1,99 €
Es ist ein Initiations-Ritus, den die achtzehnjährige Henathaia vom Stamm der Guunswom zusammen mit ihren Freunden durchläuft. Es gilt, den Gipfel des windumtosten heiligen Berges zu erreichen, um den Donnervogel zu ehren und Metall aus dem Fels zu schlagen. Eine gefahrvolle Reise, denn durch die zahlreichen Eisenadern des Berges wird dieser ununterbrochen von Blitzen umzuckt. Bereits letztes Jahr kehrten nur wenige Initianten vom Ritus zurück und berichteten von noch größerer elektrischer Aktivität. Diesmal kommt es noch schlimmer - auch für Henathaia, obwohl sie überlebt ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 152
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Inhalt
Was bisher geschah...
Das Wesen der Blitze
Leserseite
Vorschau
Hat Ihnen diese Ausgabe gefallen?
Impressum
Cover
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsbeginn
Impressum
Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. In der Folge verschiebt sich die Erdachse, und ein Leichentuch aus Staub legt sich für Jahrhunderte um den Planeten. Nach der Eiszeit bevölkern Mutationen die Länder und die Menschheit ist – bis auf die Bunkerbewohner – auf rätselhafte Weise degeneriert.
In dieses Szenario verschlägt es den Piloten Matthew Drax, dessen Fliegerstaffel beim Einschlag durch ein Zeitphänomen ins Jahr 2516 versetzt wird. Nach dem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn »Maddrax« nennen. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula findet er heraus, dass Außerirdische mit dem Kometen – dem Wandler, der sich als lebende, schlafende Entität entpuppt – zur Erde gelangten und schuld sind an der veränderten Flora und Fauna und der Verdummung der Menschen. Nach langen Kämpfen mit den Daa'muren erwacht der Wandler, weist sein Dienervolk in die Schranken und zieht weiter. Mit zwei Daa'muren, die auf der Erde zurückblieben – Grao und Ira – haben sich Matt und Aruula sogar angefreundet.
Bei einem Abstecher zum Mars, auf dem sich eine Expedition aus dem Jahr 2010 zu einer blühenden Zivilisation entwickelt hat, erfährt Matt von der Spezies der Hydree, die vor 3,5 Milliarden Jahren hier lebten und mittels eines Zeitstrahls zur jungfräulichen Erde umzogen, als ihr Planet seine Atmosphäre und Ozeane verlor. Mit ihren Nachkommen, den telepathisch begabten Hydriten, die von den Menschen unentdeckt am Meeresgrund leben, hatte Matt schon Kontakt und nennt einen von ihnen, Quart'ol, einen guten Freund.
Diese »Tunnelfeldanlage«, die wie ein Transporter funktioniert, in dem die Zeit unendlich gedehnt werden kann, ist bis heute in Betrieb und verursachte auch den Zeitsprung von Matts Flugstaffel um 504 Jahre, als die den Strahl querte. Dabei legt der Strahl einen Tachyonenmantel um lebende Zellen, der den Altersprozess fünfzig Jahre lang drastisch verlangsamt.
Seither ist viel Zeit vergangen – wir schreiben inzwischen das Jahr 2554 –, und all die Erlebnisse unserer Helden an dieser Stelle zu schildern, wäre unmöglich. Es gibt sogar eine Erdkolonie in einem fernen Ringplanetensystem, zu dem allerdings der Kontakt abgebrochen ist. Ihre Freunde Tom, Xi und deren Tochter Xaana (die eigentlich Matts Kind ist) leben dort auf dem Mond Novis.
Nicht nur einmal haben Matthew Drax und Aruula die Erde vor dem Verderben gerettet und mächtige Feinde bekämpft – zuletzt die vampirhaften Nosfera, die die WCA (World Council Agency, kurz: Weltrat) übernehmen wollten. Auf diese Organisation traf Matt schon früh. Momentan steht ihr General Aran Kormak vor, ein in der Vergangenheit eher zwielichtiger Charakter, der sich aber gewandelt und großes Interesse zu haben scheint, Meeraka (ehem. USA) und danach andere Länder friedlich zu einen.
