Sturmküsse auf Juist - Tina Winter - E-Book

Sturmküsse auf Juist E-Book

Tina Winter

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Beschreibung

Kreativer Chaoskopf trifft auf leidenschaftlichen Naturschützer. Humorvolle, berührende Gay Romance für Fans von Svea Lundberg, K. C. Wells und Leyna Wood »›Du entwickelst dich zu meinem persönlichen Schwachpunkt und das gefällt mir nicht.‹ Ich schlinge die Arme um ihn und vergrabe die Nase in seiner Halsbeuge. Er riecht so gut. Und er fühlt sich unglaublich gut an. ›Tut mir leid, dass ich so unwiderstehlich bin. Ich kann nichts dafür, ich kam so auf die Welt.‹« Freund weg, Wohnung weg, Job weg – mit sechsundzwanzig steht Architekturstudent Leon vor den Trümmern seiner Existenz. Um sein gebrochenes Herz zu heilen und Geld für den Neuanfang zu verdienen, nimmt er eine Stelle in einer Naturschutzstation auf Juist an. Dabei trifft er auf den attraktiven Vogelschützer Patrick, der seinen Vorsatz, sich vorerst auf keine Beziehungen mehr einzulassen, gefährlich ins Wanken bringt. Aber Patrick kämpft um seine Zukunft auf der Insel und Leon muss bald zurück nach Berlin. Zwischen ihnen kann also nie mehr als ein Urlaubsflirt sein. Oder etwa doch?

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Mira Manger

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de

Covermotiv: Freepik (rawpixel.com, joethongsan, senee_sriyota); Shutterstock (ShutterProductions, Krakenimages.com)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Für meine Mutter, die meine Liebe zur Nordsee geweckt hat

Kapitel 1

Als mir meine beste Freundin voller Euphorie erzählte, dass sie mir einen Job auf einer Ferieninsel besorgt hat, dachte ich an weiße Strände, Palmen und heiße Kerle in knappen Strings, die mir nach Feierabend Cocktails in Kokosnüssen servieren. Und nicht an einen Sandhaufen im ostfriesischen Wattenmeer, kreischende Möwen und eisigen Nieselregen, der unter meine Lederjacke kriecht und mich sogar Biancas Sofa vermissen lässt, auf dem ich in den letzten vier Wochen geschlafen habe.

Missmutig schlinge ich die Arme fester um meinen Oberkörper, lehne mich gegen die Reling des Passagierdecks und starre auf die stahlgraue Nordsee hinaus. Vielleicht muss ich meine Bezeichnung für die Insel vor dem Bug der Fähre Frisia II noch mal überdenken, denn bisher ist kaum Sand zu sehen. Wahrscheinlich liegt der Strand auf der anderen Seite, zum offenen Meer. Sofern ihn der Wind, der mir durch die Haare fährt und mich trotz der milden Frühlingstemperaturen zittern lässt, nicht weggeweht hat.

Tja, ich werde genug Zeit haben, ihn zu suchen, denn für die nächsten sechs Monate wird Juist mein Zuhause sein. Falls ich so lange durchhalte und meinen Aushilfsjob in der örtlichen Naturschutzstation nicht vorher hinschmeiße.

Hinter mir sind Schritte zu hören, kurz darauf treten ein Mann und eine Frau neben mir an die Reling. Bisher hatte ich das Außendeck mit den knallroten Plastikbänken für mich allein, da die anderen Fahrgäste im Restaurant unter Deck geblieben sind, wo es warm und trocken ist. Ich könnte ebenfalls runtergehen, aber das beschissene Wetter passt zu meiner beschissenen Stimmung, und ich will mir den dramatischen Effekt nicht nehmen lassen.

Die beiden Neuankömmlinge sind etwa in meinem Alter, doch im Gegensatz zu mir tragen sie Regenjacken, leichte Wanderschuhe und sogar Mützen aus Fleece. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass sie nicht zum ersten Mal an der Nordsee sind. Ich selbst war auch schon mal auf der Nachbarinsel Norderney und es gibt Fotos, auf denen ich als Kind mit Eimer und Schaufel im Sand spiele. In den letzten Jahren hat es mich allerdings eher in den Süden gezogen, sofern ich Berlin überhaupt verlassen habe.

Der junge Mann nickt mir zu, während mich die Frau derart mitleidig anlächelt, dass ich mir wie ein Trottel vorkomme, der zum ersten Mal allein verreist und prompt alles falsch macht. Aber in Berlin brauche ich nun einmal weder Regenjacke noch Gummistiefel, und da ich ohnehin nichts für Wattwanderungen übrighabe, werden Jeans und Chucks ja wohl reichen.

Ich schenke ihr einen finsteren Blick, wende mich wieder ab und beobachte die Wellen, die das Schiff wie einen Brautschleier neben sich herzieht. In guten wie in schlechten Zeiten, denke ich zynisch und mir entweicht ein verächtliches Schnauben. Sogar im Leben einer alten Inselfähre gibt es mehr Romantik als in meinem eigenen. Und dabei wird es erst einmal bleiben, selbst wenn ich unter den Ökos und Inselbewohnern jemanden finde, der mir gefällt. Nach der Pleite mit Tristan habe ich die Schnauze gestrichen voll von Männern und Beziehungen.

Ein weiteres Schiff schält sich aus dem Dunst, begrüßt uns mit dem tiefen Dröhnen einer Schiffshupe und pflügt an uns vorbei durch die aufgewühlte Nordsee Richtung Norddeich. Sehnsüchtig blicke ich ihm nach. Wenn ich jetzt von der Fähre springe, könnte ich es noch erreichen? Die Besatzung wäre sicher verpflichtet, mich zu retten und mit zurück zum Festland zu nehmen, oder?

Während ich darüber nachdenke, wie kalt die Nordsee Anfang März sein wird, verschwindet das Schiff aus meinem Sichtfeld. Auch gut. Es wäre ohnehin eine blöde Idee gewesen zu springen, solange mein Koffer und damit meine Skizzenbücher in einem Container auf dem Parkdeck liegen. Denn nichts, nicht einmal mein Liebeskummer, könnte mich dazu bringen, meine Zeichnungen zurückzulassen.

Der Regen wird schwächer und die Konturen der Insel langsam deutlicher. Bald kann ich ein weißes Gebäude ausmachen, das mich an ein Segel erinnert, und das ebenso weiße Strandhotel mit Glaskuppel, von dem ein paar Touristen gesprochen haben, die vor mir auf die Fähre gegangen sind. Ich selbst werde gemeinsam mit den anderen Mitarbeitern in der Station wohnen. Für Kost und Logis muss ich zwar einen Teil meines Gehalts abdrücken, aber das ist deutlich billiger als eine Ferienwohnung oder gar ein Hotelzimmer.

Die übrigen Häuser des Inselortes kann man an zwei Händen abzählen. Ich seufze. In welches Niemandsland hat mich Bianca hier verbannt? Ich wollte zwar raus aus Berlin, der Arsch der Welt hätte es allerdings nicht gleich sein müssen.

Als erste Sonnenstrahlen zaghaft durch die graue Wolkendecke brechen, ziehe ich mein Smartphone aus der Gesäßtasche. Überrascht stelle ich fest, dass ich hier draußen Empfang und sogar mobiles Internet habe. Wenigstens eine Sache, um die ich mir in den nächsten Monaten keine Sorgen machen muss. Denn auch wenn ich der Stadt den Rücken kehren wollte und sogar ein Urlaubssemester an der Uni einlege, um meine Wunden zu lecken, möchte ich mitbekommen, was meine Freunde und Mitstudierende so treiben.

Ich rufe die Kontakte auf und scrolle durch die Liste, bis ich Biancas Nummer finde. Kurz bleibt mein Blick dabei auf dem Eintrag Baby hängen. Es war nur ein Scherz, da ich Tristan nie so genannt habe und ihn bloß mit dem albernen Kosenamen ärgern wollte. Aber dann habe ich ihn nie zurückgeändert.

Ob ihn sein Neuer ebenfalls unter Baby abgespeichert hat? Oder vielleicht unter Treuloses Arschloch, das nicht nur Leons Geburtstag, sondern auch sein ganzes Leben ruiniert hat?

Ich reiße den Blick von Tristans Kontakt los und tippe auf den grünen Hörer neben Biancas Namen. Es ist erst früher Nachmittag, weshalb sie in der Galerie sein wird. Wenn ich Glück habe, erwische ich sie trotzdem.

Es klingelt zweimal, ehe sie rangeht und mich mit einem fröhlichen »Hi, bist du schon angekommen?« begrüßt.

