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Vier Wochen Schweden, zwei Männer, die unterschiedlicher kaum sein könnten, und ein alter Van – was kann da schon schiefgehen? Monatelang hat sich David auf die Schweden-Reise mit seinem geliebten VW-Bus gefreut – da droht eine teure Reparatur seine Reisepläne zu durchkreuzen. Seine letzte Hoffnung ist ein Reisepartner, der die Kosten mit ihm teilt. Mit Niklas, dem Bruder seines besten Freundes, ist schnell ein Interessent gefunden. Doch bereits das erste Treffen ist für Naturbursche David ein Schock, denn aus dem einst schüchternen Jungen ist ein attraktiver und erfolgreicher Influencer geworden. Widerwillig lässt sich David auf die gemeinsame Reise ein. Und obwohl er sich fest vorgenommen hat, die Finger von Niklas zu lassen, und sowieso kein Interesse an einer Beziehung hat, kommen sich die beiden gegensätzlichen Männer in der schwedischen Einsamkeit bald näher. Doch sind Niklasʼ Gefühle für ihn wirklich echt oder nur Teil der Show für seine Follower?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
E-Book-Ausgabe 2022
© Tina Winter
Christine Mörs
(alias Tina Winter)
c/o WirFinden.Es
Naß und Hellie GbR
Kirchgasse 19
65817 Eppstein
Covergestaltung: Casandra Krammer – www.casandrakrammer.de
Covermotiv: © alexhalay, ridofranz, andreasgradin, MIKHAIL_GRACHIKOV – depositphotos.com
Tina Winter wurde 1985 im Rheinland geboren, lebt aber inzwischen im wunderschönen Münster. Ihrer Leidenschaft für Bücher folgend studierte sie Bibliothekswesen und begann 2016 damit, ihre eigenen Geschichten zu virtuellem Papier zu bringen. In ihren Gay-Romance-Romanen geht es um Männer auf der Suche nach sich selbst, auffallend oft um Kaffee und Topfpflanzen und natürlich die ganz große Liebe.
Weitere Titel der Autorin:
Pictures of you
#vanlove: Ein Sommer mit dir
#vanlove: Weihnachten mit dir
Meine Zukunft in deinen Armen (Polarherzen 1)
Meine Vergebung in deinem Herzen (Polarherzen 2)
Sturmküsse auf Juist
Reasons to Stay (Canadian Hearts 1)
Laws of Devotion
Mehr Informationen und Updates unter:
https://tina-winter.de
»Ein Mitfahrer?«
Katja zupft die Gurkenscheibe aus ihrem Gin Tonic und sieht mich über den Rand des Glases hinweg an. Irritiert und gleichzeitig erwartungsvoll, als hätte ich einen Witz gemacht, den ich jede Sekunde mit einer grandiosen Pointe abschließe.
Stattdessen nicke ich, während ich versuche, meinen aufkeimenden Ärger zu unterdrücken. Als ich meiner Mutter von meiner Idee erzählt habe, hat sie genauso verhalten reagiert. Ist der Plan, nicht allein mit dem Van nach Schweden zu fahren, sondern jemanden mitzunehmen, wirklich so untypisch für mich?
»Aus dem Internet?«, wiederholt Malte den zweiten Teil meiner Aussage, als müsse er sichergehen, mich richtig verstanden zu haben.
»Ja«, bestätige ich ungeduldig, trinke aus meinem eigenen Glas und gebe mir einen Moment, den bitteren Geschmack zu genießen. Der Gin, den ich letztes Jahr aus Litauen mitgebracht habe, ist wirklich gut. »Ich dachte, ich veröffentliche einen Post in einem Reise-Forum. Oder versuche es in einer der unzähligen Camping-Gruppen bei Facebook.«
Mir ist klar, wie schlecht die Chancen stehen, zwischen all den Idioten und Möchtegern-Campern, die sich auf meinen Beitrag melden werden, einen geeigneten Mitfahrer zu finden. Auf der anderen Seite finde ich nirgendwo sonst so viele Leute, die sich für eine vierwöchige Tour durch Schweden interessieren könnten, Hashtags wie Vanlife sei Dank.
Meine beste Freundin streicht sich eine blond gefärbte Strähne hinters Ohr und zieht die nackten Füße auf meine Couch. Obwohl wir erst Mitte Juni haben und die Kastanien vor den Fenstern und dem Balkon nur wenig von der Abendsonne durchlassen, ist es in meiner kleinen Stadtwohnung bereits sommerlich warm. Auf dem Weg zum Polarkreis werden mich andere Temperaturen erwarten. Trotzdem freue ich mich unglaublich auf die Reise. Skandinavien steht schon lange auf der Liste meiner Wunschziele und nachdem ich letzten Sommer das Baltikum erkundet habe, soll es diesmal in den hohen Norden gehen.
»Bist du sicher, dass du das willst?«
Ich schnaube. Meine Mutter hat mir exakt dieselbe Frage gestellt. »Haltet ihr mich für einen Soziopathen?«
»Das nicht«, lenkt Katja ein. »Es ist bloß ungewöhnlich, schließlich bist du in den letzten Jahren immer allein gefahren. Sogar, als du mit Maik zusammen warst.«
Die Erwähnung meines Exfreundes bringt mich für einen Moment aus dem Konzept. Wir haben seit Monaten nicht mehr über ihn gesprochen. Besser gesagt habe ich seit der Trennung Ende letzten Jahres jedes Gespräch über Maik vermieden. Das hat keine romantischen Gründe. Ich habe bloß keine Lust, an eine weitere gescheiterte Beziehung erinnert zu werden, selbst wenn sie nur ein halbes Jahr gehalten hat. Oder wieder die Stimme meiner Mutter im Ohr zu haben, die mich fragt, wann ich mein Dasein als einsamer Wolf endlich aufgebe und ihr ihren zukünftigen Schwiegersohn vorstelle.
»Es geht mir auch gar nicht darum, dass jemand mitfährt«, gestehe ich schließlich seufzend, »sondern um Henry. Der Austausch der Bremsanlage war teurer, als ich gedacht habe. In meiner Reisekasse herrscht totale Ebbe, aber ich habe mich zu lange auf den Trip gefreut, um ihn auf nächstes Jahr zu verschieben. Und bevor ich anfange, meine Möbel, getragene Unterwäsche oder mein Sperma zu verkaufen, dachte ich, ich suche mir jemanden, der die Kosten mit mir teilt.«
»Interessante Auswahl«, wirft Malte ein. »Hast du das etwa schon recherchiert?«
Ich werfe meinem Kumpel einen giftigen Blick zu. »So verzweifelt bin ich noch nicht, keine Sorge.«
Katja grinst. »Und ich dachte, unser alter Griesgram David entdeckt seine soziale Seite.«
»Ich bin erst dreißig«, beschwere ich mich und boxe gegen ihren Unterarm, was sie so zum Lachen bringt, dass sie beinahe ihren Gin Tonic über ihrem violetten Top verschüttet. »Damit stehe ich in der Blüte meines Lebens.«
Den Griesgram lasse ich unkommentiert, denn die Bezeichnung passt leider ziemlich gut. Ich habe nichts gegen Menschen und mehr Freunde, als man mir oft zutraut. Ich bin allerdings genauso gerne allein, besonders auf meinen Reisen. Für mich gibt es nichts Nervigeres, als schon beim Frühstück darüber zu diskutieren, wo es heute hingeht oder was wir abends essen. Wahrscheinlich ist meine Beziehung zu Maik deshalb gescheitert. Und weil er meine Abwesenheit dazu genutzt hat, seine eigene Tour durch die Betten der Stadt zu starten. Angeblich, weil er mich so vermisst hat. Wer’s glaubt.
Während sich Katja wieder beruhigt, sieht Malte mich nachdenklich an. Er und ich haben uns vor zwölf Jahren über gemeinsame Bekannte kennengelernt und gehen gerne zusammen feiern, zum Klettern oder auf Konzerte. Unsere Freundschaft ist nicht so eng wie die zu Katja, mit der ich schon zusammen zur Schule gegangen bin, dennoch ist mir seine Meinung wichtig.
»Was denkst du?«, frage ich, als mir sein Schweigen unangenehm wird.
Er stellt sein leeres Glas auf dem zerschrammten Couchtisch ab und zuckt mit den Schultern, die durch das enge schwarze T-Shirt noch breiter wirken als sonst. Obwohl ich derjenige mit dem handwerklichen Beruf bin, ist er um einiges muskulöser als ich. Manchmal beneide ich ihn. Auf der anderen Seite habe ich keine Lust, nach den Blumenkästen, Gehwegplatten oder Säcken mit Erde und Rindenmulch, die ich bei der Arbeit durch die Gegend wuchte, auch noch in meiner Freizeit Gewichte zu stemmen.
