoben, als sich erst eine Tasse und anschließend ein von blonden Haaren umrahmtes Gesicht in sein Blickfeld schoben.
»Hat die alte Olbrich wieder ihren mütterlichen Charme über dir ausgekippt?«, fragte Nadine, setzte sich auf die Kante seines Schreibtischs und überkreuzte die Füße. Ihre Beine steckten in der neuen grauen Stoffhose, von der sie ihm am Wochenende vorgeschwärmt hatte. Und sie hatte recht, sie passte perfekt zu ihrem Lieblingsblazer. »Ich habe dir schon so oft gesagt, dass du außerhalb der Reichweite ihrer Krallen bleiben musst, wenn dir dein Leben lieb ist.«
»So alt ist sie gar nicht.«
Seine Kollegin verdrehte die Augen. »Das ist der Teil, der dich stört? Manchmal bist du ein gruselig guter Mensch.«
Jannik zuckte mit den Schultern. Er hatte nun einmal keine Lust, über Kollegen oder Vorgesetzte zu lästern. Ihm fiel sowieso nie etwas ein und wenn doch, war es in der Regel eher peinlich als treffend. Er war eben nicht so extrovertiert wie Nadine.
Nadine nippte an ihrem Kaffee und blätterte durch einen der Stapel auf seinem Tisch.
»Hast du nichts zu tun?«, fragte Jannik, als sie eine der Mappen öffnete. Er ahnte, was jetzt kam und auf die Diskussion hatte er sogar noch weniger Lust als auf ihre Kommentare zu Frau Olbrich.
»Das hier ist keiner deiner Kunden«, erwiderte Nadine, ohne auf seine Frage einzugehen, legte die Mappe zur Seite und öffnete die nächste »Und das hier auch nicht. Hast du dich wieder von Melanie bequatschen lassen, ihre Arbeit zu machen?«
Jannik nahm ihr die Mappe ab und legte sie zurück auf den Stapel. »Ich helfe ihr nur. Du weißt doch, wie viel sie wegen der Jungs um die Ohren hat.«
»Die Jungs«, wiederholte Nadine, »sind zwölf und fünfzehn Jahre alt und den ganzen Tag in der Schule. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass sie dich ausnutzt?«
»Und wenn schon«, brummte Jannik, ließ sich in seinen Drehstuhl fallen und schaltete seinen Computer ein. »Ist ja nicht so, als würde ich in Arbeit ersticken.«
»Ach, jetzt auf einmal? Das klang am Samstag noch anders.«
»Da war ich schlecht drauf. Und du hast mich gedrängt, was zum allgemeinen Gejammer über unsere Jobs beizutragen.«
»Gedrängt?« Nadine schnaubte. »Dafür hattest du eine ganze Menge zu sagen. Was ist zum Beispiel mit der Fortbildung, die du schon so lange machen willst? Hast du dich endlich dafür beworben oder wieder jemandem den Vortritt gelassen, der viel schlechter dafür geeignet ist?«
»Christoph ist vier Jahre länger hier als ich und hat sich im Gegensatz zu mir schon zweimal beworben.«
»Und ist beide Male abgelehnt worden, weil er für Steinhauer nicht für den Aufstieg in Frage kommt. Ganz im Gegensatz zu dir.«
»Das weißt du doch gar nicht«, erwiderte Jannik, wich ihrem anklagenden Blick aus und meldete sich im System an. Automatisch öffnete sich sein Mailprogramm und lud die neuesten Nachrichten. Achtundvierzig seit gestern Abend. Zusammen mit den Aufträgen auf dem Tisch stand ihm ein langer Arbeitstag bevor.
»Und du wirst es auch nicht erfahren, wenn du es nicht versuchst.« Nadine tippte mit der Spitze ihres Ballerinas gegen seine Schublade. »Wieso hast du zwei Laptops dabei? Ich dachte, du wolltest Kathrin ihren zurückbringen.«
»Hatte ich auch vor, aber sie hatte keine Zeit. Der andere gehört ihr nicht.«
»Wem gehört er dann? Deiner ist es jedenfalls nicht.«
Jannik stieß ein nervöses Lachen aus. »Bist du neuerdings Detektivin?«
»Nein. Ich merke auch so, wenn du etwas vor mir verheimlichst.« Sie beugte sich zu ihm runter und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Mir kannst du’s sagen.«
»Du meinst, dir muss ich es sagen.«
Nadine lachte. »Stimmt, aber das klingt nicht so freundlich. Also?«
Jannik seufzte. Er musste dringend an seinem Pokerface arbeiten. »Er gehört einem Mann, den ich heute Morgen kennengelernt habe.«
Wie befürchtet hatte das Geständnis in etwa die Wirkung einer Handgranate, die er mit gezogenem Stift zwischen ihnen auf den Teppichboden fallen ließ.
