Mach's wie die Möwe, scheiß drauf! - Lea Blumenthal - E-Book + Hörbuch

Mach's wie die Möwe, scheiß drauf! Hörbuch

Lea Blumenthal

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Beschreibung

Eigentlich führt Lea Blumenthal ein ausgeglichenes Leben … wenn da nicht die anderen wären. Vor allem die Kratzbürsten und Krawallmacher, mit denen sie sich andauernd konfrontiert sieht. Denn Lea hat ein ausgesprochenes Bedürfnis nach Harmonie. Konflikte und Meinungsverschiedenheiten sind ihr ein Graus, weshalb sie jeder Provokation aus dem Weg geht und weiterlächelt, selbst wenn sie schon längst explodieren will. Bis sie beschließt: Es reicht! Zusammen mit ihrer Psychologinnenfreundin stellt Lea sich der Harmoniesucht und lernt die Mechanismen in ihrem Unterbewusstsein kennen. Leser*innen entwickeln ganz nebenbei ein Verständnis der eigenen Auslöser und finden Wege, um endlich den Unmut rauszulassen und für sich einzustehen!

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Zeit:4 Std. 40 min

Sprecher:Sabine Lorenz

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Impressum

© eBook: 2022 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2022 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

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Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Projektleitung: Anja Schmidt, Celine Koch

Lektorat: Anne Nordmann

Korrektorat: Susanne Schneider

Covergestaltung: Ki36 Editorial Design, München, Daniela Hofner

ISBN 978-3-8338-8656-0

1. Auflage 2022

Bildnachweis

Coverabbildung: Verena Braun, Lichtzeichnerei

Illustrationen: Tatiana Davidova, Getty Images (calvindexter)

Syndication: www.seasons.agency

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Ich kann mir nicht vorstellen, dass es da draußen wirklich Leute gibt, die sich gern fetzen. Die morgens in den Spiegel schauen und ein unfreundliches Gesicht erblicken, das sie in exakt diesem Zustand nur eine Stunde später der Welt präsentieren, und dabei geht es ihnen am Arsch vorbei, ob sie gemocht werden oder nicht.

WER WILL SO WAS?

Ich nicht. Ich möchte gemocht werden. Und mit einem wohlwollenden Blick auf mein Umfeld reagieren. Ich möchte ruhig und besonnen reagieren und mit einem Lächeln durch die Welt gehen. Harmonie als Dauerzustand – das wäre genau meins.

Trotzdem gibt es Momente, da finde ich meinen Zwang, Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten großräumig aus dem Weg zu gehen, einfach nur zum Kotzen. Da nervt es mich, dass ich die Flucht ergreife, anstatt mich breitbeinig aufzustellen und die Arme in die Seiten zu stemmen wie Wonder Woman. Vor allem strengt es mich an, dass ich mich nicht nett verhalte, weil ich es will, sondern weil ich nicht anders kann. Das stürzt mich dann nämlich gleich in den nächsten Konflikt.

UND ZWAR MIT MIR.

Wenn jemand mit dir streiten will, Kekse essen. Die schmecken gut, und man hört nichts mehr.

Krümelmonster

VORWORT

Auf die Plätze, fertig … lächeln! Warum es Menschen gibt, die einfach keine Konflikte führen können

„Fräulein Blumenthal! Na, immerhin erwische ich Sie endlich persönlich.“

Ich stehe in der Tür und mustere das missmutige Gesicht unserer Nachbarin. Frau Pressel hat eigentlich immer etwas zu meckern. Entweder das Wetter passt ihr nicht (wahlweise ist es ihr zu warm, zu kalt, zu feucht, zu trocken oder „zu Hamburg“, die neuen Mieter im Dachgeschoss sind in ihren Augen unzumutbar (zu jung, zu laut, zu vegan), und dass die Stadtwerke schon wieder die Tarife erhöht haben, grenzt an Schikane. Wann immer es mir möglich ist, gehe ich Frau Pressel aus dem Weg. Auch wenn das bedeutet, dass ich drei Minuten in voller Wintermontur hinter der Wohnungstür stehe, während sie die Treppe hinabkommt und dabei jeden Staubkrümel kritisch kommentiert.