»Grundsätzlich finde ich die Idee gut. Aber vier Wochen sind eine lange Zeit und Henry ist nicht gerade groß. Was, wenn ihr euch streitet? Zieht dann einer von euch zum Schlafen auf den Fahrersitz?«
»Keine Ahnung«, gebe ich zu. Die Enge ist tatsächlich der Haken an der Sache. Man kann die beiden Sitzbänke im Van zwar zu einem zweiten Bett umbauen, aber das ändert nichts daran, dass ein potenzieller Mitfahrer und ich einen Monat in einem Raum verbringen würden, der dreimal in mein Wohnzimmer passt. Und das, wo ich nicht einmal Maik länger als ein Wochenende bei mir haben wollte, weil ich mich durch seine ständige Anwesenheit eingeengt gefühlt habe.
Vielleicht ist mein Plan doch nicht so gut, wie ich dachte …
»Und wenn du jemanden mitnimmst, den du kennst?«, fragt Malte nach einem Griff in die Schüssel mit Nachos, die ich auf den Tisch gestellt habe.
»Bisher hat sich niemand gemeldet, weder in der Gärtnerei noch woanders.« Ob das auch mit meinem Ruf zusammenhängt, kann ich nicht beurteilen, denn ich habe wirklich nett gefragt.
»Wieso fragst du?«, will Katja wissen. »Hast du jemanden im Auge?«
Malte knabbert an einem Nacho und mir wird schlagartig klar, dass er tatsächlich an eine konkrete Person denkt. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Das wäre die Lösung und würde mir eine Menge Arbeit und Frust ersparen.
»Ja«, sagt er nach einer nervtötend dramatischen Pause. »Niklas.«
Ich weiß sofort, wen er meint, trotzdem brauche ich einen Moment, um die vagen Erinnerungen in meinem Kopf zu einem Bild zusammenzusetzen. Das letzte Mal habe ich Niklas vor sechs Jahren gesehen, kurz bevor er für das Studium weggezogen ist. Nach Dortmund, glaube ich. Oder Düsseldorf. Irgendwas mit D.
»Wer ist Niklas?«, fragt Katja, nachdem sie ihr Glas geleert hat.
»Mein jüngerer Bruder. Er hat im Frühjahr seinen Abschluss gemacht. Als wir zuletzt miteinander gesprochen haben, hat er erzählt, dass er gerne einen Roadtrip machen würde, bevor er seinen ersten Job antritt. Er sprach von Frankreich oder Spanien, schien sich aber noch nicht entschieden zu haben.« Malte wendet sich wieder an mich. »Wenn du willst, frage ich ihn, ob er auch in die entgegengesetzte Richtung fahren würde.«
Auf Katjas Gesicht breitet sich ein Grinsen aus, das mich die Augen verdrehen lässt. Ich weiß genau, was sie jetzt fragen wird.
»Niklas also. Ist er heiß?«
Nicht wirklich, will ich sagen, verkneife mir die Antwort aber, denn ich will Niklas nicht vor Malte beleidigen. Und eigentlich kann ich zu seinem Aussehen auch gar nichts sagen, so lange, wie wir uns nicht mehr gesehen haben. In meinem Kopf ist Niklas jedenfalls noch der dürre Junge von damals, der mir kaum in die Augen sehen konnte, wenn ich Malte besucht oder abgeholt habe.
»Will noch jemand was trinken?«, frage ich, um auch Malte eine Antwort zu ersparen und das Thema zu beenden. Es gibt schließlich Wichtigeres zu klären, wenn ich feststellen will, ob Niklas als Reisepartner in Frage kommt. Ob er überhaupt schon mal campen war, um nur ein Beispiel zu nennen. Denn das Letzte, was ich will, ist ein blutiger Anfänger, der mir die ganze Arbeit mit Henry überlässt.
Malte nickt und auch Katja reicht mir ihr Glas. Ich nehme sie und gehe durch den kurzen Flur in die Küche.
Während ich Gurkenscheiben schnippele, eine neue Flasche Tonic Water aus dem in die Jahre gekommenen Kühlschrank hole und die Drinks mische, höre ich meine Freunde im Wohnzimmer miteinander reden. Katja klingt aufgeregt, was mich irgendwie nervös macht. Vielleicht sollte ich meine vorbereiteten Such-Posts doch noch nicht löschen.
Als ich ins Wohnzimmer zurückkehre, sitzen Katja und Malte über sein Smartphone gebeugt auf dem Sofa. Gleichzeitig blicken sie zu mir auf, wobei vor allem Katja ungewohnt besorgt wirkt.
Ich stelle die Gläser auf den Tisch und lache unsicher. »Ihr seht aus, als hättet ihr Angst, ich könnte Niklas in die schwedischen Wälder entführen und auffressen.«
»Nicht ganz«, sagt Katja zögerlich. Dann reicht sie mir Maltes Smartphone.
Malte hat HeartShots geöffnet und das Foto eines jungen Mannes aufgerufen. Eines sehr attraktiven jungen Mannes, der lässig an einem Geländer über den Dächern einer mir unbekannten Stadt lehnt und mit einem sexy Lächeln in die Kamera schaut.
»Wieso zeigt ihr mir das?«, frage ich, irritiert über den plötzlichen Themenwechsel. »Ich dachte, es geht hier um Niklas und nicht um meinen Geschmack in Sachen Männermodels.«
Dem würde der Typ auf dem Foto definitiv entsprechen, denn ich stehe auf schlanke Männer mit dunklen Haaren und Grübchen im Kinn.
»Das ist Niklas«, sagt Malte, den meine Ahnungslosigkeit sichtlich amüsiert. »Und er wird sich sehr über das Kompliment freuen.«
Ich betrachte das Foto erneut, drehe das Handy sogar, während ich das Gesicht des Mannes mit meinen spärlichen Erinnerungen an Niklas abgleiche – und dann erkenne ich ihn endlich.
Hitze schießt durch meinen Körper und mein Mund wird trocken. Niklas wirkt größer und sein Gesicht hat alles Kindliche verloren. Seine dunkelbraunen Haare sind länger und glatter als früher und ein nur minimal hellerer Dreitagebart betont seine ausgeprägten Wangenknochen. Die Ärmel des Jacketts, das er über einem weißen T-Shirt trägt, sind bis zu den Ellbogen hochgeschoben, die nackten Unterarme definiert, ohne übermäßig muskulös zu sein. Und seine Augen … waren die schon immer so schokoladenbraun?
»Du verarschst mich doch«, entweicht es mir, bevor ich mich stoppen kann. Ist der Mann auf dem Foto tatsächlich derselbe wie der, den ich damals bei Malte immer Kleiner genannt habe?
Malte lacht. »Tu ich nicht, ehrlich. Schau dir sein Profil an, wenn du mir nicht glaubst.«
Mit schwitzigen Fingern klicke ich das Foto weg und überfliege die Kurzbiographie unter dem Profilfoto, auf dem er dem Betrachter zuzwinkert. Niklas, 26 Jahre alt, Influencer aus Düsseldorf. Tatsache, das ist wirklich er.
»Wow«, murmele ich, während ich durch Niklas’ Feed scrolle. Er hat viele Fotos hochgeladen, auf denen er Kleidung, Uhren oder Beautyprodukte bewirbt. Aber dazwischen gibt es immer wieder Bilder, auf denen er teilweise nur Jockstraps trägt und sich lasziv auf dem Boden oder einem Bett räkelt. Mein Gesicht wird heiß und in meinem Unterleib beginnt es zu kribbeln. Normalerweise wären mir diese körperlichen Reaktionen nicht peinlich. Aber es ist immer noch Maltes kleiner Bruder, den ich da anschmachte.
Unsicher hebe ich den Kopf und suche seinen Blick, doch mein Kumpel grinst nur. »Sieht aus, als wäre die Entscheidung gefallen.«
Was die Frage angeht, ob Niklas mein Typ ist, definitiv. Trotzdem muss ich seinen Optimismus bremsen. »Ich weiß nicht, ob wir zusammenpassen«, sage ich und scrolle zurück nach oben. Niklas’ Account niklasb hat über 80.000 Follower. 80.000 Menschen, die seine Fotos anschauen, seine Texte lesen und seinen halbnackten Körper bewundern. »Hat er gesagt, wie er sich die Reise vorstellt?«
»Ich nehme an, es geht ihm vor allem um neue Fotos für seine Seite. Camping scheint der heißeste Trend unter Influencern zu sein. Vielleicht will er einen auf Abenteurer machen.«
Ich seufze. Das habe ich befürchtet. Und mir deshalb von Anfang an fest vorgenommen, auf keinen Fall jemanden mitzunehmen, der beim Thema Camping zuerst an Lichterketten, bunte Kissen und Avocado-Toasts zum Frühstück denkt. Solche Fotos machen sich vielleicht gut bei HeartShots, haben aber nichts mit der Realität zu tun.
