Luna – Drachenmond - Ian McDonald - E-Book

Luna – Drachenmond E-Book

Ian McDonald

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Beschreibung

Einhundert Jahre in der Zukunft: Die fünf Drachen, die einflussreichen Familienclans, haben die Herrschaft über den Mond unter sich aufgeteilt. Aber jedes Haus will noch ein wenig mehr Macht, ein wenig mehr Einfluss an sich reißen – und dazu ist ihnen jedes Mittel recht: Eheschließungen, Verschwörungen, Erpressung und sogar Mord. Doch dann taucht ein neuer Spieler auf dem politischen Parkett der Mondgesellschaft auf – und aus im Verborgenen geführten Scharmützeln wird offener Krieg …

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Das Buch

Lucas Corta hat es geschafft. Der tot geglaubte Erbe von Corta Helio, einem der fünf Drachen, wie die einflussreichen Familienclans auf dem Mond genannt werden, ist zurückgekehrt und hat mithilfe der von terrestrischen Interessen bestimmten Lunar Mandate Authority die Herrschaft an sich gerissen. Schnell ist Lucas’ Machtposition gefestigt, doch die anderen vier Häuser versuchen nach Kräften, ihn zu beeinflussen und die Geschicke auf dem Mond zu ihrem eigenen Vorteil zu lenken. Und dazu ist ihnen jedes Mittel recht: Eheschließungen, Verschwörungen, Erpressung und sogar Mord. Als einer der Drachen Lucas’ Sohn entführen lässt und dabei ein Blutbad anrichtet, droht der ohnehin schon fragile Frieden auf dem Mond endgültig zu zerbrechen …

Ian McDonalds große LUNA-Trilogie:

Erster Roman: Luna

Zweiter Roman: Luna – Wolfsmond

Dritter Roman: Luna – Drachenmond

Der Autor

Ian McDonald, 1960 in Manchester geboren ist langjähriger Fernsehredakteur und Schriftsteller. Im Alter von zweiundzwanzig verkaufte er seine erste Story, inzwischen zählt er zu den bedeutendsten Science-Fiction-Schriftstellern der Gegenwart. Viele seiner Werke wurden mit Genre-Preisen wie dem Hugo, dem Locus und dem Nebula Award ausgezeichnet. Der Autor lebt und arbeitet in Nordirland.

Mehr über Ian McDonald und seine Romane erfahren Sie auf:

diezukunft.de

Ian McDonald

LUNA

DRACHENMOND

Roman

Aus dem Englischen übersetztvon Friedrich Mader

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der englischen Originalausgabe

LUNA – MOON RISING

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 08/2019

Redaktion: Tamara Rapp

Copyright © 2017 by Ian McDonald

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe undder Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Karte: Dave Senior

Umschlagillustration: Victor Moyquerarz

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT GbR, München

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-19302-7V001

www.diezukunft.de

VORDERSEITE DES MONDES

WAS BISHER GESCHAH

Am Krieg zwischen Mackenzie Metals und Corta Hélio ist die mächtige Familie der Cortas zerbrochen, die Überlebenden wurden in alle Winde zerstreut. Nach einem Mordanschlag querschnittsgelähmt, flieht Ariel Corta zusammen mit ihrer Leibwächterin und treuen Freundin Marina Calzaghe in die Anonymität der Hochstadt von Meridian, bis sie vom Mondadler Jonathon Kayode als seine Beraterin in die lunare Gesellschaft zurückgerufen wird, weil er sich von Feinden umgeben sieht, die ihn entthronen wollen. Der Wolf Wagner Corta schlägt sich als Arbeiter auf dem Sonnengürtel der Taiyang durch: einem Ring von Solarmodulen um den Äquator des Mondes. Sein Leben teilt sich zwischen seinem Arbeitstrupp und seinem Wolfsrudel, bis er zum Beschützer von Robson Corta wird, der von Bryce Mackenzie, dem Finanzvorstand von Mackenzie Metals, als Geisel gehalten wurde. Jetzt muss er sich entscheiden zwischen seiner Wolfsnatur und der Aufgabe, sich um den verletzlichen Robson zu kümmern. Lucasinho und Luna Corta stehen unter dem Schutz der Asamoahs in Twé, auch wenn Lucasinho unter der fehlenden Bewegungsfreiheit leidet.

Lucasinhos Vater Lucas hat indessen den kühnsten Schritt von allen gewagt. Auf dem Mond hält man ihn für tot, doch er ist auf das Orbitalfahrzeug von WTO geflohen und verwandelt sich im Lauf eines Jahres durch hartes Training in einen Mondgeborenen, der der Schwerkraft der Erde standzuhalten vermag. Allerdings bleibt er nur so lange, bis er Abmachungen unter Dach und Fach bringen kann, die er während der langen Runden zwischen Mond und Erde angebahnt hat. Er formt ein Konsortium terrestrischer Regierungen, Konzerne und Kapitalfonds und versucht, mithilfe der Woronzows und ihres Massebeschleunigers – einer tödlichen Weltraumwaffe – das alte Imperium seiner Familie zurückzugewinnen. Er bringt Aléxia mit, die erste auf der Erde geborene Corta seit zwei Generationen, die das Abenteuer und die Gefahren des Mondes auf sich nimmt.

Damit sein Plan gelingt, muss Lucas zunächst Verwirrung stiften. Seine Mutter Adriana, die Gründerin von Corta Hélio, hat in das Steuerungssystem von Crucible, der riesigen Schmelzanlage der Mackenzies, einen Angriffscode eingeschleust. Ein knapper Befehl – den Aléxia erteilt, nachdem Lucas beim Start von der Erde fast gestorben wäre – zerstört Crucible. Menschen sterben, unter anderem auch Robert Mackenzie, der Präsident von Mackenzie Metals. Seine Söhne Duncan und Bryce streiten nun um die Macht über das Unternehmen. Duncan übernimmt das traditionelle Metallgeschäft, Bryce die Helium-3-Sparte der Cortas. Der erbitterte Krieg zwischen den Brüdern droht den ganzen Mond in den Abgrund zu reißen und den für die Erde lebenswichtigen Helium-3-Markt zu destabilisieren. Lucas sieht seine Gelegenheit und schlägt zu. Der Mond ist eine Industriekolonie ohne die Verteidigungsbereitschaft eines Staats. Aus der Umlaufbahn abgeworfene Kampfeinheiten stürmen und besetzen Schaltstellen der Infrastruktur, und der Massebeschleuniger von WTO hält die gesamte Vorderseite in Schach. Anfangs leisten die Drachen noch Gegenwehr, doch als mit Twé das landwirtschaftliche Herzstück des Mondes belagert wird, bleibt angesichts der drohenden Hungersnot nur die Kapitulation.

Im allgemeinen Chaos fliehen Lucasinho und Luna aus Twé. Um sich in Sicherheit zu bringen, müssen sie, verfolgt von terrestrischen Kampfmaschinen, einen gefährlichen Marsch über die Oberfläche auf sich nehmen. Als Lunas Schutzanzug beschädigt wird, gibt ihr Lucasinho seine letzten Atemzüge. Sie bringt ihn in Sicherheit, doch selbst bei einem Mondläufer ist es fraglich, ob er so lange ohne Sauerstoff überleben kann.

Bots und Söldner von der Erde besetzen Meridian. Jonathon Kayode wird defenestriert, und Lucas Corta, der nach dem zermürbenden Aufenthalt auf der Erde körperlich ein Wrack ist, tritt mit Aléxia als Eisenhand an seiner Seite das Amt des Mondadlers an. Als Erstes versucht er, sich die Dienste seiner Schwester Ariel zu sichern, doch sie lehnt ab, obwohl sie sich damit in große Gefahr begibt. Alle vier Drachen wollen ein Druckmittel gegen Lucas, daher sind die Cortas bevorzugte Geiseln. Bryce Mackenzie scheitert mit seinem Plan, Robson Corta zu entführen. Wagner und Robson fliehen ins abgelegene Theophilus im Mare Tranquillitatis, wo es relativ sicher ist.

Lucas Corta triumphiert. Endlich gehört der Mond ihm: Was wird er damit anfangen?

1

Acht Gestalten eskortieren den Sarg über das Mare Fecunditatis. Vier als Träger, jeweils an einem Griff; vier als Wachen nach allen Himmelsrichtungen: Nord, Süd, Ost und West. In schwer gepanzerten Schutzanzügen schlurfen sie dahin. Von ihren Stiefeln steigt hoch der Staub auf. Beim Befördern eines Sarges zählt vor allem Koordination, und die Träger haben den richtigen Rhythmus noch nicht gefunden. Sie torkeln, sie schlingern, sie hinterlassen verschmierte Fußabdrücke auf dem Regolith. Sie bewegen sich wie Leute, für die das Gehen auf der Mondoberfläche und die dafür notwendige klobige Kleidung ungewohnt sind. Sieben weiße Schutzanzüge, nur der letzte ist scharlachrot und golden. Jeder weiße Anzug trägt ein Emblem aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort: ein Schwert, eine Axt, einen Fächer, einen Spiegel, einen Bogen, einen aufgehenden Mond. Der Vorderste marschiert mithilfe eines zusammengerollten Regenschirms mit silberner Spitze, dessen Griff ein menschliches Gesicht ist, eine Hälfte lebend, die andere Hälfte nackter Knochen. Die Spitze stanzt präzise Löcher in den Regolith.

Im Mare Fecunditatis hat es noch nie geregnet.

Der Sarg hat ein Bullauge. Das wäre unpassend, wenn es sich bei dem Schrein tatsächlich um einen Sarg handeln würde. In Wirklichkeit ist es eine Versorgungskapsel, die dem Schutz und der Lebenserhaltung Verletzter auf der Mondoberfläche dient. Hinter dem Fenster ist das Gesicht eines jungen Mannes auszumachen, die Haut braun, die Wangenknochen hoch und stark, das Haar dicht und schwarz, die Lippen voll, die Augen geschlossen. Es ist Lucasinho Corta. Er liegt seit zehn Tagen im Koma; zehn Tage, die den Mond bis in seinen Kern erschüttert haben wie eine Glocke aus Fels. Zehn Tage, in denen ein Adler gestürzt und ein anderer aufgestiegen ist, in denen auf den steinernen Meeren von Luna ein Softwarekrieg getobt hat und die alte Ordnung des Mondes durch die neue Ordnung der Erde hinweggefegt wurde.