»Fast«, erwidere ich und wende mich wieder der Insel zu. Hinter dem markanten weißen Gebäude liegt ein kleiner Jachthafen. Segelboote schaukeln in den Wellen, die nassen bunten Fahnen an den Masten bewegen sich träge im Nordseewind. »Hilf mir auf die Sprünge: Was genau wollte ich hier noch gleich?«

»Arbeiten und dabei etwas für den Naturschutz im Nationalpark Wattenmeer tun?«

Ich lecke mir über die Oberlippe und schmecke Salz. »Das klingt so gar nicht nach mir. Ich meine, das Einzige, was ich je für den Naturschutz getan habe, war, einen Topf mit einer Blumenmischung für Bienen zu kaufen, die nach einer Woche im Balkonkasten unserer …« Ich unterbreche mich und schließe die Augen, als ich ein vertrautes Ziehen in meiner Brust spüre. Ich weigere mich, zu sagen, dass mir Tristan das Herz gebrochen hat, aber fuck, genauso fühlt es sich an. »… seiner Wohnung eingegangen ist.«

Ich sehe förmlich vor mir, wie Bianca die Augen verdreht und sich eine Strähne ihres platinblonden Bobs hinter das gepiercte Ohr schiebt, ehe sie sagt: »Okay, vielleicht ist die Wahl auch auf die Insel gefallen, weil Juist über vierhundert Kilometer von Berlin und damit von Tristan entfernt liegt und nur alle paar Stunden während der Flut mit der Fähre erreichbar ist?«

»Ja, das hört sich schon plausibler an.« Außerdem wäre da noch das Detail, dass ich seit meinem Ausraster in der Bar arbeitslos bin und das Gehalt, so mickrig es nach Abzug aller Kosten sein mag, dringend für meinen Neuanfang brauche.

Meine Gedanken wandern zurück zu meinem letzten Abend im Galant, der queeren Bar, in der ich neben dem Architekturstudium gejobbt habe. Ich würde einiges dafür geben, ihn aus meinem Gedächtnis löschen zu können. Leider hat der Alkohol, den ich nach dem Streit mit Tristan und der anschließenden fristlosen Kündigung wegen diverser zerbrochener Flaschen und Gläser heruntergekippt habe, zwar für gewaltige Kopfschmerzen gesorgt, die Erinnerungen jedoch unangetastet gelassen. Aber wie scheiße kann man bitte sein, seine neue große Liebe ausgerechnet in die Bar auszuführen, in der der Mann arbeitet, den man keine Woche zuvor sitzengelassen hat? Wir reden hier schließlich nicht von einem Dorf mit nur einer Kneipe, sondern der verfickten Bundeshauptstadt. Nachdem er mir bereits das Studium versaut hat, indem er mit meinem Tutor in die Kiste hüpft, war mein Arbeitsplatz wohl das nächste logische Ziel. Schiffe versenken in Leons Leben sozusagen.

»Vielleicht hast du ja mit Vögeln mehr Glück als mit Insekten«, sagt Bianca und holt mich wieder in die Gegenwart zurück.

»Wohl kaum.« Ich hebe den Kopf, um das Tier zu mustern, das auf dem Dach der Schiffsbrücke sitzt und sich lautstark über irgendetwas beschwert. Vermutlich das Wetter. »Diese dämlichen Möwen nerven mich jetzt schon. Eine hat mir vorhin in Norddeich fast auf die Jacke geschissen. Hätte nichts dagegen, wenn sie aussterben.«

Neben mir erklingt ein Schnauben. Die junge Frau, die meinen Kommentar offenbar gehört und eine andere, gnädigere Meinung zu den Seevögeln hat. Ob sie und ihr Begleiter ebenfalls zur Naturschutzstation wollen?

Bianca seufzt. »Wenn es gar nichts für dich ist, kannst du die Sache natürlich auch abblasen und nach Hause kommen. Soweit ich mich erinnere, hast du eine vierwöchige Probezeit.«

Meine Lippen verziehen sich zu einem humorlosen Lächeln. »Und welches Zuhause soll das bitte sein? Etwa die Wohnung, die ich mit Tristan gemeinsam eingerichtet habe und aus der er mich nach der Trennung eiskalt rausgeworfen hat?« Ich werde mit jedem Wort lauter, und als ich erneut zu meinen Vielleicht-Kollegen sehe, wenden die sich hastig ab. Tja, meinetwegen sollen sie ruhig wissen, dass sie das nächste halbe Jahr mit einem frisch getrennten Homo zusammenarbeiten müssen. Wenn ihnen das nicht passt, können sie sich ja andere Jobs suchen. »Oder das Wohnzimmer deiner WG? Korrigier mich, wenn ich mich irre, aber Rahel scheint mich eher heute als morgen loswerden zu wollen.«

»Tristan hat dich nicht rausgeworfen, du bist gegangen.«

»Was blieb mir denn anderes übrig? Ich konnte keine Sekunde länger mit ihm zusammenleben.« Zwar glaube ich Tristan, dass er wenigstens so fair war, es nicht in unserem Bett mit Marius zu treiben. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass er mich nach fast drei Jahren Beziehung gegen einen anderen ausgetauscht hat, ohne mir die Chance zu geben, um ihn – um uns – zu kämpfen. Als hätte er seine Gefühle für mich einfach ausgeknipst, während ich so naiv war, von einer gemeinsamen Zukunft zu träumen.

»Ich meine es ernst, Leon. Wenn du dich auf Juist nicht wohlfühlst, komm zurück und wir suchen dir was anderes.«

Der Gedanke ist verlockend. Andererseits hat Bianca recht, wenn sie sagt, dass ich genau das hier wollte. Einen Job, der mich weit genug von Tristan, Marius und unserem Kiez wegbringt, um nicht Gefahr zu laufen, ihnen zu begegnen und erneut auszurasten. Ich bin kein cholerischer Mensch und hasse Streit, aber der Trennungsschmerz ist so frisch, dass ich nicht weiß, ob ich mich beherrschen kann, sollte ich die beiden noch mal derart glücklich verliebt aneinander herumfummeln sehen. Warum gibt es eigentlich kein Gesetz, das Betrüger wie Tristan per Erlass zwingt, in eine andere Stadt oder gleich ein anderes Bundesland zu ziehen?

»Und wo soll ich leben? Du kennst den Berliner Wohnungsmarkt. Bis ich da etwas finde, das ich mir leisten kann, bin ich Mitte dreißig.«

»Was ist mit deinen Eltern? Dein Dad würde sicher sofort dein altes Kinderzimmer für dich räumen.«

Mein Griff um die Reling wird fester. »Auf keinen Fall.«

»Wieso nicht? Okay, der Weg zur Uni wäre länger, aber ihr versteht euch super.«

»Ja, gerade weil wir in getrennten Wohnungen leben«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich liebe meine Eltern und sie mich, zurück in ihre Altbauwohnung zu ziehen, würde sich dennoch wie ein Rückschritt anfühlen. Als wäre ich im Leben gescheitert. »Du weißt, wie meine Mum ist, sie würde mich rund um die Uhr bemuttern, mir schreckliche Klamotten kaufen und versuchen, mich mit dem ach so netten Sohn einer ihrer Buchclub-Freundinnen zu verheiraten.«

»Für mich klingt das gar nicht schlecht«, erwidert Bianca nonchalant. »Wenn er süß ist.«

»Ist er nicht.«

»Woher weißt du das? Du kennst ihn doch noch gar nicht.«

Ich verdrehe die Augen. »Genauso wenig wie du.«

Bianca lacht. »Hey, ich will dich bloß aufmuntern.«

»Ich weiß …«

»Und, was sagst du?«

Das Schiff fährt an dem segelförmigen Gebäude vorbei, bei dem es sich bei näherem Hinsehen um einen Aussichtsturm aus Holz und weiß lackiertem Stahl handelt. Dann laufen wir in den Hafen ein.

»Ich kann mir die Insel ja zumindest mal ansehen«, antworte ich schwach und trommele mit den Fingern auf die feuchte Reling, während das Schiff wendet und sich langsam der Kaimauer nähert. Das Deck unter meinen Füßen vibriert und der Geruch von Diesel steigt mir in die Nase.

