Mademoiselle Coco und der Duft des Mörders - Michelle Marly - E-Book

Mademoiselle Coco und der Duft des Mörders E-Book

Michelle Marly

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Beschreibung

Ein Heiratsschwindler und Frauenmörder treibt sein Unwesen in Paris, doch die Polizei tappt im Dunkeln. Erst als eine Frau, die ihm entkommen konnte, behauptet, den Mann an seinem Eau de Toilette wiedererkennen zu können, öffnet sich eine Spur, die für keine Geringere als die Herstellerin von Chanel No 5 von Bedeutung ist: Coco Chanel. Nach der Trennung von ihrem Geliebten Dimitri Romanow und einer kurzen Affäre mit Picasso ist sie zudem einsam. Wird die Hobbydetektivin das nächste Opfer sein?

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Seitenzahl: 308

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch:

Ein Heiratsschwindler und Frauenmörder treibt sein Unwesen in Paris, doch die Polizei tappt im Dunkeln. Erst als eine Frau, die ihm entkommen konnte, behauptet, den Mann an seinem Eau de Toilette wiedererkennen zu können, öffnet sich eine Spur, die für keine Geringere als die Herstellerin von Chanel No 5 von Bedeutung ist: Coco Chanel. Nach der Trennung von ihrem Geliebten Dimitri Romanow und einer kurzen Affäre mit Picasso ist sie zudem einsam. Wird die Hobbydetektivin das nächste Opfer sein?

Zur Autorin:

Hinter Michelle Marly verbirgt sich die deutsche Bestsellerautorin Micaela Jary, die in der Welt des Kinos und der Musik aufwuchs. Durch ihren Vater, den Komponisten Michael Jary, entdeckte sie schon früh ihre Liebe zu Frankreich; ihre Mutter, ein ehemaliges Mannequin, prägte ihren Sinn für Mode. Sie lebte lange in Paris und wohnt heute mit Mann und Hund in Berlin und München, sie hat eine erwachsene Tochter und ist sehr glückliche Oma von Zwillingen.

Michelle Marly

Mademoiselle Coco und der Duft des Mörders

Kriminalroman

HarperCollins

Originalausgabe

© 2025 HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH

Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg

[email protected]

Covergestaltung von FAVORITBÜRO, München,

unter Verwendung von Shutterstock

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783749908646

www.harpercollins.de

Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Urheberin und des Verlags bleiben davon unberührt.

Diese Geschichte ist ein Märchen.Sie handelt von historischen Personen und beruht in Teilen auf wahren Begebenheiten, ist aber insgesamt ausschließlich ein Produkt meiner Fantasie.

Prolog

Die kleinen Stumpenkerzen waren in Gruppen aufgestellt und tauchten das Zimmer in ein sanftes gelbes Licht. Bei näherer Betrachtung stellte sie fest, dass die Kerzenflammen, so platziert, zwei ineinander verschlungene Herzen darstellten. Ein Anblick, der sie gleichsam verstörte wie verführte.

Warum tat er das? Noch nie hatte ein Mann so tief in ihre Seele geblickt und ihre längst verschüttet geglaubte Sehnsucht nach romantischer Liebe hervorgeholt. Ihre erste Ehe war aus dem Grund geschlossen worden, aus dem viele junge Mädchen vor zwanzig Jahren geheiratet hatten: aus wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen, vielleicht verbunden mit Freundschaft, aber nicht einmal aus Zuneigung. Als ihr Mann der Spanischen Grippe zum Opfer fiel, hatte sie eine gewisse Erleichterung nicht verbergen können. Natürlich war sie traurig über den Verlust des Partners gewesen, mehr noch fürchtete sie sich allerdings vor dem Alleinsein, im Großen und Ganzen waren die Ersparnisse des Geizhalses jedoch ein großer Trost. Mit dem Geld, das er ihr vorenthalten hatte, würde sie sich nun ein angenehmes Leben machen. Und allein war sie auch nicht mehr. Die Begegnung mit ihm im Café de Flore, in das sie sich nur getraut hatte, weil sie, die bürgerliche Witwe, annahm, in einem Künstlerlokal niemanden zu treffen, den sie kannte … Also, diese eine Begegnung hatte ihr Leben verändert. Vom ersten Augenblick an, als er höflich um Erlaubnis gebeten hatte, sich an ihren Tisch setzen zu dürfen, hatte sie gewusst, dass dieser Mann ihr Schicksal war.

