Luise - Elisabeth Schröder - E-Book

Luise E-Book

Elisabeth Schröder

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Beschreibung

Als Dreijährige wird Luise von ihren Eltern aus der Geschwisterschar heraus zu ihrer Tante nach Biesen gegeben. Dort wächst sie auf dem Hof von Onkel und Tante im Passadetal zusammen mit ihrem Cousin Wilhelm auf. Tante Minna erzieht sie streng; trotzdem fühlt sich Luise in Gesellschaft ihres Vetters wohl. Wilhelms Lebensweg liegt klar vor ihm: Er wird einmal den elterlichen Hof erben. Dagegen schaut Luise in eine ungewisse Zukunft, abhängig davon, ob sie einen passenden Ehemann findet. Dann aber bricht der Erste Weltkrieg aus und alles ändert sich … Dieser biographische Roman schildert in lebhaften Bildern das bäuerliche Milieu zu Beginn des 20. Jahrhunderts und beschreibt anschaulich das Denken und Fühlen der Menschen auf dem Lande. Es geht um die Höhen und Tiefen des Lebens, um Verlust und neue Chancen.

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Seitenzahl: 207

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Elisabeth Schröder

Luise

Biegsam wie eine WeideEin Roman aus Lippe

Lippe Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright 2023 by Lippe Verlag

Dr. Hans Jacobs, Am Prinzengarten 1, 32756 Detmold

Bild Umschlag: Darya Sannikova – Pexels

ISBN 978-3-89918-847-9

Personenverzeichnis

Adolf Meier zu Biesen, seine Frau Auguste (genannt Meiers Onkel und Meiers Tante) und ihre Kinder

AdolfAuguste (genannt Guste)Gretchen

Geschwister des Adolf Meier zu Biesen

Gustav Meier eingeheiratet auf den Meierhof in Oberschönhagen, Ehefrau KarolineMinna verheiratet mit Simon Betge vom NachbarhofJulius eingeheiratet auf den Meierhof in Heesten3 weitere Geschwister ungenanntOtto (Halbbruder)später verheiratet mit Anna

Kinder von Gustav Meier und Karoline

LinaGustavLuise (wächst bei Minna und Simon Betge auf)HeinrichFriedaMartha

Kind von Minna und Simon Betge

Wilhelm

Kinder von Julius Meier zu Heesten und Ehefrau

JuliusConradTildaMehrere weitere Geschwister ungenannt

Die Maßbrucher

Friedrich Karl Betge (Halbbruder von Simon Betge), eingeheiratet auf den Hof seiner Frau Sophie, ihre Kinder

MathildeFritzEmma

Das Ehepaar Meise (genannt Tante Meise und Onkel Meise), deren Sohn

Friedrich Meise (genannt Frittken)

Mägde und Knechte auf dem Hof Betge

HanneHeinzHennerkTrineZiska

Kriegskameraden von Fritz Betge

PaulRudi

Prolog

Juli 1916

Ein heißer Sommertag Anfang Juli, die Sonne brennt vom Himmel.

Luise steht auf die Hacke gestützt im Gemüsegarten und begutachtet ihr Werk: sechs lange Reihen Weißkohl fertig angehackt. Eine muss noch bearbeitet werden, dazu etliche Reihen Rotkohl, Wirsing und Rosenkohl. Gestern hat es einen leichten Schauer gegeben. Die Bedingungen für das Anhäufeln sind heute ideal. Die etwas feuchte rötliche Lehmerde fällt locker und deckt die Stiele der Kohlpflanzen gut ab.

Trotzdem seufzt Luise, wenn sie an die goldenen Zeiten vor dem Krieg denkt. Damals haben die Männer diese Arbeit mit Pferd und Häufelpflug erledigt. Hennerk, der Pferdejunge, hat das Pferd am Kopf geführt und Wilhelm hat den Pflug gehalten. In ein, zwei Stunden war alles getan. Nun gibt es außer Onkel Simon und Hennerk nur Frauen auf dem Hof. In deren Händen liegt die meiste Arbeit. Hoffentlich hält das gute Wetter an, die Getreideernte steht bevor.