»Mach das. Und wer weiß, vielleicht gefällt es dir ja sogar. Ich habe mir online Videos von Juist angesehen, die Insel scheint richtig schön zu sein. Und wenn erst der Sommer kommt und du am Strand liegen und heiße Kerle beim Surfen beobachten kannst, wirst du Tristan ganz schnell vergessen.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe, um die Antwort, die mir durch den Kopf schießt, nicht aus Versehen laut auszusprechen. Denn obwohl ich Tristan, wenn er in dieser Sekunde das Deck betreten würde, sofort und ohne Skrupel vom Schiff schmeißen würde, gibt es noch diesen lächerlich verliebten Trottel in mir, der die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit nicht loslassen will. Liebeskummer ist eine Bitch.

»Ich muss auflegen«, sage ich, als das Schiff stoppt und die Rampen zum Fahrzeugdeck und dem Passagierausgang heruntergelassen werden. »Wir sind da.«

»Alles klar. Weißt du, wohin du musst? Oder holt dich jemand ab?«

»Der stellvertretende Leiter der Station hat mir per Mail geschrieben, dass uns einer der anderen Praktikanten am Hafen erwartet.« Ich lasse den Blick über das winzige Dorf wandern, das sich an den ebenso winzigen Hafenbereich anschließt. »Wobei man sich hier schon echt Mühe geben muss, um sich zu verlaufen.«

»Melde dich, wenn du in der Station angekommen bist, ja? Ich will schließlich wissen, wie du die nächsten Monate wohnen wirst.«

»Mach ich«, verspreche ich, lege auf und wende mich Richtung Ausgang. Der Mann und die Frau von vorhin sind bereits verschwunden. Ob sie mein Gespräch mit Bianca vertrieben hat? Oder können sie es bloß kaum erwarten, die Insel zu erkunden?

Ich stecke das Smartphone ein und atme tief durch. Dann schiebe ich die Hände in die Taschen meiner Jacke und setze mich in Bewegung.

Kapitel 2

Obwohl der Hafen von Juist so klein ist und die Fähre nicht voll war, herrscht auf dem Platz, den ich kurz darauf betrete, ein ziemliches Gewimmel. Da wir uns in der Nebensaison befinden, sind es vor allem Senioren, die ihre Koffer aus den Containern ziehen, während sie darüber diskutieren, ob dieses Restaurant oder jenes Café wohl schon geöffnet hat. Kisten mit Lebensmitteln und anderen Waren werden auf Fahrradanhänger und – zu meiner Überraschung – sogar Pferdefuhrwerke geladen, Kleinkinder laufen umher und Möwen ziehen kreischend ihre Kreise über unseren Köpfen, auf der Suche nach einem unbewachten Fischbrötchen.

Ich bleibe in der Mitte des Platzes stehen und sehe mich verloren um. Nach der Mail von Herrn Schröder bin ich davon ausgegangen, dass hier jemand auf mich wartet. Bisher entdecke ich jedoch weder ein Schild noch höre ich irgendwo meinen Namen. Im Zweifel werde ich die Naturschutzstation sicher auch allein finden, so groß ist Juist schließlich nicht. Trotzdem steigen Verunsicherung und Ärger in mir auf. Ich hatte mir meinen Start auf der Insel unkomplizierter vorgestellt.

Während ich mein Smartphone aus der Gesäßtasche ziehe und die letzte Mail meines neuen Chefs aufrufe, entdecke ich die Frau von der Fähre zwischen den anderen Touristen. Sie hat die Regenjacke abgestreift und über ihre Reisetasche geworfen, weshalb ich den NABU-Schriftzug auf dem Rücken ihres Hoodies lesen kann. Bingo, sie will definitiv ebenfalls zur Station.

»Hey!«, rufe ich, umschließe mit der freien Hand den Griff meines Rollkoffers und eile ihr und ihrem Begleiter hinterher.

Sie bleibt stehen und dreht sich um. Als sie mich wiedererkennt, verzieht sie für den Bruchteil einer Sekunde das sommersprossige Gesicht. Wie es aussieht, habe ich meine erste Freundin gefunden. Nicht.

»Kann ich dir helfen?« Ihr kühler Tonfall verrät, dass die Frage eher rhetorisch gemeint ist und sie mich möglichst schnell wieder loswerden will. Aber immerhin ist sie stehen geblieben.

»Hoffentlich«, sage ich und ringe mir ein Lächeln ab. Ich denke zwar nicht, dass wir viel gemeinsam haben, aber wenn wir die nächsten Monate zusammenarbeiten sollen, wäre es gut, mögliche Differenzen früh aus dem Weg zu räumen. »Wollt ihr auch zur Naturschutzstation? Ich fange dort heute als studentische Aushilfskraft an.«

Sie betrachtet mich von oben bis unten, scheint abzuwägen, ob sie es darauf ankommen lässt, mich eiskalt in die falsche Richtung zu schicken. »Ja«, sagt sie dann und zieht sich die Mütze vom Kopf, unter der rote Locken zum Vorschein kommen.

»Super. Wisst ihr, wo wir hinmüssen? Ich dachte, wir werden abgeholt, aber vielleicht verspäten sie sich ja.«

»Er wartet da hinten«, erwidert der Mann, ohne auf meinen Einwand einzugehen. Er hat seine Regenjacke geöffnet, sodass ich das ausgeblichene Fan-T-Shirt eines Computerspiels darunter sehen kann. Er ist kleiner als ich, trägt seine schulterlangen blonden Haare zu einem unordentlichen Zopf zusammengebunden und müsste sich dringend mal wieder rasieren. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass zumindest wir uns verstehen werden.

Mein Blick folgt seiner Geste und findet einen dürren Typ neben vier Fahrrädern und einem Anhänger, der auf jemanden zu warten scheint.

Der Nerd und seine Freundin wenden sich ab, und weil ich sie nicht verlieren will, dackele ich ihnen hinterher. Es kommt mir albern vor, dass mich die beiden wegen meines Möwen-Kommentars bereits in eine Schublade gesteckt haben. Sie wissen sicher genauso gut wie ich, dass das bloß ein Witz war. Zugegeben, keiner meiner besten, vor allem angesichts unserer Jobs im Vogelschutz.

Der Mann entdeckt uns und kommt näher, um seine Hilfe beim Gepäck anzubieten. Mein Koffer ist der mit Abstand größte und leider auch komplett voll. Da ich nicht wusste, was mich erwartet, habe ich alles eingepackt, von dem ich dachte, dass ich es brauchen könnte. Bis auf meine Staffelei, da die selbst eingeklappt zu lang für den Koffer war und ich keine Lust hatte, sie zusätzlich zu schleppen. Abgesehen davon hätte ich sie vermutlich ohnehin nicht genutzt. Wir werden in der Station zwar normale Arbeitstage haben, aber sicher auch unsere Freizeit miteinander verbringen.

Ich wuchte das Gepäckstück auf den Fahrradanhänger, der bedrohlich unter dem Gewicht quietscht, dann trete ich beiseite, damit mein neuer Kollege seinen Rucksack danebenstellen kann. Anschließend gibt es eine kurze Vorstellungsrunde.

Der Mann, der uns abholt, heißt Arne, meine Begleiter stellen sich als Sarah und Ben vor.

»Und ich bin …«, setze ich an und mache einen Schritt nach vorne, um mich ebenfalls vorzustellen. Bevor ich jedoch dazu komme, den Satz zu beenden, breitet sich etwas Warmes, Weiches unter meinem Schuh aus. Ein frischer Pferdeapfel, dessen süßlich-fauliges Aroma sogar den markanten Geruch des Meeres überdeckt. »Scheiße.«

Sarah und die anderen lachen, während ich auf einem Bein zur Wiese hinter dem Anhänger hüpfe und mit brennenden Wangen versuche, den Pferdemist von meiner Schuhsohle abzustreifen. Am liebsten würde ich mir meinen Koffer schnappen und zurück zur Fähre flüchten. Mein Start auf der Insel könnte jedenfalls nicht beschissener laufen – im wahrsten Sinne des Wortes.

Wie soll ich Sarah und den anderen zeigen, was für ein netter Kerl ich bin, wenn ich von einem Fettnäpfchen ins nächste stolpere?

»Hast du’s bald?«, fragt Sarah hinter mir.

Ich presse die Lippen aufeinander, um ihr nicht zuzurufen, dass sie mich mal kreuzweise kann, und damit den nächsten Minuspunkt zu sammeln. Stattdessen atme ich tief durch und drehe mich wieder um, ein Lächeln auf dem Gesicht, das sich wie eine Grimasse anfühlt. »Ja, danke für die Unterstützung. Ich bin übrigens Leon.«

»Ah.« Arne zieht sein Smartphone aus der Tasche seiner Fleecejacke und wischt kurz mit dem Daumen über das Display. »Damit sind wir komplett.«

Den Blick auf den Boden gerichtet, um keine weitere Tretmine zu übersehen, verlasse ich die Wiese und gehe zum letzten freien Fahrrad. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich bis auf den Traktor, der die Container von der Fähre gezogen hat, bisher kein einziges motorisiertes Fahrzeug gesehen habe.