Sie öffnete den Gürtel, sodass der Spitzenmantel lose über ihr seidenes Negligé fiel. Eine besondere Garderobe für ihre erste Nacht mit ihm. Ihre zweite Hochzeitsnacht. Ganz anders als die wenig erfreulichen, etwas linkischen Momente bei derselben Gelegenheit vor zwanzig Jahren. Heute erwartete sie zärtliche Berührungen an unaussprechlichen Stellen ihres Körpers und Leidenschaft. Ja, vor allem atemberaubende Leidenschaft, die sie alles vergessen und nur fühlen ließ, wie herrlich das Zusammensein mit einem Mann sein konnte. Diesem Mann. Ihrem zweiten Mann, von dem sie wünschte, er wäre ihr erster gewesen.

Noch einmal warf sie einen Blick in den Spiegel über der Kommode. Sie sah nicht aus wie eine mondäne Verführerin, aber immerhin verwischte der sanfte Kerzenschein der beiden Herzen die angespannten Züge und verhärmten Linien in ihrem Gesicht.

Dann rief sie nach ihm. Ihre Stimme zitterte vor Aufregung. Und vielleicht auch ein wenig vor Lust. Schließlich erwartete sie nichts weniger als die Erfüllung ihrer heimlichen Träume.

Sie wusste nicht, dass diese Nacht ihre letzte sein würde.

1

Paris, Herbst 1923

1

Das Geschäft mit den Hüten war für Gabrielle Chanel nicht mehr die größte Einnahmequelle. Seit einigen Jahren florierte ihre tragbare elegante Mode dermaßen, dass sie in einen größeren Laden mit Atelier in der ersten Etage in die Rue Cambon 31 hatte umziehen können, einige Häuser entfernt von der alten Boutique. Und seit einigen Monaten erfüllte ein ganz spezieller frischer Duft nach Jasmin und Rosen ihre Räumlichkeiten: ihr eigenes Parfüm, Chanel No 5, das sie inzwischen nicht mehr nur an ihre besten Kundinnen verschenkte, sondern sehr erfolgreich verkaufte. Neben den bekannten Größen der Pariser Gesellschaft deckten sich vornehmlich Touristen aus Amerika mit den in schlichter Schönheit gestalteten Flakons ein; der niedrige Kurs des französischen Franc gegenüber dem Dollar machte das Parfüm zu einem perfekten Souvenir, gelegentlich kamen aber auch Fremde aus der Provinz vorbei, die nach einem luxuriösen Mitbringsel suchten, das jedoch nicht ganz so teuer war wie eine neue Garderobe.

»Wir heiraten nächste Woche«, flötete eine Dame.

Ihr glückliches Kichern drang durch den Verkaufsraum und sogar die Treppe hinauf, wo Gabrielle zufällig auf der obersten Stufe stand. Als Chefin ließ sie sich höchst selten in ihrem Laden sehen, sie wollte auf diese Weise für einen gewissen Nimbus der Unerreichbarkeit und Exklusivität sorgen. Die Frauenstimme machte sie jedoch aus irgendeinem Grund neugierig, und deshalb stieg sie langsam hinab. Auf halber Höhe, dort, wo die Stiege eine kleine Kurve machte, blieb sie stehen. Von hier aus beobachtete sie meist ihre Modenschauen, ohne selbst gesehen zu werden, und sie hatte einen vortrefflichen Überblick über den Verkauf.