Auch um Kormak weiterhin im Auge zu halten, geht Matt auf seinen Vorschlag ein, zusammen mit Aruula im Auftrag des Weltrats eine schnelle Eingreiftruppe zu bilden und für ein Bündnis unter dem Dach der WCA zu werben.
Dies sind ihre Abenteuer...
Weitere Informationen und Hintergründe zur Serie findet ihr unter https://de.maddraxikon.com im Internet!
von Michael Edelbrockund Oliver Müller
»Der Berg ragt aus der Steppe wie der urzeitliche Zahn der Hornschlange, Grate und Schründe schrauben sich empor, finden immer neue Winkel und schwindelerregende Höhen. Wo Felswände in graue Wolken ragen und unklar bleibt, wo die einen enden und die anderen beginnen. Wo metallene Adern sich ihren Weg durch den Stein spalten, wie Wurzeln umso dünner werdend, je tiefer sie sich graben. Und auf seinem Haupt – eine Krone aus Blitzen in wirren Kränzen und tausendfach verästelten Linien aus Licht – das Nest des Donnervogels.«
»Ein bisschen pathetisch, meinst du nicht?«, fragte Henathaia.
»Das ist nicht von mir«, sagte Aygabia pikiert. »Das hat ein Chief vor hundert Jahren geschrieben.«
»Der hatte bestimmt die Pilgertour hinter sich.«
Henathaia bereute die Worte fast, als alle Gefährten den Blick nach oben wandten. Sie hatten bereits das erste Drittel geschafft. Und damit auch das letzte Gebäude der Guunswom so hoch am windumtosten Berg passiert. Es half der Stimmung nicht, dass es ein Umspannwerk war, das schon vor über hundert Jahren bei einem Blitzgewitter übel mitgenommen und aufgegeben worden war. Damals starben viele aus dem Stamm.
»Wir sollten vor dem Mittag oben sein«, sagte Valhoru. »Kommt, für die Initiation haben wir ein Jahr lang trainiert!« Damit stiefelte der junge Mann voraus.
Lauter verängstigte Achtzehnjährige, dachte Henathaia düster.
»Du hast gut reden«, murmelte Jihrata, die direkt hinter ihrem Anführer ging.
Henathaia gönnte sich ein Grinsen. Die Freundin ließ ein bisschen an Fitness vermissen, was ihre Eltern mit guter Ausrüstung wettmachen wollten. Ein bequemer Lederrucksack, geölte Lederschienen an Armen und Beinen gegen die scharfen Felsen. Und eine echte Kletteraxt – ein Familienerbstück!
Die Pfade führten an den Flanken des Bergs entlang. Stellenweise konnten sie noch die Spuren von Meißeln ausmachen, wo man Brocken kontrolliert nach unten gebracht hatte.
»Meint ihr nicht, dass das Wetter umschlägt?«, fragte Nakotay, der ihr vorausging.
»Du sprichst nur von Gefahren und Katastrophen!«, sagte sie genervt. »Bestimmt kommt gleich der Donnervogel selbst, um dich zu rösten!«
»Ruf ihn nicht so an, mehr Respekt!«, sagte der Angesprochene und wandte sich zu Henathaia um. Er mochte schmal und schlaksig sein, aber wenn er so von traditionellem Eifer erfüllt war, sparte sie sich lieber jeden weiteren Kommentar.
Stattdessen drängte sie sich an ihm vorbei und schloss zu Aygabia auf. Henathaia war selbst nicht gerade groß, aber die andere schien dagegen wie ein Kind. Die schweren genagelten Stiefel an ihren Füßen wirkten viel zu mächtig. Der Rucksack wanderte eher mit ihr als umgekehrt.
Die junge Frau hielt anscheinend ein Holzstück in der Hand und murmelte etwas. Henathaia wollte sie nicht beim Gebet stören und drängelte sich halbwegs respektvoll an ihr vorbei.
