Luthers Weihnachten - Elke Strauchenbruch - E-Book

Luthers Weihnachten E-Book

Elke Strauchenbruch

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Beschreibung

Wussten Sie, dass die Adventszeit ursprünglich eine Fastenzeit war, der Stollen ein Symbol für das in Windeln gewickelte Kind ist, oder erst Martin Luther entscheidend dazu beitrug, dass das Weihnachtsfest ein Familienfest wurde? Von Luther ausgehend erzählt die Historikerin Elke Strauchenbruch von Weihnachtsbräuchen, die in der Reformationszeit ihren Anfang nahmen, im 19. Jahrhundert immer populärer wurden und heute nicht mehr wegzudenken sind.

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Elke Strauchenbruch

LUTHERS WEIHNACHTEN

EVANGELISCHE VERLAGSANSTALT

Leipzig

BILDNACHWEIS

Umschlagbild: Epitaph von Lucas Cranach d. J., in der

Stadtkirche St. Marien Wittenberg (Elke Strauchenbruch)

S. 25, 37, 38, 49 Elke Strauchenbruch

S. 54, 73 Fotostudio Kirsch, Wittenberg

S. 85, 87, 91, 104, 107, 114 Elke Strauchenbruch

S. 120 – 126 Dr. Seib, Eschwege

S. 129, 137, 138 Elke Strauchenbruch

S. 141 Sammlung Anton Hieke

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

3., erw. u. korr. Auflage 2017

© 2014 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Anja Haß, Frankfurt am Main

Coverbild: Epitaph von Lucas Cranach d. J., in der

Stadtkirche St. Marien Wittenberg (Elke Strauchenbruch)

Innengestaltung: Ulrike Vetter, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-374-05056-7

www.eva-leipzig.de

VORWORT

Weihnachten – das ist nichts mehr für mich. Wir haben keine kleinen Kinder mehr oder ich bin allein. Das hört man vor den Feiertagen oft. Doch selbst der größte Weihnachtsmuffel wird nach kurzem nachdenken darauf kommen, dass er viele schöne Erinnerungen an frohe Festtage hat oder doch sich danach gesehnt hat.

Was bedeutet uns heute das höchste Fest der Christenheit? Viele reduzieren es auf Geschenke und Kommerz, manche erinnern sich daran, dass es um Christi Geburt geht, und kaum einer weiß, dass blühende Zweige zum Fest und selbst der Weihnachtsbaum Symbole für die Geburt und den Kreuzestod des Herrn sind. Heute freuen wir uns auf ein Familienfest und verbinden damit frohe Erwartung. Wir sehnen uns nach Frieden und Wohlgefallen in aller Welt. Niemals wird mehr gespendet als in der Weihnachtszeit und viele gehen dieses eine Mal im Jahr zum Gottesdienst in die Kirche. Das so häufig benutzte Frohes Fest! ist wohl noch immer mehr als eine Formel, es ist ein Wunsch, der uns allen gilt.

In Erinnerungen an die Feste meiner Kindheit tauchen die Geschenke nur am Rande auf. Das Wichtigste war uns die Geborgenheit in der Familie. Omas Lieblingslied Kling Glöckchen klingelingeling und der Geschmack der köstlichen Elisenlebkuchen, die sie für uns Enkel noch kurz vor ihrem Tode gebacken hat, sind ganz wichtige Kindheitserinnerungen. Wir hatten bestimmt immer den höchsten und allerschönsten Weihnachtsbaum, weil unser Vater ihn kunstvoll aus mehreren Fichten zusammensetzte und dann mit größter Hingabe schmückte. Mutti buk mit uns Plätzchen, briet ein Federvieh und bereitete Karpfen zu. Wir Kinder bastelten mit Feuereifer Geschenke für unsere Eltern. Jede Schulstunde war von einem Weihnachtslied begleitet und Vatis Betrieb veranstaltete jedes Jahr für alle Kinder der Mitarbeiter eine unvergesslich schöne Weihnachtsfeier.