Erstaunlicherweise war es keine junge Frau mehr, die da ihre bevorstehende Hochzeit laut verkündet hatte. Sie hatte tatsächlich wie ein junges Mädchen geklungen, es passte auf sie jedoch eher die Bezeichnung »alte Jungfer«. Sie war gewiss ein paar Jahre älter als Gabrielle, die im August ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert hatte, und sie war nicht halb so gut erhalten. Dennoch umwehte eine jugendliche Begeisterung die in die Jahre gekommene Braut. Das Glück machte sie überraschend hübsch und verlieh ihr einen jugendlichen Charme, eine Frische, die sie in den vergangenen Jahrzehnten wohl nie kennengelernt hatte.

Die Kundin probierte einen Glockenhut aus weiß lackiertem Stroh, dessen Krempe mit einem dunkelblauen Band eingefasst war. Eigentlich war es eine ihrer Kreationen für den Sommer, die sich in Gabrielles Boutiquen in Deauville und Biarritz am besten verkaufen ließen. Für eine Hochzeit eignete er sich ebenso wie für einen Spaziergang am Meer. Gabrielle fand, dass ihre Verkäuferin sehr umsichtig handelte, indem sie Madame – oder vielleicht war es sogar noch eine Mademoiselle – dieses Modell angedreht hatte, bevor es mit Beginn der kühlen Jahreszeit ein Ladenhüter würde.

Anastasia, eben jene Mitarbeiterin, notierte gerade etwas in einen Notizblock, was ihr von dem Begleiter der Kundin diktiert wurde. Den Mann konnte Gabrielle von ihrem Platz aus nicht erkennen, da er ihr den Rücken zudrehte und eine Kopfbedeckung trug. Der Fedora aus dunkelgrauem Filz war ebenso modisch und elegant wie der gleichfarbige gut geschnittene Anzug von Monsieur. Offensichtlich handelte es sich um einen wohlhabenden Mann mit Stil. Das sah Gabrielle auch am Schnitt des Jacketts: Der Rücken und die Ärmel, die ihrer Ansicht nach schwierigsten Teile bei der Herstellung eines Kleidungsstücks, waren hervorragend gearbeitet.

Offenbar musste an dem Hut noch etwas geändert werden, denn die Kundin ließ ihn sich mit einem deutlich hörbaren Seufzen von Anastasia wieder abnehmen. Oder er würde geliefert. Jedenfalls wurde er nicht in eine der Hutschachteln des Modehauses Chanel verpackt, sondern Anastasia hielt ihn in der Hand, als der Begleiter der Dame ihr den Arm bot. Anastasia war nicht so schnell wie das Paar bei der Tür, deshalb hielt Monsieur seiner Verlobten die Tür auf.

Im selben Moment tauchte eine andere Frau in der Rue Cambon auf und strebte in das Geschäft. Die beiden Damen drängten sich im Eingang, während der höfliche Mann, den Gabrielle noch immer nicht genau sah, geduldig die Tür aufhielt. Es gab ein Hin und Her, bevor die erste Kundin schließlich hinaus- und die zweite hineinging – und entsprechend lange musste der Kavalier ausharren. Doch nachdem sich Mesdames still geeinigt hatten, durfte der Begleiter seiner Dame auf die Straße folgen.

Die Frau, die eben eingetreten war, fuhr herum. Sie erstarrte, blickte dem Paar nach und murmelte anscheinend etwas, was Gabrielle nicht hören konnte.

Mit zwei Schritten war Anastasia neben ihr. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Mörder!« Es war nur ein Keuchen, dann aber entfuhr der Fremden mit einem Kreischen: »Dieser Mann ist der Mörder meiner Schwester!«

Sie machte einen Satz nach vorne, als wollte sie sich auf Monsieur stürzen. Doch stattdessen knallte sie mit der Stirn gegen die Glasscheibe der Eingangstür. Einen Atemzug später gaben ihre Knie nach, und sie sackte auf Coco Chanels sandfarbenem Teppich ohnmächtig zusammen.

2

Was für ein Aufruhr!