Die unbeholfenen Gestalten sind die Ordensschwestern der Herren des Jetzt, die Lucasinho Corta nach Meridian tragen. Sieben Schwestern, dazu das Schlusslicht in unpassendem Scharlachrot und Gold. Luna Corta.

»Hat sich das Schiff schon gemeldet?«

Mãe de Santo Odunlade zischt frustriert und starrt auf die Felder ihrer Helmanzeige, um die Fragerin zu identifizieren. Der Orden der Herren des Jetzt schreibt in seiner Glaubenslehre vor, das Netzwerk zu meiden. Da ist es keine Kleinigkeit, den Umgang mit dem Interface eines Schutzanzugs zu erlernen.

Schließlich erkennt die Mãe de Santo Madrinha Elis als die Sprecherin. »Bald.« Sie hebt den Schirm und deutet zum östlichen Horizont, wo das Schiff aus Meridian landen soll. Der Schirm ist das Wahrzeichen von Oxalá, dem Himmelsvater. Wie das Schwert, die Axt, der Spiegel, der Bogen, der Fächer und die Mondsichel ist er ein Werkzeug der Orixás. Die Ordensschwestern tragen nicht nur den schlafenden Prinzen, sondern auch die heiligen Embleme. Alle Santinhos begreifen diese Symbolik. João de Deus ist nicht mehr die Stadt der Heiligen.

Schiff im Anflug, meldet der Anzug der Mãe de Santo. Im gleichen Augenblick scheint der Horizont in den Himmel zu springen. Rover. Dutzende von ihnen. Schnell und hart schießen sie heran. Auf den Gesichtsfeldanzeigen blitzen Hunderte von roten Kontaktpunkten auf.

Die Mackenzies sind da.

»Lasst euch nicht beirren, meine Schwestern«, ruft Mãe Odunlade. Die Prozession marschiert auf die Linie gleißender Scheinwerfer zu. Obwohl die Lichter blenden, hebt sie nicht den Arm vor die Augen.

Schiff setzt zur Landung an, Mãe, verkündet der Anzug.

Ein Rover löst sich nun aus der Einkreisung und schiebt sich auf Mãe Odunlade zu. Sie hält den heiligen Regenschirm in die Höhe. Der Zug kommt zum Stillstand. Sitze fahren nach unten, Sicherheitsbügel schnappen nach oben, Gestalten in den grün-weißen Sasuits von Mackenzie Helium springen auf den Regolith. Sie greifen über den Rücken nach Halftern und ziehen längliche Gegenstände heraus. Gewehre.

»Sie können hier nicht durch, Mutter.«

Mãe Odunlade ärgert sich über die Dreistigkeit. Kein Respekt. Nicht einmal Portugiesisch. Sie entdeckt die Sprecherin auf ihrer Blickfeldanzeige. »Wer sind Sie?«

»Ich bin Loysa Divinagracia«, antwortet die Frau im Zentrum des bewaffneten Trupps. »Ich bin Sicherheitsleiterin von Mackenzie Helium für die Viertelkugel Nordost.«

»Dieser junge Mann benötigt fortschrittlichste medizinische Versorgung.«

»Für Mackenzie Helium wäre es eine Ehre, diese Dienste in unserem voll ausgestatteten Unternehmensklinikum anzubieten.«

Sechzig Sekunden bis zur Landung. Das Schiff ist der hellste, schnellste Stern am Himmel.

»Ich bringe ihn zu seinem Vater.« Die Mãe de Santo tritt nach vorn.

»Das kann ich nicht zulassen.« Loysa Divinagracia legt die Hand auf die Brustplatte der Ordensschwester.

Mãe Odunlade klatscht den Arm der Frau mit dem heiligen Schirm beiseite und setzt mit einem Schlag gegen die Helmseite nach. Was für eine Frechheit. Polymer splittert, Atmosphäre entweicht, dann versiegelt sich der Anzug, bis er wieder dicht ist.

Gewehre werden angelegt.

Die Schwestern der Herren des Jetzt drängen sich um die Versorgungskapsel. Das Schwert Ogums wird gezogen, die Axt Xangôs, der Bogen, der rasiermesserscharfe Fächer. Was würde die Verehrung der Orixás bedeuten, wenn ihre Embleme keinen praktischen Nutzen hätten?

Luna Corta hebt ihre sperrigen Arme auf Schulterhöhe. Scheiden entriegeln sich, Magnete greifen: Messer fliegen in ihre Hände und rasten ein. Das Licht der Erde im ersten Viertel, das tief über dem westlichen Rand der Welt liegt, glitzert auf den Schneiden der Meteoreisenklingen: die Schlachtenmesser der Cortas.

Wir haben sie sicher aufbewahrt, sagte Mãe de Santo Odunlade, beschienen vom Schimmer der Biolichter in Lucasinhos Krankenzimmer im Ordenshaus. Bis ein Corta kommt, der kühn und großherzig ist, der ohne Geiz und Feigheit für die Familie kämpft und sie verteidigt. Ein Corta, der dieser Klingen würdig ist.

Carlinhos war der Kämpfer der Familie. Ihm gehörten diese Messer vor ihr. Einmal führte er ihr mit Essstäbchen die Technik vor. Das war ihr unheimlich: die Schnelligkeit, die Veränderung, die ihn zu einem völlig fremden Menschen machte.

Diese Messer haben Carlinhos den Tod gebracht.

Madrinha Elis tritt zwischen Luna und den Ring von Gewehren. »Steck die Messer weg, Luna.«

»Das tue ich nicht«, entgegnet Luna. »Ich bin eine Corta, und Cortas schneiden.«

»Folge deiner Madrinha, störrisches Kind«, wirft Mãe de Santo Odunlade ein. »Es ist nur der Anzug, der dich groß macht.«

Mit einem missmutigen Fauchen lässt sich Luna zurückfallen, ohne die herrlichen Messer zurück in die Scheiden zu schieben.

»Lasst uns durch«, fordert Mãe Odunlade über den gemeinsamen Kanal.

Und Luna hört die Antwort der Mackenzie-Frau: »Gebt uns Lucasinho Corta, dann könnt ihr gehen, wohin ihr wollt.«

»Nein«, flüstert Luna.

Im nächsten Moment werden sie, die Schwestern, die Kapsel und die Mackenzie-Fechter in blendende Helle getaucht. Das Gleißen zerfällt in Hunderte von einzelnen Splittern: Rover, Staubräder, die Navigationslichter von Schutzanzügen und Sasuits, die alle über den dunklen Regolith gerast kommen. Hinter ihnen erhebt sich eine riesige Staubfahne, die im gebrochenen Schein der Erde Mondbögen wirft. Sie steuern direkt auf die Mackenzies zu. In letzter Minute fliehen Fechter und Gewehrschützen, als ihre Linie von einem Keil von Rovern und Staubrädern und einem Heer rennender Staubfresser durchbrochen wird.

An Antennen und Masten, an Kabeln und Streben, an Rovern und Rucksäcken, gemalt auf Helme und gepanzerte Brustplatten, spritzlackiert, schnellgedruckt, mit vakuumbeständigem Marker gezeichnet: die halb schwarze, halb weiße Maske unserer Herrin der tausend Tode, Dona Luna.

João de Deus hat sich erhoben.

Der Keil von Angreifern entfaltet sich zu einer Phalanx von Spießen und Speeren. Staubbiker stützen Stangen auf Fußrasten. Als kleines Kind hat Luna so etwas Ähnliches in einem verrückten alten Film von der Erde gesehen: Metallmänner, die mit langen Piken unter dem Arm auf großen Metalltieren saßen. Ritter in Rüstung, erklärt Lunas Vertraute, die sich mit ihr erinnert. Ritter mit Lanzen.

Hoch über den feindlichen Lagern flackern blaue Lichter: die Lagekontrolldüsen eines WTO-Mondschiffs, das hinter der Mackenzie-Linie zu einem sicheren Landeplatz manövriert. Mit einem letzten kurzen Zünden des Haupttriebwerks gleitet das hässliche Konglomerat aus Treibstofftanks, Kühlmodulen und Stützstreben nach unten.

Stulpen und Handschuhe spannen sich um Speerschäfte. Piken gehen in Stellung. Finger umklammern die Lenkstangen von Staubrädern.

»Luna«, mahnt Madrinha Elis.

»Fertig«, antwortet Luna. Ihr Anzug ist bereit, die Stromreserven sind aktiviert. Sie muss nur den Befehl geben, dann läuft er los, schneller, als ihre eigenen Beine sie jemals tragen könnten. Sie weiß, zu welchen Leistungen ein Standardanzug fähig ist, denn sie war darauf angewiesen, als sie Lucasinho, anoxisch und praktisch schon tot, in den Bunker in Boa Vista brachte. »Ich hab das schon mal gemacht.«

Der Staub, den das Mondschiff mit seinem Senkflug aufwirbelt, umhüllt Santinhos und Mackenzies. Madrinha Elis ruft: »Lauf, Kind.«

»Los«, befiehlt sie, doch der Anzug ist bereits in Bewegung.

Genau wie die Mackenzies. Das Überraschungsmoment ist dahin; Rover scheren aus, in der Absicht, die Kavallerie von Staubrädern zu überholen und die Gruppe um Lucasinho vom Schiff abzuschneiden. Fußsoldaten der Santinhos, die den Weg dorthin frei halten wollen, stürmen gegen die Verbände der Mackenzies an.