Diesmal kann ich nicht hinter der Tür warten, bis sie weg ist. Ich habe sie geöffnet, weil Frau Pressel geklingelt hat, und nun stehe ich hier und mache mich auf alles gefasst.

Ihr Blick richtet sich auf mein Gesicht. Dann wandert er anklagend nach unten, gleich rechts neben unseren Fußabstreifer, wo meine Joggingschuhe stehen. „Das ist kein schöner Anblick“, stellt sie fest und zieht hörbar die Luft durch die Nase ein.

Sie sollten mich mal beim Joggen um die Alster sehen, denke ich, das ist kein schöner Anblick.

Natürlich spreche ich diesen Gedanken nicht aus, sondern lächle Frau Pressel hoffentlich entwaffnend an. Lächeln ist eine Art urzeitlicher Reflex, mit dem mein Gehirn immer dann reagiert, wenn ich mit einem Problem oder einem problemverursachenden Menschen konfrontiert werde – wohl in der Hoffnung, die Stimmung damit zu verbessern. Auch wenn ich mittlerweile weiß, dass ein verkrampftes Dauergrinsen eher zu einer Depression führen kann. Das hat ein Psychologe aus Japan herausgefunden, und als Forscher aus dem Land des kulturell bedingten Perma-Lächelns muss er ja schließlich wissen, wovon er spricht.1

Frau Pressel ist von meinen Bemühungen nicht beeindruckt und lächelt nicht zurück. Stattdessen holt sie noch einmal tief Luft und sagt: „Wenn ich nach einem langen Arbeitstag nach Hause komme, Fräulein Blumenthal, möchte ich nicht von Ih­ren …“, sie zögert, sucht nach dem richtigen Wort, „… abgelatsch­ten, dreckigen Laufschuhen begrüßt werden. Sehen Sie es mir bitte nach.“

Das Lächeln in meinem Gesicht ist immer schwerer zu halten. Ich erwäge, eine Ohnmacht vorzutäuschen. Auch totstellen ziehe ich in Betracht. Es gibt einige Tiere, die so sehr erfolgreich ihr Überleben sichern.

„Außerdem gibt es ein Brandschutzproblem“, fährt sie ungerührt fort, als sie merkt, dass ich zu keiner Reaktion imstande bin. „Wenn es brennen sollte, und ich müsste aus meiner Wohnung flüchten, könnte ich über Ihre Schuhe fallen und mir wer weiß was brechen. Und dann läge ich da im Hausflur, während das Feuer um mich wütet. Sie sehen, das geht so nicht.“

Langsam zerbröselt mir das Lächeln im Gesicht. Vermutlich sieht es gar nicht mehr wie ein Lächeln aus, sondern wie eine Fratze aus einem der Ölschinken Goyas.2 Und sicher dauert es nicht mehr lange, bis die Depression kommt. Schließlich räuspere ich mich leise. „Frau Pressel“, setze ich vorsichtig an, doch ihr erhobener Zeigefinger bringt mich sofort zum Schweigen. Jetzt wünsche ich mir kein mobiles Erdloch mehr, in dem ich versinken könnte, sondern die Fähigkeit, mit der Raufasertapete des Hausflurs zu verschmelzen.

„Ihre Laufschuhe könnten mich das Leben kosten!“

Eine Stimme in meinem Inneren sagt: Ja, oder die Tatsache, dass Sie am Tag zwei Schachteln Zigaretten rauchen und regelmäßig vor dem viel zu lauten Fernseher einschlafen – was wir selbst mit Ohrenstöpseln ein Stockwerk drunter noch hören –, vermutlich mit einer Kippe in der Hand. Was dann auch eine Gefahr für unser Leib und Leben wäre.