»Gibt es hier keine Autos?«, frage ich Arne, der sich auf das Fahrrad mit dem Anhänger schwingt. Er wirkt ein paar Jahre jünger als ich und seine schokoladenbraunen Augen und sein Lächeln gefallen mir sofort. Da er mich allerdings keines zweiten Blickes würdigt, bin ich wohl nicht sein Typ.

»Nein, Juist ist autofrei. Wir gehen entweder zu Fuß oder nutzen Fahrräder, und für die größeren Sachen haben wir die Pferdefuhrwerke.«

Ich nicke und sehe einer Kutsche nach, die schnatternde Touristen in den Ort transportiert. Keine Ahnung, wann ich zuletzt ein echtes Pferd gesehen habe. In Berlin gehören die nicht gerade zum Stadtbild.

»Dann wollen wir mal«, ruft Arne. »Wir fahren durchs Zentrum und von dort aus weiter zum Loog, so habt ihr einen ersten Überblick über die Örtlichkeiten. Rick und die anderen erwarten uns in der Station.«

Ich vermute, dass es sich bei Rick um Patrick Schröder handelt. Da wir bisher nur auf schriftlichem Weg Kontakt hatten und auf der Website der Station lediglich ein gewisser Hauke Bruns erwähnt wird, weiß ich bloß, dass er Umweltwissenschaftler ist und seit anderthalb Jahren auf Juist arbeitet. Ich war überrascht, wie schnell er sich auf meine Bewerbung gemeldet und mir einen Arbeitsvertrag angeboten hat, aber vermutlich rennen ihm die Leute nicht gerade die Bude ein. Bis Bianca mir die Anzeige geschickt hat, hatte ich jedenfalls keine Ahnung, dass dieser Job überhaupt existiert.

Arne und die anderen fahren los und nach einem letzten sehnsüchtigen Blick Richtung Fähre folge ich ihnen. Die nächste Flut kommt bestimmt, und dann kann ich immer noch von hier abhauen.

Wie befürchtet, ist der Hauptort der Insel wenig spektakulär. Links und rechts der Straßen aus rotem Backstein liegen Restaurants, Cafés und die üblichen Läden für Touristenkitsch. Bei den restlichen Gebäuden aus dem gleichen Material handelt es sich entweder um Hotels oder Pensionen.

Der Loog ist ein weiterer Ortsteil im Westen der Insel und sogar noch kleiner. Hoffentlich gibt wenigstens der Strand etwas her, sonst werde ich hier spätestens nach einer Woche vor Langeweile sterben.

Das dreistöckige Backsteingebäude, vor dem wir bald darauf halten, war ursprünglich mal ein normales Wohnhaus, das ohne jegliche Ansprüche an eine zusammenhängende Ästhetik umgebaut und um einen Anbau erweitert wurde. Mein Architektenherz blutet bei dem Anblick. Aus dem Gebäude mit den hohen Fenstern und dem hübschen Giebel hätte man mehr machen können.

Das Erdgeschoss, in das wir geführt werden, nachdem wir unsere Fahrräder neben einem halben Dutzend anderer vor dem Haus abgestellt haben, besteht aus einer offenen Küche und einem angrenzenden Wohn- und Essbereich. Die Einrichtung ist wild zusammengewürfelt und erinnert mich an die Studenten-WG, in der ich gelebt habe, ehe ich mit Tristan zusammengezogen bin. Es gibt mehrere bunte Sofas, ein überquellendes Bücherregal, einen Kickertisch und sogar eine Leinwand mit Beamer.

»Die Schlafzimmer sind oben«, erklärt Arne und deutet zur Treppe ins Obergeschoss. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs führt eine Tür in den Anbau. Der größere der beiden Räume, der mit Tischen und Stühlen möbliert ist, erinnert an ein Klassenzimmer und dient laut Arne als Seminar- und Veranstaltungsraum. Dahinter liegt das Stationsbüro. »Wobei das nur selten genutzt wird, da Hauke meist oben in seiner Dienstwohnung und Rick entweder in der Küche oder in seinem Zimmer arbeitet.«

Eine Dienstwohnung? Dann handelt es sich bei Hauke vermutlich um den Leiter der Station und Herrn Schröders Vorgesetzten.

Da ich den schwersten Koffer habe, lasse ich Sarah und Ben den Vortritt und schleppe mein Gepäck leise ächzend hinter ihnen her nach oben. Im ersten Stock angekommen, sehe ich mich um. Von einem langen Flur gehen mehrere Türen ab, und als Arne die erste davon öffnet, fällt mir die Kinnlade herunter. Ist das ein … Stockbett?

»Jeweils zwei Mitarbeiter teilen sich ein Zimmer«, bestätigt Arne meine schlimmsten Befürchtungen. »Das Gemeinschaftsbad findet ihr hinter der dritten Tür links. Es gibt jeweils zwei Toiletten und Duschen, weshalb es vor allem morgens etwas eng werden kann. Duscht am besten abends, da ist eigentlich immer was frei.« Er deutet in den Raum. »Sarah, da du mit Iris in ein Zimmer wolltest, habe ich dich dort eingetragen. Dementsprechend ist das Zimmer hier für Ben und Leon.«

Ben sieht mich an und ich starre bedröppelt zurück. Er ist mir zwar weitaus lieber als seine Begleiterin, die mich offenbar für einen Vogelmörder hält. Die Aussicht, mit einem völlig Fremden zusammenzuwohnen und mir sogar ein Bett mit ihm zu teilen, macht mir dennoch zu schaffen. Wie es aussieht, werde ich mir in den nächsten sechs Monaten nicht mal in Ruhe einen runterholen, geschweige denn einen der heißen Surfer mit auf mein Zimmer nehmen können, von denen Bianca gesprochen hat.

»Und wo schläfst du?«, frage ich Arne. Wenn in seinem Zimmer noch ein Bett frei ist, habe ich wenigstens ein Back-up, falls es mit Ben und mir nicht funktioniert.

Er deutet auf die Tür neben dem Gemeinschaftsbad. »Dort. Und nein, ich werde nicht dein Mitbewohner, falls du darauf spekulierst. Da ich aktuell der dienstälteste Mitarbeiter nach Rick bin, habe ich es verdient, für ein paar Wochen das Privileg eines Einzelzimmers zu genießen.«

Die Art, wie er mich angrinst, verrät, wie er dieses Privileg zu nutzen gedenkt. In mir regt sich Neid, doch ich gönne es ihm. Ich hoffe nur, die Wände sind dick genug, um trotzdem schlafen zu können.

Arne informiert uns darüber, dass es in einer Stunde Abendessen gibt, dann lässt er uns allein, damit wir auspacken können.

»Welches Bett willst du?«, fragt Ben, nachdem wir unser gemeinsames Reich betreten haben.

Das Zimmer ist glücklicherweise nicht so klein, wie ich im ersten Moment dachte, und hell und sauber. Neben dem Stockbett gibt es einen Kleiderschrank mit zwei Türen, ein leeres Bücherregal, einen Schreibtisch an der Wand und sogar einen gemütlichen Sessel.

»Mir egal«, brumme ich, stelle meinen Koffer neben dem Bett ab und trete an eines der großen Fenster. Darunter liegt ein Garten mit Hochbeeten, der bis zu den Dünen reicht. Das Meer ist nicht zu sehen, und als ich das Fenster öffne, höre ich den Wind, der durch den Strandhafer fährt.

»Okay, dann nehme ich das obere. Wir können auch zwischendurch tauschen, wenn du merkst, dass du unten nicht schlafen kannst.«

Ich schließe die Augen und atme tief durch. Diesmal reicht es nicht, um den Ärger, der in mir aufsteigt, zurückzudrängen. Er richtet sich nicht gegen Ben persönlich. Da ich kein anderes Ziel habe, an dem ich ihn auslassen kann, bekommt er ihn trotzdem ab.

»Hast du vor, mich die nächsten sechs Monate so zuzuquatschen?«, blaffe ich ihn an. »Falls ja, sag es mir, damit ich mir Ohropax besorgen kann.«

Ben starrt mich an. »Ich versuche bloß, nett zu sein. Immerhin sind wir Kollegen und Mitbewohner.«

»Ja, leider«, erwidere ich, werfe meine Lederjacke auf den Sessel und schiebe mich an Ben vorbei zu meinem Koffer.