Luise kann sich nicht vorstellen, wie sie bewältigt werden soll. Als Sensenführer stehen nur der alte Söbbe aus dem Kotten am Almberg und eben der Onkel zur Verfügung, beide schon über sechzig. Hennerk wird mähen müssen. Er ist jetzt sechzehn, Onkel Simon muss ihn anlernen.

Fleißig hackt Luise weiter, türmt die Erde zu gleichmäßigen Wällen auf. Wenigstens der Weißkohl soll heute fertig werden. Müssen sie wirklich so viel Sauerkraut einmachen, obwohl nur wenige Leute zu beköstigen sind?

Geschafft! Stöhnend richtet sie sich auf und drückt eine Hand ins schmerzende Kreuz.

Hinter der Bruchstein-Mauer, die den Garten zur Straße, dem »Bieser Weg«, abgrenzt – tatsächlich nur ein mit Schotter befestigter Weg – taucht der Postbote, Herr Diekjobst, auf.

Seit die Fahrräder der Briefträger vom Militär zur Bildung von Fahrradstaffeln eingezogen wurden, geht er zu Fuß von Haus zu Haus. Daher ist es immer Nachmittag, bis die Post und – viel ärgerlicher – die Zeitung kommt. Früher benutzte Onkel Simon die Mittagspause zum Lesen des Blättchens, nun muss er dies auf die Kaffeepause oder sogar auf den Feierabend verschieben.

Herr Diekjobst geht am Garten vorüber und biegt in ihre Hofeinfahrt ein. Luise beschleicht ein mulmiges Gefühl. Liegt es daran, dass man in diesen Zeiten den Postboten stets mit gemischten Gefühlen erwartet? Oder daran, dass Herr Diekjobst nur knapp gegrüßt hat? Zog er doch vor ein paar Tagen schon von Weitem die Mütze und schwenkte sie freudig, als er eine Feldpostkarte von Wilhelm brachte. Nach langen Wochen des Wartens und Bangens die Erste wieder. Aus Russland! Dorthin ist Wilhelm anscheinend mit seiner Kompanie versetzt worden, nachdem er im Mai ein paar Tage auf Urlaub zu Hause war. – Keine nähere Ortsangabe und kein Wort zu viel auf dieser Karte. Die Zensur wird immer strenger! Wilhelm hat es ihnen bei seinem Heimatbesuch erklärt: Dem Feind darf nichts verraten werden, wenn ihm eine solche Karte in die Hände fällt, weder Aufenthaltsort noch die Gesamtsituation!

Wie gewöhnlich schrieb er, es gehe ihm »noch sehr gut, was ich auch von Euch hoffe.« Und weiter: »… habt sicher sehr auf Nachricht von mir gewartet, aber ich konnte nicht schreiben. Das Wetter ist hier augenblicklich sehr warm. In der Hoffnung auf baldiges Wiedersehen. Euer Wilhelm«

Welch einen Jubel und welche Freude, welch riesengroße Erleichterung diese schlichten Worte ausgelöst hatten! Zum ersten Mal seit langer Zeit lagen sich Onkel Simon und Tante Minna in den Armen. Und wie wurde diese Karte herumgereicht, zu Meiers nebenan und in der übrigen Verwandtschaft …

Luise versucht sich auszumalen, was hinter den wenigen Sätzen steht: die glühende Hitze in Russland, tagelange Märsche bis in die Nacht, vielleicht Gefechte mit dem Feind, der jetzt auch »Russe« heißt.

Der Krieg zieht und zieht sich. Ein Ende ist nicht abzusehen. Zwei Jahre schon! Anfangs hatten alle geglaubt, in wenigen Monaten sei alles erledigt – siegreich selbstverständlich! Wie damals 1870/71 gegen Frankreich. Von der anfänglichen Begeisterung ist wenig übrig geblieben. Hier und da wird im Volk heimlich über den Kaiser gemurrt – auch auf dem Land fängt es an. Man ist unzufrieden mit ihm, er ist nicht wie sein Großvater Wilhelm I., der alte Kaiser. Der wusste, was er wollte, und wann er aufhören musste.