Leider scheint die Verbindung zwischen der Stimme in meinem Ohr und meinem Sprachzentrum vollständig abgebaut. Denn anstatt irgendetwas Angemessenes, Abwägendes, Ablehnendes oder auch Unfreundliches zu sagen, zwinge ich meine Mundwinkel dazu, sich wieder an meinem Hinterkopf zu treffen, und flöte: „Aber natürlich, Frau Pressel. Ich lasse die Schuhe nicht mehr im Flur stehen.“ Ich bücke mich, hebe die verdreckten Schuhe an und stelle sie in die Wohnung, wo sie sofort einen erdverschmierten Fleck auf dem Parkett hinterlassen.

„Sehen Sie? Warum nicht gleich so“, freut sich Frau Pressel und dreht sich um.

Es gibt Menschen, die sagen ihre Meinung. Sogar dann, wenn sie wissen, dass sie damit eine bestimmte Reaktion provozieren. Mein Freund Boris ist so ein Fall. Wenn dem was nicht passt, macht er den Mund auf, sagt, was er denkt, und die Sache läuft. Er hat überhaupt kein Problem, anzuecken oder sich anzulegen, weder mit Leuten, die er sehr gut kennt (vorzugsweise mit mir), noch mit Personen, die ihm am Allerwertesten vorbeigehen. Vermutlich heißt er nicht ohne Grund, wie er heißt. Boris ist eine Abkürzung des slawischen Borislaw, dessen erster Wortteil „Kampf“ und dessen zweiter Wortteil „Ruhm“3 bedeutet. Ruhm durch Kampf. Klar, dass er keiner Konfrontation aus dem Weg geht und Menschen in seiner Umgebung gern mit spitzen Bemerkungen reizt, obwohl er im Grunde seines Herzens nicht einer Fliege etwas zuleide tun könnte und ein wirklich guter, liebenswerter Typ ist.

Und dann gibt es mich. Lea Blumenthal, steil auf die 40 zugehend, mitten im Leben stehend und unfähig, Konflikte zu führen. Ich bin einfach zu nett, wenn ich es mir recht überlege. Kann auch am Namen liegen. Lea stammt aus dem Hebräischen und bedeutet wahlweise „Kuh“ oder „die sich Mühe gibt“4. Aber das nur am Rande.

Das Perfide ist: Die Konflikte finden mich, egal, wie gut ich mich vor ihnen verstecke. Manchmal habe ich das Gefühl, dass in meinem Körper ein unsichtbarer GPS-Sender implantiert ist, der all den Krawallbürsten und Krachmachern da draußen zuverlässig verrät, dass sie bei mir leichtes Spiel haben. Am schlimmsten sind für mich die Weihnachtsfeiertage, wenn ich bei meiner Familie bin und die Stimmung jeden Moment zu kippen droht, weil mein Vater auf unsere Bedürfnisse pfeift, meine Mutter vollkommen gestresst in der Küche steht und sich trotzdem nicht helfen lässt und alle einfach nur furchtbar angestrengt sind, weil sie bitte jetzt sofort in besinnlicher Festtagsstimmung sein sollen. Gruselig. Deswegen machen Boris und ich an Weihnachten oft Urlaub – allerdings erzähle ich meiner Mischpoke, dass es mit den vielen freien Tagen zusammenhängt, für die man sich nicht extra Urlaub nehmen muss.

Denn im Grunde meines Herzens möchte ich nur in Harmonie leben. Ich möchte nicht von Menschen umgeben sein, die mir andauernd die Meinung geigen, um die ich nicht gebeten habe. Ich verstehe ehrlich gesagt noch nicht einmal, warum so viele Leute überhaupt so viele Meinungen haben, die sie in einem fort kundtun. Vielleicht hat uns das Internet dazu erzogen, wo wir unter dem Deckmäntelchen der Anonymität als kotzbrocken_81 unsere schlechte Laune in die Welt pusten dürfen. Vielleicht haben wir aber auch einfach verlernt, nett zu sein. Uns zurückzunehmen. Einfach mal die Schnauze zu halten, weil wir nichts Adäquates zu sagen haben oder die Stimmung nicht versauen wollen. Schade. Ich finde nämlich, wir könnten alle eine riesige Portion Nettigkeit in unserem Leben vertragen.