Jemand stürzt. Eine Gestalt in einem Sasuit verdreht sich und geht zu Boden. Ein Panzeranzug zersplittert in spritzende Scherben. Die Mackenzies haben das Feuer eröffnet. Ein Helm zerschellt. Ein Kopf zerplatzt zu Brei. Nacheinander fallen die Banner von Dona Luna. Im Dahinrasen bemerkt Luna das Blut, die Fleischfetzen, die ins Vakuum tropfenden Körperflüssigkeiten.

Taumelnd und rollend sinkt Irmã Loa mit Iansãs Sichel an Lunas Seite zu Boden. Die obere Hälfte ihres Schädels ist abgerissen. Überall um Luna fliegen unsichtbar die Kugeln, doch sie darf nicht an sie denken, darf an nichts anderes denken als an das Mondschiff, das gerade mit dem Fahrwerk aufsetzt und aus seiner Transportkapsel eine Rampe entfaltet.

»Luna!« Mãe Odunlade auf dem Privatkanal. »Nimm die rechte Kastenseite. Der Anzug schafft das.«

»Mãe …«

»Elis hält die andere Seite.«

»Mãe …«

»Keine Widerrede, Kind!«

Ihre gepanzerte Hand schließt sich um einen Griff. Die Kreisel stabilisieren das Gewicht. Sie sieht, wie ihre Madrinha nach dem Griff gegenüber fasst.

Die Santinhos stellen sich gegen die Mackenzies. Zwei, zehn, zwanzig fallen unter vernichtendem Feuer, doch immer wieder rücken Speere und Spieße nach. Nahkampf, gewalttätig, intim, leidenschaftlich wie Sex. Speerspitzen dringen ein, durchbohren Menschen von vorn bis hinten, zerfetzen Anzüge, Haut, Knochen, zertrümmern Visiere, durchstoßen Gesichter, Schädel, Gehirne.

»Was machen sie?«, fragt sie Madrinha Elis auf dem privaten Kanal.

»Sie verschaffen uns Zeit, Anjinho.«

Die Phalanx der Speere schließt sich wieder und geht geschlossen zum Angriff über. Die Gewehrschützen verlieren ihre Formation und weichen zurück. Zwischen den Mauern aus Piken spürt Luna, wie ihr Anzug den Griff am Schrein ihres Cousins fester packt, sich nach vorn beugt und zu einem finalen Sprint ansetzt, auf das Schiff zu. In voller Geschwindigkeit trifft sie auf die Rampe und bremst hart, damit sie nicht gegen das hintere Schott der Transportkapsel kracht. Besatzungsmitglieder in Sasuits sichern die Kapsel. Durch die Stiefelhaptik nimmt sie das Vibrieren des Decks wahr.

Haupttriebwerk zündet in zehn, neun, acht …

Durch die sich schließenden Türen fällt Lunas letzter Blick auf die zurückbleibenden Schwestern der Herren des Jetzt, die in ihren weißen Gewändern mit dem Rücken zueinander stehen und die Wahrzeichen der Orixás in die Höhe halten. Um sie herum ein Ring von Spießen und die beherzten Banner unserer Herrin der tausend Tode. Dahinter die Mackenzies, zahlreich wie die Sterne. Dann zündet das Triebwerk, und über alles breitet sich der Staub.

Mãe de Santo Odunlade beobachtet, wie sich das Schiff auf einem Diamanten aus Raketenlicht aus der Staubwolke erhebt.

In Meridian werden sie Zuflucht und Erholung finden. Der Mondadler wird sie unter seine Fittiche nehmen.

Mit Piken und Lanzen halten die Santinhos ihren Kreis um die Schwestern. So viele gefallen, so viele tot. Ein schrecklicher Ort zum Sterben.

Mãe Odunlade findet das Icon für den Gemeinschaftskanal. »Der Regolith hat genug Blut getrunken«, ruft sie allen Staubfressern und Santinhos im Mare Fecunditatis zu, allen Fechtern und Söldnern, und besonders Bryce Mackenzie, wo auch immer er sich versteckt hat.

Die Gewehrschützen bleiben in Stellung.

»Es ist nicht nötig, dass hier draußen noch mehr Menschen sterben.«

In den hinteren Reihen der Mackenzies starten zwei Rover und nehmen mit beängstigender Geschwindigkeit die Verfolgung des Mondschiffs auf, das inzwischen als Konstellation von Warnlichtern nach Westen rast. Aus dem Rücken der Rover schälen sich Mechanismen; Apparate mit mehreren Läufen und Munitionsgurten. Bei allen Göttern und Geistern, sie sind schnell. Schon hängen sie am Horizont. Lichtschlangen schnellen in weitem Bogen nach oben – auf der Suche nach den Scheinwerfern des WTO-Schiffs. Mãe de Santo Odunlade weiß nicht, was sie da sieht, doch sie begreift, was es zu bedeuten hat. Wenn Bryce Mackenzie Lucasinho Corta nicht in seine Gewalt bringen kann, dann soll es auch niemand anders können. Und noch etwas wird ihr klar. Hier wird es keine Gnade geben für Menschen, die im Namen der Cortas die Hand und die Klinge erhoben haben.

»Im Namen von Oxalá, Licht des Lichts, immerwährend, immer wahr, immer beständig!« Mãe de Santo Odunlade hebt den Schirm hoch über den Kopf. Öffnet ihn. Wie auf ein Kommando hin recken auch die anderen Schwestern ihre Wahrzeichen empor. Das Schwert Ogums, den Fächer Yemanjás, den Bogen Oxóssis, die Axt Xangôs.

Luna bekommt die Faust nicht von der Versorgungskapsel. Lucasinho ist sicher, Lucasinho ist gerettet; sie sollte ihn jetzt loslassen, doch der Anzug liest eine Wirklichkeit außerhalb ihres Wachbewusstseins und gibt die Kapsel nicht frei. Der Anzug: Sie hat das Gefühl, schon ewig darin zu stecken. Dieser Anzug hat sie geschützt, hat sie geführt, hat ihr geholfen. Er hat sie verraten und in Gefahr gebracht.

Eine Erinnerung: Lucasinho, wie er Band um das Kniegelenk wickelte, wo sich der rasiermesserscharfe Mondstaub durch den Stoff fraß, Schritt für Schritt, Kilometer um Kilometer, bis die Nahtstelle riss. Sie berührt das Kniegelenk, und die Handschuhhaptik übermittelt die raue Unebenheit der Ausbesserung. Sie hat den Flicken nicht bemerkt, als die Mãe de Santo kam und sie aufforderte: Komm, Kind, schlüpf in den Anzug, wir müssen los.

Wohin gehen wir, Mãe?

Nach Meridian. Der Adler hat ein Schiff für seinen Sohn geschickt.

Sie streifte den Innenoverall über und schob sich in den klobigen Überzug, der haptische Aufbau umschloss sie, die Hülle versiegelte sich. Plötzlich war sie wieder in der Schleuse der BALTRAN-Station Lubbock, und Lucasinho forderte sie auf loszumarschieren. Der Anzug macht die ganze Arbeit.

Und als sie scheppernd durch den Umgehungstunnel zur Schleuse stapfte, war sie erneut unter dem grünen Schein in dem Bunker in Boa Vista, und Lucasinho lag, wo sie ihn hingebreitet hatte. Reglos, ohne zu atmen. Der große Anzug konnte so sanft sein.

Was mache ich jetzt?

Der Schutzbunker zeigte ihr, wie sie Lucasinho mit dem Lebenserhaltungssystem verbinden, die Monitore einstecken und die Kühlanlage anschließen musste, die ihn mit tiefer, rettender Kälte versorgen konnte.

Sein Zustand ist kritisch, teilten ihr die Maschinen mit. Er braucht dringend medizinische Versorgung.

Trotzdem konnte sie nichts anderes tun, als in der Kälte und dem grünen Licht zu warten. So wie sie auch jetzt im Frachtraum eines WTO-Mondschiffs wartet.

Freier Fall in drei, zwei, eins …

Die Startsequenz endet. Lunas Stiefel haken sie mit Borsten an die Mikroschlaufen im Deckbelag. Sie ist zugleich verankert und frei; sie erinnert sich an den Schwindel und das flaue Gefühl in der Magengrube beim freien Fall des BALTRAN. Das war kein Spaß. Und auch jetzt in dem Mondschiff auf seiner suborbitalen Flugbahn nach Meridian gefällt es ihr nicht besser.

Direkt neben Lunas Stiefeln knallt es mehrfach. Nur Zentimeter von ihrem linken Absatz entfernt ist eine Linie von Löchern in genau gleichem Abstand voneinander aufgeplatzt. Knattern, und eine neue Linie von Löchern punktiert von unten rechts nach oben links das Schott des Frachtraums. Durch die kleinen Öffnungen sickert Erdlicht.

Eine dritte Reihe von Schlägen, dann wird Luna plötzlich vom Boden gerissen, und ihre Finger lösen sich vom Griff an der Kapsel ihres Cousins. Die Beschleunigung verlagert sich und lenkt sie wieder in Richtung von Lucasinhos Schrein. Nun schwebt sie frei auf halber Höhe durch den Raum.

Wir sind Ziel eines Angriffs, meldet die Bord-KI. Wir wurden von Wuchtgeschossen mit Hochgeschwindigkeit durchbohrt. Der Schiffskörper ist beeinträchtigt. Treibstoffverlust nach Treffern an Tank drei, daher die ungeplante Beschleunigung, die inzwischen wieder stabilisiert ist.

Luna fasst nach den Rettungsseilen und hangelt sich zum Schott. Die nächste Salve stanzt sich im Bogen durch das Deck und das Dach. Vor zwei Herzschlägen war da ihr Kopf. Im Dach sind Löcher. Überall sind Löcher.

Luna dreht sich, und ihre Stiefel werden wieder am Deck festgehakt. Sie schaut sich nach Elis um: Da ist sie, ein weißer Plastikhaufen auf der anderen Seite des Schreins. Sie regt sich nicht, spricht nicht. Warum liegt sie am Boden? Dona Luna, mach, dass keine Löcher im Anzug sind, keine Löcher in ihrer Madrinha.