Luise will für heute mit der Gartenarbeit Schluss machen. Im Ziergarten, den sie auf dem Weg zum Haus durchschreitet, gibt es auch viel zu tun. Verblühte Rosen müssten abgeschnitten, Kraut gejätet werden. Der Buchsbaum längs der Mergelwege und um das Rosenrondell ist noch nicht geschnitten und die Wege sind lange nicht mehr geharkt worden. Aber wichtiger als dieses sind das Gemüse und die Ernte auf dem Feld. Sie stellt die Hacke in den Schuppen und betritt das Haus vom Garten her durch die breite zweiflügelige Tür mit Fenstern.

Aus der Küche ertönen schaurige Laute. Es ist kein Weinen, kein Schluchzen – vielmehr ein Schreien … mehr noch ein Brüllen … wie das Brüllen eines verwundeten Tieres, Urlaute, aus den Tiefen einer verletzten Kreatur.

Luises Knie werden weich, das Blut weicht aus ihrem Kopf, ihr wird schwindelig. Das Brüllen geht durch Mark und Bein. Sie hält sich am Geländer fest und sinkt auf die Stufen, die vom Absatz der Kellertreppe zum Flur hinaufführen.

Lichtstrahlen fallen durch die Türverglasung. Draußen scheint die Sonne – wie zuvor. Können bei so schönem Wetter furchtbare Dinge geschehen? Aber wenn es passiert ist – das, was sie noch nicht denken will – dann schon vor Tagen! Nur hier zu Hause befanden sie sich in falscher Gewissheit. Wilhelm – der wie ein Bruder ist – oder war …?

Das verzweifelte Schreien in der Küche ebbt ab, geht in Schluchzen, dann in Wimmern über. Luise hört, dass sich die Küchentür öffnet. Sie zieht sich mit zitternden Knien am Treppengeländer hoch und dreht sich um. Kalkweiß leuchtet ihr das Gesicht des Onkels im dunklen Flur entgegen.

»Luise, uise Wilhelm is nich meier – Luise, nu hebbet wi nur noch düi, nu mut diü dat maken.« (Luise, unser Wilhelm ist nicht mehr – nun haben wir nur noch dich. Nun musst du das machen). Stöhnend vom unterdrückten Weinen zieht er sie an seine Brust. Luises Herz krampft sich zusammen, die Kehle ist wie zugeschnürt, sie bekommt keinen Ton heraus.

Zusammen betreten sie die Küche. Tante Minnas Kopf liegt auf ihren Armen auf dem Tisch, ihre Schultern beben. Auf dem Küchentisch erblickt Luise einen schwarz geränderten Brief und ein offenes Kästchen mit einem eisernen Kreuz darin. Sie greift nach dem Brief – »fürs Vaterland den Heldentod gestorben« – kann Luise erkennen. Vor ihren Augen verschwimmt alles.

Tante Minna aber stemmt sich vom Tisch hoch, reißt ihr den Brief aus den Händen und stürmt aus der Küche. Durchs Küchenfenster sehen Simon und Luise sie laut weinend hinüberlaufen – zu Meiers, den Nachbarn; zu ihrem Bruder …

Teil I 1905-1906 Freundschaft

März 1905

Mit einem Ruck reißt Luise die Haustür auf.

»Komm doch rein, du alte Ziege!«

Schon eine ganze Weile hat sie ihre Schwester Lina durch das Küchenfenster beobachtet, wie diese auf dem menschenleeren Hof umhertapst und suchend in alle Ecken späht. Ob sie dort jemanden findet?

Lina nähert sich dem Haus und schluckt die harsche Begrüßung herunter. Im Grunde ist sie froh, die jüngere Schwester als erste auf dem Hof der Tante anzutreffen.

Ein Geräusch von oben im Haus läßt Luise zusammenzucken. Ist etwa Tante Minna dort und hat gehört, was sie Lina an den Kopf geworfen hat? Erleichtert atmet sie auf – es ist nur Wilhelm, ihr gleichaltriger Vetter, der das Treppengeländer heruntergerutscht kommt. Er wird sie bestimmt nicht verraten! Der Tante dürfen solche Frechheiten freilich nicht zu Ohren kommen. Vom Rutschen auf dem Treppengeländer darf sie natürlich ebenfalls nichts erfahren.