Das Problem ist, dass ich diese Lanze momentan recht einsam vor mir hertrage. Dabei kann ich mir nicht vorstellen, dass es da draußen wirklich Leute gibt, die sich gern fetzen. Die Regale voller Aktenordner haben, in denen sie die Gerichtsunterlagen ihrer unzähligen Klagen und Gegenklagen verwahren wie eine wertvolle Briefmarkensammlung. Die mit ihren Familien brechen, weil sie nicht einsehen, ein Siebtel der Bestattungskosten für Oma zu übernehmen, wo ihnen doch ein Drittel des Erbes zusteht. Die morgens in den Spiegel schauen und ein unfreundliches Gesicht erblicken, das sie in exakt diesem Zustand nur eine Stunde später der Welt präsentieren, und dabei geht es ihnen am Arsch vorbei, ob sie gemocht werden oder nicht.

Wer will so was?

Ich nicht. Ich möchte gemocht werden. Und mit einem wohlwollenden Blick auf mein Umfeld schauen. Ich möchte ruhig und besonnen reagieren und mit einem Lächeln durch die Welt gehen. Harmonie als Dauerzustand – das wäre genau meins.

Trotzdem gibt es Momente, da finde ich meinen Zwang, Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten großräumig aus dem Weg zu gehen, einfach nur zum Kotzen. Da nervt es mich, dass ich die Flucht ergreife, anstatt mich breitbeinig aufzustellen und die Arme in die Seiten zu stemmen wie Wonder Woman. Vor allem strengt es mich an, dass ich mich nicht nett verhalte, weil ich es will, sondern weil ich nicht anders kann. Das stürzt mich dann nämlich gleich in den nächsten Konflikt, und zwar mit mir. Ich bin zwar nett, aber nicht gern im Streit mit mir.

Blöd nur, dass es Leute wie Frau Pressel gibt. Und Boris.

Als ich zurück ins Wohnzimmer komme und meinem Freund von Frau Pressels Auftritt erzähle, zieht er die Augenbrauen zusammen und knurrt: „Deine Schuhe kommen NICHT in die Wohnung, wenn sie so dreckig sind. Die bleiben schön im Flur stehen.“

„Ja, aber die Brandschutzbestimmungen …“, setze ich an, werde jedoch rüde unterbrochen.

„Die gelten auch für die alte Schachtel und ihren Gummibaum, an dem man sich auf dem Weg zum Dachboden immer vorbeidrücken muss. An dem bin ich schon dreimal hängen geblieben.“

Zerknirscht und mit hängenden Schultern gebe ich zu: „Ich habe ihr schon gesagt, dass die Turnschuhe aus dem Hausflur verschwinden.“

Boris sieht mich einen Moment lang fassungslos an. „Deine Harmoniesucht ist echt zum Davonlaufen.“

„Ich bin nicht harmoniesüchtig!“, begehre ich auf und lasse mich aufs Sofa fallen, sodass die Kissen zittern. In Gedanken füge ich hinzu: Zumindest würde ich das niemals vor dir zugeben.

„Nee, nee, klar.“ Dann sieht er mich an und lacht. „Was soll das dann sein, eine zu stark ausgeprägte Beißhemmung5?“ Er schaut auf den Hund, der Hund schaut aus treudoofen Augen zurück. Wenigstens einer auf meiner Seite. „Die Weigerung, Konflikte jedweder Art einzugehen, und die Unfähigkeit, Nein zu sagen, könnte man schon als Harmoniesucht interpretieren. Nur als kleine gedankliche Anregung.“

„So ein Quatsch“, schmolle ich. „Ich mag halt keinen Streit.“

„Niemand mag Streit“, sagt Boris und nimmt mir das Kissen weg, das ich mir gerade unter den Arm gestopft habe.