Ein leises Stöhnen auf dem privaten Kanal. Der weiße Berg bewegt sich, wird zu einem Menschen in einem Außenanzug. Mühsam rappelt sich Madrinha Elis auf die Knie.

Dann gehen die Lichter aus.

»Was ist passiert?«, ruft Luna.

Die Hauptstromleitung ist gekappt, erklärt das Schiff. Notstrom wird in Kürze bereitgestellt. Ich muss darauf hinweisen, dass mein Prozessorkern schwer beschädigt und meine Funktionalität nicht mehr gewährleistet ist.

Matt und fahlgelb springt die Notbeleuchtung an. Über Lunas Gesichtsfeldanzeige zieht sich ein Mosaik roter Alarmpunkte: Die Crew oben im Kommandomodul steckt in Schwierigkeiten. Einer nach dem anderen werden die Punkte weiß.

Weiß ist die Farbe des Todes.

»Elis!«

Ihre Madrinha kommt zu ihr und schlingt die Maschinenarme um ihren klobigen Anzug. » Coraçao.«

»Alles in Ordnung?«

»Die Kapsel«, flüstert Madrinha Elis. »Die Kapsel.«

»Lucasinho!«

Luna umkreist den Schrein und schaut nach Löchern, nach Schäden, nach irgendwelchen Kratzern. Ein Beinahetreffer hat eine Furche über die untere linke Ecke der Kapsel gezogen. Sie drückt ihr Visier an das Fenster. Anscheinend funktioniert noch alles.

Änderung des Flugplans, meldet das Schiff. Ich versuche eine Notlandung in Twé. Bereithalten für Kurswechsel in drei, zwei, eins …

Winzige Beschleunigungen schütteln Luna durch, dann ist sie erneut im freien Fall.

Bereithalten für Bremszündung des Haupttriebwerks.

Das Gewicht kehrt zurück und lastet wie mehrere Lunas auf ihren Schultern. Obwohl sich der Anzug strafft und versteift, spürt Luna das Mahlen ihrer Zähne und das Blut wie Blei in ihren Adern.

Notruf abgesetzt. Die Stimme der Bord-KI bleibt ruhig und beherrscht, auch wenn Luna Angst hineinliest. Die Kühlmodule sind beschädigt und nicht mehr einsatzfähig. Ich kann die Überschusswärme nicht mehr ableiten.

Auf ihrem Marsch mit Lucasinho über die südöstliche Viertelkugel hat Luna das Wesen des Vakuums kennengelernt. Es ist Lady Lunas bevorzugte Waffe, doch sie kann auch auf andere, subtilere Weise töten, nicht nur mit dem tiefen, erstickenden Kuss. Vakuum isoliert hervorragend – besser als alles andere. Hitze kann nur durch Strahlung entweichen. Ihr Schutzanzug hat an den Schultern ausfahrbare Flügel, die die Wärme der Systeme und ihres eigenen kleinen Körpers abgeben. Ein Schiff erzeugt sehr viel mehr Wärme als ein kleines Mädchen, vor allem beim Zünden der Triebwerke. Kritische Systeme können sich überhitzen, ausfallen, im schlimmsten Fall sogar schmelzen. Für eine sichere Landung in Twé muss das Triebwerk hart und heiß zünden, und die dabei entstehende Wärme kann nicht abstrahlen. Die Hitze wird immer größer und erreicht bedrohliche Ausmaße.

Das Schiff bebt. Sie kann sich nicht erinnern, dass es beim Start so gebebt hat. Das Triebwerk setzt aus – einen Moment fällt sie frei – und wieder ein. In der nächsten Sekunde ist es abermals weg, der Motor stottert, hat eine Fehlzündung, springt an. Sie kann kaum noch etwas sehen, so stark wird sie bei der heftigen Bremsung durchgerüttelt.

Ich erlebe den Ausfall kritischer Systeme, erklärt das Schiff. Ich sterbe.

Das Beben klingt ab. Das Haupttriebwerk versagt. Luna stürzt in einem von Löchern durchsiebten Schiffskörper auf die Mondoberfläche zu. In einem leblosen Kasten, einem Klotz.

Weiße Schemen schweben durch das Vakuum in der Transportkapsel. Auf dem Mond gibt es keine Geister, das weiß jeder. Was sind das für Schwaden, die von allen Kabeln und Rohren, Deckbodenfasern und Markerkrakeln aufsteigen?

Dann bemerkt Luna ihren eigenen Temperaturmonitor. Das Deck unter ihren Füßen verzeichnet einhundertfünfzehn Grad Celsius.

Aus den Polymeren und anderen organischen Verbindungen entweichen flüchtige Stoffe, erklärt ihr die Anzug-KI. Nach meiner Schätzung erreichen wir den Schmelzpunkt in drei Minuten.

Ihr Schutzanzug besteht aus Kunststoff. Starkes, robustes Plastik, das auf der Mondoberfläche gehen kann, gutes Plastik, das für ausreichende Kühlung sorgt. Doch jetzt wird sie in ihrem Panzer zu Tode gebacken, lang bevor die Luft versiegt.

Ich lenke die maximal verfügbare Energie in die Umweltkontrolle, sagt der Anzug. Kühlmodule werden ausgefahren.

Luna spürt das Klicken der Flossen, die sich an ihrem Rücken ausbreiten. Flügel: Zauberflügel wie die ihrer vertrauten Lunamotte.

Versteifung für Aufprall, warnt das System plötzlich.

Was? Luna fährt auf, dann trifft sie ein Schlag so heftig, wie sie es noch nie erlebt hat, so heftig, dass nicht einmal die Haptikausrüstung die volle Wucht des Stoßes abfangen kann. Sie kracht hart auf den Boden und die Schotten der Transportkapsel. Sie hört Flügel brechen und Plastik bersten. Sie ist eine winzige Bohne, die rasselnd durch eine Flasche geschleudert wird.

Ich habe Schäden erlitten, die meine Integrität bedrohen, erklärt der Anzug.

Luna bekommt keine Luft; es hat ihr den Atem verschlagen.

»Anjinho, wir müssen raus. Mach die Tür auf, ich hole Lucasinho.«

Im Frachtraum ist es dunstig von den Dämpfen; Leitungen hängen durch, Kabelbäume haben sich verzogen. Das Deck ist gekippt; zur Transporttür geht es schräg nach oben.

Die Tür will sich nicht öffnen.

Wieder drückt Luna auf den roten Knopf. Die Tür bleibt zu.

»Wo ist der Handnotschalter?«, fragt Luna den Anzug. Das zweite Gesetz für Außeneinsätze auf dem Mond: Für alles gibt es einen Handnotschalter. Das hat sie von ihrem Onkel Carlinhos gelernt. Der große, grinsende Tio Carlinhos, der so selten nach Boa Vista kam und sie dann immer auf den Arm nahm und sie so hoch in die Luft warf, dass sie mit wehenden Haaren kreischte, obwohl sie wusste, dass er sie immer wieder auffangen würde. Das erste Gesetz für Außeneinsätze auf dem Mond: Alles kann dir zum Verhängnis werden.

Der große, grinsende Tio Carlinhos, als sie noch ein kleines Kind war, bevor sie die Messer übernahm und zur Prinzessin von Corta Hélio wurde.

Der Anzug beleuchtet eine kleine Klappe. Drinnen ist ein Griff.

»Auf meiner Seite ist auch einer. Zusammen.« Madrinha Elis zählt mit den Fingern: drei, zwei …

Luna zieht am Griff. Die Tür sackt auf ihren Holmen nach unten. Vorsichtig späht Luna über den Absatz. Drei Meter unter ihr erstreckt sich der Regolith. Das Schiff ist knapp vor einem Krater aufgeschlagen. Hinter dem Rand kann Luna die Satellitenschüsseln und Spiegelmasten von Twé erkennen. Der Sprung nach unten zur Oberfläche ist kein Problem. Sie rutscht noch einmal zurück über das hängende Deck und hält sich an einem Griff des Schreins fest, um zu bremsen. Elis stützt den vorderen Teil der Versorgungskapsel. Luna löst die Gurte. Der Kasten gerät ins Schlittern. Elis stemmt sich dagegen, während Luna zum Fußende huscht. Zerrend und schiebend bewegen sie die schwere Kapsel über das schräge Deck bis zur Rampe. Bis zum Rand.

Auf sanfte Weise lässt sich das nicht machen.

Zusammen stoßen sie Lucasinho über den Absatz. Er fällt in der langsamen lunaren Schwerkraft, prallt mit den Füßen auf, überschlägt sich und bleibt mit dem Bullauge nach unten liegen. Zwei Schritte dahinter springen Luna und Elis von der Rampe und landen in einer Gischt von Staub. Sie sind die einzigen Überlebenden des WTO-Mondschiffs Pustelga.

Elis zeigt mit dem Finger auf den umgestürzten Schrein und bedeutet Luna mit einer Geste, dass sie ihn aufrichten sollen. Die zwei Schutzanzüge kauern sich nieder und drehen den Schrein um. Kapsel und Fensterscheibe sind intakt. Lucasinho ist zur Seite gesackt und liegt reglos da. Luna kann nicht erkennen, ob er lebt oder tot ist.

»Wir müssen ihn vom Schiff wegbringen«, mahnt Elis.