»Siehst du?«, sagt Katja an Malte gewandt. »Ich habe dir gesagt, Niklas ist nicht die richtige Wahl.«
Es tut mir leid, Malte eine Absage erteilen zu müssen, aber Katja hat recht. Ich habe kein Problem mit ein bisschen Eitelkeit. Ich bin sogar selbst bei HeartShots, wobei es gerade mal sechzig Leute gibt, die sich die Beiträge, die ich alle Jubeljahre poste, ansehen. Der oberflächliche Lifestyle und die permanente Gier nach Likes und Followern, die auf dieser Plattform herrschen, sind einfach nicht mein Ding. Und ich habe echt keine Lust darauf, eine Rolle in Niklas’ Ego-Show zu übernehmen und die Reise, auf die ich mich seit fast einem Jahr freue, mit 80.000 Unbekannten zu teilen.
»Du kannst ja mal unverbindlich mit ihm reden«, schlägt Malte vor. »Ihn fragen, was er sich vorstellt. Aber am Ende des Tages ist es dein Van. Du bestimmst die Regeln.«
Das ist natürlich richtig und stimmt mich wieder etwas positiver. Ich könnte von Niklas verlangen, mich und Henry aus seinen Fotos und Videos herauszuhalten. Und solange ich die Schlüssel habe, entscheide ich, wohin wir fahren und wie lange wir an einem Ort bleiben. Trotzdem bleiben Restzweifel. Was, wenn wir uns streiten? Einen Fremden würde ich im schlimmsten Fall knallhart in Schweden zurücklassen, aber Malte wird darauf bestehen, seinen Bruder in einem Stück zurückzubekommen.
Ich überfliege Niklas’ Biographie erneut, wobei mir ein Symbol ins Auge fällt, das ich vorhin übersehen habe.
»Bedeutet die Regenbogenfahne, was ich denke, dass sie bedeutet?«
Malte sieht mich erstaunt an. »Niklas ist schwul, ja. Wusstest du das nicht?«
Ich schüttele den Kopf. Dann kommt mir ein Gedanke: »Versuchst du, mich mit deinem Bruder zu verkuppeln?«
Malte lacht auf und Katja verschluckt sich ertappt an ihrem Gin Tonic. Wie es aussieht, habe ich die beiden glatt erwischt. Die Erkenntnis lässt mich die Augen verdrehen. Ich hätte meine Freunde nicht für so kindisch gehalten.
»Das würde ich nicht wagen«, behauptet Malte grinsend. »Dafür kenne ich dich zu gut.«
»Das will ich dir auch geraten haben, wenn du mich als Freund behalten willst.« Denn abgesehen davon, dass ich mein Single-Dasein genieße und absolut kein Interesse an einer Beziehung habe, würde ich niemals etwas mit Niklas anfangen. Die Gefahr, im Fall eines Streits oder einer Trennung die Freundschaft zu Malte zu gefährden, wäre mir viel zu groß.
»Falls es euch abends am Lagerfeuer aber doch mal überkommen sollte«, fährt Malte dagegen ungerührt fort, »stehe ich euch nicht im Weg. Ihr seid schließlich beide erwachsen und könnt selbst entscheiden, mit wem ihr vögelt. Und mir ist es ehrlich gesagt lieber, ihr beide fahrt zusammen und lasst ab und zu den Van wackeln, als wenn ihr mit völlig Fremden loszieht, die ihr nur aus dem Internet kennt.«
Die Sorge kommt mir übertrieben vor, immerhin sind Niklas und ich erwachsen und absolut in der Lage, auf uns aufzupassen. Aber mir ginge es wahrscheinlich ähnlich, wenn es Maltes Reise und Niklas mein kleiner Bruder wäre. Leider ändert das nichts an meinen Bedenken. Und die Tatsache, dass mir allein bei der Vorstellung, mit dem attraktiven Mann von den HeartShots-Fotos in einem Bett zu schlafen, erneut heiß wird, hilft auch nicht gerade. Ich räuspere mich. Irgendwie ist diese Unterhaltung in den letzten Minuten in eine Richtung abgedriftet, die mich überfordert.
»Du hast nicht zufällig noch eine Schwester, von der du mir bisher nichts erzählt hast?«
»Ich fürchte nicht. Also, was sagst du?«
Die Frage kann ich unmöglich beantworten, ohne mehr über Niklas zu wissen. »Ich kann ihm ja mal schreiben«, schlage ich daher diplomatisch vor und nehme mein eigenes Smartphone vom Tisch.
Während ich HeartShots öffne und nach Niklas’ Profil suche, kann ich nicht aufhören, an die Fotos zu denken, in denen er nahezu nackt und mit gespreizten Beinen auf seinem Bett liegt. Ob er diese Jockstraps auch während unserer Reise tragen wird? Fast habe ich das Gefühl, den weichen Stoff und die Gummibänder unter meinen Fingern zu spüren …
Ich schüttele die Bilder ab und tippe auf den Button, über den ich ihm eine private Nachricht schicken kann. Ob sich Niklas überhaupt an mich erinnert? Ich habe mich zwar seit damals kaum verändert, trage meine dunkelblonden Haare immer noch zu einem Knoten zusammengebunden und die gleichen einfachen Shirts, Hemden und Jeans, auf denen Erde und Motoröl ihre Spuren hinterlassen haben. Trotzdem sind sechs Jahre eine lange Zeit.
Während ich schreibe, nehme ich mir vor, nicht zu viel zu erwarten und die Sache mit Niklas als eine Möglichkeit von mehreren zu betrachten. Vielleicht hat Niklas ja gar keine Lust auf Skandinavien. Oder mich. Oder ich finde in letzter Minute eine Möglichkeit, die Reise doch allein zu finanzieren.
»Bin gespannt, was er sagt«, meint Katja, als ich die Nachricht abschicke und das Smartphone zurück auf den Tisch lege.
Ich zucke mit den Schultern und greife wieder nach meinem Glas. Ich habe gerade den ersten Schluck getrunken, als mein Smartphone brummt.
Malte und Katja beobachten neugierig, wie ich danach greife und die Nachricht auf dem Display antippe.
»Ist er das?«, will Katja wissen.
Ich nicke, fassungslos, dass Niklas mir tatsächlich so schnell geantwortet hat.
niklasb, 20:18 Uhr
Hi, David. Würde gerne mit dir fahren. Ruf mich an, ja?
Ich nehme einen weiteren Schluck und lasse ihn für einen Moment in meinem Mund kreisen.
Wie es aussieht, habe ich meinen Begleiter gefunden.
Zwei Wochen später stehe ich an der Straße vor dem Haus und warte auf Niklas.
Ich kann noch immer nicht fassen, dass wir in wenigen Stunden Richtung Hamburg aufbrechen werden. Bis zuletzt habe ich mich an die Hoffnung geklammert, doch noch irgendwie an Geld zu kommen und Niklas loszuwerden. Das ging so weit, dass ich während unserer Telefonate versucht habe, ihn unauffällig zu einer Absage zu drängen, damit die Schuld bei ihm liegt und ich vor Malte und den anderen das Gesicht wahren kann. Ich bin nicht stolz auf die Horrorgeschichten, die ich in unsere Gespräche eingestreut habe. Doch leider konnten nicht einmal die Erzählungen von verregneten Tagen in einem feuchtkalten Van, Bergen ungewaschener Klamotten und kalten Dosenravioli zum Frühstück Niklas davon abbringen, mich begleiten zu wollen. Genau wie die zugegebenermaßen hohe Anzahlung, die ich für die erste Tankfüllung und den Lebensmitteleinkauf von ihm verlangt habe.
Und deshalb stehe ich jetzt hier, zwischen Henry, der frisch gewaschen, gepackt und mit einer neuen Bremsanlage in der Parklücke steht, und Katja, die abwechselnd die Straße herunter und auf ihr Smartphone schaut.
»Was hat er gesagt, wann er ankommt?«
Ich gehe zum Heck des Vans und prüfe, ob die selbstgebauten Pflanzkästen, in die ich Kräuter und Pflücksalat gesetzt habe, sicher an der Leiter zum Dach befestigt sind. Ich will schließlich nicht, dass sie sich mitten auf der Autobahn lösen und einen Unfall verursachen.