Das Weihnachtsfest wird durch viele regional und familiär betriebene Bräuche verschönt, wie in meiner Kindheit im östlichen Harzvorland. Einige der mit ihm verbundenen Bräuche reichen bis weit in die Geschichte zurück, andere sind relativ modern. Ihre Ursprünge sind christlich oder stammen oftmals aus heidnischer Zeit. Immerhin liegen das Weihnachtsfest und die Wintersonnenwende kalendarisch eng zusammen. Die Natur erscheint in den dunkelsten Tagen des Jahres bedrohlich. Um sich vor allem Übel zu schützen, hielt man sich an alte Überlieferungen: Zwischen den Jahren sollte man keine Wäsche waschen – das weiß wohl noch immer jeder. Ebenso wichtig ist es, eine Schuppe des zum Fest verzehrten Fisches in der Geldbörse aufzuheben, denn das lässt die nötigen Pfennige im kommenden Jahr in unseren Taschen klingen. Wir genießen die Reste der alten Mythen in dem Glauben, die Welt heute besser zu beherrschen und alles besser zu wissen. Und doch entwickeln wir noch immer wohlige Gefühle, wenn man die Kerzen anzündet, am warmen Ofen zusammenrückt, sich der Geruch von Räucherkerzen und Bratäpfeln mit dem von Pfefferkuchen verbindet, wenn man Geschichten und Märchen erzählt, gemeinsam musiziert oder singt und ein besonderes Essen genießt.

Dieses Buch möchte an die Geschichte des Festes in unserer Heimat erinnern. Es möchte jeden Leser ermuntern, das schönste Fest des Jahres für sich neu zu entdecken und alle Jahre wieder neu nach eigenem Behagen zu gestalten. Wir stehen damit in einer langen Tradition. Das Weihnachtsfest wurde lange Zeit vor allem in den Kirchen gefeiert. Erst Martin Luther trug entscheidend dazu bei, dass Weihnachten heute vor allem ein Familienfest geworden ist. Seine Ideen wurden im Laufe der Jahrhunderte überformt und viel Neues wurde ausprobiert. Im 19. Jahrhundert holte man den Reformator wieder hervor und stellte ihn und seine Familie auf einer Grafik unter dem Weihnachtsbaum dar. Dieses Bild fand in Windeseile weite Verbreitung und half nicht nur dem Weihnachtsbaum bei seinem Einzug in die Wohnzimmer, sondern wurde innerhalb weniger Jahre zum überall bekannten Symbol der deutschen Weihnacht. Das Brauchtum des Volkes hat sich immer weiter entwickelt, alte Formen und neue miteinander verbunden, manches verworfen, anderes wieder auferstehen lassen. Die Form des Festes verändert sich, doch nicht sein ursprünglicher Sinn – die Feier der Geburt des Heilands.

Ich danke der Verlegerin Dr. Annette Weidhas, die mich auf dieses schöne und sogar spannende Thema gebracht hat.

Einige der hier angesprochenen Themenkreise, wie das Adventsfasten oder das Kindleinwiegen, wurden bisher kaum oder gar nicht behandelt. Gespräche mit Prof. Dr. Wolf D. Hartmann, Dr. Stefan Rhein und Andreas Wurda erwiesen sich wieder einmal als sehr fruchtbar. Ganz besonders danke ich Dr. Anton Hieke und Dr. Gerhard Seib († 2016) für die Überlassung sehr seltener Grafiken aus ihren privaten Sammlungen.

Ich bin meiner Familie und meinen Freunden für viele unvergesslich schöne Stunden gerade in der Weihnachtszeit dankbar. Doch das Glück der Kindheit ist leider nicht allen Menschen beschieden. So möchte ich meiner Schwester Petra Wißler ein Denkmal setzten, die zu unserem allergrößten Schmerz uns und vor allem ihre über alles geliebten und damals noch kleinen Söhne Stefan und Florian in der Weihnachtszeit 1991 für immer verlassen musste.

Dieses Buch widme ich meinem Enkel Philipp Stiegler, der just im gleichen Augenblick geboren wurde wie die Idee zu diesem Büchlein. Ich wünsche Philipp und seinen geliebten jüngeren Brüdern Jonas und Emil sowie allen anderen Kindern von ganzem Herzen ebenso friedliche, unbeschwerte und glückliche Weihnachtsfeste, wie ich sie in meiner Kindheit mit meinen Geschwistern und Schulfreunden erleben durfte.