Zusammen hieven sie Lucasinho weg vom Wrack der Pustelga. Das Raumschiff liegt da wie ein zermalmter Schmetterling. Zwei Reihen von Landebeinen haben versagt, die eine zusammengefaltet von der schrägen Landung, die andere zurückgerammt in den Rumpf. Alle Kühlmodule sind ausgefahren und zu leeren Flügelrippen zerschossen. Aus dem beschädigten Treibstofftank entweicht noch immer Dampf. Ein Satz Schubdüsen ist komplett abgerissen. Das Schiff ist mit Löchern übersät wie von tausend Messerstichen. Der Frachtraum überzogen von sich kreuzenden Feuerwänden. Luna versteht nicht, wie sie überleben konnten. Das Kommandomodul ist völlig zerfetzt. Nichts ist mehr intakt, niemand ist mehr am Leben. Batterien platzen, und der Schutt rieselt prasselnd von Lunas Schutzanzug. Aus den Einschusslöchern tropft geschmolzenes Plastik. Vor Lunas Augen sackt das Schiff noch weiter zusammen. In den Triebwerken glüht es trüb rot. Das Schiff wird explodieren. So schnell sie können, schleppen die Madrinha und ihr Schützling Lucasinhos Kapsel über den Kraterrand. Auf dem losen Regolith schlittern sie auf die Kuppeln, Tanks und Antennen von Twé zu, der Hauptstadt der Asamoahs. Die Sonnenkuppeln, die das Licht hinunterleiten zu den Spiegelreihen, werden zurzeit gerade erst wieder von dem Regolith befreit, unter dem die LMA-Angreifer sie mit Bulldozern begraben haben, um die Silofarmen vom Leben abzuschneiden.

Auf Lunas Visier erblühen Warnmeldungen. Ihr Anzug stirbt allmählich, kritische Systeme versagen. Das erlebt sie nicht zum ersten Mal, diesen Sterbemarsch hat sie schon einmal absolviert, draußen auf dem Glasland von Boa Vista, als Lucasinho die undichte Stelle an ihrer Schutzkleidung mit Band abdichtete und ihr den letzten Atemzug aus seiner Lunge schenkte.

Twé weiß sicher schon Bescheid. Ein beschädigtes Schiff im Anflug, die Bruchlandung. Twé wird Hilfe schicken. Die Asamoahs sind seit jeher mit den Cortas befreundet.

Am Horizont tauchen zwei Staubfahnen auf. In wenigen Sekunden werden sie zu zwei Schemen, die sich rasch von Osten nähern. Luna winkt: Hier! Schaut her! Hier sind wir.

»Wieso kommen die Asamoahs aus dieser Richtung?«, fragt Elis.

Jetzt bemerkt Luna die Rover. Sie kennt sie, sie kennt die Maschinenkanonen auf dem Dach.

»Lauf«, schreit Luna.

Die KI zeigt ihr die nächste Eingangsschleuse, doch die Anzüge haben nur noch geringe Stromreserven, und der Schrein ist schwer. Mit der Geschwindigkeit eines Rovers von Mackenzie Helium können sie es nicht aufnehmen.

Plötzlich kreuzt vor Luna ein Staubrad, ein zweites, ein drittes. Ein Trupp von Staubrädern, über jedem ein heraldisches Adinkra-Banner am luftlosen Himmel. Blackstars. Die Motorräder kreisen sie ein. Der Fahrer direkt vor ihr hebt die Hand. Stopp. Luna und Elis stehen reglos, zwischen ihnen die Versorgungskapsel. Die Fahrer zu beiden Seiten des Anführers gleiten von ihren Sätteln und befestigen die Anzüge und den Schrein mit Seilen an ihren Maschinen.

In Lunas Visier erscheinen Felder mit Namen, Identitäten, Tags, Entfernungen, Grafiken.

»Ihr seid gesichert«, erklärt der Anführer der Blackstars.

»Setzt die Kapsel ab«, befiehlt eine Stimme auf dem gemeinsamen Kanal. Die Mackenzies sind eingetroffen.

Der australische Akzent lässt Luna vor Wut zittern. Sie hat genug von diesen Leuten, es reicht, es reicht, es reicht. Sie wird sich nicht fügen. Sie wird Lucasinho nicht im Stich lassen. Sie spannt die Hand fester um den Schreingriff und wartet.

Die zwei Rover stehen hundert Meter aufwärts am Hang. Die Crew schwingt sich von ihren Sitzen und bildet eine Linie. Ein Mann trägt ein Gewehr. Die Kanonen auf den Rovern drehen sich, zielen und rasten ein.

In jeder Blackstar-Hand ist eine Klinge.

Luna wendet sich an die ungebetene Stimme. »Es reicht!« Sie stampft mit dem Fuß auf. »Ich bin Luna Ameyo Arena de Corta, und ich bin eine Prinzessin! Rafael Corta war mein Vater, und meine Mutter ist Lousika Yaa Dede Asamoah, Omahene des Goldenen Stuhls der Akan. Wer mich angreift, greift das ganze Volk der Asamoahs an.«

»Luna«, flüstert Madrinha Elis auf dem privaten Kanal.

Doch Luna ist jetzt wütend, so wütend wie noch nie in ihrem Leben. Hundert Kränkungen und tausend Demütigungen haben sich angestaut zu blanker Wut, zu gerechtem Zorn. »Haut ab!«, ruft sie.

Kein Wort auf dem gemeinsamen Kanal, aber auf einmal lösen die Jackaroos die Formation auf und kehren zu ihren Rovern zurück. Die Blackstars halten ihren Verteidigungswall. Schließlich klicken auch die Maschinenkanonen und drehen sich weg von den eingestellten Zielen. Die Rover wenden in einem Ring aus Staub. Nach einem Atemzug sind sie auf halbem Weg zum Horizont.

»Luna«, wiederholt Elis, und auf dem gemeinsamen Kanal meldet der Anführer: »Alles in Ordnung, ihr seid in Sicherheit.«

Noch immer steht Luna reglos da und umklammert den Griff an der Kapsel ihres Cousins. »Haut ab, haut ab, haut ab«, zischt sie. »Haut endlich ab!«

Als sich die Türen schließen, konzentriert sich Finn Warne ganz auf die beleuchtete Deckentäfelung. Die Fahrt mit dem Expressaufzug an der Westseite von Kingscourt dauert nur zwanzig Minuten, doch für ihn ist die Geschwindigkeit ebenso ein Problem wie die zwei Kilometer Anstieg von Queen of the South hinauf zu Bryce’ Privatsuite. Es zeugt nicht gerade von Professionalität, wenn der Sicherheitschef von Mackenzie Helium an Höhenangst leidet. So, mit den Händen hinter dem Rücken und den Blick ins Licht gerichtet, wirkt es einfach, als würde er meditieren und seine Kräfte sammeln.

Bryce könnte das alles auch übers Netzwerk machen. Ein moderner Unternehmer muss seinen ersten Fechter nicht unter vier Augen instruieren. Doch es gehört zu den Privilegien eines Oligarchen, dass er seinen Willen selbst da durchsetzt, wo es nicht nötig ist.

Ein moderner Geschäftsmann braucht auch keine persönliche Rezeptionistin in strahlend weißem Kleid hinter einem strahlend weißen Tresen. Eigentlich ist Finn Warne stolz auf sein gepflegtes Aussehen: die Nägel manikürt, das Nasenhaar gestutzt, das Haar nach der aktuellen Mode der 1940er-Jahre pomadisiert und zurückgekämmt. Doch in Krimsyns Anwesenheit fühlt er sich immer grobschlächtig und schlampig, die Krawatte eine Spur zu lose geschlungen, ein Hauch von Schmutz unter einem Fingernagel, die Rasur eine Nuance zu blau. Außerdem weiß sie von seiner Höhenangst.

Finn loggt sich mit der höchstmöglichen Sicherheitsfreigabe ein. Krimsyn neigt den Kopf wie gegenüber einem Fremden.

Um ihrer Geringschätzung den Stachel zu nehmen, malt sich Finn Sex mit ihr aus. Er stellt sich die vollkommene Beherrschung vor, mit der sie streng auf alle Regionen ihres Körpers achtet und dass sie die Kontrolle nie verliert, auch wenn der Sex noch so intensiv, rau und lang ist.

Ein Klicken, und die Tür zu Bryce Mackenzies Allerheiligstem entriegelt sich.

»Guten Tag, Finn.« Bryce liegt auf dem Behandlungsbett an der Glaswand. Er ist nackt, ein Fleischberg, dessen Fettmassen über die weißen Polster rollen und wogen. Helle, körnige Dehnungsstreifen ziehen sich über seine Haut. Die Maschinen konzentrieren sich auf ihn wie Gläubige auf ihr Gebet, zwei bei seinen Schultern, zwei für den Bauch, zwei an den Hüften. Mit langen Armen bedienen sie die Nadeln und die Vorrichtungen zum Absaugen seines Körperfetts.

Finn nähert sich vorsichtig, denn das Fenster bietet eine geradezu monströse Aussicht. Was ihm zu schaffen macht, ist weniger der schiere Abgrund, in den er ohnehin zur Sicherheit noch nicht geblickt hat, sondern das Panorama der Bauten von Queen of the South; jeder zahnstocherdünne Turm erinnert ihn daran, wie hoch droben er sich befindet und wie viel mehr noch über ihm steht, bis es oben im Dach mit den Geräten in der Lavasenke von Queen verschmilzt. Ja, monströs – aber nicht so monströs wie das Wesen auf dem Behandlungsbett.

»Ihr habt ihn entwischen lassen«, schnauft Bryce.

»Die Roverbesatzung hatte keinen Vertrag für einen Konflikt mit den Asamoahs«, antwortet Finn.

Bryce atmet scharf ein, als die Maschinen ihre Arme strecken und ihm die Nadeln ins Fleisch stechen. »Du solltest mir Lucasinho Corta bringen, das war deine Aufgabe.«

»Wir haben die Verträge in aller Eile ausgegeben. Der Junge war ganz plötzlich unterwegs, da mussten wir sofort handeln.« Finn beobachtet, wie sich die Kanülen unter Bryce’ Haut durch die Fettschicht bohren.

»Ausflüchte, Finn?«

Finn unterdrückt die aufsteigende Angst.