Ich weiß nicht, wieso ich ihn so anmache, schließlich hat er mir bloß eine harmlose und völlig legitime Frage gestellt. Vielleicht bin ich nach der langen Anreise schlicht übermüdet. Oder es liegt daran, dass mir jetzt, wo ich meinen Koffer öffne und die ersten Sachen auf dem unteren Bett verteile, klar wird, dass ich erneut verloren habe. Weil ich auf diese dämliche Insel abgehauen bin und die nächsten Monate in einem beschissenen Stockbett schlafen muss, während Tristan mit Marius nicht nur einen Neuen hat, der die Beine für ihn breit macht, sondern auch die Wohnung, die wir ohne mich gar nicht bekommen hätten. Weil sein Leben perfekt ist und ich zusehen kann, wie ich die Scherben von meinem zusammenfege.

Wütend auf mich selbst, Tristan, Bens nervige Fragen und die ganze verdammte Welt drehe ich mich mit einem Stapel Klamotten in der Hand um, öffne den Kleiderschrank und pfeffere sie in das erstbeste der vier Schrankfächer. Ich zittere, meine Augen brennen und das Ziehen in meinem Bauch ist so heftig, dass ich fürchte, mich jeden Moment in den Mülleimer neben der Tür zu übergeben.

Was zur Hölle mache ich hier?!

Ich höre Bens Schritte hinter mir, dann die Tür, und als ich mich umdrehe, bin ich allein. Prompt bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil er heute schon die zweite Person ist, die ich grundlos vor den Kopf stoße. Ich werde mich entschuldigen. Nachher. Wenn ich mich wieder beruhigt habe.

Seufzend trete ich ans Bett und nehme den nächsten Stapel Kleidungsstücke aus meinem Koffer. Ob es mir passt oder nicht, das hier ist vorerst mein Leben. Und wenn ich nicht will, dass dieses Kapitel ähnlich katastrophal endet wie das in Berlin, muss ich mich zusammenreißen.

Ich wische mir mit dem Ärmel meines Shirts über das Gesicht, spüre Tränen, die ich nicht will und die Tristan nicht verdient hat. Dann packe ich weiter aus.

Als ich in die Küche komme, ist es kurz vor achtzehn Uhr. Arne steht am Herd und rührt in einem großen Topf, aus dem es verführerisch nach Tomatensoße duftet. Ich sehe in den Gemeinschaftsraum nebenan und entdecke Ben auf einem der Sofas, wo er sich mit einer jungen Frau unterhält, die ihm etwas auf einem mit zahllosen Aufklebern verzierten Laptop zeigt. Eine Hälfte ihrer Haare ist schwarz gefärbt, die andere grün, wodurch sie mich irgendwie an Billie Eilish erinnert. Auch die Tunnel in ihren Ohrläppchen passen zum Look der Sängerin, ganz im Gegensatz zu dem grell orangefarbenen T-Shirt mit dem Logo der Station. Ob das unsere Arbeitskleidung ist? Hoffentlich nicht, denn die Farbe steht mir gar nicht.

Kurz überlege ich, zu ihnen zu gehen, um mich bei Ben zu entschuldigen, beschließe jedoch, ihn vorerst in Ruhe zu lassen. Außerdem lege ich keinen Wert darauf, auch noch dem Rest der Belegschaft zu zeigen, wie schlecht meine emotionale Verfassung ist.

»Brauchst du Hilfe?«, frage ich Arne, um mich nützlich zu machen und nicht bloß in der Gegend herumzustehen.

Er sieht mich über eine Schulter hinweg an und deutet dann auf den langen Esstisch. »Du kannst den Tisch decken. Das Geschirr ist im Schrank links von dir.«

Dankbar für die Aufgabe nicke ich und öffne besagten Küchenschrank. Das Geschirr ist ebenso bunt zusammengewürfelt wie die Möbel und es dauert etwas, bis ich genug zueinanderpassende Teller und Gläser gefunden habe. Es ist vermutlich albern, mir solche Mühe zu geben, aber es ist ein Reflex aus meiner Zeit in der Gastronomie, den ich nicht abstellen kann.

Wenn ich mich nicht verzählt habe, sind wir aktuell fünf Mitarbeiter, dazu kommen Hauke und Patrick, die laut Arne zum Essen zu uns stoßen werden. Also decke ich den Tisch für sieben Personen ein.

Ich ziehe gerade ein paar Wasserflaschen aus einem Getränkekasten neben dem Kühlschrank, als jemand hinter mir Ricks Namen ruft. In Erwartung eines Nachwuchs-Hippies mit langen Haaren, bunten Klamotten und Birkenstocks an den Füßen werfe ich einen Blick zur Tür des Gemeinschaftsraums – und erstarre.

Fairerweise muss man sagen, dass ich zumindest mit den Birkenstocks recht behalte. Abgesehen davon entspricht der Mann, der in Begleitung von Sarah den Raum betritt, jedoch in keiner Weise dem Bild, das ich mir vom stellvertretenden Leiter einer Naturschutzstation gemacht habe.

Rotblonde, vom Wind zerzauste Haare rahmen ein attraktives Gesicht mit stechend blauen Augen ein. Der etwas dunklere Bart betont ein markantes Kinn, und unter der abgewetzten Baumwolljacke und den eng anliegenden Jeans erahne ich einen schlanken, aber muskulösen Körper. Wow, der Kerl gefällt mir.

Patrick – Rick – Schröder spricht kurz mit Ben und der Frau neben ihm, dann kommt er in die Küche. Da ich zwischen den Getränkekästen und dem Kühlschrank stehe, sieht er mich nicht sofort, was mir die Möglichkeit gibt, meine Inspektion fortzusetzen. Er muss ein paar Jahre älter als ich sein, vermutlich Anfang dreißig, und überragt mich um einen halben Kopf. Darauf habe ich schon bei Tristan gestanden, denn ich mag es, mich in den Armen eines größeren Mannes beschützt und geborgen zu fühlen. Oder zumindest habe ich das früher gemocht. Bevor ich begriffen habe, dass einen auch die Beschützer belügen und betrügen.

»Und wo ist der dritte Neuling?«, fragt Patrick an Arne gewandt, der die Nudeln abgegossen und in eine riesige Schüssel umgefüllt hat.

Ein angenehmer Schauer rieselt über meinen Rücken. Sogar seine Stimme ist sexy. Dunkel und voll, wie guter Whisky.

»Hier«, antworte ich an Arnes Stelle und stelle die Wasserflaschen auf der Arbeitsplatte ab.

Patricks Blick fällt auf mich und in meinem Bauch zieht es heiß. Fuck, ich weiß nicht, wann ich zuletzt derart blaue Augen gesehen habe. Sind das Kontaktlinsen? Oder ist dieser Farbton echt?

Er sieht mir ins Gesicht, dann wandert sein Blick über den Rest von mir und beantwortet die Frage, die ich mir stelle, seit er hereingekommen ist. Offenbar ist das Glück zur Abwechslung auf meiner Seite, denn ich scheine ihm ebenso zu gefallen wie er mir.

»Hi«, sage ich lächelnd und trete vor, um ihm die Hand zu reichen. »Leon Rothe.«

Er betrachtet meine ausgestreckte Hand und greift danach. Seine Haut ist rau, aber warm, sein Griff kräftig. Wie es sich wohl anfühlt, wenn er mir mit diesen Händen durch die Haare fährt, ehe er mich an seine breite Brust zieht?

»Moin«, sagt er und holt meine Gedanken von ihrem kleinen Ausflug ins Land der Fantasien zurück. »Du bist der Nachrücker aus Berlin, richtig?«

Leicht geknickt neige ich den Kopf. »Mir war nicht klar, dass ich bloß deine zweite Wahl bin. Immerhin weiß ich jetzt, wieso ich den Job so schnell bekommen habe.«

Um Patricks Mundwinkel zuckt es, was mich innerlich jubeln lässt. Wenigstens einer, bei dem ich einen guten ersten Eindruck hinterlasse. »Keine Sorge, ich hätte dich nicht genommen, wenn ich dich nicht für geeignet halten würde.«

Ich grinse, was seinen Blick für den Bruchteil einer Sekunde auf meine Lippen lenkt. Prompt beginnen sie zu prickeln. Ob er gut küsst?