Gekonnt springt Wilhelm ab, tritt neben Luise und mustert seine Cousine Lina mit gutmütigem Spott von oben bis unten, wie sie so vor der Tür steht: klein und dünn für ihre 14 Jahre, mit langen steif geflochtenen Zöpfen. Aber sie wirkt zäh – besonders durch ihre kerzengerade Haltung.

»No, Lineken, wat wuisten diu?« (Na Linchen, was willst du denn?) Er ahmt den Tonfall seines Vaters nach. Die Kinder werden ständig angehalten, Hochdeutsch zu sprechen, wie es auch in der Schule verlangt wird. Die Eltern jedoch untereinander küren häufig platt. Tante Minna achtet peinlich darauf, mit den Kindern nur Hochdeutsch zu reden. Onkel Simon dagegen vergisst sich oft und fällt immer wieder in sein geliebtes und alt gewohntes Lippisch-Platt. Das trägt ihm regelmäßig missbilligende Blicke seiner Frau Minna ein.

Lina dreht verlegen die Bänder ihrer Schulschürze zwischen den schmalen Fingern. Sofort nach Schulschluss ist sie die sieben Kilometer von Oberschönhagen nach Biesen gelaufen, ohne sich umzuziehen. Nur die Schuhe hat sie gewechselt, die hoch geschnürten Schulschuhe gegen Holzschuhe. Die meiste Zeit aber ist sie bei diesem für März außergewöhnlich warmen Wetter barfüßig unterwegs gewesen. Das geht einfach schneller. Luise hat gesehen, wie Lina erst auf dem Hof wieder in die Holzschuhe geschlüpft ist.

»N‘Tag! Ja«, stottert Lina, fängt sich dann aber und spricht klar und deutlich hochdeutsch: »Ich sollte euch zu meiner Konfirmation einladen, Sonntag in drei Wochen! – Tante Minna ist doch meine Patin! Wo ist sie denn?«

Wilhelm springt an Luise vorbei die paar Stufen vor dem Haus hinunter auf den Hof. »Na, muin lüttkes Luit (mein kleines Mädchen)«, lästert er, »denn komm mal mit. Mutter ist mit Hanne und Tante Meise hinten im Garten.« – Er geht Lina voran durch den engen Gang zwischen Wohnhaus und Wirtschaftsgebäuden zum südlich gelegenen Garten.

»Lass dich nicht von deiner Arbeit abhalten! Du hast sicher viel zu tun.« Mit diesen Worten, hoheitsvoll über die Schulter in Richtung Luise gesprochen, versucht Lina ihre Autorität als ältere Schwester zu retten. Von den dummen Kindern muss sie sich nicht zum Narren halten lassen! Schließlich wird sie zu Ostern das beste Zeugnis ihrer Klasse erhalten und dann eine höhere Schule besuchen.

»Du hast mir gar nichts zu sagen, du dumme Kuh!«, ruft Luise hinter ihr her, bevor sie sich dann doch lieber wieder in die Küche verzieht und sich weiterhin ihrem Strickstrumpf widmet. Eigentlich hätte sie bei dem schönen Wetter ebenso gern im Garten mitgeholfen, aber Tante Minna hat alles wieder aufgerebbelt, was sie schon in der Schule gestrickt hatte. Das soll sie noch einmal, aber diesmal besser machen! Die Tante nimmt es weitaus genauer als Frau Hummerich, die Ehefrau des Lehrers, die den Mädchen in der Volksschule Mosebeck den Handarbeitsunterricht erteilt. Für eine Kötters- oder Heuerlingstochter, findet Tante Minna, mag das Gestrickelse wohl gut genug sein, aber die Töchter von den größeren Höfen sollten es besser können. »Luise, Übung macht den Meister!« ist die Devise der Tante.

Während sie emsig strickt, kichert Luise vor sich hin. Der Lina hat sie es aber gegeben! Wie kann man mit vierzehn Jahren so unbeholfen und guten Verwandten gegenüber so schüchtern sein? Man muss sich beinahe schämen für seine große Schwester! Wenn Lina auch drei Jahre älter ist, hier in Biesen besitzt sie, Luise, das Hausrecht. Das wollte sie Lina zeigen.