»Willst du mich auch überholen?«, fragte Jihrata. Ihre beste Freundin wirkte erschöpft, und Henathaia zwang sich zu einem Lächeln.
»Ist er zu schnell?« Sie deutete voraus, wo Valhoru schon die nächste Pfadkehre passierte. »Keine Sorge, erst vor der Zwei-Drittel-Marke wird es heftig, und danach kommt ja schon das Kindloch!«
»Danke! Du baust mich immer so gut auf!«
»Hab ich von Nakotay!«
Sie grinsten, dann überholte sie ihre Freundin und schloss zu Valhoru auf. Der junge Mann war der Traum aller Schwiegermütter, großgewachsen, gutaussehend und engagiert – na gut, er war zudem der Traum vieler Töchter. Auch Henathaia hätte ihn auf ihr Lager genommen, gab sich aber keinen Illusionen hin.
Wenn er nur nicht immer so verdammt verbissen wäre. Man musste doch nicht in allem der Beste sein!
»Hey«, sagte sie. »Etwas langsamer bitte. Vielleicht kommen wir so alle an.«
Er lächelte. »Du sorgst dich wieder um die anderen?«
Valhoru hatte ihr schon einmal gesagt, dass sie sich nicht wie eine Stammesmutter aufführen sollte.
»Naaa«, erwiderte sie. »Du hast bei unseren Vorbereitungen getönt, dass du den Donnervogel für all das verehrst, was er den Guunswom Gutes tut. Denk doch auch mal an deine Stammesbrüder und -schwestern.«
Er sah zurück. »Hauptsache, sie berühren keine von den Eisenadern.«
Sie brauchten noch bis kurz vor Mittag, ehe sie die Zwei-Drittel-Marke bei einer Felsformation namens »Gatakiyas Nase« erreichten.
»Gleich wird es etwas geräumiger«, sagte Valhoru von vorn und verschwand in der Felswand.
Die anderen folgten ihm in eine kleine Höhle. Nachdem sie den letzten Kilometer am Rand von steilen Wänden gegangen waren, atmeten sie erleichtert auf und ließen sich auf den Boden sinken.
Jihrata knetete sich mit verzerrtem Gesicht die Waden. Nakotay trank aus seiner Lederflasche. Aygabia war ganz auf das Holzstück in ihrer Hand konzentriert. Auch Henathaia spürte ihre Muskeln und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Das Leuchten«, sagte Aygabia und deutete hinter sie.
Henathaia sah es. Die Höhle war nicht tief, aber ihr Dunkel offenbarte, was draußen im Licht des Morgens schwerer zu sehen war: das blaue Leuchten einer Eisenader, unstet flackernd wie das Licht einer Kerze.
Der Gesang des Donnervogels zirkulierte darin. Die Spannung der unzähligen Blitze, die sich bei allen Adern zeigte, die direkt mit dem Gipfel verbunden waren. Daher gewannen die Guunswom ihre Elektrykk. Damit hatten sie die Jahrhunderte der weißen Büffelkalbfrau überlebt. Dank des Donnervogels, zu dessen Ehre diese Initiation stattfand.
»Da müssen wir hoch?«, fragte Jihrata mit einem Mal entsetzt und deutete nach oben.
Henathaia folgte dem ausgestreckten Arm. Tatsächlich fehlte ein Teil der Höhlendecke. Der dunkle Kamin war schmal und so uneben, dass sie genug Greif- und Rastpunkte haben würden.
»Klar«, sagte Valhoru. »Wir wollen ja heute noch ankommen!« Er kramte im Rucksack und holte zwei Steigeisen heraus, die er über die Schuhe zog. Henathaia folgte seinem Beispiel und förderte zusätzlich eine Taschenlampe zu Tage. Testweise zielte sie damit oben, dankbar, dass die alten Kondensatoren sich noch hatten aufladen lassen.
Der Weg den Kamin empor ließ sie viele Höhenmeter überwinden, aber jeder war bitter erkauft. Henathaia dachte schon, tot von der Wand fallen zu müssen, als Valhoru über ihr innehielt. Er tat das nun regelmäßig, um ihnen allen ausreichend Pausen zu geben.