»Also war es nicht mein Bewerbungsfoto, das dich überzeugt hat?«

»Du hast mir kein Foto geschickt.«

»Echt nicht?«, frage ich mit gespielter Überraschung. »Ich hole das gern sofort nach.«

Patrick öffnet den Mund, schließt ihn wieder und sieht zur Tür in den Gemeinschaftsraum, durch die gerade ein grauhaariger Mann mit wettergegerbtem Gesicht hereinkommt, bei dem es sich vermutlich um Hauke Bruns handelt. Er nickt Sarah und Ben zu und begrüßt sie knapp. Dann fällt sein Blick auf uns und Patrick reißt sich so schnell von mir los, dass ich erschrocken zusammenfahre.

»Nicht nötig, danke.«

»Was …«, setze ich an, doch Patrick wendet sich ab und geht zum Esstisch.

Ratlos sehe ich ihm nach. Genauer gesagt starre ich seinem Hintern nach, den die verwaschene Jeans perfekt in Szene setzt. Keine Ahnung, was gerade los war, aber ich bin fest entschlossen, meinen neuen Boss näher kennenzulernen.

Bald darauf versammeln sich alle am Tisch. Arne schmunzelt, als er sieht, wie viel Mühe ich mir beim Eindecken gegeben habe; die anderen scheinen es entweder nicht zu bemerken oder interessieren sich nicht dafür.

Nachdem ich die Wasserflaschen auf den Tisch gestellt habe, lasse ich mich auf den letzten freien Stuhl neben Arne fallen. Patrick sitzt am anderen Ende unserer Tafel neben Hauke. Ob das sein Stammplatz ist? Oder wollte er möglichst weit weg von mir sitzen? Das wäre ziemlich albern, immerhin sind wir beide erwachsen und müssen uns nicht dafür schämen, dass wir uns offensichtlich attraktiv finden. Andererseits bin ich erst seit wenigen Stunden hier und weiß nicht, wie solche Dinge hier gehandhabt werden.

Wie ich erfahre, absolvieren Arne und die Frau mit den schwarz-grünen Haaren ein Freiwilliges Ökologisches Jahr in der Station. Ben dagegen ist wie ich als studentische Hilfskraft eingestellt worden und Sarah, die bereits seit vielen Jahren Mitglied im NABU ist und sich an Naturschutzprojekten in ganz Deutschland beteiligt, macht ein Praktikum zur Vorbereitung auf ihr Studium. Inmitten so vieler engagierter Leute komme ich mir fehl am Platz vor, da ich bisher keine Berührungspunkte mit den Themen Natur- oder Vogelschutz hatte. Aber wenn ich Patrick glauben darf, bedeutet das nicht, dass ich für den Job ungeeignet bin. Und irgendwo muss man ja anfangen, oder?

Die vegane Bolognese ist toll und stillt meinen Hunger, den ich bis zu diesem Moment gar nicht wahrgenommen habe. Ich bin bei meinem zweiten Teller, als Patrick ein Tablet aus dem Büro im Anbau holt, um uns den neuen Dienstplan vorzustellen.

Den Großteil unserer Arbeitszeit werden wir damit verbringen, Patrick und Hauke bei Inselführungen, Wattwanderungen und Naturschutzprojekten für Schulklassen und Touristen zu unterstützen. Darüber hinaus zählen die Bestandserfassung bedrohter Arten und Vogelmonitoring zu unseren Aufgaben, wie auch immer das aussehen mag. Zudem haben jeweils zwei von uns Küchendienst oder übernehmen den Wocheneinkauf und die Wäsche.

»Iris und Leon«, sagt er schließlich und sieht zu mir. »Ihr fahrt morgen nach Noordum, richtet das Haus ein und beginnt mit den ersten Zählungen.«

Ich öffne den Mund, um zu fragen, was das bedeutet, doch Patrick wendet sich schon wieder ab und verteilt die nächsten Aufgaben.

»Noordum?«, flüsterte ich deshalb in Arnes Richtung.

»Die unbewohnte Insel auf halber Strecke nach Borkum«, erklärt er ebenso leise. »Während der Brutzeit sind immer zwei von uns für jeweils zwei Wochen dort, um die Tiere und Gelege zu zählen, Proben im Rahmen des Müllmonitorings zu sammeln und alles zu dokumentieren, was uns sonst noch auffällt.«

»Zwei Wochen?«, frage ich entsetzt. »Und wovon … leben wir?«

Arne grinst mich an. »Du hast dich echt kein bisschen mit dem Job hier auseinandergesetzt, oder? Einmal in der Woche erhaltet ihr Proviant und Trinkwasser, den Rest der Zeit versorgt ihr euch selbst.«

Eine unbewohnte Insel mitten im Meer? Selbstversorgung? O Gott, ich werde da draußen draufgehen.

»Wieso ausgerechnet ich?«

»Rick schickt immer einen Neuling und jemanden mit Erfahrung. So lernen wir am schnellsten, wie der Job läuft.«

Ich nicke. Das klingt schlüssig, trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, abgeschoben zu werden. Ist Patrick sauer auf mich, weil ich ihn so offensichtlich angebaggert habe? Sollen die anderen nicht wissen, dass er auf Männer steht? Falls dem so ist, hätte er vielleicht nicht so offensichtlich auf mich anspringen sollen.

Patrick will noch etwas sagen, doch Hauke erhebt sich von seinem Stuhl und gibt ihm mit einer knappen Handbewegung zu verstehen, dass er jetzt sprechen wird. Mir entgeht nicht, wie Patricks Kiefer dabei mahlt. Zwischen den beiden herrscht wohl dicke Luft.

»Bevor alle aufstehen und auf ihre Zimmer gehen, möchte ich die Gelegenheit nutzen, mich den Neulingen vorzustellen und euch über die allgemeinen Hausregeln in Kenntnis zu setzen.«

Hausregeln? Ich runzele die Stirn. Sind wir hier bei den Pfadfindern?

»Mein Name ist Hauke Bruns und ich bin seit 1985 der Leiter dieser Naturschutzstation. Für jegliche Fragen zu eurer Arbeit oder der Insel bin also ich euer erster Ansprechpartner.« Jetzt sieht Patrick definitiv wütend aus. Weil Hauke ihn übergeht? »Im Schulungsraum steht ein Ordner mit der Aufschrift Einführung. Ich empfehle euch, ihn aufmerksam zu lesen.«

»Jetzt kommt sein Lieblingsteil«, raunt mir Arne zu. »Pass auf.«

»Kommen wir zu den Hausregeln.« Hauke mustert uns wie eine Gruppe verhaltensauffälliger Jugendlicher. »Auch wenn wir unter uns sind, sollten wir immer daran denken, dass wir hier keinen Urlaub machen, sondern im Naturschutz arbeiten. Daher gibt es keine Partys, keinen Alkohol und keinen Lärm nach zweiundzwanzig Uhr. Zudem seid ihr für die Reinigung eurer Zimmer und des Gemeinschaftsbades zuständig, die entsprechenden Geräte und Putzmittel findet ihr in der Waschküche, die euch Patrick im Anschluss zeigen wird. Er wird euch außerdem die Stations-T-Shirts ausgeben, die ihr während eures Dienstes stets zu tragen habt.« Er sieht zu Arne. »Ich weiß, dass sich einige gern darüber hinwegsetzen …«

»Ja, weil die T-Shirts scheiße aussehen«, brummt Arne, was Hauke zum Glück nicht zu hören scheint.

»… und ich bin mir sicher, dass ich euch nicht noch mal ermahnen muss. Ich wünsche uns eine erfolgreiche Saison.«

Als er fertig ist, mustere ich die Frau mit den schwarz-grünen Haaren. Da sonst niemand mehr übrig ist, ist das wohl Iris. Sarah und sie haben die Köpfe zusammengesteckt und so, wie sie immer wieder zu mir sehen, geht es in ihrem Gespräch vermutlich um mich und meinen Auftritt auf dem Schiff und am Hafen. Ich seufze. War ja klar, dass ich ausgerechnet die Freundin der Frau als Partnerin erwische, die sicher schon der gesamten Station erzählt hat, dass ich unschuldige Möwenküken zum Frühstück verspeise.