In Oberschönhagen hat Lina das Sagen über die jüngeren Geschwister. Luise hat es wieder erlebt, als sie in den letzten Weihnachtsferien für ein paar Tage bei Eltern und Geschwistern zu Besuch weilte.

Mutter kümmerte sich fast nur um Martha, die jüngste, die krank war. In Luises Augen nur eine leichte Erkältung mit etwas Fieber, aber Mutter war sehr besorgt um die Kleine. Die Beaufsichtigung der übrigen Kinder blieb Lina überlassen. Ja, das kann sie wohl – Kinder herumkommandieren, wenn sie auch sonst ängstlich und unsicher ist.

»Na, Luise, wie geht es dir in Biesen?«, fragte Mutter nur einmal kurz. – »Gut!«, erwiderte Luise. Was sollte sie auch sonst sagen?

»Das ist ja schön!«, war die erleichterte Antwort. »Du bist wohl immer schön artig?« Natürlich war und ist Luise immer artig.

Luise wurde wie bei ihren früheren Besuchen in das Bett im Mädchenzimmer zu Lina und Frieda gesteckt. Marthas Kinderbettchen hatten sie ins Elternschlafzimmer gestellt, damit die Mutter nachts nach ihr horchen konnte. Zu dritt war es wirklich sehr eng im Bett. Frieda war wie immer lieb, rund und kuschelig. Aber Lina mit ihren spitzen Knochen, die zudem unruhig schlief, im Schlaf sprach und sich hin und her wälzte! Luise bat Frieda schließlich, sich in die Mitte zu legen. An sie konnte sich Luise schmiegen, und Lina an der anderen Seite störte weniger.

Vor Vater hat Luise immer etwas Angst. Er ist sehr wortkarg. Wenn er etwas sagt, sind es herrische Worte. Die Brüder Gustav und Heinrich haben nichts anderes im Kopf, als die Schwestern zu necken und zu ärgern. Lina und Frieda finden das sogar lustig, aber Luise kann nicht damit umgehen. Sie mag es nun einmal nicht, wenn sie, wie neulich, in ihre Holzschuhe tritt und von Kletten gepiekst wird, die sie zudem mühselig von den Wollsocken abpflücken muss. Dazu noch die Brüder, die grinsend um die Ecke schauen und scheinheilig fragen: »Ach, Luise, bist du in Kletten getreten? Du Arme!«

Sie ist jedes Mal froh, wenn Onkel Simon und Tante Minna sie wieder abholen und mit nach Biesen nehmen. Tante Minna ist zwar streng, aber Onkel Simon nimmt sie gelegentlich in Schutz. Er neckt sie ebenfalls, aber auf ganz andere Weise als die Brüder – spaßhaft und verschmitzt. Er regt sich nicht so schnell auf, schreit und brüllt nicht herum, wie es Luise von anderen Männern, auch von ihrem Vater, kennt. Onkel Simon hat stets einen trockenen Spruch auf Lager. Wenn etwas entzwei geht, meint er ganz ruhig: »Das Ding hat seinen höchsten Wert erreicht«, und setzt noch die Erläuterung hinzu, »denn einen noch höheren Wert kann es nun nicht mehr erlangen!« – Davon abgesehen repariert er vieles selbst. Darin ist er sehr geschickt. Stundenlang hantiert er leise vor sich hin pfeifend in seiner Werkstatt.

Man kann ruihig dumm süin, man mott sick blauß te helpen wetten! (Man kann ruhig dumm sein, man muss sich nur zu helfen wissen!) ist sein Motto.

Mit solcherlei Mutterwitz kommt Onkel Simon durchs Leben.

Luise lässt die Stricknadeln klickern. Plötzlich kommt ihr eine alte Geschichte in den Sinn, die oft im Familienkreis zum Besten gegeben wird.

Damals war Lina auf ihrem weiten Schulweg zur Volksschule auf halber Strecke wieder umgekehrt. Zu Hause erklärte sie den Eltern ganz ernsthaft, sie könne heute nicht zur Schule gehen, ein Elefant habe ihr den Weg versperrt! – Es stellte sich heraus, dass es sich um die lange Axt eines Waldarbeiters handelte, die Lina im dichten Nebel für den auf und ab schwenkenden Rüssel eines Elefanten gehalten hatte.