Hin- und hergerissen zwischen Erster Hilfe, dem Überprüfen der Befindlichkeit ihres Bodenbelags und der Überlegung, ob dem unbekannten Paar nachgestellt werden sollte, harrte Gabrielle einen Moment zu lange auf der Treppe aus, um irgendetwas davon zu unternehmen. Die Schrecksekunde wurde zu einer Minute, in der sich Anastasia zu der Frau kniete, zwei weitere Verkäuferinnen hinzueilten und das Gesicht einer Kundin zwischen den Vorhängen der Umkleidekabine auftauchte. Erst danach setzte sich Gabrielle mit schweren Gliedern in Bewegung. Doch da war das Durcheinander kaum noch beherrschbar.

Alle Frauen redeten durcheinander. Eine rief nach einem Arzt, eine andere nach einem Glas Wasser. Mit diesem tauchte Madame Aubert aus dem hinteren Bereich des Geschäfts auf. Gabrielles alterslose elegante Assistentin war wie durch ein Wunder immer mit dem zur Stelle, was gerade benötigt wurde. Die Vicomtesse war als Jeanne des Saint-Pons in Südfrankreich geboren worden und benutzte das bürgerliche Pseudonym, um sich als Angestellte zu etablieren. Das hinderte sie jedoch nicht daran, alte Kontakte aufleben zu lassen, wenn es darum ging, neue Kundinnen zu akquirieren. Alles in allem war sie für das Haus Chanel über die Jahre unersetzlich und für Gabrielle zu einer engen Vertrauten und Stütze geworden. Auch jetzt sorgte sie mit ihrer inneren Ruhe für eine gewisse Ordnung. Als sie sich zu der Ohnmächtigen beugte, reagierte sogar die auf Madame Auberts Anwesenheit.

»Helfen Sie mir«, flüsterte die Fremde, während sie langsam ihr Bewusstsein wiederfand. »Rufen Sie die Polizei!«

»Nein. Nein, nein, nein.« Gabrielle beschleunigte ihre Schritte. »Es ist alles sicher nur ein Missverständnis.« Endlich war sie neben ihren Mitarbeiterinnen angelangt, die um die derangierte Person herumstanden. »Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit«, wies sie die schönen jungen Frauen an, die sie nach und nach eingestellt hatte, seit ihre Geschäfte mit derselben Quote anstiegen wie die Zahl der adligen russischen Emigrantinnen in Paris. »Madame Aubert und ich kümmern uns um die Dame.«

»Polizei!« Die Stimme der Unbekannten wurde nach einem Schluck Wasser fester. »Bitte rufen Sie die Polizei. Ich muss sofort eine Aussage machen.« Als sie sich mit Madame Auberts Hilfe aufzusetzen versuchte, taumelte sie jedoch. Ihre Hand flog an die Stirn, und Gabrielle entdeckte einen Ehering.

»Ich denke, wir sollten erst einmal Ihren Mann verständigen«, schlug sie vor. »Da es Ihnen nicht gut geht, wird er Sie gewiss abholen wollen.« Im Stillen gratulierte sie sich zu dieser Idee. Es kam ja gar nicht infrage, dass Madame die Polizei verständigte. Jedenfalls nicht, solange sie sich in dieser Boutique aufhielt. Gleichgültig, wen oder was sie gesehen zu haben glaubte.

Gabrielles Erfahrungen mit den Gesetzeshütern waren ambivalent. Vor sieben Jahren war im Hinterhof ihres alten Ladens ein junger Mann umgebracht worden, und die Begegnung mit Kriminalkommissar Hollande hatte ihr selbst am Ende wohl das Leben gerettet, als sie die Mörderin gestellt hatte, aber ein Wiedersehen gehörte nicht zu ihren dringendsten Wünschen. Danach hatte sie noch einmal mit Polizisten sprechen müssen. Das war an Weihnachten vor vier Jahren gewesen, als sie den Ort besucht hatte, wo Arthur Capel tödlich verunglückt war. Ihr Geliebter, den seine Freunde Boy nannten, war auf dem Weg von der Riviera – und von seiner Ehefrau – zu Gabrielle nach Paris gewesen, als sein Wagen auf regennasser Fahrbahn ins Schleudern geriet und von der Straße abkam. Niemand hatte ihr erklären können, was genau geschehen war, zumal sich keine Bremsspuren finden ließen. Außer ihrer tiefen Trauer blieb der unbedingte Wille zurück, künftig nichts mehr mit der Polizei zu tun zu haben. Sie war abergläubisch und davon überzeugt, dass die bisherigen Begegnungen nur von Übel geprägt waren.