»Sein Zug soll um halb acht ankommen.« Vom Bahnhof aus braucht Malte etwa zwanzig Minuten bis zu mir, lange dürfte es also nicht mehr dauern. »Sofern die Bahn pünktlich ist.« Was bei der Strecke von Düsseldorf nach Bonn eher ungewöhnlich wäre. Aber da Niklas gestern Abend noch eine Verabredung mit einem Kunden hatte, konnte er nicht schon früher herkommen.
»Und? Bist du nervös?«
Ich zupfe ein Salatblatt aus einem der Kästen. »Wie kommst du darauf?«
Katja lacht. »Keine Ahnung. Vielleicht, weil du die Kästen jetzt schon zum dritten Mal überprüfst und hier herumtänzelst, als wären wir auf einer Party.«
Ich schnaube, stecke mir das Salatblatt in den Mund und trete zurück an ihre Seite.
Ich gebe es nicht gerne zu, aber Katja hat recht. Ich bin nervös. Obwohl Niklas und ich in den letzten zwei Wochen mehrfach telefoniert und geschrieben haben, ist er eine einzige große Unbekannte für mich. Und ich hasse dieses Gefühl. Als Einzelkind und mehr oder weniger überzeugter Single bin ich es nicht gewohnt, jemanden miteinzuplanen, die Meinung einer zweiten Person zu berücksichtigen oder – so wie jetzt – auf jemanden zu warten. Schon gar nicht bei meinen Reisen. Und ich bin genervt. Genervt, bevor Niklas überhaupt hier angekommen ist. Nicht gerade die beste Ausgangslage für unseren Trip.
Zum Glück biegt Maltes Audi in diesem Moment in die Straße ein und verhindert, dass ich mich meinem Frust hingeben kann.
Während ich neben Henry stehen bleibe, tritt Katja an den Straßenrand und winkt Malte zu uns heran. Was völlig unnötig ist, denn mit seinem Hochdach ist der Van kaum zu übersehen.
Ich lege eine Hand auf den hellgrauen Lack. »Bereit für unseren neuen Freund?«
Mein Versuch, die Aufregung mit Humor zu kaschieren, scheitert kläglich, als Malte den Wagen in eine freie Parklücke auf der gegenüberliegenden Straßenseite lenkt. Er steigt aus und winkt zurück, aber ich habe nur Augen für den Mann, der die Beifahrertür öffnet und die Füße aus dem Wagen schwingt.
In der ersten Sekunde ist Niklas’ Anblick ein Schock für mich. Ich weiß, es ergibt keinen Sinn, aber irgendwie habe ich trotz seiner freizügigen Fotos bei HeartShots den verschüchterten Jungen erwartet, der mich damals nicht einmal ansehen konnte, ohne knallrot zu werden. Doch der Mann, der jetzt aus dem Auto steigt, und auf seinem Smartphone herumtippt, während er mit Malte spricht, sieht genauso aus wie der auf den Fotos. Was die Sache besser und schlimmer zugleich macht. Wie soll ich vier ganze Wochen mit ihm verbringen, ohne ihn anzurühren?!
Malte erwidert etwas und Niklas nickt. Dann dreht er sich um und sieht mich an.
In dem Moment, in dem sich unsere Blicke treffen, zucke ich unwillkürlich zusammen. Als hätte er meine Gedanken gehört oder könnte sie über die Straße hinweg von meinem Gesicht ablesen. Jetzt bin ich derjenige, der rot wird. Das Gefühl ist neu für mich, denn ich bin weder schüchtern, noch habe ich ein Problem mit schönen Männern. Verärgerung steigt in mir auf. Wegen Niklas, der einfach nur da neben dem Auto steht und zu mir rüberschaut. Und mir selbst, weil ich gegen das Bedürfnis ankämpfen muss, mich abzuwenden.
Es ist Niklas, der den Blickkontakt schließlich unterbricht und zu Malte geht, der den Kofferraum öffnet und einen Koffer herauszieht. Beim Anblick des riesigen Gepäckstücks entweicht mir ein Seufzen.
Als ich Niklas von der begrenzten Lagerfläche im Van erzählt habe, habe ich ausnahmsweise nicht übertrieben. Zwar gibt es einen schmalen Kleiderschrank, mehrere Fächer an den Wänden und unter der Decke, Stauraum unter einer der beiden Sitzbänke und die Kiste auf dem Dach, trotzdem muss man sich genau überlegen, ob man das zweite Paar Schuhe, das zehnte Buch oder die dritte Müslischale wirklich braucht. Über die Jahre, die ich jetzt schon mit Henry verreise, habe ich die Sachen, die ich mitnehme, Stück für Stück reduziert. Ich würde mich nicht als Minimalisten bezeichnen, aber weniger Zeug bedeutet auch weniger Arbeit. Und –
»Das darf ja wohl nicht wahr sein«, entfährt es mir, als Malte den Koffer auf dem Boden abstellt, erneut in den Kofferraum greift und einen zweiten herausholt. Welchen Teil meiner Ausführungen über den begrenzten Platz im Wohnmobil hat Niklas nicht verstanden?
Neben mir fängt Katja an zu kichern, was in mir das dringende Bedürfnis weckt, die Autoschlüssel nach ihr zu werfen. Statt sich über mich lustig zu machen, könnte sie sich überlegen, wie ich Niklas beibringe, dass er mindestens die Hälfte seines Krams hierlassen muss.
Malte und er nehmen jeweils einen Koffer und kommen über die Straße zu uns.
»Morgen. Wartet ihr schon lange?«, fragt Malte, nachdem er den ersten Koffer neben Henry abgestellt und mich in eine Umarmung gezogen hat.
»Zehn Minuten vielleicht«, entgegne ich. »Aber ich war sowieso schon unten und habe die letzten Sachen eingepackt.« Da ich inzwischen Übung habe und genau weiß, welches Teil im Van wohin gehört, brauche ich nicht mehr lange dafür. Trotzdem genieße ich die Arbeit, denn sie ist wie ein Ritual, bevor es endlich wieder auf die Straße geht.
Niklas stellt den zweiten Koffer ab und lächelt zaghaft, als ich mich ihm zuwende. »Hi, David.« Es ist seltsam, ihn so schüchtern zu erleben, denn der Mann auf den Fotos bei HeartShots ist alles, nur nicht schüchtern.
»Ist lange her«, entgegne ich und strecke ihm eine Hand entgegen. Keine Ahnung, was ich mit der Geste sagen will, denn ich könnte ihn genauso gut umarmen. Aber mein Gefühl – und das verräterische Kribbeln zwischen meinen Beinen – sagen mir, dass es besser wäre, den Körperkontakt vorerst zu begrenzen.
»Sechs Jahre«, stimmt er zu und greift nach meiner Hand. Dann lacht er. »Ich hatte dich größer in Erinnerung.«
Der Spruch ist dämlich, aber er bricht das Eis. Ich grinse. »Ich hoffe, ich habe noch mehr Erinnerungen hinterlassen als die an meine Körpergröße.«
Während Niklas über eine Antwort nachdenkt, wandert sein Blick an mir entlang. Offensiv. Abschätzend. Ich schlucke. Ob ihm gefällt, was er sieht? Malte hat erzählt, er sei Single. Auf was für einen Typ Mann er steht, weiß ich allerdings nicht. Und das hier ist definitiv der falsche Zeitpunkt, um darüber nachzudenken.
»Ein paar«, sagt er schließlich vage.
»Erzähl’s mir während der Fahrt.« Ich lasse seine Hand los. »Ist das alles, was du dabei hast?«
»Ich habe noch einen Rucksack und meine Kamera im Auto, aber die nehme ich mit nach vorne.«
Ich habe Mühe, nicht die Augen zu verdrehen. Aber immerhin weiß ich jetzt, dass mich keine weiteren bösen Überraschungen erwarten.
»Die Koffer musst du auspacken. Ich habe dir drinnen ein paar Fächer freigemacht. Du kannst selbst entscheiden, was du wohin räumst, solange die schweren Sachen unten und die leichten oben sind und nichts umherrutscht.« Niklas sieht mich ratlos an, also gehe ich an ihm vorbei zu Henry, öffne die Seitentür und winke ihn mit einer angedeuteten Verbeugung zu mir. »Willkommen in deinem rollenden Zuhause für die nächsten vier Wochen.«
Zu Niklas’ Verteidigung muss man sagen, dass er seine Mimik echt gut im Griff hat. Trotzdem sehe ich ihm die Erschütterung an, als er an meine Seite tritt und einen ersten Blick in den Innenraum wirft.