Bei dieser Erinnerung prustet Luise los. Ja, ja, die Lina! Viel Fantasie hat sie!

***

Simon Betge, der Bauer, sieht im Kuhstall nach dem Rechten.

Er hat wegen der schwülen Luft alle Fenster, die zum Hof hinausgehen, geöffnet und dabei den Wortwechsel der Kinder unwillkürlich mitgehört. Diese freche kleine Luise! Sich gegenüber der älteren Schwester so aufzuspielen! Mit Wilhelm zankt sie sich selten. So kennt man sie überhaupt nicht. Sie ist doch sonst immer brav! – Gut, dass seine Frau Minna dies nicht mitbekommen hat. Sie ist manchmal reichlich streng mit den Kindern, findet Simon. Bei Wilhelm ist das in Ordnung, ein Junge muss immer mal eine Tracht bekommen – meistens von ihm, dem Vater – aber die niedliche kleine Luise mit den runden Wangen tut ihm dann leid.

Der Erfolg jedoch gibt Minna Recht: Beide Kinder können sich ausgezeichnet benehmen. Wilhelm ist außerdem ein hervorragender Schüler, man wird ihn noch ein paar Jahre zum Gymnasium schicken können. Und was Luise betrifft, ist dieses Benehmen heute nicht ein Zeichen dafür, dass sie sich in Biesen ganz zu Hause fühlt?

Vor acht Jahren, als Dreijährige, haben sie die Nichte zu sich genommen, das dritte Kind von Minnas Zwillingsbruder Gustav und seiner Frau Karoline.

Die beiden bewirtschaften den großen Meierhof in Oberschönhagen, den Karoline geerbt hat. Kinder haben sie reichlich bekommen, fast jedes zweite Jahr eins. 1891 Lina (nach der Mutter genannt), 1893 Klein-Gustav (als erster Sohn erhielt er den Namen des Vaters, wie es auf den Höfen üblich ist), 1894 dann Luise, 1896 erblickte der zweite Sohn Heinrich das Licht der Welt. Bald war Karoline wieder guter Hoffnung. Diesmal litt sie besonders unter der Schwangerschaft; kränklich war sie schon immer gewesen. Die Geburt war schwer, zog sich lange hin. Schließlich kam ein gesundes Mädchen zur Welt, Frieda. Karoline erholte sich im Wochenbett nur langsam. Die achtjährige Lina konnte im Haus schon etwas mithelfen, aber die viele Arbeit mit den übrigen kleinen Kindern wuchs der Mutter über den Kopf. Zusätzlich gab es auf dem Hof und im Wirtschaftsgarten ständig etwas zu tun.

Deshalb wurde Luise zu den Verwandten nach Biesen gegeben – zunächst als Übergangslösung.

Simon und Minna Betge hatten ihren ersten Sohn, Klein-Simon, im Alter von fast zwei Jahren verloren. Plötzlich lag er tot im Bettchen. Ein furchtbarer Schlag damals! Sollte er doch den alteingesessenen Hof erben und wäre somit der dritte Simon Betge in Folge gewesen! Was für eine riesengroße Freude, als Wilhelm, der zweite Sohn geboren wurde! Minna, bei seiner Geburt schon 41 Jahre alt, konnte kaum weitere Kinder erwarten.

1901 vergrößerte sich die Kinderschar in Oberschönhagen noch ein letztes Mal – Martha kam hinzu. Danach waren alle damit einverstanden, dass Luise dauerhaft in Biesen bei Tante Minna und Onkel Simon blieb. Betges hatten die niedliche Kleine mit dem runden Gesichtchen und dem Stupsnäschen schon zu sehr ins Herz geschlossen, und Wilhelm sollte nicht als Einzelkind aufwachsen.

Platz für Kinder gibt es hier in Biesen genug. Luise hat ihr eigenes Bett, sogar ihr eigenes Zimmer. Davon können die Kinder in Oberschönhagen nur träumen!

***

Simon schaut sich zufrieden um, als er aus dem Kuhstall tritt. Das Wohnhaus war bereits zu Lebzeiten des Vaters aus Teilen und Balken des alten Fachwerkhauses neu aufgebaut worden. Zweihundert Jahre lang hatte das vorige Haus Menschen und Tiere gemeinsam unter seinem Dach beherbergt, aber dann erschien es nicht mehr zeitgemäß. Wohnhaus und Ställe wollte man getrennt haben.