»Jetzt ist Lucasinho Corta wieder in Twé unter dem Schutz der Asamoahs. Wir hatten zwei mit Maschinenkanonen ausgerüstete Rover. Und wie waren die Blackstars bewaffnet?«

»Mit Staubrädern und Messern.«

»Staubräder und Messer. Gegen Maschinenkanonen.«

»Die KI-Juristen haben unseren Söldnern von Provokationen abgeraten.«

Bryce liegt wie auf dem Seziertisch und kann sich nicht bewegen. Er dreht die Augen in Finn Warnes Richtung. »Maschinenkanonen, die ein WTO-Mondschiff abgeschossen haben.«

»Die Rechtsabteilung hat eine Forderung auf Entschädigung aus St. Olga erhalten.«

Ein Zucken, ein Stöhnen von dem gepolsterten Bett. »Das fechten wir an. Genauso wie die Restzahlung für die Kanonenschützen. Scheißsöldner.«

»Sie hatten keine Befugnis, einen Krieg mit den Akan anzufangen.«

Gelbes Fett fließt durch die Schläuche in durchsichtige Beutel unter dem Bett. »Irgendwelche Überlebenden in João de Deus?«

»Nein.«

»Wenigstens etwas. Und unsere Verluste?«

Die Nadeln ziehen sich zurück. Aus den Wunden sickern dünne Blutfäden, dann machen sich sanfte Roboterhände ans Tupfen, Sterilisieren, Verschließen. Währenddessen suchen sich die Nadeln neue Ziele und tauchen ein. Wieder entfährt Bryce ein leises Ächzen.

Fast wie beim Sex, findet Finn. Er spürt ein Prickeln an den Hoden. »Wir haben nicht mit einem Kampf gerechnet.«

»Zeig mir die Zahlen.«

Ein Datenflackern von einem Vertrauten zum anderen.

»Hauptsächlich unsere Jackaroos«, bemerkt Bryce. »Gut. Söldner sind teuer. Standardvergütung plus zehn Prozent. Schließlich haben sie nicht mit dem Kampf gerechnet, wie du sagst. Und jetzt? Wir stehen ohne Geisel da, João de Deus hasst mich mehr als je zuvor, und Jewgeni Woronzow möchte, dass ich ihm ein neues Mondschiff spendiere. Ziemlicher Murks, findest du nicht auch, Finn?«

»Wie lauten deine Instruktionen, Bryce?«

»Minen, Finn. Sprengfallen. Du gehst mit einem Team von Ingenieuren raus und verminst die kostbare Scheißstadt von Lucas Corta. Ich möchte, dass alles in die Luft fliegt. Aber schön heimlich. Das kannst du doch, oder? Und jemand vom technischen Dienst soll meinen Vertrauten mit einem Code programmieren. Wenn mir was zustößt, möchte ich, dass von João de Deus nur ein Krater übrig bleibt. Er hat mir mein Zuhause genommen, jetzt nehme ich ihm seins.«

Mit einem geschmeidigen Saugen ziehen sich die Kanülen zurück und suchen nach frischem Fett zum Schlürfen.

2

Da, erneut, schrill und hoch durchdringt er den summenden Lärm des Vormittags auf der Orion-Quadra: der Ruf. Kurz, stechend, abgerundet mit einem Triller.

Aléxia hält inne, die Finger erstarrt auf dem Knopf ihres eng taillierten Hausjacketts. Die kleinste Bewegung, das geringste Rascheln von Stoff würde das Lied stören. Jetzt ist es weg. In Strumpfsocken schleicht Aléxia zum Balkon. Reglos wie ein Eiszapfen lauscht sie durch die Akkorde von hundert verschiedenen Elektromotoren, das Wasserrauschen in den Rohren, das Wehen künstlicher Winde und den Chor menschlicher Stimmen, die den lautesten Bestandteil der Musik von Meridian bilden. Sie bündelt ihr Gehör zu einem scharfen Pfeil. Selbst ihr Herzschlag, der Hauch ihres Atems sind zu laut.

Da: stakkatohaftes Getschilpe wie Nadelstiche weit entfernt auf der Quadra. Etwas Sonderbares, Lebendes, Nichtmenschliches. Golden grün, mit einem roten Fleck schwirrt es durch ihr Gesichtsfeld. Ihr Blick folgt der Bewegung. Ein Vogel.

»Was ist das?« Aléxia hat sich abgefunden mit den Icons in ihrem Auge, die für die vier Grundstoffe stehen. Die Eisenhand des Mondadlers wird nie die erstickende Angst vor Sauerstoffschulden kennenlernen, sie wird nie Atemzüge bei Freunden und Verwandten borgen oder aus den Ausdünstungen der eineinhalb Millionen Mondbewohner Wasser gewinnen müssen. Doch diese Symbole erlöschen nie, und Aléxia kann einfach nicht vergessen, dass in dieser Welt alles gemessen und berechnet wird. Ihr Vertrauter ist ihr noch immer unvertraut. Wie üblich hat sie ihm einen Namen gegeben – Maninho – und ihn als Zeichentrickfigur mit schlabbrigem T-Shirt, kurzer Hose und zu großen Schuhen gestaltet, damit er nicht so bedrohlich wirkt. Trotzdem kostet es sie noch immer Überwindung, ihn laut anzusprechen. Zu Hause sind KIs nicht so vorlaut.

Zu Hause.

Ein Singsittich, antwortet Maninho leise in ihrem implantierten Ohrstöpsel. Aléxia ächzt auf, als die Farben auf sie zuschießen und sich dann auf dem Geländer am benachbarten Balkon niederlassen: ein Vogel.

»Ja, wen haben wir denn da?«, wispert Aléxia Corta. Niedergekauert zwitschert und trällert sie dem Vogel zu und streckt ihm den Finger entgegen: die universelle Geste im Umgang mit kleinen Tieren und Babys. »Ach, was bist du niedlich.«

Der Sittich neigt den Kopf und betrachtet sie zuerst mit dem rechten, dann mit dem linken Auge. Die Farbe des Gefieders wechselt von Türkisgrün an der Stirn über smaragdgrüne Flügel zu einem gelben Bauch. Am Schwanz hat er einen ziegelroten Fleck.

Abgesehen von Hausfrettchen an Leinen oder Fischen und Krustentieren in Imbissaquarien ist dies das einzige nicht menschliche Lebewesen, das Aléxia seit ihrer Ankunft auf dem Mond begegnet ist.

Was macht er hier? Mit angespannten Kiefermuskeln haucht sie in das implantierte Mikrofon, ein Trick, den jedes Mondkind draufhat, bevor es laufen lernt, und den sie noch immer nicht richtig beherrscht.

Nach seinem Verhalten zu urteilen, möchte er vermutlich Essen von dir erbetteln, antwortet Maninho.

Das hab ich nicht gemeint. Auch wenn sie ihm die Skin eines trotteligen Armleuchters verpasst hat, zeigt er die Persönlichkeit eines Priesters beim Katechismusunterricht. Ich meine, wie kommt er hierher?

In Queen of the South gibt es schon seit zwanzig Jahren Wildkolonien, erklärt Maninho. Die Population in Meridian liegt bei etwa fünfhundert. Bisher sind alle Ausrottungsversuche fehlgeschlagen. In städtischen Zentren ist biologische Verseuchung ein hartnäckiges Problem.

Und wovon ernähren sie sich?

Von Körnern, Obst, Nüssen und Samen. Von Essensüberresten. Sie sind völlig abhängig von den Menschen.

»Flieg nicht weg, Passarinho.« Aléxia weicht langsam in ihr Wohnzimmer zurück. Selbst im Vergleich zu dem engen Apartment im Ocean Tower ist das hier wie eine Gefängniszelle. Wo ist mein Penthouseblick?, rief sie im ersten Schock. Ihre Mitarbeiter runzelten erstaunt die Stirn. Das hier ist ein erlesenes Quartier, wie es dem Status einer persönlichen Referentin des Mondadlers entspricht. Die Leute erklärten ihr, dass die Strahlung an der Oberfläche weit nach unten vordringt. Je höher der Status, desto tiefer liegt die Residenz. Und wo ist die Küche? Verblüfft klappte eine Mitarbeiterin die Spüle hoch, zog den Abfallbehälter heraus und ließ den Kühlschrank aus der Wand fahren. Wo lagere ich Sachen? Wo koche ich? Erneut hochgezogene Brauen. Sie wollen kochen? Man isst auswärts. Man sucht sich einen Imbiss aus, lernt die Stammgäste und den Wirt kennen, man baut sich eine kleine Gemeinschaft auf. Apartmentküchen sind zum Zubereiten von Cocktails da. Höchstens noch dafür, dass man sich einen Minztee kocht, wenn man absolut keinen Fuß in ein Teehaus setzen will.

Nüsse. Sie hat Cashews im Kühlschrank. Cashewnüsse und -saft schmecken nach ihrem Zuhause. Sie sind das Einzige im Kühlschrank. Vögel mögen Nüsse, oder?

Nachricht von Lucas, meldet Maninho.

»Scheiße.«

Es ist nicht einmal eine gesprochene Nachricht. Einfach eine schriftliche Anweisung. Planänderung. Wir treffen uns im Pavillon des Neuen Mondes. Kleidung für eine Plenarsitzung.

Schnell wirft Aléxia eine Handvoll Nüsse auf den Balkon. Als sie sich abwendet, bemerkt sie aus dem Augenwinkel ein grünes Flattern.

Nah wie ihr Schatten taucht der Mann hinter Aléxia in den Aufzug. Seine Ausdünstung klebt ihr in der Kehle. Aléxias Geruchssinn war der erste, der auf dem Mond bestürmt wurde, und auch der erste, der sich akklimatisiert hat. Als sie am Hub von Meridian aus der Mondloop-Gondel stieg, warf sie der Gestank fast um. Der beklemmende Abwasserdampf, die verbrauchte Luft und die Körper, die sie eingeatmet hatten, das Knistern von Ozon und Elektrizität, das fettig süße Aroma von neu gedrucktem Kunststoff. Schweiß und Schimmel, Bakterien und Blähungen. Kochdünste, verrottende Vegetation, abgestandenes Wasser. Und über allem, vor allem, der scharfe Geruch des Mondstaubs nach abgebrannten Feuerwerkskörpern. Dann wachte sie eines Tages in ihrem winzigen Schlafzimmer auf und wurde nicht mehr von einem stinkenden Schlund begrüßt. Jetzt gehört der Geruch zu ihr, ist eingedrungen in ihre Haut und ihre Kehle, in ihre Adern und ihre Lunge.