Diesmal sah sie eine Eisenstange, die ihre Vorgänger hier im Kamin verkantet hatten.
»Reich mir dein Seil«, sagte er.
Sie kletterte noch einen Meter weiter, lehnte sich an die Stange und nahm den Rucksack ab. An ihrer Seite öffnete sich der Kamin wie ein Fenster. Sie spürte eine seltsame Schwäche in ihren Eingeweiden wachsen. Dort sollten sie entlang?
»Das Kinderloch«, flüsterte sie.
Der Kamin mündete auf eine Steilwand, die im Halbrund in die Bergflanke schnitt. Einige Meter über ihren Köpfen befand sich ein Überhang und ersetzte das Grau der Wolken. Es wirkte, als sei ein Brocken von der Größe eines Hauses aus der Wand gebrochen. Nach unten kam lange nichts, dann Klüfte und Grate.
Ein Loch im Berg. In das schon genügend Initianden gefallen waren. Das Kinderloch. Es gab andere Routen, aber diese hier wurde von den wenigsten Adern gekreuzt.
Valhoru verließ den Kamin. Der junge Mann war auf einen Sims getreten, der dem Halbrund folgte. An manchen Stellen war er handbreit, an anderen kaum einen Finger dick. Über dem Kopf zog er das Seil mit sich, das er sich um den Brustkorb geschlungen hatte. Er fädelte es auf Kopfhöhe in Haken ein, an denen er sich festhielt.
Eilig griff Henathaia ihr Ende des Seils und schlang es um die Eisenstange. Sie führte es nach, achtete darauf, ihm genügend Spiel zu geben.
»Wie klappt es?«, fragte Jihrata von unten.
Sie war so konzentriert darauf, jeden seiner Schritte zu verfolgen, dass sie nicht antwortete. Es waren kaum fünf Meter, die Valhoru zu überwinden hatte, aber es schien ihr Stunden zu dauern. Dann stand er auf einem Podest am anderen Ende des Halbrunds.
Sie erwartete einen Spruch von ihm. Etwas Lässiges, das ihr seine Überlegenheit vor Augen führte.
»Du bist dran«, sagte er angespannt.
Sie legte sich ihr Ende des Seiles um die Brust, unter den Achseln hindurch, aber über ihrem Busen. Dann nahm sie Jihratas Seil entgegen und tat damit das Gleiche.
Es fühlte sich unerträglich an, aus dem Fenster zu steigen. Valhoru sagte irgendetwas Aufmunterndes. Jihrata schwieg und sah so bleich aus, als müsse sie sich übergeben.
Der erste Schritt auf dem schmalen Sims war gar nicht der schwerste. Es wurde mit jedem schwerer. Der Wind kam von unten, gab ihr ein trügerisches Gefühl von Sicherheit.
In manchen Augenblicken glaubte sie, die Besinnung zu verlieren. Der Fels fühlte sich warm an. Doch das konnte auch ein Fieber in ihr sein.
Sie nahm Valhorus Seil aus dem nächsten Haken und hängte das von Jihrata hinter sich ein. Als sie das Podest erreichte, stoppte sie die Bewegung erst, als Valhoru ihr die Hand auf die Schulter legte.
»Geschafft«, sagte er leise und dirigierte sie neben sich.
Sie hätte die Sicherung übernehmen sollen, trat aber nur an ihm vorbei auf einen steilen Hang. Er kam ihr vor wie der große Versammlungsraum im Haus des Chiefs. Sie hockte sich hin, strich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht und konzentrierte sich auf ihren Atem.
Als Jihrata eintraf, nahm sie sie in den Arm. Als Aygabia und Nakotay folgten, dirigierte Valhoru sie ebenfalls auf die steile Fläche.