Elke Strauchenbruch

INHALT

KAPITEL 1

WEIHNACHTEN VOR BEGINN DER REFORMATION

Das Martinsfest an der Scheide zwischen Sommer und Winter

Vom Fasten in der Adventszeit und von den Butterbriefen

Wilde Bräuche und fromme Gabenbringer

Luthers Kindheit zwischen Berggeistern und Bildung

Kindelwiegen und Tanz um den Altar

Weihnachten im Schwarzen Kloster zu Wittenberg

KAPITEL 2

WEIHNACHTEN IM LUTHERHAUS ZU WITTENBERG

Weihnachten in Luthers Predigttätigkeit

Weihnachten in der Familie – der Versuch der Neugestaltung des Brauchtums

Zwischen Überfluss und Lebensmittelteuerung

Neujahrsgeschenke, Geisterabwehr und Dreikönigsessen

KAPITEL 3

FÜR DIE RECHTE CHRISTLICHE CELEBRATION DER HEILIGEN ZEIT

Zur Bescherung allerley Puppenwerk

Eine kurtze Comedien von der Geburt des Herrn Christi

Wir armen Schüler waren wohl rechte geplagte Märtyrer

Weihnachtsunfug

Der Tag der Lichter, weil allenthalben Lichter in der Nacht angezündet wurden

Pyramiden, Paradiesbäume, Weihnachtsmeyen und Gabentische

Vom Weihnachtsfest im Biedermeier – eine Bildfolge

KAPITEL 4

WEIHNACHTEN MIT LUTHER UNTERM LICHTERBAUM

Der Lutherhof, ein Rettungshaus für heimatlose Jungen

Luther im Kreise seiner Familie – die bildliche Darstellung der »deutschen Weihnacht«

Rezepte

Anmerkungen

KAPITEL 1

WEIHNACHTEN VOR BEGINN DER REFORMATION

Das Weihnachtsfest war im Festkreis des Jahres von jeher ein besonderer Höhepunkt. Der Gedanke an Weihnachten verbindet sich heute meist mit Geschenken, Weihnachtsbaum und dem Wohlgeruch von weihnachtlichem Backwerk und Weihnachtsbraten. Viele besuchen als einzigen Gottesdienst des Jahres die Weihnachtsmesse. Den Duft von Weihnachten verbanden schon Martin Luther und seine Zeitgenossen mit Weihrauch und Kerzenlicht in den kirchlichen Gottesdiensten, mit dem Geruch der Pfefferkuchen und des Weihnachtsessens. Als Luther mit den Thesen den Beginn der Reformation auslöste, hatte der inzwischen Vierunddreißigjährige in seiner Familie, in seinen Schulen, Universitäten und Klöstern eine Fülle von festlichen Bräuchen erlebt. Sonntage, Heiligenfeste, Advent, Weihnachten, Neujahr, Fastenzeit, Ostern, Pfingsten und Michaelis, aber auch Aussaat und Ernte gaben dem Jahr eine gewisse Ordnung. Dieser Jahresfestkreis wurde mit kirchlichen, heidnischen und weltlichen Feiern und Bräuchen umgeben, die teilweise miteinander verschmolzen. Der Alltag der Menschen wurde nicht nur durch die Jahreszeiten, sondern auch durch die Sonn- und Feiertage geordnet. Arbeit und Ruhe, Fasten und Genuss gaben dem Leben seinen Rhythmus. Sie verbanden die Festtage mit ihrem Glauben, in dem sie aufgewachsen waren und der ihrem Leben Halt und Geborgenheit gab. Der Festkreis des Jahres war und ist regional und sozial geprägt. Herkunft und Berufe der Menschen spielten eine entscheidende Rolle. Der Festkreis und das mit ihm verbundene Brauchtum veränderten sich über die Zeiten und passten sich immer wieder den historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen an.