»Es ist … schick. Aber auch ziemlich … klein.«
Ich habe einen solchen Kommentar erwartet, besonders von ihm. Das kommt davon, wenn man sich von den Fotos im Internet täuschen lässt, auf denen selbst kleinste Camper wie Appartements wirken, Weitwinkelobjektiv sei Dank.
»Als das Modell Anfang der Achtziger rauskam, gehörte es zur absoluten Luxusklasse«, erkläre ich, als Niklas den Van betritt und sich umsieht. »Er hat alles, was man braucht: Küchenzeile, Essbereich mit Tisch, zwei Betten, Toilette und Dusche, große Tanks für Wasser und Abwasser, und dank meiner letzten Investition eine generalüberholte Bremsanlage.«
Meine Aufzählung scheint Niklas wenig zu beeindrucken, denn er wirft mir nur einen kurzen Blick zu, ehe er sich weiter umsieht.
»Und wo schlafen wir?«
Ich deute über seine Schulter zum Bett, das momentan zusammengeklappt über dem Fahrerhaus schwebt. »Da oben. Siehst du die Schiene? Abends wird die Liegefläche ausgezogen und die Matratze ausgerollt.«
»Hm«, macht Niklas, wirkt aber zum ersten Mal ehrlich interessiert. Überlegt er etwa bereits, wie es wäre, sich mit mir darin herumzuwälzen? Bei dem Gedanken wird mir heiß, gleichzeitig dämpfen die Erfahrungen der letzten Jahre meine Begeisterung. Das Bett hat zwar eine angenehme Breite, aber der Raum bis zum Hochdach ist so niedrig, dass viele Stellungen von vorneherein wegfallen, wenn man sich beim Sex nicht ständig den Kopf oder andere Körperteile stoßen will.
Als wäre er zum gleichen Ergebnis gekommen, wendet sich Niklas vom Bett ab und schaut sich im Rest des Wohnmobils um. Er fährt mit einem Finger über den Tisch, dann über die Polster der Sitzbank. Die beiden Bänke habe ich erst vor zwei Jahren neu aufpolstern und beziehen lassen. Doch auch der moderne graue Stoff, dessen Muster sich in den Vorhängen und der Bettwäsche wiederfindet, kann über einen gewissen Achtziger-Jahre-Mief nicht hinwegtäuschen. Ich habe mich daran gewöhnt. Aber ich sehe Niklas an, dass sich sein Influencer-Auge von den altbackenen Farben und Oberflächen beleidigt fühlt. Zu seinem Glück sind Henry und ich erwachsen genug, um gnädig darüber hinwegzusehen.
Während er die Kochzeile begutachtet, nutze ich die Gelegenheit, ihn zu mustern. Er trägt dunkelrote Chinos und ein enges weißes Shirt, das seine gebräunte Haut betont. Mein Blick wandert über seine schlanke Silhouette nach unten, verweilt kurz auf seinem Hintern und landet auf seinen Schuhen. Weiße Sneakers. Ich schnaube.
»Ist dir klar, dass wir die meiste Zeit draußen verbringen und viel wandern werden?«, kann ich mir nicht verkneifen.
Niklas sieht mich irritiert an, bis ich auf seine Schuhe deute. Er dreht einen Fuß hin und her, wobei ich unweigerlich feststellen muss, was für hübsche Knöchel er hat. Dann hebt er die Schultern. »Ich habe noch andere Schuhe dabei.«
»Und wie viele Paare?«
Er blinzelt. »Zwei oder drei?«
»Wohl eher drei, was?« Ich deute auf seine Koffer. »Sorry, wenn das hart klingt, aber du kannst das unmöglich alles mitnehmen. Abgesehen vom Platzproblem müssen wir nämlich auch mit der Nutzlast aufpassen. Sonst ziehen sie uns bei der ersten Kontrolle aus dem Verkehr.«
Es scheint Niklas nicht klar zu sein. Hat er mir bei unseren Telefonaten denn gar nicht zugehört?
Er steigt aus dem Van, nimmt auf meine Aufforderung hin den ersten Koffer, legt ihn auf den PVC-Boden vor dem Klapptisch und öffnet ihn.
Malte lacht, als er sieht, was sein kleiner Bruder alles eingepackt hat. Ich selbst kann nur erneut seufzen.
Der Koffer ist voller Klamotten. Und mit voll meine ich randvoll. Keine Ahnung, wie er es geschafft hat, ihn zu schließen.
Ich klettere an ihm und dem Koffer vorbei in den Van und öffne den schmalen Kleiderschrank zwischen Rückbank und Nasszelle.
»Ist das alles?«, fragt Niklas entsetzt.
Ich grinse fies. »Ich habe dir gesagt, wir haben wenig Platz.«
»Ja, aber du hast mir verschwiegen, dass wenig bei dir mikroskopisch bedeutet.«
Der Kommentar ist überraschend bissig und stimmt mich gnädiger, als ich eigentlich sein wollte. »Ich habe dir zwei Fächer über dem Tisch freigeräumt«, sage ich. »Und du kannst auch ein paar Sachen aufs Bett legen, während wir fahren.«
Ich sehe Niklas an, dass er sich mehr erhofft hat. Aber ich bleibe eisern. Das hier wird schließlich kein Luxusurlaub. Und ich habe ihm schon viel von meinem Platz geopfert.
Während er sich daran macht, den Berg aus Kleidung, Schuhen und Krempel durchzugehen, steige ich wieder aus dem Van und geselle mich zu Malte und Katja.
»Du hättest mich vorwarnen können«, beschwere ich mich leise bei Malte, als Niklas das erste Mal zum Kleiderschrank geht und ein paar Sachen hinein räumt, die meiner Meinung nach nicht besser zum Wandern geeignet sind als sein aktuelles Outfit. Zugegeben, er gefällt mir darin. Aber ich sehe ihn schon wie einen Pauschalurlauber durch die wilde Landschaft Schwedens stolpern.
»Wo wäre dann der Spaß geblieben?«, kontert er und lacht über meinen giftigen Blick. »Aber im Ernst, Niklas hätte ohnehin nicht auf mich gehört. Du müsstest ihn mal bei unserem jährlichen Familienurlaub erleben. Da mieten wir ein ganzes Haus und er schafft es trotzdem, die meisten freien Schränke und Schubladen für sich zu beanspruchen. Muss so ein Influencer-Ding sein.«
Beim Anblick der Klamotten, die Niklas um den Koffer herum stapelt, sehe ich schon vor mir, dass wir die nächsten Wochen in einem fahrenden Kleiderschrank verbringen werden. Den Niklas wohl auch nicht verlassen wird, denn keines der Stücke scheint wirklich für unsere Reise geeignet zu sein. Ist das da ein bauchfreies Top? Und was hat er mit dem Jackett vor? Ein schickes Dinner mit einem Elch?
Als er schließlich fertig ist und etwa die Hälfte des Kofferinhalts im Van verstaut hat, wirkt er erschöpft. Ich gehe zu ihm, um meine Hilfe anzubieten, ernte aber nur einen bösen Blick. Wie es aussieht, nimmt er den Angriff auf sein Gepäck persönlich. Ich beschließe, nicht darauf einzugehen, immerhin habe ich ihn vorgewarnt.
»Was mache ich mit dem Rest?«, fragt er, nachdem er einen Beutel, in dem irgendetwas klappert, aufs Bett geworfen hat. »Und den Koffern?«
»Die bringe ich in meine Wohnung. Bist du mit der ersten Runde durch?«
»Wieso, hast du es eilig? Oder quälst du mich nur gerne?«
Wieder so ein Seitenhieb. Und ich weiß nicht, wieso, aber irgendwie gefällt mir das. Der Niklas von vor sechs Jahren hätte nie so mit mir gesprochen.
»Das auch«, kontere ich. »Aber vor allem möchte ich die Fähre in Puttgarden kriegen.«
Glücklicherweise scheint ihn das zu überzeugen, denn er schließt den ersten Koffer und gibt ihn Malte, der ihn zum Haus trägt und nach oben bringt. Dann nimmt er den zweiten.
Diesmal dauert es länger, denn neben weiteren Klamotten sind in diesem Koffer alle möglichen technischen Geräte, diverse Kartons, die wie Verpackungen aussehen, und gleich mehrere Kulturbeutel. Was schleppt der Kerl da alles mit?
Nachdem er das letzte Fach gefüllt hat, öffnet Niklas die schmale Tür zur Duschzelle. Und erstarrt.