Der Mann fällt auch den anderen im Aufzug auf.

Er ist groß, ausgemergelt, unrasiert. Er trägt die lunare Standardkluft aus Hoodie und Leggins, allerdings sind die Sachen schmutzig: unvorstellbar in einer Gesellschaft, die die Kleider täglich ablegt und neu ausdruckt. Und er ist nackt – kein schwebender Vertrauter über seiner linken Schulter. Der Mann fängt Aléxias Blick auf und starrt sie an. Er starrt und starrt.

Aléxia Corta hat noch nie als Erste den Blick abgewandt.

Die Fahrgäste werden weniger, je höher der Aufzug klettert. Als er die Ebene der LMA-Zentrale erreicht, die symbolisch zwischen der Erde und der tief verschanzten Mondelite sitzt, sind nur noch Aléxia und der stinkende Kerl übrig.

Der Aufzug bremst und hält an.

»Gib mir. Ein bisschen Luft«, ächzt er, als sich die Tür öffnet. Er tritt in den Durchgang, damit sie sich nicht schließen kann.

»Entschuldigung.« Aléxia drängt vorbei, und er packt sie am Handgelenk. Sie reißt sich mit Nachdruck los, um ihm zu zeigen, dass sie ihm jederzeit den Arm brechen könnte. Dann zögert sie, stellt sich dem Affront. So sieht Armut aus, begreift sie. Aléxia ist in dem Glauben aufgewachsen, dass alle Leute auf dem Mond reich sind. Auf der Brüstung des Ocean Tower sitzend, blickte sie hinauf zu einer kleinen, fernen Kugel voller Milliardäre.

»Bitte. Nur. Ein. Atemzug.« Jedes Wort klingt angestrengt. Jede Silbe kostet ihn Kraft. Dieser Mann ringt nach Luft. Seine Brust bewegt sich kaum, die Halssehnen sind angespannt wie Kabel, alle Muskeln konzentrieren sich auf die Tätigkeit des Atmens. Dennoch bleibt seine Lunge leer.

»Tut mir leid, ich bin neu. Ich weiß nicht, wie das geht«, stammelt Aléxia und entfernt sich von dem langsam erstickenden Mann.

»Verdammte LMA«, flüstert er ihr nach. Schreien kann er sich nicht leisten. »Nicht. Die. Luft. Zum. Atmen. Wert.«

Aléxia dreht sich um. »Wie meinen Sie das?«

Die Tür hat sich geschlossen.

»Wie meinen Sie das?«, ruft Aléxia.

Im Expresstempo fährt der Aufzug hinauf in die Hochstadt, wo die Armen hausen.

Aléxia, mahnt Maninho, du hast zwei Minuten und dreiundzwanzig Sekunden Verspätung. Lucas wird schon ungeduldig.

Mit gefalteten Händen hält sich Lady Sun für den Besuch der Lunar Mandate Authority bereit. Die hochrangigen Delegierten werden verärgert sein: zuerst die Reise von Meridian nach Queen of the South, dann weiter zum Palast des Ewigen Lichts und zuletzt der demütigende Gang über den polierten Stein in der Großen Halle der Taiyang zu der kleinen Tür, wo Lady Sun mit ihrem Gefolge wartet. Sollen sie ruhig verärgert sein. Die Ehrenpräsidentin von Shackleton lässt sich nicht herumschicken wie ein kleines Kind.

Sie bewegen sich wie verängstigte Hühner, diese Erdmenschen, mit skeptischen, sparsamen Schritten, zusammengedrängt, als könnte der Boden sie verschlingen. Terrestrier. Diese schrecklichen Anzüge. Schmale Krawatten, billige Schuhe. Die Uniform von Apparatschiks und Konzernideologen. Ihre Vertrauten sind identische stahlgraue Mondsicheln, als wären sie bloß digitale Assistenten und keine eigenen KI-Seelen. Lady Suns Gefolge – groß, gut aussehend, geschmackvoll gekleidet – blickt auf die Terrestrier herab.

»Es ist mir eine Ehre, Sun Cixi.«

Sie lässt sich Zeit. Sie kann warten, bis die Sonne erkaltet.

»Lady Sun.«

»Delegierte Wang.«

»Wir machen uns Sorgen über den Verbleib des Delegierten James F. Cockburn. Er wurde als Kontaktperson zwischen LMA und Taiyang eingeteilt, mit besonderer Zuständigkeit für den Äquatorsolarpark«, erklärt die Delegierte Wang. Sie ist eine kühl kalkulierende Parteifunktionärin aus Beijing.

»Wir möchten wissen, ob dem Delegierten Cockburn etwas zugestoßen ist.« Der Sprecher ist Anselmo Reyes von der Risikokapitalgesellschaft Davenant, erfährt Lady Sun von ihrer Vertrauten. Offenbar hat die LMA ihre höchsten Vertreter geschickt.

»Bedauerlicherweise hatte der Delegierte Cockburn während einer Inspektion im Sektor Nordgrimaldi des Sun-Rings einen tödlichen Unfall«, erwidert Lady Sun. »Anzüge für den Außeneinsatz erfordern Geschick und Erfahrung.«

»Warum wurden wir nicht sofort verständigt?«, fragt die Delegierte Wang.

»Das Netzwerk ist nach der Invasion noch immer nicht voll funktionsfähig.« Demeter Sun aus dem Taiyang-Gefolge trägt den vereinbarten Vorwand vor.

»Nach der Rationalisierung, meinen Sie«, verbessert die Delegierte Wang.

Demeter Sun neigt den Kopf.

»Taiyang wird den Vorfall umfassend untersuchen«, fügt Sun Guoxi hinzu. »Der Bericht wird Ihnen zugehen, und etwaige Entschädigungsansprüche werden selbstverständlich erfüllt.«

»Im Namen unseres Vorstands darf ich Ihnen etwas überreichen.« Lady Sun hebt einen Finger, und Sun Liqiu tritt mit einer Kassette vor. Klein, zierlich, lasergeschnitten aus Mondtitan. Erlesen.

Die Delegierte Wang Yongqing nimmt eine kalligrafische Rolle heraus. »Kohlenstoff, 58523,25 Gramm; 16664,37 Gramm Sauerstoff. Was hat das zu bedeuten?«

»Die chemischen Bestandteile von James F. Cockburn«, antwortet Lady Sun. »Erstaunlich hohe Zahl von Nanopartikeln an Blei, Quecksilber, Kadmium und Gold. Ist die Kalligrafie nicht exquisit? Sun Liqiu hat eine beneidenswerte Handschrift.«

Der hochgewachsene junge Mann verneigt sich.

»Die Elemente wurden bereits dem allgemeinen Biopool hinzugefügt«, fährt Lady Sun fort. »Die Zabbaleen sind sehr gewissenhaft bei ihren Lebensdauerkontrollen. Ich finde diese Präzision sehr beruhigend.«

Sun Liqiu mag eine beneidenswerte Gabe im Umgang mit dem kalligrafischen Pinsel haben, doch das größte Geschick besitzt Jiang Ying Yue mit dem Messer. Sie ist die Unternehmensbeauftragte für Konfliktlösungen von Taiyang, ein beschönigender Titel für das, was freimütigere Clans wie die Mackenzies als ersten Fechter bezeichnen. Die Drei Erhabenen haben die Ankunft eines Agenten der Volksrepublik vorhergesehen, und durch einfache Prüfungen wurde James F. Cockburn mit einer fünfundsiebzigprozentigen Wahrscheinlichkeit als dieser Agent identifiziert. Diese Quote reichte dem Vorstand im Palast des Ewigen Lichts für einen Liquidierungsbefehl. Jiang Ying Yue wurde instruiert und entsandt. Sie begleitete den Delegierten Cockburn persönlich im privaten Triebwagen. Während sich dieser noch im Wandtunnel des Shackleton-Kraters befand, ließ Jiang Ying Yue die Knochenklinge aus dem Halfter in ihrem Anzug gleiten und bohrte sie James F. Cockburn durch das weiche Fleisch des Kiefers bis ins Gehirn. Die Zabbaleen warteten bereits an einem Nebengleis in der BALTRAN-Endstation. Sie beseitigten die Leiche, das Messer, die Flecken und alle DNA-Spuren. Flecken sind Blut, Blut ist Kohlenstoff, und Kohlenstoff gehört dem Mond.

»Das ist …« Monique Bertin gerät ins Stottern. Sie ist die dritte Führungskraft der LMA und vertritt die Interessen der Europäischen Union.

»Unser Brauch, Madame Bertin.« Mit einem gekrümmten Finger signalisiert Lady Sun ihrem Tross, dass die Besprechung zu Ende ist. »Bitte genießen Sie die Gastfreundschaft im Palast des Ewigen Lichts.« Ihre Gefolgsleute scharen sich eng um sie, als sie sich zurückzieht. Ausgezeichnete Jungen und Mädchen.

»Ist euch was aufgefallen?«, fragt Lady Sun, als sie in den Bahnwagen steigt, der sie zu ihren Privatgemächern fahren wird.

»Alle richten sich nach Madame Wang«, antwortet ihre Beauftragte für Konfliktlösungen.

»Die Volksrepublik hat uns nicht vergessen«, bemerkt Lady Sun. »Sie hat sechzig Jahre gewartet, und in dieser Zeit ist sie gierig und nachlässig geworden. Ihre Vertreter haben einen Fehler begangen. Sie haben uns verraten, wie sehr sie die LMA kontrollieren. Dieses Wissen können wir gegen sie benutzen.«

Die Bahn gleitet durch Röhren und bremst an Lady Suns privater Station.

Madame, Darius Mackenzie ist angekommen, verkündet Lady Suns Vertraute.