Vor der Reformation hielt man über Weihnachten eine sehr strenge Fastenzeit, die vom 12. November, dem Tag nach dem Martinstag, über Neujahr hinaus bis zu Epiphanias, dem Dreikönigstag, hin reichte. Man nannte sie die Adventsfasten. Nur an den dazwischen liegenden Wochenenden und Feiertagen wurde das Fasten unterbrochen und dauerte also zwischen dem Martinstag bis zum Dreikönigstag volle 40 Tage lang. Man kann sich leicht vorstellen, wie die Unterbrechung der Fastenzeit die Gemüter beschäftigte und die Menschen auf die Feiertage hin leben ließ. Da die Zeit des Wartens auf Weihnachten besonders Kinder tief beeindruckt und Erwachsenen in ihrer Erinnerung verbleibt, liegt die Vermutung nahe, dass auch Luther von den weihnachtlichen Erlebnissen in seiner Kindheit geprägt war. Das Herannahen des großen Festes und schließlich die Weihnachtsfeiern werden den jungen Mann innerlich bewegt haben.

DAS MARTINSFEST AN DER SCHEIDE ZWISCHEN SOMMER UND WINTER

Martin Luther wurde am 10. November 1483 in Eisleben geboren und am folgenden Tage, dem Martinstag, in der dortigen Paulskirche auf den Namen des Tagesheiligen getauft. Seine Geburtsstadt Eisleben befindet sich im Mansfelder Land im Vorland des Ostharzes. Die Familie zog bald nach Martins Geburt in das benachbarte Städtchen Mansfeld um. Geburtstags- oder Namenstagsfeiern im heutigen Sinne waren noch nicht üblich. Im Gegenteil, selbst in höher gestellten Kreisen feierte man aus diesem Anlass offenbar nur selten. Doch wir wissen, dass der erwachsene Luther sich zu seinem Geburtstag gerne in seinem Hause mit seinen Freunden zusammenfand und dann mit ihnen ein gutes Essen genoss, das seine Frau Katharina mit ihren Mägden zubereitet hatte. So versammelten sich 1532 Justus Jonas, Philipp Melanchthon, Johann Bugenhagen und Caspar Cruziger an seinem Tisch und verzehrten in fröhlicher Runde ein von den Fürsten zu Anhalt geschenktes Wildschwein. Auch seinen letzten Geburtstag feierte der Reformator 1545 vergnügt mit Melanchthon, Bugenhagen, Cruziger und den damals noch jungen Theologen Georg Major und Paul Eber. Männerrunden zu Luthers Geburtstag? Wir wissen es nicht, denn die Männer, die uns die Nachrichten von Luthers Leben hinterlassen haben, fanden Frauen kaum erwähnenswert, ebenso wenig wie Kinder oder das Alltagsleben insgesamt, dessen Gestaltung doch meist in den Händen der Frauen gelegen hat. Immerhin wissen wir durch einen erhalten gebliebenen Brief an die anhaltischen Fürsten, dass es zur Geburtstagsfeier am Vorabend des Martinstages nicht unbedingt die althergebrachte und in Deutschland weit verbreitete Martinsgans sein musste, die auf den Tisch im Lutherhause kam.