»Das ist das Badezimmer?«
»Ich fürchte, ja. Die Wanne mit Whirlpool kam erst bei den späteren Modellen.«
Er dreht sich zu mir um. »Wie machst du das?«
Ich deute auf den Korb, der an der Innentür der Duschzelle baumelt. Er enthält ein Stück Seife, festes Duschgel, das ich auch als Shampoo benutze, Deo, Zahncreme, eine Bambuszahnbürste und meinen Rasierer.
Sein Blick wandert über mich, als würde er versuchen, herauszufinden, ob ich weitere Tuben und Flaschen in meinen Hosentaschen versteckt habe. Dann wendet er sich wieder seinen Sachen zu.
»So siehst du gar nicht aus.«
Ich habe keine Ahnung, was der Spruch bedeuten soll. Ich achte genauso auf Körperhygiene wie jeder andere. Nur brauche ich dafür nicht endlos viel Zeug.
Eine gefühlte Stunde später ist er endlich mit dem zweiten Koffer durch. Und auch wenn ich mir zwischenzeitlich das Schlimmste ausgemalt habe, hat er es ganz gut hinbekommen, seine Sachen so zu verstauen, dass sie nicht zu viel Platz wegnehmen. Okay, die Tasche mit dem Stativ und sein Kamerazubehör liegen unter dem Tisch und auf dem Bett sieht es auch ziemlich voll aus. Aber ein paar Kompromisse muss man wohl eingehen, wenn man zu zweit unterwegs ist.
Diesmal bringt Niklas den Koffer selbst nach oben, was mir die Gelegenheit gibt, mich mit einem elenden Laut zu Katja umzudrehen. »Wieso hab ich mich noch gleich auf die Sache mit dem Reisepartner eingelassen?«
»Jetzt stell dich nicht so an, das lief doch ganz gut.«
»Ganz gut?«, echoe ich entgeistert. War sie in den letzten zwei Stunden woanders? »Er hatte mehr Klamotten und Accessoires in seinen Koffern als ich in meiner ganzen Wohnung!«
»Vielleicht leiht er dir ja was«, feixt Katja wenig hilfreich.
Ich schnaube. »Wohl kaum.« Nicht nur, weil seine Sachen nicht mein Stil sind, sondern auch, weil ich mindestens zwei Größen mehr trage als er.
»Was ist dann dein Problem?«, fährt sie unbarmherzig fort. »Hast du Angst, er könnte deine heilige Ordnung durcheinanderbringen?«
Meine Schultern sacken nach unten. Ich gebe es nicht gerne zu, aber mit ihrem Kommentar trifft Katja voll ins Schwarze. Es stört mich tatsächlich, für Niklas von dem System, das ich mir über Jahre erarbeitet habe, abweichen zu müssen. Ich bin kein Pedant, aber ich gestalte meine Räume gerne so, wie es für mich am praktischsten ist. Dass Niklas mein Entgegenkommen nicht schätzt, sondern mich fast die ganze Zeit bloß vorwurfsvoll angesehen hat, steigert meine Laune auch nicht gerade.
Als Niklas und Malte wieder runterkommen, sind sie in ein Gespräch vertieft. Ich kann nicht verstehen, was sie sagen, aber die Art, wie Niklas immer wieder zu mir schaut, ist eindeutig.
»Wir passen einfach überhaupt nicht zusammen«, beantworte ich Katjas Frage verspätet.
Sie stößt mich mit der Schulter an. »Jetzt sei nicht so pessimistisch. Denk dran, für ihn ist das hier genauso neu wie für dich. Gib ihm eine Chance, okay?«
»Ist ja gut«, sage ich lahm. Mir bleibt ohnehin keine Wahl.
»Und wenn er dich zu sehr nervt, drohst du damit, ihn in der schwedischen Wildnis auszusetzen. Das hilft bestimmt.«
Der Vorschlag ist absurd, trotzdem muss ich lachen. Manchmal könnte ich Katja für ihren Humor küssen.
»Ist notiert.«
Niklas geht nochmal zu Maltes Auto, um seinen Rucksack, die Kamera und eine flache Tasche zu holen, in der vermutlich ein Tablet steckt. Noch während er über die Straße zu uns zurückkommt, beginnt er, auf seinem Smartphone herumzutippen. Sicher das erste Update für seine Follower, in dem er über den groben Kerl schimpft, der ihn dazu gezwungen hat, sein Gepäck um die Hälfte zu reduzieren.
»Hast du alles?«, frage ich, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.
Er besitzt die Güte, von seinem Bildschirm aufzusehen, und nickt. »Denke schon.«
»Okay«, sage ich, bevor ich mich zu meinen Freunden umdrehe, um mich erst von Malte und dann von Katja zu verabschieden. Im Anschluss nehme ich den Stoffbeutel mit den Snacks, die Malte aus meiner Wohnung mitgebracht hat, und gebe Katja den Schlüssel, damit sie abschließt und in den nächsten Wochen ein bisschen nach dem Rechten sieht und meine Pflanzen gießt. »Dann lass uns fahren. Wir liegen gut in der Zeit, trotzdem möchte ich gerne so schnell wie möglich auf die Autobahn.«
Niklas’ Finger fliegen weiter über die Tastatur, während er auf den Beifahrersitz klettert und die Tür schließt.
»Wenn ich mich nicht mehr melde, habe ich uns beide in der Ostsee ertränkt«, sage ich zu Malte.
»Und damit die neue Bremsanlage ruiniert?« Mein Kumpel lacht. »Aber im Ernst, ich hoffe, du meldest dich nicht, denn das würde bedeuten, dass ihr eine schöne Reise habt, euch miteinander beschäftigt und nicht an uns Daheimgebliebene denkt.«
Ich beschließe, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und winke meinen Freunden ein letztes Mal zu, bevor ich die Seitentür des Vans schließe, um das Fahrzeug herumgehe, und auf den Fahrersitz steige.
Und als ich den Motor starte und Henry aus der Parklücke heraus auf die Straße lenke, nehme ich mir vor, mir die Reise nicht verderben zu lassen. Weder von Niklas noch von meiner eigenen Laune.
Da Niklas’ Packerei so lange gedauert hat, ist es bereits nach zehn Uhr, als wir endlich auf der A 1 Richtung Norden fahren. Ich habe acht Stunden für die Fahrt zur Fähre eingeplant, eine Pause und einen kleinen Puffer miteingerechnet. Trotzdem bin ich angespannt. Es wäre verflucht ärgerlich, wenn wir die Fähre verpassen, weil Niklas sich nicht für eine Hose entscheiden konnte.
»Wo hast du den Van eigentlich her?«, fragt Niklas nach einem weiteren Griff in die Tüte mit Gummibärchen, die er aus meinem Proviantbeutel gefischt hat.
»Hab ihn vor vier Jahren einem befreundeten Pärchen abgekauft«, antworte ich kurz angebunden. »Na ja, Ex-Pärchen.«
»Was ist passiert?«
Ich seufze. Ich will mich auf die Straße konzentrieren und wenigstens kurz meine Ruhe haben, aber wie es aussieht, komme ich nicht um dieses Gespräch herum.
»Die beiden wollten ihn eigentlich gemeinsam umbauen, aber ihre Vorstellungen waren ziemlich unterschiedlich und da sie auch sonst immer mehr gestritten haben, ist nichts aus dem Projekt geworden.« Glück für mich, denn einen so guten Preis hätte ich auf dem freien Markt nie bekommen. Und eine weitere Bestätigung, dass einem Beziehungen nur Ärger und zerplatzte Träume einbringen.
Das Rascheln der Tüte wird lauter, nerviger. Offenbar sucht Niklas nach einem Gummibärchen in seiner Wunschfarbe. Und ich weiß, es ist übertrieben, aber irgendwie macht mich seine Anwesenheit schon nach nicht einmal einer Stunde wahnsinnig. Er scheint keine Sekunde stillsitzen zu können, sondern fummelt entweder an seinem Handy herum, wirft die Gummibärchen – meine Gummibärchen – in die Luft, um sie mit dem Mund aufzufangen, oder zappelt auf seinem Sitz herum, als wäre er mit Stacheln besetzt.