Hinzu kam, dass der Besuch eines Polizisten in einem noblen Haus wie diesem für Unruhe unter den Kundinnen sorgen würde. Obwohl sich Gabrielle von einer Hutmacherin zur etablierten Modeschöpferin emporgearbeitet hatte, fürchtete sie nichts so sehr wie bösartigen Klatsch und den damit verbundenen Einbruch ihres Erfolgs. »Beruhigen Sie sich erst einmal«, sagte Gabrielle mit Nachdruck. »Wenn Sie aufstehen können, kommen Sie am besten in mein Büro. Dort können wir uns ungestört unterhalten.« Nichts lag ihr ferner, aber so entzog sie die Dame wenigstens der allgemeinen Aufmerksamkeit.

Tatsächlich ließ sich die Angesprochene von Madame Aubert aufhelfen. »Haben Sie Telefon?«, fragte sie, als sie wieder – vorsorglich gestützt – auf ihren Beinen stand.

»Ja«, entfuhr es Gabrielle, bevor sie sich klar machte, dass das eigentlich die falsche Antwort war. Ergeben zuckte sie mit den Achseln und wandte sich an Madame Aubert: »Kommen Sie zurecht? Oder brauchen Sie Hilfe?«

Natürlich brauchte Madame Aubert niemanden, um die Fremde zur Treppe zu bringen.

Während die sich an Madame Auberts Armen und dem Geländer gleichzeitig hochzog, fand Gabrielle zum ersten Mal die Ruhe für eine eingehendere Musterung. Die Dame war etwa in ihrem Alter, also um die vierzig, nicht unattraktiv mit einem brünetten Bubikopf und dunkel umschatteten, leicht schräg stehenden braunen Augen. Sie war recht modisch, wenn auch nicht nach dem neuesten Schrei, aber qualitativ hochwertig gekleidet: Das leichte knöchellange Wollkleid und die halblange Jacke darüber ließen vermuten, dass sie auf ihren Stil achtgab und außerdem einige Francs dafür übrig hatte. Nun ja, fuhr es Gabrielle durch den Kopf, vermutlich hätte sie sich sonst nicht zu Chanel verirrt.

Als sie in der oberen Etage angekommen waren, wo sich Ankleideräume, das Atelier und Gabrielles Suite befanden, erkundigte sich die Hausherrin nach dem Namen ihres Gastes.

»Ich bin Madame Bonnet«, erwiderte die andere. »Cécile Bonnet aus Le Havre. Ich bin Kundin in Ihrer Boutique in Deauville, Mademoiselle Chanel, ich habe Sie natürlich sofort erkannt.«

Die heutige Garderobe von Madame Bonnet stammte jedenfalls nicht aus ihrem Laden, registrierte Gabrielle. Sie öffnete den Mund zu einer höflichen Bemerkung, doch die Kundin aus der Normandie schnitt ihr das Wort ab: »Kann ich bitte nun die Polizei anrufen?«

Madame Aubert und Gabrielle wechselten einen kurzen Blick.

»Bitte, nehmen Sie erst einmal Platz«, sagte Madame Aubert und schob einen Sessel für die Besucherin zurecht. »Erzählen Sie uns doch erst einmal in aller Ruhe, was Sie gesehen haben.«

»Ich habe nichts gesehen«, versetzte Madame Bonnet, während sie in den mit cremefarbenem Chintz bezogenen Fauteuil sank. »Ich habe ihn gerochen!«

»Was haben Sie?« Diesmal gelang es Madame Aubert kaum, die Contenance zu wahren.