Ich wende mich erneut an Arne und flüstere: »Kann ich … ähm, meinen Partner tauschen?«

»Wieso? Hast du was gegen Iris?« Er lacht. »Falls dir vorschwebt, mit Rick zu fahren, muss ich dich enttäuschen. Der wird hier in der Station gebraucht.«

Bei dem Gedanken, die Zeit mit Patrick zu verbringen, werden die zwei Wochen auf der Vogelinsel gleich viel attraktiver. Trotzdem schüttele ich den Kopf. »Ich frage nur, weil ich glaube, sie mag mich nicht.«

»Kann gar nicht sein, so charmant wie du bist. Ben hat mir übrigens erzählt, wie du vorhin in eurem Zimmer ausgetickt bist.«

Ich rutsche auf meinem Stuhl nach vorne, in dem Versuch, mich möglichst kleinzumachen. »Das war nicht so gemeint und ich werde mich dafür entschuldigen. Ich bin einfach … Na ja, mein Leben läuft gerade nicht besonders gut, und wie du sicher schon gemerkt hast, habe ich keine Ahnung von Vögeln und dieser Insel und überhaupt … Verstehst du?«

»Natürlich«, erwidert Arne sarkastisch. »Und um auf deine Frage zurückzukommen: Nein, es ist nicht möglich, zu tauschen, denn das würde die ganze Planung durcheinanderbringen. Du wirst dich also mit Iris vertragen müssen.«

»Das habe ich befürchtet.«

»Sie ist nett, glaub mir. Und sie wird dir alles beibringen, was du wissen musst.«

»Mhm«, brumme ich, greife nach meiner Gabel und stochere in meinen Nudeln herum. Obwohl ich noch keine vierundzwanzig Stunden hier bin, raucht mir der Kopf, und der Appetit ist mir auch vergangen. Ich will nur noch duschen, in mein Bett fallen und Tristan, Juist, Sarah und die ganze bekloppte Idee, in einer Naturschutzstation zu arbeiten, für ein paar selige Stunden vergessen.

Bevor ich morgen losziehe, um mein erbärmliches Leben auf einer unbewohnten Vogelinsel auszuhauchen.

Da mir nicht nach Socializing ist, bleibe ich bei meinem Plan und gehe kurz nach dem Abendessen nach oben.

Die Duschen sind überraschend modern und die Matratze, auf die ich kurze Zeit später falle, ist weich und bequem. Gähnend drehe ich mich auf die Seite, schnappe mir mein Smartphone und gebe erst meinen Eltern und anschließend Bianca ein Update. Wie ich sie kenne, wird sie sich vor allem für Patrick interessieren und ihn sicher sofort googeln. Könnte ich auch, aber irgendwie bin ich nicht in Stimmung. Ja, ich habe unseren kleinen Flirt genossen – und mein Ego, das seit der Trennung von Tristan am Boden liegt und das ich zwischenzeitlich schon für tot hielt, hat zumindest kurz den Kopf angehoben, um der Welt Hallo zu sagen. Doch das schöne Gefühl verblasst bereits.

Da Bianca offline ist, sperre ich das Smartphone, lege es auf den Nachttisch und rolle mich auf den Rücken. Von unten dringen Stimmen und ab und zu ein Lachen hinauf, abgesehen davon ist es ungewohnt still.

Zu Hause in Berlin haben Tristan und ich in einer Seitenstraße unweit der S-Bahn gewohnt, weshalb es nicht einmal nachts wirklich ruhig war. Mir hat das nichts ausgemacht, denn als gebürtiger Berliner kenne ich es gar nicht anders. Ich finde es sogar aufregend zu wissen, dass die Stadt niemals schläft und man selbst mitten in der Nacht etwas erleben kann.

Hier fahren weder Züge noch Autos und ich höre auch keine Betrunkenen, die sich grölend aus den Klubs und Kneipen in die Straßen ergießen. Dafür werden meine Gedanken von Minute zu Minute lauter.

Ich lege mir einen Arm über die Augen und atme tief durch. Das dumpfe Gefühl in meiner Brust bleibt. Ich. Werde. Nicht. Heulen. Nicht schon wieder. Nicht wegen ihm.

Ob jemand aus unserem gemeinsamen Freundeskreis Tristan von meiner Reise – oder vielmehr meiner Flucht – nach Juist erzählt hat? Ob er gerade an mich denkt und mich vielleicht sogar vermisst?

Die Vorstellung gefällt mir, gleichzeitig breitet sich ein Schmerz in mir aus, der mir in den letzten Wochen viel zu vertraut geworden ist. Ohne dass ich etwas dagegen tun kann, wandern meine Gedanken zurück zu meinem Geburtstag.

Ich war gestresst, da ich unterschätzt hatte, wie viel Zeit mich die Vorbereitung der Snacks kostet, habe mich aber auch tierisch auf die Party gefreut. Im Nachhinein würde ich mir gern einreden, dass es Anzeichen gab. Blicke, Gesten, bestimmte Schlüsselwörter. Doch Tristan hat sich nichts anmerken lassen und mir sogar dabei geholfen, die Cocktailbar im Flur aufzubauen. Keine Ahnung, was ihn letztendlich dazu gebracht hat, mir zu sagen, dass er mich verlässt.

Anfangs hielt ich es für einen miesen Witz. Immerhin hatten wir am Abend zuvor zuletzt miteinander geschlafen und waren im Anschluss noch mal die Gästeliste durchgegangen, auf der auch Marius stand, mit dem ich mich während des Tutoriums angefreundet hatte. Aber Tristan blieb dabei. Er habe lange überlegt, wann und wie er es mir sagen solle und sich schließlich dazu entschieden, es einfach zu tun. In einer Beziehung solle Ehrlichkeit ja bekanntlich an oberster Stelle stehen und man über alles reden können, oder? Scheiß drauf, dass er diesen klugen Gedanken erst hatte, als meine Freunde – und damit Marius – bereits auf dem Weg zu unserer Wohnung waren. Hauptsache, er konnte sich endlich von dem Ballast seines Geheimnisses befreien. Und hey, war es wirklich nötig, dass ich derart emotional reagiere und ihn als das egoistische Arschloch bezeichne, das er ist? Ich würde doch sicher verstehen, wie schwer das alles für ihn sei.

Ja, so habe ich auch geguckt.

Ich lasse den Arm sinken und stoße einen lautlosen Fluch in Richtung des Lattenrostes über mir aus. Wie konnte ich nicht merken, dass er sich in Marius verliebt hat? War – bin – ich so naiv? Eines ist jedenfalls klar: So schnell werde ich mich auf keinen Kerl mehr einlassen. Kein Lächeln, kein Knackarsch und kein hübsches Gesicht mit himmelblauen Augen ist es wert, mich noch mal derart verletzen zu lassen.

An diesen Gedanken klammere ich mich, als ich mich in meine Decke einwickele und die Augen schließe.

Kapitel 3

Viel zu früh am nächsten Morgen weckt mich das nervige Gedudel eines Smartphone-Weckers. Brummend drehe ich mich zur Wand, ziehe mir die Decke über den Kopf und verfluche Vergangenheits-Leon für die selten dämliche Idee, diesen Job anzutreten. Ich bin kein Morgenmensch, war es nie und werde es nie sein.

Das Geräusch verstummt zum Glück bald und das Bettgestell knarrt, als Ben aufsteht und heruntersteigt. Da ich nicht einschlafen konnte, habe ich gehört, wie er gestern gegen zweiundzwanzig Uhr nach oben gekommen ist. Es kostete mich einige Überwindung, doch während er ausgepackt und sich umgezogen hat, habe ich mich irgendwann bei ihm entschuldigt.

»Hey, Leon«, sagt er und stupst mich gegen den Unterschenkel, der halb aus dem Bett ragt. »Bist du wach?«

»Mhm«, knurre ich, drehe mich mühsam auf den Rücken und blinzele in die bleiche Morgensonne, die durch das geöffnete Fenster ins Zimmer fällt.

Ben steht davor und vollführt irgendwelche seltsamen Turnübungen. Vielleicht ist es Yoga. Ich bin zu verschlafen, um das einzuordnen. Dagegen hilft auch die frische Seeluft nicht, die mir ins Gesicht weht und mich trotz der Decke schaudern lässt. So viel Natur am frühen Morgen bin ich echt nicht gewohnt.

Den Blick auf Bens Rücken unter einem zerknitterten Final-Fantasy-T-Shirt gerichtet, stemme ich mich hoch, soweit es der beengte Raum zulässt. »Wie spät ist es?«

»Gleich halb sieben«, erwidert Ben, streckt sich noch einmal und geht anschließend zum Kleiderschrank.

Da er im Gegensatz zu mir nur mit seinem Rucksack voller Aufnäher und Buttons diverser Videospiel- und Manga-Figuren angereist ist, hat er mir eines der Fächer auf seiner Seite des Schranks überlassen. Das Angebot kam aus heiterem Himmel, weshalb ich erst einen finsteren Plan dahinter vermutete. Aber wie sich herausgestellt hat, ist Ben einfach ein netter Kerl. Weshalb ich jetzt ein zusätzliches Schrankfach für meine Zeichensachen habe.