„Du schon.“

„Nein.“

„Doch.“

„Ich sagte: nein.“

„Okay.“

Boris schaut mich ungläubig an und fängt schließlich an zu lachen. Er lehnt sich in meine Richtung, zieht mich zu sich und gibt mir einen Kuss. „Liebling, du bist alles Mögliche, doch konfliktfähig bist du nicht. Macht aber nix. Hast ja andere Talente.“

„Pah!“, mache ich. Und dann sage ich nichts mehr. Schließlich will ich keinen Streit vom Zaun brechen. Und sooo falsch liegt Boris mit seiner Einschätzung nicht, auch wenn er natürlich übertreibt.

Ich mag keinen Streit. Na und? Das ist doch nun wirklich keine schlechte Eigenschaft. Meinungsverschiedenheiten, Konflikte, Stänkereien – alles nicht meins. Ich weiß auch nicht, warum das so ist. Aber das ist auch gar nicht wichtig. Die Welt kann Friedensstifter brauchen. Krawallbürsten gibt es schließlich genug. Außerdem geht alles, wirklich ausnahmslos alles auch in harmonisch. In meinen Augen sind Leute, die sich streiten, nicht in der Lage, sich wie Erwachsene zu verhalten. Stattdessen kleben sie in irgendeinem der sieben Höllenkreise fest, vorrangig in dem, in dem sie ihre Wut nicht kontrollieren können. Ich habe so etwas eben nicht nötig. Die klügere Zahnbürste gibt nach. Ich muss mich nicht streiten, um mich durchzusetzen. Ich habe gute Argumente. Und bin überzeugend. Und …

„Du? Boris.“

Er schaut nicht vom Fernseher weg. „Hm?“

„Findest du wirklich, ich bin harmoniesüchtig?“

Er schaut mich an. In seinem Blick erkenne ich Zuneigung und … Mitleid?

„Ich kann auch anders!“, drohe ich.

Boris stellt den Ton leiser und dreht sich zu mir. „Okay, dann zeig es mir.“

„Wie … jetzt?“

„Ja.“

Oh nein. Was habe ich getan? „Okay, wie?“

„Du gehst jetzt hoch zur Pressel und sagst ihr, dass deine Schuhe im Flur stehen bleiben. Brandschutz hin oder her. Und wenn sie darauf besteht, muss der Gummibaum auch weg.“

Ich reiße erschrocken die Augen auf. Mein Herzschlag beschleunigt sich, mein Mund wird trocken und nervös fange ich an, meine Hände zu kneten. „Kann ich eine andere Aufgabe haben?“

„Nein.“

„Bitte.“

„Nein.“

„Okay.“

Auffordernd sieht er mich an. „Also los. Beweise es mir.“

Mit weichen Knien stehe ich vom Sofa auf, schleiche aus dem Wohnzimmer wie ein geprügelter Hund und werfe Boris einen letzten, hoffnungsvollen Blick zu. Der schaut aber schon wieder zum Fernseher und nimmt keine Notiz mehr von mir.

Lautlos ergebe ich mich meinem Schicksal. Ich gehe aus der Wohnung. Die Tür lasse ich sicherheitshalber angelehnt. Falls ich flüchten muss und mir die Pressel in den Flur folgt, will ich nicht erst den richtigen Schlüssel finden müssen. In meinem Kopfkino legt der Filmvorführer einen schrecklichen Clip nach dem anderen in den Projektor: Frau Pressel, die sich vor mir aufbaut und mir die Leviten liest. Frau Pressel, die mich in Grund und Boden brüllt. Frau Pressel, die nie wieder ein Wort mit mir spricht. Mich bei der Hausverwaltung anschwärzt. Uns das Kündigungsschreiben persönlich überreicht. Ich lege mir Sätze zurecht. Alle fangen mit „Liebe Frau Pressel …“ an, und keiner endet mit einem Ausrufezeichen.