»Der Rückweg ist über die Route der Tropfenspur einfacher«, sagte er zu ihnen. »Das war der schwerste Teil.«
»Ob wir die anderen finden?«, fragte Aygabia. »Die, die oben geblieben sind.« Letztes Jahr waren nur zwei zurückgekehrt. Sie berichteten von aufgeladenen Adern und schweren Blitzgewittern. »Tashina wird den Weg doch abgegangen sein? Sie wird sie ... fortgeschafft haben?«
Sie antworteten ihr nicht. Nahmen ihr nicht die Illusion. Tashina war ihre beste Bergsteigerin, aber diese Routen ging man nicht leichtfertig. Manche wurden zu Opfergaben an den Donnervogel.
Es sollte bis zum frühen Nachmittag dauern, bevor sie die Höhle unterhalb des Gipfels erreichten. Henathaia hatte mehrere Male geglaubt, aufgeben zu müssen. Mehrere Male hatte sie sich zu ihrer Freundin umgedreht – doch statt ihre Umkehr zu verkünden, hatte sie Jihrata gut zugeredet.
»Warum tun sie uns das an? Warum schicken sie jedes Jahr die Achtzehnjährigen hoch?«, fragte die.
Keiner antwortete, obwohl es klar war. Damit wir den Donnervogel zu schätzen wissen. Damit wir ihm nicht leichtfertig zu nahe kommen. Weil unsere Eltern es auch geschafft haben.
Hier liefen all die Routen zusammen. Das Ziel ihrer Initiation lag voraus. Der Höhleneingang war groß wie ein Tor und führte ins Halbdunkel. Die Eisenadern waren hier so zahlreich und dick, dass man kaum auftreten konnte. Ihr blaues Elmslicht war schlecht auszumachen, weil zwanzig Schritt über ihnen die verästelten Linien aus Licht auf dem Gipfel tanzten – eine Krone aus Blitzen!
Der Schrei des Donnervogels bestand aus dem Sirren unbändiger Energie, dem Krachen verdrängter und verbrannter Luft, und brandete mit urtümlicher Wucht gegen ihre Trommelfelle.
Henathaia spürte das Kribbeln auf jedem Quadratzentimeter ihrer Haut, dem Kopf, den freien Armen, selbst an ihren intimsten Stellen – besonders dort! Es war mehr als die Ekstase eines Zieleinlaufs, mehr als der Höhepunkt einer einjährigen Vorbereitung. Es war die Gegenwart eines großen Geistes.
Grünes Moos wuchs in Flecken auf Boden und Wänden. Die Höhle weitete sich nach hinten, wurde breiter und höher – und dunkler, wodurch die Adern leichter auszumachen waren. Ganze Wände glitzerten wie feucht und waren doch aus hartem Eisen gemacht, über das blaues Licht rann.
Ein Fehltritt konnte hier den Tod bedeuten. Sprang ein Lichtbogen über, fand die Macht einen Weg, konnte nichts sie mehr retten.
Henathaia passierte einen hüfthohen Stein, auf dem Dinge standen. Sie sah geschnitzte Gaben in Form von Vögeln oder Schwingen, stilisierte Krallen oder Schnäbel.
Die kleine Aygabia war hereingekommen, ging auf den Felsen zu und legte das Holzstück darauf ab. Der Adlerkopf war kaum zu erkennen, aber der Gedanke zählte.
Henathaia ging tiefer hinein und hielt inne, als sie eine dunkle Form auf dem Moos erkannte. Ein Mensch, oder dessen Überreste.
»Flieg auf den Schwingen des Donnervogels«, flüsterte sie. Auf der Pilgerreise zu sterben, gewährte einem die Gunst des Donnervogels. Sie konnte gut darauf verzichten.
Der Tote war anscheinend verbrannt, zumindest zeugte die Kleidung davon. Der Körper war nach einem Jahr in der feuchtkalten Luft zum Großteil skelettiert.
Henathaia behielt den Boden im Blick und wahrte den Abstand zu den Wänden. An einer lag eine weitere Gestalt in dicker Lederkleidung, neben sich einen Rucksack.
Nicht alle Adern führten den Gesang des Donnervogels, nicht alle verbanden sich direkt mit dem Gipfel. Sie musste eine finden, aus der sie mit Hammer und Meißel ein Stück des reinen Eisens schlagen konnte. Das wäre ihr Pfand, das sie hinunterbringen würde.