Gabrielle suchte an ihrem mit schwarzem Klavierlack überzogenen Schreibtisch Halt. Still wartete sie auf eine Erklärung.

»Jedes Mal, wenn sich meine Schwester mit diesem Mann … ihrem Mörder … Also, wenn sie sich mit ihm traf, umgab sie ein ganz bestimmter Duft. Einmal hatte sie sogar eines seiner Taschentücher bei sich. Ich bin ganz sicher, dass ich das Parfüm wiedererkannt habe. Der Mann, der vorhin Ihren Laden verlassen hat, roch genauso. Es kann nur ihr Mörder sein. Darüber muss ich unbedingt Meldung bei der Polizei machen.« Triumphierend blickte sie von Madame Aubert, die neben dem Sessel stehen geblieben war, zu Gabrielle.

Einen Moment waren Gabrielle und Madame Aubert sprachlos vor Staunen über diese seltsame Geschichte. Dann sprachen sie beide auf einmal.

»Das kann nicht sein …«, hob Madame Aubert an.

Gabrielle fragte: »Wie kommen Sie darauf …?«

Beide brachen wieder ab.

Seufzend ließ Gabrielle ihrer Assistentin mit einer Geste den Vortritt.

»Madame Bonnet, Sie haben sich gewiss geirrt – Sie können keinen anderen Duft als das Parfüm von Mademoiselle Chanel wahrgenommen haben«, erwiderte Madame Aubert sanft. »Chanel No 5 wird jeden Tag mehrmals hier in allen Räumen versprüht, vor allem in der Boutique. Deshalb können Sie andere Gerüche vergessen, es gibt sie hier nicht.«

»Aber ich bin ganz sicher«, protestierte Madame Bonnet.

Gabrielle spürte, wie ihre Kehle enger wurde. Wollte Madame Bonnet etwa behaupten, irgendein Mörder sei an dem Aroma von Chanel No 5 zu erkennen? Das Toilettenwasser hatte im vergangenen Jahr einen unglaublichen Siegeszug angetreten, die Produktion konnte die Nachfrage kaum noch erfüllen. Es war durchaus möglich, dass auch ein Mensch mit unlauteren Absichten einen Flakon gekauft hatte, aber es war die schlechteste Werbung von allen. Unwillkürlich tastete Gabrielle auf ihrem Schreibtisch nach Zigarettenetui und Feuerzeug. Sie fand beides in blinder Sicherheit. Ohne den anderen Frauen etwas anzubieten, zündete sie sich eine Zigarette an. Der erste Zug beruhigte sie etwas, ihre ohnehin tiefe Stimme klang jedoch noch rauer, als sie fragte: »Was ist mit Ihrer Schwester geschehen?«

»Meine Schwester und ich …« Madame Bonnet unterbrach sich, sie verlor sich offenbar in Erinnerungen. Eine Träne rann über ihre Wange, als sie stockend fortfuhr: »Meine Schwester und ich standen einander sehr nahe … Auch dass ich mit Monsieur Bonnet nach Le Havre zog, änderte nichts daran … Aber … Aber sie war sehr einsam … so ohne einen Mann an ihrer Seite. Deshalb antwortete sie auf Heiratsanzeigen in Le Figaro … Es sind ja nur wenige Männer aus dem Krieg nach Hause gekommen, da hat man keine große Auswahl mehr, nicht wahr?« Zustimmung heischend sah sie wieder von Madame Aubert zu Gabrielle, doch keine der beiden antwortete ihr.

Einen Moment blieb es still in Gabrielles Büro. Es schien, als tickte die Uhr auf ihrem Kaminsims unnatürlich laut.