Noch während ich nachdenke, erreiche ich die nächste Etage. Eine Minute oder länger stehe ich vor der Wohnungstür. Sie ist nur angelehnt, vermutlich damit der kalte Zigarettenrauch ins Treppenhaus abzieht. Mir ist schlecht. Dann drücke ich die Klingel.

Wer der Herde folgt, hat nur Ärsche vor sich: Warum wir (trotzdem) zur Gruppe dazugehören wollen

„Na? Wie war’s?“ Boris sieht mich abwartend und mit einem breiten Grinsen im Gesicht an. Zumindest einer, der sich amüsiert. „Hast du ihr gezeigt, wo der Frosch die Locken hat?“

Ich lasse mich aufs Sofa sinken, in ausreichendem Abstand zu Boris. „Ja.“

Er wartet ab. Als ich nicht reagiere, lässt er sich zurück in die Couch fallen. „Ich wusste es. Harmoniesucht. Es ist hoffnungslos.“

Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen. „Ich habe es wirklich versucht. Wirklich.“

„Hmhm. Und die Turnschuhe?“

Ich werfe ihm einen unsicheren Blick zu.

„Der Gummibaum?“

Ich wende den Blick ab.

„Och, Lea!“, seufzt er bedeutungsvoll und auch ein wenig enttäuscht.

Ich räuspere mich. „Da wäre noch etwas. Ich soll dich darum bitten, nicht immer so eng an ihrem Auto zu parken. Es ist ja schließlich genug Platz für alle da.“

Für einen Moment ist es ganz ruhig. Dann sehe ich, dass Boris’ Ader an der Schläfe zu pulsieren beginnt. Er springt vom Sofa, rennt aus dem Wohnzimmer, greift nach dem Schlüssel. Ich will ihm hinterher, ihn aufhalten, aber überrascht stelle ich fest, dass er gar nicht hoch zu Frau Pressel will – sondern in den Hof. Vom Küchenfenster aus verfolge ich, wie Boris sein Auto aus der Parklücke fährt und so eng wieder einparkt, dass Frau Pressel morgen unmöglich auf der Fahrerseite einsteigen kann.

Ein sehr zufriedener Boris kommt eine Minute später wieder in die Wohnung. Meine dreckigen Turnschuhe stellt er demonstrativ vor die Wohnungstür.

„Boris, was soll denn das?“, versuche ich zu retten, was noch zu retten ist. „Das gibt doch nur Ärger!“

Er grinst von einem Ohr zum anderen. „Ja, eben. Ich freu mich schon.“

Am darauffolgenden Nachmittag verlasse ich das Haus. Ich möchte nicht dabei sein, wenn Boris und Frau Pressel bei ihrer Heimkehr von der Arbeit aneinandergeraten, außerdem bin ich mit Tina zum Joggen an der Alster verabredet. Dass ich freiwillig und in flottem Schritt zum vereinbarten Treffpunkt hopple, sagt viel über meinen Wunsch aus, der Situation zu Hause aus dem Weg zu gehen. Denn ich hasse Joggen. Normalerweise komme ich mindestens fünf Minuten zu spät, weil ich auf dem Sofa nach Ausreden suche, weshalb ich heute leider nicht kann. Und raffe mich am Ende doch auf, denn die Vorstellung, Tina anzulügen, macht mich beinahe krank.

Dabei bin ich eine notorische Lügnerin. Zumindest was das Joggen angeht.