Sie sah ihren toten Vorgänger an. Er hatte sich vermutlich verschätzt, eine führende Ader erwischt, auch wenn sie auf Zeichnungen gelernt hatten, welcher Teil der Höhle sicher sein sollte. Vielleicht veränderte sich das mit den Jahren?
Es gab weiße Flecken im Moos. Kleine Skelette von Bergmäusen oder sogar von einem Adler. Henathaia setzte ihren Rucksack ab, nahm Hammer und Meißel heraus. Es waren kleine Werkzeuge für den Aufstieg, die Griffe dick isoliert mit getrockneten Pflanzenfasern.
Sie trat an eine der dunklen Adern, betrachtete sie aus drei Winkeln und konnte kein blaues Leuchten ausmachen. An einer Stelle waren Meißelspuren sichtbar. Sie setzte die Spitze an und schlug zu.
Die anderen schienen erschreckt angesichts des hellen Geräuschs. Sie sah sich fast schuldbewusst um. Und schlug erneut zu.
Sie und die anderen arbeiteten. Es gab keine Regel, wie viel man mitbrachte. Eine halbe Faust reiche, hieß es. Niemand wollte daraus einen neuen Amboss fertigen. Dafür gab es Adern niedriger am Berg.
Als sie genug abgeschlagen hatte, packte Henathaia ihre Sachen zusammen. Das Hämmern der anderen bildete einen unregelmäßigen Klang, der immerhin gegen das enorme Sirren und Krachen der Blitzkrone ankam.
Sie sah sich um. Im hinteren Teil schien die Höhle eingestürzt. Kleine Brocken waren weit gerollt und von Moos überwachsen – der Einsturz war schon länger her. Vielleicht hatte er den Fluss in den Adern verändert?
Sie trat an den anderen vorbei auf den Ausgang zu, spürte den Druck auf Brust und Ohren. Als sie den Stein mit den Figuren erreichte, schrie Aygabia auf.
Henathaia wirbelte herum. Die kleine Frau zeigte auf Nakotay, der zusammengesunken war, dann rannte sie auf ihn zu.
»Nicht anfassen!«, schrie Valhoru mit überschnappender Stimme.
Aygabia erreichte ihren Gefährten und drehte ihn auf den Rücken. Die Züge waren verzerrt, und etwas stimmte mit seinen Augen nicht. Sie waren dunkel. Dann schrie er, kehlig und unmenschlich.
Jihrata eilte hinter Aygabia. »Komm weg!«
Kleine Lichtfunken glommen auf, wo Nakotays Augen waren. Henathaia verstand es zuerst nicht, keuchte schließlich. Seine Augen brannten aus! Immer noch kam dieser Schrei aus seiner Kehle.
Endlich wich Aygabia zurück, schluchzte auf, stützte sich an der Wand ab. Sie zuckte, als habe sie einen Hammerschlag erhalten. Das Moos reichte dort höher, aber Henathaia sah jetzt das blaue Leuchten. Aygabia fiel hin und blieb liegen.
Ein Geruch wehte herüber, der Henathaia beinahe den leeren Magen umdrehte.
»Mach, dass er nicht mehr schreit!«, schrie sie.
Valhoru setzte sich endlich in Bewegung und schüttelte Nakotay an den Schultern, als müsse er ihren Gefährten bloß aufwecken. Dessen Augen waren längst zu schwarzer Kohle verbrannt. Rauch stieg daraus auf wie von einer verloschenen Kerze.
Valhoru zuckte zurück, und Henathaia fürchtete schon, auch er hätte den Gesang berührt. Doch er landete nur auf dem Po, bewegte Schultern und Hände, als schmerzten sie. Er legte den Kopf zur Seite. Und während Nakotay endlich schwieg, begann Valhoru zu schreien. Es klang, als habe er vergessen, wie man einen Mund benutzt. Rauch stieg aus seiner Kehle.