»Was?«, entfuhr es Nadine laut genug, um Susanne, die wenige Meter entfernt am Schalter stand, auf sie aufmerksam zu machen. »Ich meine: Wie kam es dazu? Nach deinem letzten Date mit diesem sexbesessenen Arschloch aus der App habe ich gedacht, du willst erstmal keine Typen mehr treffen.«
»Danke für die Erinnerung«, sagte Jannik sarkastisch. Er hatte den Kerl, der schon in der Bar die Hand in seinen Schritt geschoben hatte, gerade verdrängt. So viel zu: Bin auf der Suche nach was Festem. »Und ich habe mich nicht mit ihm getroffen. Das Ganze war purer Zufall. Ich habe in einem Café darauf gewartet, dass Kathrins Besprechung vorbei ist und er hat mich angesprochen. Er ist der Besitzer.«
»Und er hat dich einfach angequatscht und dir dann seinen Computer gegeben? Tauscht man heutzutage keine Nummern mehr aus?«
Jannik spürte, wie das Blut in seinen Kopf stieg. »Haben wir doch. Sein Laptop ist kaputt und er hat mich gefragt, ob ich ihn reparieren kann.«
Seine Kollegin hatte sichtlich Mühe, nicht zu lachen. »Du?«, sagte sie dann. »Einen Computer reparieren? Du, der es nicht mal hinbekommt, sein Smartphone in den Nachtmodus umzustellen?«
Jannik stöhnte. »Glaubst du, ich weiß nicht, wie das klingt? Aber er ist echt heiß und als er mich gefragt hat, konnte ich ihm doch nicht sagen, dass ich keine Ahnung von dem Kram habe.«
»Also hast du einen auf Supernerd gemacht?«
»So in etwa«, gab Jannik zu. Gott, wenn er so darüber nachdachte, war es tatsächlich komplett bescheuert. Worauf hatte er sich da bloß eingelassen?
»Und was kriegst du, wenn du es schaffst?«
»Nichts.«
»Wie, nichts? Heißt das, du machst das alles für ein Lächeln?«
Jannik verbarg sein brennendes Gesicht, indem er betont geschäftig die letzte Rundmail von Frau Olbrich aufrief. Was er sich genauso gut sparen könnte, denn seine beste Freundin roch es auf zehn Kilometer gegen den Wind, wenn er log. »Er hat mir ein Date versprochen. Aber keine Sorge, ich werde nicht hingehen.«
»Warum? Wenn du schon deinen ganzen Mut zusammengekratzt hast, ihm zuzusagen, kannst du doch nicht einfach aufgeben.«
»Schönen Dank auch«, sagte Jannik beleidigt.
»So habe ich das nicht gemeint. Im Gegenteil. Ich finde es toll, dass du über deinen Schatten gesprungen bist. Wieso versuchst du es nicht einfach mit ihm?«
Musste sie ihn das ernsthaft fragen? Immerhin hatte sie mit ihrer Analyse – wenn auch unbeabsichtigt – voll ins Schwarze getroffen.
Jannik scrollte durch seinen Posteingang. Sein letztes wirklich gutes Date hatte er mit Ben gehabt. Und der hatte ihn trotzdem vier Wochen später für einen Fitnesstrainer aus Stuttgart verlassen. Nadine konnte sich also entschuldigen, so viel sie wollte, es änderte nichts an der Wahrheit.
»Weil er der Wahnsinn ist. Und ich bin eben ... ich.«
Nadine stellte ihre Tasse auf den Tisch, umfasste die Lehne seines Stuhls und drehte ihn, um ihn dazu zu zwingen, sie anzusehen. »Ich mag diesen Jannik. Und auch dieser Wahnsinnskerl wird ihn mögen, wenn du ihm die Chance dazu gibst.«
Der Versuch, ihn zu trösten, war so lächerlich, dass Jannik gegen seinen Willen lachen musste. »Ich muss mich korrigieren. Du solltest nicht Detektivin werden, sondern Ratgeber für unglückliche Singles schreiben.«
»Ist mein Plan B«, erwiderte Nadine. Weiter kam sie nicht, denn Janniks Telefon klingelte.
Er schaute aufs Display und war zum ersten Mal in seinem Leben dankbar, den Namen ihrer Serviceleiterin darauf zu lesen.
»Da muss ich rangehen. Wir reden später weiter, okay?«
Nadine hüpfte von der Tischkante. »Beim Mittagessen. Wieder in die Arkaden?«
Jannik nickte und scheuchte sie zurück an ihren Schreibtisch, bevor er nach dem Hörer griff.