Das neue Haus, inzwischen 15 Jahre alt, kann sich sehen lassen. Zur Hofseite hin zog man beim Umbau einen Zwerchgiebel hoch, gekrönt von einem Türmchen mit einer Uhr, die in römischen Ziffern die Zeit anzeigt und mit weithin hörbaren Schlägen die halben und vollen Stunden verkündet. – »Damit«, so bemerkte Simon gegenüber seinem Halbbruder Friedrich Karl, »sind wir doch Meiers einmal zuvor gekommen!« – Ein kleiner Hieb auf die Nachbarn, die als Besitzer des größeren Hofes in vielen Belangen Vorreiterrolle spielen. Im Übrigen profitieren Meiers ebenfalls von der Turmuhr. Sie haben von ihrem neuen Haus aus den Blick auf das Zifferblatt. Auf dem Feld zu hören, wie spät es ist, ist auch für sie nützlich: Man weiß, wann Feierabend ist. Die Männer können ihre Taschenuhren getrost zu Hause lassen und für sonntags schonen.

Friedrich Karl, Simons jüngerer Bruder, half als junger Mann fleißig beim Um- und Neubau des Betge-Hofes mit, bevor er auf einen Hof in Maßbruch einheiratete, auf dem er nun eifrig schafft.

Und was haben sie zuvor alles hier in Biesen geleistet! Zusammen mit dem Nachbarn Adolf Meier hat noch der Vater, der alte Simon Betge, einen Steinbruch erschlossen, Steinkuhle genannt, zwei Drittel für Meiers und ein Drittel für Betges.

Vom Betge-Hof wurde ein Fachwerkgebäude, welches nicht mehr benötigt wurde und außerdem dem neuen Bauvorhaben im Weg stand, in eine ehemalige Mergel­kuhle nahe der Steinkuhle versetzt. Es dient nun als Wohnung des Steinbruchaufsehers.

Dieser Steinbruch hat sich als wahre Goldgrube erwiesen. Nicht nur, dass auf beiden Höfen völlig neue Gebäude aus massivem Bruchstein aus dem Boden gestampft wurden, sondern es konnten dazu reichlich Steine an andere bauwillige Bauern in der Umgebung verkauft werden.

Auf den Höfen ist das Baufieber ausgebrochen! Die Großbauern in Lippe »versteinern« ihre Höfe. Man ist es leid, zusammen mit Tieren Wand an Wand, in kleinen verräucherten Zimmern zu hausen. Die alten Fachwerkhäuser schwinden dahin. Wer es sich eben leisten kann, baut neu – aus Bruchstein.

Bei Meiers ist als Haupthaus eine klotzige Villa entstanden, geräumig, mit vielen Zimmern und hohen Fenstern, von einem modernen Krüppelwalmdach überdeckt. Das alte Fachwerkbauernhaus steht noch, ebenfalls ein Gebäude riesigen Ausmaßes, jedoch alt, unpraktisch. Es wird weiterhin als Stall und Unterkunft des Personals genutzt. Im Laufe der letzten Jahre wurden neue Ställe und eine Scheune aus Bruchstein um das alte Haus gebaut. Den ganzen Komplex umschließt eine Bruchsteinmauer. Alles zusammen wirkt wie eine Festung.

Gut, da können Betges nicht ganz mithalten, aber ihr neuer Kuhstall aus solidem Bruchstein mit anschließendem Schweinestall bietet Platz für zwanzig Kühe und fünfundzwanzig Schweine. Im gegenüberliegenden Pferdestall stehen sechs Pferde, dazu noch einiges Jungvieh.

Den Neubau des Wohnhauses und der Ställe schaffte Simon senior gemeinsam mit seinen Söhnen, die bald danach heirateten. Friedrich Karl siedelte nach der Heirat auf den Hof seiner Frau im Ort Maßbruch über. Simon jun. ehelichte die Tochter Minna vom großen Nachbarhof Meier zu Biesen und zog mit ihr ins neu errichtete Haus ein. Sein Vater und die Stiefmutter hatten die alte Leibzucht bezogen. Als dann aber kurz darauf Simon senior starb, folgte seine zweite Frau ihrem Sohn Friederich Karl nach Maßbruch, um dort ihren Lebensabend zu verbringen.