»Es wäre nett, wenn du nicht die ganze Tüte leer machst.«
Niklas wirft ein weiteres Gummibärchen hoch, das im Ausschnitt seines Shirts landet. »Ich habe dir welche angeboten, aber du wolltest nicht.«
»Jetzt gerade will ich auch keine. Aber später vielleicht.«
Er fischt das Gummibärchen unter seinem Shirt hervor und steckt es in den Mund. »Hieß er da schon Henry?«, fragt er dann, als hätte ich gar nichts gesagt, »oder hast du ihn so genannt?«
»Ich habe ihn so genannt.«
»Und wieso?«
»Einfach so.«
Niklas nimmt wieder sein Handy und ich erhasche einen Blick auf sein HeartShots-Profil. Er ist so lange still, dass ich bereits ein schlechtes Gewissen bekomme, weil ich so unfreundlich war. Dann öffnet er einen Chat, den ich als den mit mir erkenne.
»Ich habe mich übrigens sehr über deine Nachricht gefreut.«
»Ja?« Ich grinse schief. »Ich war mir nicht sicher, ob du dich an mich erinnerst.«
Er lächelt verlegen. »Natürlich erinnere ich mich an dich.« Er schaut in meine Richtung, bemerkt meinen Blick und wird rot. »Ich meine, du bist Maltes Freund. Er erzählt immer viel von dir.«
Das kann ich mir kaum vorstellen, denn so spannend ist mein Leben abseits meiner Reisen nicht. Aber es erleichtert mich, nicht komplett bei Null anfangen zu müssen. Sonst hätte ich ja gleich jemanden aus dem Internet mitnehmen können.
»Malte sagt, du hast deinen Abschluss gemacht?«
»Ja, genau. Kommunikationswissenschaften.«
»Okay. Und worum geht es dabei? Also, außer um Kommunikation und Wissenschaft?«
Niklas lacht und ich komme mir ein bisschen dämlich vor. Aber da ich mich schon früh entschieden habe, Gärtner zu werden, habe ich mich nie weiter mit anderen Jobs oder gar einem Studium beschäftigt.
»Das trifft es schon ziemlich gut. Es geht darum, wie menschliche Kommunikation funktioniert und wie man sie nutzen und verbessern kann. Weitere Schwerpunkte sind Medien und Journalismus.«
»Ah«, sage ich. »Also ein klassischer Fall von irgendwas mit Medien.«
»Und was machst du dann? Irgendwas mit Blumen?«
Ich muss lachen. »Gut gekontert. Und wie geht es jetzt für dich weiter? Suchst du nach Stellen?«
»Noch nicht. Also, ich schaue mich schon um, aber ich wollte mir erstmal eine Auszeit nehmen. Mich um meinen Account kümmern, mit dir verreisen … Ich denke, ich fange im Winter richtig mit der Suche an.«
»Und wovon lebst du bis dahin? Ich meine, bekommst du so viel Geld für deine Fotos, dass du dir die Pause leisten kannst? Soweit ich weiß, ist Düsseldorf nicht gerade ein günstiges Pflaster.«
»Ich verdiene Geld mit meinen Bildern, aber mein Job besteht längst nicht nur aus meinen eigenen Beiträgen«, erklärt Niklas. »Ich werde auch von Brands beauftragt, betreue ihre Accounts oder erstelle Posts, Anzeigen und Kampagnen für sie.«
Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet. Alles, was ich sehe, sind Fotos sinnloser Produkte, die von Leuten mit zu viel Geld und zu wenig Selbstbewusstsein gekauft werden.
»Ich habe noch nie etwas gekauft, das mir bei HeartShots angezeigt wurde.«
Niklas zuckt mit den Schultern. »Du nicht. Viele andere schon. Der Markt wächst jedenfalls immer noch und Leute wie ich können sich vor Anfragen und Aufträgen kaum retten.«
Ich überlege, ob ich ihm meine Meinung dazu darlegen soll, entscheide mich aber dagegen und greife nach meinem Thermobecher. Es ist zu früh für eine Diskussion oder gar einen Streit und die Stimmung zwischen uns ist ohnehin angespannt. Aber ich werde mir das Thema definitiv für später merken.
Während ich im Kopf ein weiteres Mal unseren Zeitplan durchgehe, beschäftigt sich Niklas wieder mit seinem Handy. Und ich will ihn nicht anfauchen, aber als er erneut zu zappeln beginnt, kann ich nicht anders: »Kannst du mal stillhalten? Nur für ein paar Minuten?«
Niklas erstarrt, lässt sich aber tatsächlich zurück in seinen Sitz sinken. »Sorry.«
Ich nicke und schaue wieder auf die Straße. Außer uns sind nicht viele Fahrzeuge unterwegs und die Verkehrsmeldungen sehen, von den üblichen Baustellen abgesehen, auch gut aus. Wenn wir den Rest der Strecke so gut durchkommen wie bisher, werden wir die Fähre also locker erreichen. Bei dem Gedanken entspanne ich mich etwas.
»Schon okay. Ich muss mich wohl erst daran gewöhnen, dass jemand neben mir sitzt.«
»Ja?«, kontert Niklas sarkastisch. »Ist mir gar nicht aufgefallen.«
Ich schnaube und deute auf die Gummibärchentüte. »Her damit.«
»Sag bitte.«
»Sofort!«
Niklas grinst, hält mir aber brav die Tüte hin. Ich habe noch immer keine Lust auf was Süßes, greife aber trotzdem hinein, schon aus Prinzip. Damit Niklas meine Vorräte nicht allein vernichtet.
Während ich das erste Bärchen in den Mund stecke, nimmt Niklas wieder sein Handy und filmt durch die Windschutzscheibe nach draußen.
»Und noch was«, beginne ich. Es ist besser, ich sage es ihm jetzt, auch wenn ich mir denken kann, wie er reagiert. »Ich möchte nicht, dass du Henry und mich filmst. Weder heute, noch in den nächsten Wochen. Okay?«
Niklas sieht mich an, die Stirn gerunzelt. »Wieso das?«
Ich schalte und setze mich hinter einen Kombi. »Weil ich mein Privatleben gerne aus der Öffentlichkeit heraushalte und keine Lust habe, Teil deiner persönlichen HeartShots-Show zu werden.«
»Hast du je eines meiner Videos gesehen? Oder projizierst du gerade nur deine persönlichen Vorurteile gegenüber den sozialen Netzwerken auf mich?«
Erwischt, gebe ich widerwillig zu, denn ich habe tatsächlich gerade mal eine Handvoll der Videos gesehen, die er in seinem Feed gepostet hat. Und was ich über Influencer denke, habe ich auch schon mehr oder weniger deutlich gemacht. Trotzdem werde ich langsam sauer. Wieso kann er meine Meinung nicht einfach akzeptieren?
»Ist das nicht egal? Ich will nicht, dass du mich filmst. Punkt.«
Als ich ihn erneut ansehe, bemerke ich sein selbstgefälliges Grinsen. Als hätte meine Antwort etwas bestätigt, das er bisher nur vermutet hat.
»Okay«, sagt er dann. »Obwohl es schade drum ist. Du kämst sicher gut an. Schon wegen deinem Man Bun. Und dem Tattoo.« Er deutet auf meinen Arm. »Es gefällt mir.«
Meine Augen werden groß. Hat er mir gerade ein Kompliment gemacht?
Ich drehe meinen Arm und mustere die schwarzen Linien, die sich um meinen Unterarm ziehen, und die dicken schwarzen Punkte auf der Innenseite.
»Danke.«
Niklas nickt. »Ich stehe auf Tattoos. Hast du noch mehr?«
Ich runzele die Stirn. Wird das hier ein Flirt oder versucht er, mich zu überreden, doch in seinen Beiträgen aufzutreten?
»Insgesamt fünf.«
Niklas stemmt sich in seinem Sitz hoch, bis er mein erstes Tattoo, den Adventure-Schriftzug knapp unter meinem linken Ellbogen, sehen kann. »Zwei sehe ich. Wo ist der Rest?«
Ich löse eine Hand vom Lenkrad und schiebe meinen linken Ärmel nach oben, bis die stilisierte Berglandschaft darunter sichtbar wird. »Die anderen zeige ich dir jetzt nicht.«
»Wieso nicht? Bist du schüchtern? Oder sind sie versaut?«
Ich schnaube. »Ich habe bloß keine Lust, mich während der Fahrt auszuziehen.«
»Spielverderber. Verrätst du mir wenigstens, wo sie sind?«
Angesichts seiner Neugier wittere ich eine Chance, wenigstens für ein paar Stunden meine Ruhe zu haben, und nutze sie sofort. »Kommt drauf an.«
»Worauf?«
»Ob du im Anschluss mit dem Gezappel aufhörst, das Handy weglegst und die Klappe hältst.«
»Ich zappel gar nicht.«
»Tust du wohl.«
»Also, was ist nun mit den Tattoos?«
»Ich höre dich immer noch quatschen, also nichts.«
Niklas überlegt. Dann wirft er ein Gummibärchen nach mir und schüttelt den Kopf. »Ich kriege sie sicher auch so zu sehen.«
Seufzend stecke ich mir zwei weitere Gummibärchen in den Mund und drehe die Musik auf. Das heißt wohl Nein.