»Frau Olbrich. Was kann ich für Sie tun?«
Zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte Tobias die Treppe zu Martins Wohnung hinauf.
Er hatte es zuerst in seinem Büro versucht, wo ihn Martins Sekretärin mit dem Hinweis, er sei heute im Home-Office, abgewiesen hatte. Also hatte sich Tobias ins Auto gesetzt und war ans andere Ende der Stadt und zu Martins Wohnung gerast.
Die Wohnungstür, vor der er schließlich schwer atmend stehenblieb, war verschlossen, aber das hatte Tobias nicht anders erwartet. Er hatte nicht geklingelt, sondern war mit einem Nachbarn ins Haus gekommen. Außerdem hatte er sich bewusst nicht angekündigt. Er wollte Martin nicht die Chance geben, ihn abzuweisen oder vor ihm zu flüchten.
Automatisch tasteten seine Finger nach dem Schlüsselbund in der Gesäßtasche seiner Jeans, bis ihm einfiel, dass Martins Schlüssel nicht mehr daran hing. Bei ihrem letzten Streit vor ihrer endgültigen Trennung hatte er ihn Martin vor die teuren Lederschuhe geworfen und war anschließend wutschnaubend aus der Wohnung gestürmt.
Tobias straffte die Schultern und prüfte sein Spiegelbild mit der Frontkamera seines Smartphones. Das Ergebnis war ernüchternd: Die dunkelbraunen Haare waren zerwühlt, seine Haut blass und auf der Stirn glänzten Schweißperlen. Er sah beschissen aus.
Verärgert wischte er sich mit dem Handrücken über das Gesicht und zupfte grob seine Frisur in Form. Wahrscheinlich interessierte Martin gar nicht, wie er aussah. Jedenfalls nicht mehr so wie früher, wo er keine Gelegenheit ausgelassen hatte, sich mit ihm an seiner Seite auf Events oder in seinem Club zu zeigen, als wäre er eine hübsche Trophäe. Aber Tobias wollte ihm auch nicht die Genugtuung verschaffen, ihm sofort anzusehen, wie sehr er noch immer unter der Trennung litt.
Bei dem Gedanken spürte er einen bitteren Zug um seinen Mund. War es wirklich erst zweieinhalb Jahre her, dass Martin ihn auf der Party nach seiner ersten Deutschen Meisterschaft angesprochen hatte? So viel, wie seither zwischen ihnen passiert war, konnte er es kaum glauben. Doch der Beweis steckte in seiner Jackentasche.
Er presste einen Finger auf den Klingelknopf und lehnte die Stirn gegen die Tür, um sich zu beruhigen, und für die erneute Konfrontation zu wappnen. Vorhin am Telefon hatte er mehr gesagt, als er wollte, und sich damit die Chance versaut, die Sache zu klären. Das durfte nicht nochmal passieren.
Hinter der Tür erklangen erst Schritte, dann Martins Stimme, die an jemanden in der Wohnung gerichtet war. War er etwa nicht allein?
Ein lächerliches Gefühl von Eifersucht stieg in Tobias hoch, aber er kämpfte es nieder. Es war ihm egal, was Martin hinter seinem Rücken trieb. Oder mit wem. Deswegen war er nicht hier.
Er klopfte und trat einen Schritt zurück, als die Tür geöffnet wurde.
»Tobias? Was machst du hier?«
Tobias schluckte, aber der Kloß wollte nicht aus seinem Hals verschwinden. Genau wie die Erinnerungen an zu viele Abende und Nächte, die er in dieser Wohnung verbracht hatte. Mit diesem Mann.
Statt seinem üblichen Anzug trug Martin eine Stoffhose und ein schwarzes Shirt mit hohem Kragen, das seinen definierten Oberkörper betonte. Seine blonden Haare, die an den Schläfen bereits grau wurden, waren nicht frisiert und ließen ihn deutlich jünger als Anfang vierzig wirken. Und er sah gut aus.
Scheiße ...
»Du hast aufgelegt«, begann Tobias heiser, »aber unser Gespräch war noch nicht vorbei. Jedenfalls nicht für mich.«
Martin lehnte sich gegen den Türrahmen, wobei seine locker sitzende Hose so weit nach unten rutschte, dass ein Streifen nackter Haut zwischen Bund und Shirt hervorblitzte.
Tobias wurde heiß. Er hatte es geliebt, wenn Martin sich vor ihm ausgezogen hatte.