Irgendwie wurde die Sache zum Selbstläufer (zumindest die Verabredung – das Selbstlaufen ergo Joggen klappt nämlich auch nach einem halben Jahr noch nicht!). Tina und ich trafen uns auf einen Café, beschwerten uns beide über unsere Figuren und unsere Unsportlichkeit, die mit zunehmendem Alter ja nicht unbedingt besser wird, und plötzlich sagte Tina: „Du, lass uns doch einfach einmal die Woche zusammen um die Alster laufen. Das täte uns doch beiden gut, und wir würden uns regelmäßig sehen.“

Ich war begeistert. Denn auch, wenn ich Joggen nichts abgewinnen kann, finde ich Spaziergänge voll okay. Nur leider meinte Tina keine Spaziergänge. Das kapierte ich in dem Moment, als sie mir am darauffolgenden Mittwoch etwa 20 Minuten vor unserem Treffen ein Selfie von sich schickte. Darauf war Tina in athletischen Trainingsklamotten zu sehen, wie sie vor dem Spiegel steht und das Victory-Zeichen macht. „Bereit für unseren ersten Run!“, stand unter dem Bild.

Mir wurde kurz ein wenig schwindelig. „Scheiße!“, rief ich laut in die Wohnung. „Tina will gar nicht spazieren, sondern joggen gehen!“

Boris trat aus der Küche, einen Joghurtbecher in der Hand, aus dem er gerade löffelte. „Und jetzt?“

Ich raste ins Schlafzimmer. „Der da muss hierbleiben.“

Der Hund legte den Kopf schief und fiepste.

„Und ich muss mich umziehen!“

„Aber du hasst Joggen. Hast du überhaupt die richtigen Klamotten?“, rief er mir hinterher.

„Irgendwo, ja“, antwortete ich aus den Tiefen meines Kleiderschranks, während ich eine garantiert viel zu eng sitzende Laufhose aus der Versenkung holte, die ich mir einmal in der Annahme gekauft hatte, eines Tages sportlich zu werden. Leider ist aus dem guten Vorsatz damals nichts geworden, was sich auch in meiner Figur widerspiegelt. Zum Glück ist Spandex dehnbar.

Drei Minuten später hatte ich auch ein paar Joggingschuhe gefunden und zwängte mich hinein. Als ich in den Hoodie schlüpfte, den Boris nicht mehr anzieht und den ich für gewöhnlich zum Gammeln auf der Couch anziehe, schaute er mich fragend an.

„Wieso sagst du ihr nicht einfach, dass ihr euch missverstanden habt?“

Ich hielt beim Schuhezubinden inne und überlegte. Das wäre natürlich eine Möglichkeit. Nur dass ich Tina damit sicher enttäuschen würde. Und sie würde denken, ich sei eine faule Kartoffel (was stimmt). Und dass ich mich nicht an Vereinbarungen halte (was nicht stimmt, meistens).

„Ach, Quatsch“, erwiderte ich leichthin. „Ist vielleicht genau der Schubs in die richtige Richtung.“

Boris sah mich an und grinste. „Na dann.“

Während ich nun, ein halbes Jahr später, an die Alster laufe, kaue ich gedanklich auf Boris’ Frage von damals herum. Es ist doch erstaunlich, wie sehr ich die Auseinandersetzung fürchte, sogar mit einer Freundin, die mir garantiert nichts Böses will. Allein beim Gedanken daran, Tina zu enttäuschen und ihr zu sagen, dass ihr super Plan auf der Grundlage eines eklatanten Missverständnisses entstanden ist, bringe ich einfach nicht übers Herz. Und jetzt ist es auch irgendwie zu spät, um mit dieser nicht unerheblichen Kleinigkeit um die Ecke zu kommen. Ein halbes Jahr Qualen habe ich schon investiert – die dürfen doch nicht umsonst gewesen sein. Vielleicht kommt die Lust ja noch. Ganz bestimmt. Ich muss nur fest genug dran glauben.