Drei Stunden später steuere ich eine Raststätte an, weil Niklas auf Toilette muss. Bis das Schild an der Autobahn in Sicht kam und er sich gemeldet hat, bin ich davon ausgegangen, ohne Probleme durchfahren zu können. Aber als ich aus dem Van steige und meinen verspannten Rücken dehne, merke ich, dass auch ich eine Pause nötig habe. Manchmal vergesse ich, wie anstrengend es ist, den alten Van mit seinem gigantischen Schalthebel und der fehlenden Servolenkung zu fahren. Außerdem bin ich seit fünf Uhr auf den Beinen. Das wäre normalerweise kein Problem für mich, aber da ich die Nacht davor schon kaum geschlafen habe, weil mir unzählige Dinge durch den Kopf gegangen sind, die ich vor der Reise noch erledigen wollte, bin ich inzwischen ganz schön fertig. Und Niklas, der in der letzten Stunde zunehmend ruhiger wurde, ist wahrscheinlich sogar noch früher aufgestanden. Allein, um sich die Haare zu machen.
Durch ebenjene fährt er sich, bevor er sich zu mir umdreht. In der anderen Hand hält er seinen Rucksack, der, wie ich während der Fahrt gesehen habe, noch mehr Technikkram enthält.
»Ich schlage vor, wir treffen uns in zehn Minuten wieder hier und –«
»Zehn Minuten?«, unterbricht mich Niklas. »Du bist ein echter Sklaventreiber, weißt du das?«
Ich verdrehe die Augen. War ja klar, dass er es wieder auf eine Diskussion ankommen lässt. »Ich habe dir gesagt, dass ich die Fähre fest gebucht habe.«
»Na und? Bis die fährt, haben wir noch jede Menge Zeit. Und selbst wenn wie sie verpassen, ist das sicher nicht das einzige Schiff, das heute fährt.«
»Das nicht«, erkläre ich verärgert. »Aber die Tickets, die man spontan kauft, sind viel teurer als die, die man über das Internet vorbestellt.« Und ich habe echt keine Lust, meine ohnehin mickrige Reisekasse weiter zu plündern, weil er eine Runde shoppen will.
»Ist ja gut«, sagt er widerwillig und schultert seinen Rucksack. »Ich gehe dann mal, bevor ich platze.«
Ich sehe ihm nach, als er das flache Raststättengebäude ansteuert, in dem sich neben den Toiletten ein Restaurant mit Café befindet. Als er hinter der Glastür verschwindet, ziehe ich mein Smartphone aus dem Korb auf dem Armaturenbrett.
Katja geht bereits nach dem zweiten Klingeln ran. Als hätte sie auf meinen Anruf gewartet.
»Hallo, Herr Reiseleiter. Lebt er noch?«
Ich wende mich von den Gebäuden ab und lehne mich an Henry. »Noch. Aber ich schwöre dir, wenn er so weitermacht, schmeiße ich ihn von der Fähre. Sofern wir die überhaupt noch erreichen.«
Katja lacht. »Wo seid ihr gerade?«
»Kurz vor Bremen.«
»Also liegt ihr gut in der Zeit, oder?« Ich höre eine Tür zufallen, dann leisen Straßenlärm. Offenbar ist sie auf die Dachterrasse gegangen, um die ich sie bei jedem Besuch in ihrer Wohnung beneide. »Aber erzähl schon, womit treibt er dich jetzt in den Wahnsinn?«
Ich reibe mir mit der freien Hand über den Nacken. »Wo soll ich anfangen? Wenn er nicht gerade redet, zappelt er herum, spielt mit seinem Handy oder macht Selfies, die er gleich wieder löscht. Ehrlich, der Mann kann keine fünf Minuten stillsitzen. Und er hat fast meinen gesamten Proviant vernichtet.«
»Euren Proviant.«
»Wie bitte?«
»Du hast gesagt, dass du die Sachen für euch beide gekauft hast.«
»Darum geht es doch gar nicht.«
»Worum geht es dann?«
Ich seufze. Wenn ich ehrlich bin, kann ich selbst nicht sagen, wieso mich das so ärgert. Vielleicht, weil ich nicht gut mit Egoismus umgehen kann. Zumindest nicht bei anderen.
»Ich weiß wirklich nicht, ob es eine gute Idee war, ihn mitzunehmen. Ich habe mich so lange auf diese Reise gefreut. Aber momentan würde ich am liebsten wieder umdrehen.«
»Das gibt sich. Lernt euch erstmal kennen. Auch, wenn das bedeutet, dass du vielleicht mal über deinen Schatten springen musst. Denn ehrlich gesagt kannst du manchmal ganz schön fies sein.«
Damit hat sie recht. Trotzdem könnte ich ihr für einen Moment den Hals rumdrehen. Muss sie mir meine Unzulänglichkeiten derart unter die Nase reiben?
»Ich fühle mich wie ein verdammter Kindergärtner.«
»Es war deine Idee, mich mitzunehmen.«
Ich fahre herum und blicke in Niklas’ Gesicht. Ich habe nicht gehört, dass er zurückgekommen ist.
»Bist du fertig?«, frage ich, ohne mein Smartphone sinken zu lassen.
Niklas deutet auf den Selfiestick in seiner Hand. »Ich brauche noch ein paar Minuten.«
»Kannst du deine Videos nicht machen, wenn wir da sind?« Ich schaue demonstrativ auf meine Uhr. »Wir haben ein Schiff zu kriegen.«
Niklas’ Blick verfinstert sich. »Sehe ich das richtig? Du darfst telefonieren, aber ich soll mein Handy wegstecken, bis wir da sind?«
»Das ist was anderes.«
»Ist es nicht«, schießt er zurück. Dann wirft er den Rucksack in den Van und stürmt ohne ein weiteres Wort Richtung Raststätte davon.
»Scheiße«, entfährt es mir, bis ich mich wieder an Katja erinnere, die wahrscheinlich jedes Wort gehört hat.
»Was war das denn?«, will sie prompt wissen.
»Mein persönlicher Albtraum«, gebe ich theatralisch zurück.
Sie lacht. »Komm schon, David. Du stehst doch drauf.«
Der Kommentar ist so absurd, dass mir für einen Moment die Luft wegbleibt. »Wie kommst du darauf?«
»Das ist doch offensichtlich. Wenn du Niklas nicht insgeheim scharf finden würdest, wärst du längst ohne ihn weitergefahren.«
Ich bin zu entrüstet, um angemessen darauf zu antworten. Und zum Glück habe ich auch gerade ein anderes Problem zu lösen.
»Ich muss auflegen. Ich melde mich, wenn wir auf der Fähre sind.«
»Okay. Viel Spaaaß!«
Schnaubend lege ich auf und steige in den Van. Durch die staubige Windschutzscheibe schaue ich zur Raststätte. Als Niklas nach über zehn Minuten wieder rauskommt, hält er den Selfiestick in der Hand und hat die Kamera auf sich gerichtet. Wahrscheinlich berichtet er seinen Followern von den neuesten Trends in Sachen Raststättenessen. Dafür spricht der Karton, den er dabeihat. Ich trommele auf dem Lenkrad herum. Kommt er nochmal zurück oder muss ich ihn holen?
Um nicht vor Ungeduld wahnsinnig zu werden, greife ich erneut nach meinem Smartphone, öffne HeartShots und rufe seine Seite auf. Als ich auf sein Profilbild tippe, sehe ich das Video, das er während der Fahrt aufgenommen hat. Finally on the road! steht im Kommentar dazu. Ich verziehe den Mund. So sollte ich mich fühlen. Stattdessen mache ich meinem inneren Griesgram mal wieder alle Ehre.
Ich schalte das Smartphone aus und bin kurz davor, aufzustehen und Niklas herzuschleifen, als er den Selfiestick endlich sinken lässt und zu mir kommt. Seufzend lehne ich die Stirn gegen das Lenkrad. So viel dazu, dass er nur schnell auf Toilette will.
Niklas steigt ein und hält mir den Karton entgegen. Ich sehe Muffins und zwei Pappbecher, aus denen es verführerisch nach Kaffee duftet.
»Für mich?«
»Siehst du hier noch jemanden?«
Sein bissiger Tonfall passt nicht zu der überraschend netten Geste. Die ich im Übrigen nicht verdient habe, so, wie ich mich ihm gegenüber verhalten habe.