»Und ich habe dir gesagt, du sollst mit meiner Anwältin reden.«
»Deine Anwältin interessiert mich nicht. Das hier ist etwas zwischen dir und mir.«
»Und wer entscheidet das?«, fragte Martin sichtlich genervt. »Du?«
Er wollte zurück in die Wohnung treten und ihm die Tür vor der Nase zuschlagen, doch Tobias war schneller. Martin entfuhr ein wütender Laut, als er sich an ihm vorbei in die Wohnung drängte und die Tür hinter sich zuwarf. Er würde sich nicht abwimmeln lassen.
»Ja, ich«, sagte er und baute sich vor seinem ehemaligen Lover auf. Normalerweise nutzte er seine Größe von fast 1,90 nicht aus. Aber heute schien auch der eine Zentimeter, um den er Martin überragte, nötig. »Denn ich habe dir einiges zu sagen.«
Martins Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Lächeln. »Ich hatte wohl vergessen, was für ein schlechter Verlierer du bist.«
Tobias fuhr zusammen. Er wusste nur zu gut, worauf Martin anspielte. Die letzte Barista-Meisterschaft Anfang des Jahres, bei der er nach zwei Siegen in Folge nicht nur verloren hatte, sondern disqualifiziert worden war. Die Gesichter der Juroren und Zuschauer verfolgten ihn bis heute.
»Das war nicht meine Schuld.«
Jetzt lachte Martin, ein harter Laut, der Tobias wie viele kleine Schläge traf. »Natürlich nicht. Es ist ja nie irgendetwas deine Schuld, oder?«
Tobias ballte die Fäuste und bohrte die Fingernägel in seine Handflächen. Er war so wütend, dass er Martin am liebsten geschlagen hätte. Aber diese Blöße würde er sich nicht geben.
»Du hast mich sechs Monate zugesichert«, erinnerte er ihn an ihre Vereinbarung. »Sechs Monate, von denen erst drei um sind.«
Martin rieb sich über die Nasenwurzel und stöhnte. »Was macht das für einen Unterschied, wenn du es nicht mal schaffst, mir die Pacht von nur einem davon vollständig zu zahlen? Von dem fetten Minus auf dem Geschäftskonto, das ich deiner Verantwortung überlassen habe, ganz zu schweigen. Ohne meine Bürgschaft wärst du längst insolvent.«
Tobias wich zurück, bis er die Wand zu Martins Gästezimmer im Rücken spürte. War es das, was er von ihm dachte? Was alle von ihm dachten? Dass er ein Versager war, der das neunkommafünf in nur drei Monaten endgültig vor die Wand fuhr?
»Du hast es mir versprochen«, wiederholte er schwach.
»Hast du das schriftlich?«
»Nein, aber ...«
Ich habe dir vertraut.
Tobias sprach es nicht aus, doch Martins Gesichtsausdruck verriet, dass er wusste, wie der Satz weiterging. Und dass es ihm egal war. Wie ihm auch seine Gefühle egal gewesen waren.
Martin lächelte mitleidig. »Sieh es endlich ein, Tobias. Du magst ein guter Barista sein, aber du hast nicht das Zeug dazu, ein Geschäft zu führen. Und ich kann und will es mir nicht länger leisten, dir dabei zuzusehen, wie du es versuchst.«
»Hast du mich deswegen fallengelassen?« Die Frage platzte einfach aus Tobias heraus. »Weil du mich für einen Verlierer hältst?«
Martin setzte zu einer Antwort an, als im oberen Teil der Wohnung eine Tür geöffnet wurde.
Kälte kroch in Tobias’ Glieder, als ihm klar wurde, welche Tür es war. Er hatte das zweite Badezimmer auf der Galerie hinter Martins Bett oft genug benutzt.
»Wer ist da bei dir?«, entfuhr es ihm, bevor er sich stoppen konnte.
»Das geht dich nichts an.«
Das Eis sickerte in Tobias’ Blut und legte sich um sein Herz. »Ist das dein neuer Lover? Ist er der Grund für die Kündigung?«
Schritte waren zu hören, dann tauchte ein junger Mann an der Treppe auf. Mit den blonden Locken und den blauen Augen sah er aus wie ein Instagram-Model. Und er trug nichts außer einem Handtuch um die schmalen Hüften. Tobias wurde schlecht.
»Mart? Ist alles in Ordnung?«
»Ja, Baby«, antwortete Martin in seine Richtung. »Zieh dich doch schon mal an. Ich bin gleich bei dir.«
»Baby?«, echote Tobias laut genug, um es in der ganzen Wohnung zu hören. »Ist das dein Standardname für die Kerle, die du fickst? Und wie alt ist dieses Kind bitte? Sechzehn?«
»Er ist dreiundzwanzig«, blaffte Martin.