Da es nichts bringt, das Elend weiter hinauszuzögern, stehe ich ebenfalls auf und tappe auf nackten Füßen aus dem Zimmer, um erst mal pinkeln zu gehen.

Im Gemeinschaftsbad herrscht reges Treiben. Jeder von uns hat ein Regalfach für seine Sachen und Haken für seine Handtücher, trotzdem fühle ich mich zwischen den anderen, über die ich bisher kaum etwas weiß, das über unseren Job hinausgeht, unwohl. Leider verfügt nur Patrick, der ebenfalls auf unserer Etage wohnt, über den Luxus eines eigenen Badezimmers.

Als ich das Bad verlasse, steht Patricks Zimmertür offen. Ich erhasche einen Blick auf einen vollen Schreibtisch und ein altes Sofa mit vielen Kissen, ehe Patrick herauskommt. Im Gegensatz zu mir, der bloß Pants und ein schwarzes Unterhemd trägt, ist er vollständig angezogen. Das karierte Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgeschoben hat, betont seine kräftigen Unterarme und die Rot- und Grautöne passen perfekt zu seinen Augen.

Wie gestern in der Küche wandert sein Blick über mich, verharrt eine Sekunde zu lang auf meinen nackten Beinen und richtet sich wieder auf mein Gesicht.

»Moin. Gut geschlafen?«

»Nicht wirklich«, gebe ich zurück und strecke mich gähnend, wohl wissend, dass mein Unterhemd dabei so weit nach oben rutscht, dass mein nackter Bauch darunter hervorblitzt. »Die Betten sind ziemlich hart.«

Ich lasse die Arme wieder sinken, doch Patrick starrt nach wie vor auf meine Körpermitte, als gäbe es dort einen besonders seltenen Vogel zu bestaunen. Vielleicht gilt sein Interesse auch den Tattoos auf meinen Unterarmen. Ich habe sie selbst gezeichnet und mir Stück für Stück stechen lassen, wann immer ich neben dem Studium genug Geld zusammengespart hatte.

»Du gewöhnst dich dran.«

Ich grinse in mich hinein. Natürlich ist es ein bisschen fies, ihn derart zu provozieren. Aber ich bin auch nur ein Mann und freue mich über die Erkenntnis, dass mir Tristan nicht alles genommen hat.

»Na, erst mal nicht, denn du hast mich ja für die nächsten zwei Wochen auf eine einsame Insel verbannt, um Vogeleier zu zählen. Soll ich das eigentlich persönlich nehmen?«

Patrick runzelt die Stirn und sieht zu meiner Bestürzung verärgert aus. »Hast du einen Zwillingsbruder?«

»Hä? Nein, wieso?«

»Nun, weil der Leon, der sich auf diese Stelle beworben hat, mir in seinem Motivationsschreiben auf fast einer Seite dargelegt hat, wie sehr ihm die Küstenvögel am Herzen liegen und dass er es kaum erwarten kann, seinen Beitrag zu ihrem Schutz zu leisten.«

Ah, das Motivationsschreiben, das angeblich von mir, in Wirklichkeit jedoch von Bianca stammt. Ich hatte befürchtet, dass er mich darauf anspricht.

»Dieser Leon dagegen«, fährt Patrick fort und vollführt eine Geste mit der Hand, die mich von dem dunkelbraunen Chaos auf meinem Kopf bis zu den nackten Füßen einschließt, »macht nicht den Eindruck, als könnte er mir auch nur eine der rund vierhundert Vogelarten nennen, die im Wattenmeer vorkommen.«

Obwohl er nicht laut wird, schrumpfe ich unter seinen Worten zusammen. Es könnte mir egal sein, was er über mich denkt, da ich den Job, wie er völlig korrekt festgestellt hat, nur aus der Not heraus angenommen habe und mir die Scheißvögel vollkommen egal sind. Aber die Art, wie er mich ansieht, trifft mich und weckt den Wunsch, ihm zu beweisen, dass ich nicht der notgeile Vollpfosten bin, für den er mich offensichtlich hält.

»Möwen.«

»Wie bitte?«

Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Möwen. Eine der rund vierhundert Vogelarten im Wattenmeer.«

Bilde ich mir das ein oder ist das ein Lächeln, das an seinen Lippen zupft? Ich würde sie zu gern mit meiner Zunge erkunden und herausfinden, wie es schmeckt …

Aus, notgeiler Leon!

»Jetzt klingst du wie ein richtiger Vogelschützer«, sagt er ironisch. »Zieh dich an und pack deine Sachen. Bevor wir losfahren, will ich den Einsatzplan mit euch durchgehen, und du solltest vor der Abfahrt etwas essen.«

»Okay.« Ich blicke auf meine Füße hinab. Irgendwie hat mir unser Gespräch besser gefallen, solange ich die Oberhand hatte.

Patrick geht an mir vorbei zur Treppe. Kurz davor bleibt er noch einmal stehen und dreht sich zu mir um. »Möwen bilden übrigens eine Unterfamilie von Vögeln, keine eigene Art.«

»Ich, ähm … merk’s mir.« Ich würde gern mehr oder wenigstens etwas Kluges sagen, doch Patrick ist mir so nah, dass mir sein Geruch nach Duschgel, Mann und Patrick in die Nase strömt. Mein Puls beschleunigt sich und auf meinen Handflächen sammelt sich Schweiß. Wenn er nicht sofort geht, packe ich ihn, drücke ihn gegen die Wand und teste, ob er so fantastisch küsst, wie ich vermute. Allein bei dem Gedanken daran fließt zu viel Blut in meinen Schwanz.

»Gut.« Patrick lässt erneut seinen Blick über mich wandern. »Unten liegt übrigens noch dein T-Shirt. Ich hoffe, M passt dir.«

Ich sehe ihm nach und werde das Gefühl nicht los, dass ich nicht der Einzige bin, der eine notgeile Version von sich im Zaum hält. Die Art, wie er mich gerade angesehen hat, war jedenfalls eindeutig.

Grinsend steuere ich erneut das Gemeinschaftsbad an. Nach dem Gespräch brauche ich erst mal kaltes Wasser.

 

Drei Stunden später sitze ich mit Iris und Patrick in einem Motorboot und betrachte die winzige Insel Noordum vor unserem Bug. Sie gehört zum Nationalpark Wattenmeer und während der Brutzeit sind wir von der Naturschutzstation die Einzigen, die sie betreten dürfen. Was allerdings kein Gewinn ist, denn außer dem Wohnhaus, das wie eine kleine Burg über den Dünen thront, gibt es hier absolut nichts Interessantes zu sehen.

Ich lehne mich über den Rand des Bootes und beobachte eine Kegelrobbe, die neugierig für einige Meter neben uns herschwimmt, ehe ihr Kopf unter Wasser verschwindet. Sogar sie findet Noordum langweilig.

Da es auf der Insel keinen Steg gibt, legen wir direkt am Strand an. Ich helfe Patrick, das Boot an Land zu ziehen, damit es nicht von der nächsten Welle ins Meer gezogen wird. Das Versorgungsschiff muss kurz vor uns hier gewesen sein, denn im Sand stehen Kisten mit Lebensmitteln und Material für das Haus bereit.

»Da hinten ist ein Bollerwagen.« Patrick deutet erst auf eine Düne und dann auf mich. »Holst du ihn?«

»Klar«, erwidere ich und stapfe in die beschriebene Richtung.

Da Patrick der Meinung war, dass meine Chucks für die Arbeit auf der Insel ungeeignet sind, durfte ich mich im Fundus der Station bedienen. Der kleine Raum im Erdgeschoss entpuppte sich als reinste Rumpelkammer, in die alles gestopft wird, was andere Mitarbeiter vergessen oder dagelassen haben. Und ich hatte Glück, denn zwischen müffelnden Gummistiefeln, ausgeblichenen Shirts und diversen Strandutensilien habe ich tatsächlich ein Paar Wanderschuhe gefunden, das mir passt.

Der Bollerwagen ist schon ziemlich alt und während ich ihn über den Sand zum Boot ziehe, das Iris und Patrick ausgeräumt haben, quietschen die Räder fürchterlich.

Mir entweicht ein Seufzen, als mir klar wird, dass wir den ganzen Kram zu Fuß zum Haus schleppen müssen. Oder besser gesagt, dass ich alles zum Haus ziehen muss, denn nachdem Iris und Patrick die Kisten in den Bollerwagen gewuchtet und wir unsere Rucksäcke geschultert haben, hält mir Patrick auffordernd den Griff des Gefährts hin.