»Darius Sun«, verbessert Lady Sun. »Ying Yue, bitte rufen Sie meine Enkelin Amanda her. Ich möchte sie in meinem Apartment sprechen.«

Eine erhobene Hand entlässt Jiang Ying Yue an der Bahntür. Lady Sun verharrt und betrachtet ihren Großneffen. Vor fünf Tagen hat sie ihn in die Obhut der Schule der Sieben Glocken gegeben. Schon wirkt er schlanker, straffer, stärker. Diszipliniert. Und er dampft nicht mehr.

Wir schmieden Waffen hier, hat Mariano Gabriel Demaría gesagt.

Lady Sun hat viele Verwandte in der Kunst des Messerkampfs unterrichten lassen, doch die Waffe, die hier entsteht, ist subtiler und größer. Eine offen getragene Waffe, wie ein Schwert an einer Wand, das selbst nach Jahren noch eine tödlich scharfe Schneide besitzt. Eine Waffe, die vielleicht erst nach ihrem Tod gezogen wird.

»Darius.«

»Taihou.« Die Ehrenbezeichnung ist nicht unbedingt korrekt. Trotzdem hat ihm Mariano Gabriel Demaría nach der unziemlichen Ungezwungenheit von Kingscourt anscheinend Manieren beigebracht. Wann sind die Mackenzies bloß so weich und dekadent geworden? In den großen Tagen haben die Suns und die Mackenzies diese Welt geformt. Gehämmerter Stahl, die Mackenzies, und die Suns wie Diamant. Damals war Lady Luna eine harte Zuchtmeisterin; jeden Atemzug, jede Träne musste man ihr abringen. Alle dahin. Robert Mackenzie tot; Jewgeni Woronzow ein seniler Greis, der von seinen Enkeln wie ein Schwein zum Markt getrieben wird. Und Adriana Corta, die letzte der Drachen, ist als Erste gestorben. Sie hatte Eisen in den Knochen. Die Kinder sind es, die enttäuschen. Was für eine Entwicklung in drei Generationen. Die erste schafft es, die zweite gibt es aus, die dritte verliert es. Lucas Corta, das ist ein Sohn, der seiner Mutter würdig ist. Die Reise zur Erde – das hätten die alten Drachen bewundert. Es ist unmöglich, und man macht es trotzdem.

Nach ihren Plänen sollten sich Cortas und Mackenzies gegenseitig vernichten. Noch hat sie ihr Ziel nicht erreicht.

»Mariano fordert dich hoffentlich?«, fragt Lady Sun. Sie tritt zu den Fenstern, die wie gleißende Schlitze in den Randfels des Shackleton-Kraters geschlagen sind. Gehärtetes Glas, sechs Zentimeter dick, und doch nagt die gnadenlose Sonne des Südpols Tag für Tag, Lune für Lune an den Atomverbindungen. Eines Tages werden die Scheiben versagen. In dieser Vorstellung findet Lady Sun Trost. Es ist erfrischend und stärkend, das Ende zu kennen. Klingen aus blendendem staubigem Licht durchschneiden das Zimmer. Lady Suns Apartment ist geräumig und schlicht eingerichtet; ihr Luxus sind die Stoffe und Webereien an ihren Wänden. Die Säulen aus Sonnenschein, die in diesen extremen Breiten immer gleich hoch bleiben, haben lange Streifen in ihre Brokattücher und Teppiche gebleicht. Das ist Lady Sun völlig einerlei. Sie erfreut sich an den taktilen Eigenschaften ihrer Textilien; beim Darüberstreichen wechseln sie von pelzweich zu katzenzungenrau.

»Wenn das heißen soll, ob es intensiv ist, ja, das ist es«, antwortet Darius Sun-Mackenzie. »Er bringt mir das Ahnen bei. Vor dem Kämpfen kommt das Bewegen, und vor dem Bewegen kommt das Ahnen.«

»Der Irrgarten«, sagt Lady Sun. Der ganze Mond kennt die Legende von dem Labyrinth, in dessen Finsternis sieben Glocken hängen. Wer den Irrgarten durchschreiten kann, ohne eine einzige Glocke anzuschlagen, den hat die Schule der Sieben Glocken zum wahren Kämpfer ausgebildet. »Zeig mir, was du gelernt hast.«

Lady Sun nimmt einen Gehstock aus einem Glaskasten. Gedankenlose Gäste und Kinder bringen ihr Stöcke als Geschenk mit. Mit aller Kraft lässt sie ihn auf Darius’ Kopf niedersausen. Doch er ist nicht mehr da. Er steht nur eine Schuhlänge entfernt, beherrscht und bereit. Wie eine Witwe, die Einbrecher verjagt, stürmt Lady Sun auf Darius los. Mit einer Neigung, einem Schwenk, einem Schritt weicht Darius aus; die geringstnötige Bewegung, damit ihn der Hieb um Millimeter verfehlt.

Anmut und Eleganz, denkt Lady Sun, als sie den Stock in einem Wirbel von Stößen und Schlägen kreisen lässt. Er vertraut nicht nur seinem Auge. Er hört die Bewegung des Stocks, meinen Atem, meine Schritte; er spürt die Verdrängung der Luft.

»Ausgezeichnet.« Lady Sun bricht ihre Angriffe ab. »Und jetzt stell dir vor, du willst mich töten.« Sie hebt den Stock.

Darius erahnt ihn und fängt ihn mit der offenen Hand ab, ohne hinzusehen. Dann hat er ihn und dringt auf Lady Sun ein. Die Spitze gleitet über ihre Kehle, die weiche Stelle hinterm Ohr, die Achsel. Hautnah, beherrscht, mit dem geringstmöglichen Abstand zwischen Absicht und Ausführung.

Der Stock streift ihren Unterarm, ihre Leiste, ihren Hals. Das Finale in drei eleganten Stößen.

Der erste raubt die Klinge.

Der zweite raubt die Kraft zum Widerstand.

Der dritte raubt das Leben.

Lady Sun winkt, und Darius überlässt ihr den Stock. »Du bist deinem Lehrprogramm voraus.«

»In Crucible habe ich bei Denny Mackenzie die Grundlagen des Messerkampfs gelernt.«

»Ein feiner Fechter, Denny Mackenzie. Schonungslos und ehrenhaft. Ich frage mich, wie er sein Exil erträgt.«

Die Vertrauten verkünden die Ankunft von Amanda Sun im Foyer. Darius entschuldigt sich.

»Bleib«, fordert Lady Sun. »Du musst auch andere Formen des Kämpfens kennenlernen.«

Die vorgeschobenen Schultern, der eingezogene Bauch, die angespannten Hände verraten Amanda Suns Zorn. Ich lese in dir wie in einem Kinderbuch, denkt Lady Sun. Kein Wunder, dass dich Lucas Corta überlistet hat.

Erst nach einer langen Pause eröffnet sie das Gespräch. »Dein Sohn ist in Twé.«

»Wieder unter dem Schutz der Asamoahs.«

»Und dennoch bist du hier.« Am Rand ihres Gesichtsfelds – ihre Sinne sind noch immer wach und scharf – nimmt Lady Sun wahr, wie Darius unruhig das Gewicht verlagert. »Lucas Corta ist in diesen Minuten auf dem Weg nach Twé. Er hat vor, seinen Sohn nach Meridian mitzunehmen. Wir brauchen ein Druckmittel gegen den Mondadler. Die ganze Vorderseite ist darauf aus, einen Corta in ihre Gewalt zu bekommen. Einen wertvollen Corta.«

»Ich breche sofort auf.«

»Zu spät. Tamsin hat in deinem Namen einen Antrag auf eine befristete Pflegschaft für Lucasinho Corta vorbereitet.«

Mit angehaltenem Atem beugt sich Darius vor, Muskeln und Sehnen angespannt. Sein frisch geschärfter Kampfinstinkt ist erwacht.

»Du wirst Klage beim Clavius-Gerichtshof einreichen und deine Sache selbst vertreten. Ein enger Kontakt zu Lucas Corta wird sich dabei nicht vermeiden lassen.«

»Du widerlicher, vertrockneter Sack Galle«, faucht Amanda Sun.

»Welche Mutter würde keine Opfer für ihr Kind bringen?«

»Ich bin Vorstandsmitglied, ich habe ein Recht darauf, konsultiert zu werden.«

»Mutterschaft dreht sich nicht um Rechte. Sie dreht sich um Verantwortung. Dein privater Triebwagen wartet schon.« Lady Sun faltet die Hände.

Amanda Sun fasst sich, wendet sich wortlos ab und verlässt das Apartment.

»Sie hat mich angelogen«, sagt Lady Sun zu Darius. »Sie hat behauptet, dass sie Lucas Corta beim Fall von Corta Hélio getötet hat. Du musst eins begreifen, Darius. Die Leute erzählen, Geschäft ist Geschäft, es geht nicht um Persönliches. Aber das ist eine große Lüge. Alles ist persönlich.«

3

Twé verführt Aléxia mit allen Sinnen. Hier sind Farben, Formen, Schatten und Bewegungen, die sie in Meridian nie erlebt. Von überall her Musik und Stimmen – Kinder! Vögel! –, tausend Arten von Lärm, Aufregung und Trubel: das Brausen und Schwappen von Wasserrohren, das Surren und Seufzen warmer, feuchter Winde in den Ventilationsleitungen, das Jammern und Kreischen elektrischer Motoren. Was ist das? Zwei Kids auf einem Powerboard? Twé schmeichelt Aléxias Haut mit fünfzig Aromen und Pheromonen; sauer und süß, schmackhaft und salzig liegen sie ihr auf der Zunge. In jeder Zelle spürt sie Wärme, höheren Luftdruck, Feuchtigkeit, und ist vielleicht auch die Schwerkraft ein wenig verschoben? Meridian bietet ein herrliches Kaleidoskop ineinander verschachtelter Schluchten, unvorstellbar hoher Klippen und unendlich weiter Panoramen bis zu fernen Fluchtpunkten, doch es ist aus Stein, aus totem Stein. Twé dagegen ist die Wurzel, die sich tief ins kalte Herz des Mondes gräbt und nach den Stoffen sucht, die für den Fortbestand des Lebens notwendig sind.