Von Tina weiß ich, dass man das den Concorde-Effekt oder noch schöner „Irrtum der versunkenen Kosten“6 nennt: Man investiert weiter in etwas, obwohl es sich eigentlich nicht mehr lohnt. Das geht im Übrigen nicht nur Harmoniesüchtigen so und passiert an der Börse, in Beziehungen und beim Hausbau wohl häufiger, als man denkt. Aufgeben ist keine Option, man wurschtelt sich weiter durch, stopft noch mehr Zeit, Geld und Energie in das Projekt, auch wenn es zum Scheitern verurteilt ist. Davon will ich natürlich nichts wissen. Selbst wenn der Volksmund sagt: Wenn du ein totes Pferd reitest, steig ab. Aber noch treibe ich den lahmen Gaul aka meinen Körper um die Alster! Wäre doch gelacht, wenn der Knoten nicht noch platzen würde.

„Du und deine Harmoniesucht“, höre ich Boris in meinem inneren Ohr lästern.

Ganz ehrlich, er ist jetzt nun nicht unbedingt mein bester Berater in dieser Angelegenheit. Ein Typ, der quasi als einzigen Gang den Konfrontationskurs kennt und Streitbarkeit als zweiten Namen angeben könnte, ist doch kein Vorbild für Menschen wie mich. Ich bin das fleischgewordene Ausweichmanöver! Manchmal entschuldige ich mich sogar, bevor irgendwas passiert ist. Wie jetzt.

„Können Sie ein Stück zur Seite gehen?“, fragt mich eine Mutter mit Doppelkinderwagen und hechelndem Dalmatiner an der Leine, als ich auf der schmalen Verkehrsinsel stehe und auf das Umschalten der Ampel warte.

„Natürlich“, sage ich und schiebe automatisch hinterher: „Entschuldigung.“

„Schon okay“, sagte sie großzügig, als würde ihr die Verkehrsinsel gehören und ich wäre nur ein geduldeter Gast.

Es wird grün, die Frau läuft los, ich schaue ihr hinterher. Wieso bin ich so? Ich meine, ich muss sie ja nicht gleich anpöbeln, weil sie anderthalb Meter meines Lebensraums mit ihrem Doppelschlitten und dem riesigen Hund einnimmt. Aber entschuldigen muss ich mich doch auch nicht. Oder?

„Das Bedürfnis nach Harmonie ist uns in die Wiege gelegt“, erklärt Tina, als wir zehn Minuten später nebeneinanderher joggen. Sie ist Psychologin, was manchmal gut und manchmal blöd ist, je nachdem, ob ich gerade Lust habe, mich mit mir und meinem Leben auseinanderzusetzen. Tina hat mir schon so manche Mechanismen in meinem Oberstübchen erklären können, die ich für unerklärlich hielt. Dank ihr kenne ich das Edwards-Gesetz7, das mir verständlich macht, warum man mehr reinhaut, wenn die Deadline näher rückt, weiß, weshalb ich von Selbstzweifeln geplagt werde, obwohl ich beruflich durchaus erfolgreich bin (die Wissenschaft hat den schönen Namen Impostor- oder Hochstapler-Syndrom8 dafür gefunden), wieso ich gern den Hund streichle (dabei wird ein Bindungshormon namens Oxytocin ausgeschüttet, das dafür sorgt, dass der Hund und ich uns gut fühlen)9 und warum ich Migräne bekomme, nachdem ich mit jemandem gestritten habe (werden zu viele Stresshormone im Organismus ausgeschüttet, kann dieser die Migräne als eine Art „Überdruckventil“ nutzen und so Anspannung abbauen).10 Nur weshalb ich mich jeden Mittwoch mit ihr zum Joggen verabrede, obwohl ich Joggen gar nicht mag, habe ich noch nicht erfahren – was jedoch daran liegen könnte, dass ich diesen klitzekleinen Umstand Tina gegenüber nie erwähnt habe. Stattdessen tue ich immer sehr enthusiastisch und beteuere Woche um Woche, wie gut ich mich nach dem Joggen fühle.