Jetzt hatte Simon jun. freie Hand und konnte den Hof nach seinen Vorstellungen weiter gestalten. Vor zwei Jahren ließ er ein Wassertriebwerk installieren, wie es auf dem Nachbarhof Meier bereits seit längerer Zeit läuft. Dieses treibt nun mit seinem Wasserrad nicht nur die Getreidemühle, sondern mittels Transmission (d. h. über Riemen) verschiedene Maschinen an. Das Mühlenhaus errichtete er wiederum aus Bruchsteinen, und im letzten Jahr daneben eine stattliche Scheune, in der Getreide gelagert wird. Auch Wagen und Maschinen, von denen es auf dem Hof immer mehr gibt, werden hier untergestellt.

Ja, er hat in den vergangenen Jahren viel erreicht. Stolz und glücklich kann er sein, der Hof ist gut aufgestellt! Er wird seinem Sohn dereinst eine florierende Wirtschaft übergeben.

Simon tritt auf den Hof, die Turmuhr schlägt halb vier.

Der alte Meise läuft ihm über den Weg. Simon nickt ihm zu. »No, Onkel Meise, wolln wüi örst mol Kaffee drinken gohn, wat?« (Na, Onkel Meise, wollen wir erst mal Kaffee trinken gehen, wie?)

Der alte Meise, der beim Füttern der Tiere hilft, tippt sich an die Mütze. »Jau, Biwwer! Öwwer dat gifft glüicks noch wat!« (Ja, Bauer, aber das gibt gleich noch was!) Er deutet auf den Himmel, der sich inzwischen rabenschwarz zugezogen hat.

***

Als die Uhr drei schlug, hat Luise in der Küche bereits das Herdfeuer wieder entfacht und einen Topf mit Kaffeewasser aufgesetzt. Bald hört sie die Stimmen von Tante Minna, Wilhelm und Lina, die das Haus betreten. Im Eingangsflur streifen sie die Holzschuhe ab und wechseln in Puschen.

»No, Lina, komm doch mit rein zum Kaffeetrinken. Das gibt gleich noch einen Schauer, den kannst du bei uns abwarten.«

»Ja, gerne, Tante Minna! Mutter hat gesagt, ich soll zum Abendbrot zurück sein.«

»Das schaffst du ja! Komm mal mit in die Küche!«

Hanne, das kräftige Hausmädchen, muss noch die Gartengeräte säubern und in den Schuppen zurückstellen. Minna ist zufrieden; endlich hat sie die Dicken Bohnen in die Erde bekommen! Das hätte besser schon im Februar geschehen können, aber da lag alles unter Eis und Schnee. Wenn es in nächster Zeit so warm bleibt wie heute, wird die Saat bald aufgehen und wachsen, hofft Minna.

Mit Genugtuung stellt sie fest, dass Luise schon das Kaffeewasser aufgesetzt hat. Zu dem Strickstrumpf, den ihr die Nichte unter die Nase hält, bemerkt sie nur: »So kannst du es lassen!« – Rasch wirft Minna zwei Handvoll Getreidekaffee in das kochende Wasser, schneidet dann ein paar Scheiben vom Brot ab und streicht Butter und Zwetschgenmus darauf.

Hanne, mit ihren dicken blonden Zöpfen, seit einem Jahr als schulentlassenes Mädchen auf Betges Hof, tritt herein und erhält eine kleine Blechkanne mit Milchkaffee und ein paar Scheiben Brot, dünn mit Schmalz bestrichen. Beides trägt sie hinüber in die Leutestube, wo sie mit Heinz, dem Pferdeknecht, und mit dem Ehepaar Meise Kaffee trinken wird. Die Übrigen – Simon ist inzwischen dazu gekommen – nehmen am großen weiß gescheuerten Küchentisch Platz. Schnell zwängt sich Hektor, der Hofhund, mit in die Küche und verkriecht sich winselnd unter der Sitzbank. Er fürchtet sich vor dem nahenden Gewitter.