Der Namenspatron bei der Taufe Luthers ist der hl. Martin. Lukas Cranach hat 1504 in einer Zeichnung den reitenden Heiligen dargestellt, wie er vor einem Stadttor seinen Mantel zerteilt, um die eine Hälfte einem knieenden Bettler zu geben. Martin wurde in Ungarn als Sohn eines römischen Offiziers geboren und musste darum dem Römischen Reich als Soldat dienen. Aus dieser Zeit seines Lebens stammt die Geschichte, die Cranach auf seiner Zeichnung erzählt und die heute eine der bekanntesten Geschichten um den Heiligen ist. Als junger Mann soll er sich bei Worms vor einer Schlacht als Christ geoutet und den weiteren Militärdienst verweigert haben. Martin wurde der dritte Bischof von Tours und ist im damals hohen Alter von 81 Jahren gestorben. Die in diesen vielen Jahren um seine Person entstandenen Legenden haben ihn zu einem der meistverehrten Heiligen der gesamten Christenheit gemacht. So wurde Martin zum Beispiel der Schutzheilige von Frankreich und Thüringen. Das thüringische Eichsfeld und die Stadt Erfurt verehren ihn noch heute ganz besonders. Spätestens seit 1224 läuten in Erfurt am Abend des 11. Novembers zum Gedenken an den Heiligen die Glocken. Er genießt die besondere Verehrung der Soldaten, Reiter, Huf- und Waffenschmiede, Weber, Gerber, Schneider, Bürstenbinder, Gürtel-, Handschuh- und Hutmacher, Böttcher, Müller, Hotelbetreiber, Gastwirte, Winzer, Armen, Bettler, Flüchtlinge, Gefangenen und der Reisenden. Er schützt vor Ausschlag, Schlangenbiss und Rotlauf, sorgt für gutes Gedeihen der Feldfrüchte und ist Schutzpatron besonders der Pferde, Hunde und der Gänse. Bei den Gänsen zeigt sich wohl auch der Humor des Volkes, wie ein alter Vers beweist:

Was haben doch die Gänse getan, daß so viele müssen’s Leben lan? Die Gäns mit ihrem Dadern Sankt Martin han verraten, Darum tut man sie braten.1

Der Martinstag war also schon lange vor Luthers Geburt ein in vielerlei Hinsicht wichtiger Tag im Leben der Menschen. Er steht an der Scheide zwischen Sommer und Winter und das zeigt sich auch im kirchlichen und weltlichen Brauchtum. Da man die Ernte eingebracht hatte, erwarteten Herrschaft und Kirche ihre Abgaben, die man während Luthers Kindheit meist noch in Naturalien erbrachte. So sammelten sich in den Häusern der Herren Gänse und anderes Geflügel, Schweine, Kühe, Ochsen, Schafe und Ziegen, dazu Getreide, Obst, Käse, Butter, Brot, Wein und Bier. Bis ins 19. Jahrhundert hat man das Vieh üblicherweise zur Weide in die Wälder oder auf Wiesen getrieben. Gras, Eichel- und Bucheckernmast waren für das Halten von Kühen und Schweinen unabdingbar. Kraftfutter, wie man es heute hat, stand noch lange nicht zur Verfügung. Da man die Viehweiden klimatisch bedingt nur zeitweise zur Verfügung hatte, musste man den Viehbestand zu Winteranfang stark verkleinern. So eröffnete das nun einsetzende kalte Wetter, das die Lagerung von Lebensmitteln begünstigte, eine fröhliche Schlachtzeit. An vielen Orten begannen und endeten zu Martini auch die Dienstverhältnisse des Gesindes sowie Pacht- und Zinsverhältnisse. Darum wurde der Martinstag auch als Zinstag bezeichnet. Mit Glück behielten Bauern und Bürger bei der Entrichtung ihrer Abgaben so viel zurück, dass sie sich und ihre Familien, ihr Gesinde und Vieh gut durch den Winter bringen konnten. Mitunter trafen sich nun die Gemeindemitglieder unter Führung ihres Gemeindevorstehers zur Besehung der Grenzen des Gemeindelandes. Nach der gemeinsamen Wanderung kam man zu einem fröhlichen Festessen zusammen. Diese Essen fanden also nicht nur in den Familien statt, wie später im Lutherhause. Als Festessen genoss man allerorten gerne eine Gans, mitunter aber auch Hammelbraten mit Erbsen und Bier und in reicheren Haushalten mit guten Beziehungen zu Fürstenhäusern, wie dem Luthers, auch mal einen Wildschweinbraten. Im anhaltischen Zerbst sollen Dienstherren mit ihren an Martini neu eingestellten Knechten eine Gänsekeule verzehrt haben.2 Luther erwähnte 1530 in seiner Vermahnung an die Geistlichen, dass an St. Martin jeder (!) Hausvater mit seinem Hausgesinde eine Gans verspeiste. Hatte er genügend Geld, so kaufte er zum Essen auch noch Wein oder Met. Alle Essenden lobten den Heiligen, indem sie sich richtig satt aßen und tranken und fröhlich sangen.

Zum Fest gehörte ein guter Martinstrunk. Martinsminne nannte man den ersten Wein des Jahrgangs. Er wurde mitunter ausgiebig genossen. Die Martinsminne war ein willkommener Anlass, in fröhlichem Kreis zu trinken, manchmal wohl mehr, als es gut tat. Luther fand später immer wieder Gründe, sich gegen den in allen Bevölkerungsschichten stark verbreiteten Alkoholismus auszusprechen. Den Martinstrunk lehnte er als religiöses Brauchtum ebenso ab wie den seit dem 12. Jahrhundert in Deutschland überall beliebten Johannistrunk und den Bernhardstrunk. Zum Gedenken an Johannes den Täufer wurde ursprünglich den Gläubigen am 27. Dezember in den Kirchen geweihter Wein gereicht, den sie gerne zu Hause als Segenspender in Haus und Flur verwendeten. Den Bernhardstrunk hatten die Zisterzienser zum Gedenken an ihren Ordensgründer Bernhard von Clairvaux gerne am Morgen gereicht. Daraus entwickelten sich ausschweifende Gelage, die die Zisterzienser in den Ruf brachten, dem Alkoholismus zu frönen. Luther setzte anstelle dieser Trünke im kirchlichen Bereich die in der Bibel begründeten Freundschafts- und Abschiedstrünke. Der aus der Schweiz stammende Wittenberger Student Johannes Kessler hat über Luthers Zusammentreffen mit zwei Studenten am 3. März 1522 im Bären zu Jena berichtet. Danach nahm der berühmte Mann ein hohes Bierglas und sprach nach des Landes Brauch: Schweizer, trinken wir noch einen freundlichen Trunk zum Segen. Üblicherweise hätten alle drei aus dem gleichen Bierglase trinken müssen. Als Kessler jedoch nach dem Glase griff, zog Luther es zurück, nahm ein mit Wein gefülltes Glas und sprach: Das Bier ist euch unheimisch und ungewohnt, trinkt den Wein! Er drückte damit seinen Respekt vor den Trinkgenossen aus und folgte gleichzeitig einem alten Abschiedsbrauch, den man oftmals als Johannistrunk bezeichnete.3 Luther sprach sich oft gegen Trunkenheit aus, predigte dabei aber keineswegs Enthaltsamkeit, sondern liebte Geselligkeit und Genuss.

Zum Brauchtum des Martinstages gehören seit dem 13. Jahrhundert nachweisbare Martinslieder, die zu Tisch oder bei den üblichen Martinsumzügen gerne gesungen wurden. Viele dieser Lieder hoben oftmals so an:

Marten, Marten Herren, De Appeln und de Beeren, De Nütte mag ick gern …

Gerne genommen wurden bei diesen ersten Heischegängen und Umzügen zur Winterzeit jedoch nicht nur Äpfel, Birnen und Nüsse, sondern auch alle anderen Lebensmittel wie Brezeln, Brot und Würste. Besonders beliebt mag bei umherziehenden Knechten, Gesellen und jungen Bauernburschen auch eine Branntwein-, Bier- oder Weinspende gewesen sein. Alles Eingesammelte wurde dann bei einem fröhlichen Gelage gemeinsam verzehrt und ausgetrunken.

In späterer Zeit bezog man im protestantischen Mitteldeutschland die Martinsumzüge nicht mehr nur auf den Heiligen Bischof Martin von Tours, sondern auch auf den Reformator Martin Luther. Aus dem 19. Jahrhundert stammt eine Sage, die man sich in Nordhausen über die Ursprünge der Luther-Verehrung bei den Martinsumzügen erzählt. Danach hat der Nordhäuser Bürgermeister Michael Meyenburg den Reformator und dessen aus Nordhausen stammenden Freund Justus Jonas einmal zu Luthers Geburtstag in sein Haus eingeladen. Als sie in guter Laune beieinander saßen, kam die Rede darauf, dass man am nächsten Tage in der katholischen Kirche das Martinsfest feiere und dem Heiligen zu Ehren bunte Lichter anzünde. Die