Die Tränen strömten nun in größeren Mengen aus Madame Bonnets Augen. Sie kramte in ihrer Handtasche, die sie die ganze Zeit über dem Arm getragen hatte, nach einem Spitzentüchlein, mit dem sie sich schließlich übers Gesicht wischte. Damit fertig, berichtete sie endlich: »Madeleine … meine Schwester … Sie traf sich immer wieder mit Männern, aber keiner passte ihr, an jedem hatte sie etwas auszusetzen. Bis sie Monsieur Martin kennenlernte. Sie schrieben sich eine Weile lang; da Monsieur nicht in Paris wohnte, dauerte es mit einem ersten Treffen. Aber ab dem Moment war sie nicht wiederzuerkennen. Es war wie Magie … Sie … Sie war wie besessen von dem Gedanken, diesen Mann zu heiraten.« Die Tränen, die sie eben getrocknet hatte, flossen wieder reichlich. »Sie war so vernarrt in ihn, dass sie ihm das gesamte Erbe unserer Eltern überschrieb.«

»Oh«, machte Madame Aubert.

Gabrielle hielt Madame Bonnet das Zigarettenetui hin. Nach diesem Geständnis wollte sie etwas Tröstliches für ihre Besucherin tun. Allerdings überlegte sie auch, dass Monsieur Martin unter den gegebenen Umständen kaum zum Mörder hätte werden können. An Madame Bonnets Stelle hätte sie sich ihn zuerst vorgeknöpft.

»Danke, ich rauche nicht.«

Gabrielle nickte und legte das Etui zurück auf den Schreibtisch.

»Bitte, fahren Sie fort«, sagte Madame Aubert.

Madame Bonnet schluckte hörbar. »Ich bin ihm nie persönlich begegnet, müssen Sie wissen. Ich sollte ihn erst bei ihrer Hochzeit kennenlernen. Das sei Teil eines Spiels zwischen ihr und ihm, behauptete Madeleine, ich sollte der Überraschungsgast sein. Ich glaube, sie hatte Angst, ich würde ihn ihr auszureden versuchen. Dabei wollte ich sie doch nur glücklich sehen …!« Diesmal erholte sie sich schneller von dem Weinkrampf und schniefte. »Das Einzige, das ich mit ihm in Verbindung bringen kann, ist dieser Duft, den ich an ihr wahrnahm, wenn wir uns trafen.«

»Was ist aus Ihrer Schwester geworden?«, wollte Madame Aubert wissen.

»Ich weiß es nicht … Sie ist verschwunden …« Madame Bonnet zog die Nase hoch wie ein Kind. »Am Tag der Hochzeit stand ich allein vor der Kirche in dem Viertel, wo wir beide aufgewachsen sind. Später erfuhr ich von dem Pfarrer, dass es gar kein Aufgebot gegeben habe. Außerdem war ihre Wohnung aufgelöst worden. Die Concierge sagte mir, mein neuer Schwager sei da gewesen … Ich lief überall herum, fragte nach, informierte natürlich auch die Polizei. Doch Madeleine hat niemand mehr gesehen.«

»Deshalb glauben Sie also, Monsieur Martin habe sie umgebracht«, resümierte Gabrielle.

»Es gibt keine andere Möglichkeit.«

»Vielleicht wollte Ihre Schwester aber auch nur den Kontakt zu Ihnen abbrechen«, erwog Madame Aubert ungewöhnlich brutal. »Warum auch immer«, fügte sie sanfter hinzu.

»Das hat die Polizei auch gesagt«, erwiderte Madame Bonnet. »Madeleine hätte das aber niemals aus freien Stücken getan. Ich bin sicher, ihr ist etwas Schreckliches zugestoßen. Wir waren uns so nah. Ich spüre es ganz deutlich hier drinnen.« Sie trommelte sich mit der Faust gegen die Brust. »Hier befindet sich mein wichtigster Beweis für seine Schuld. Kann ich jetzt die Polizei anrufen?«

Gabrielle versuchte sich vorzustellen, wie Kriminalkommissar Hollande auf diese Geschichte reagieren würde. Er würde Cécile Bonnets Bericht mit zwei, drei Sätzen in der Luft zerreißen, vielleicht brauchte er nicht einmal so viele Worte. Sein Sarkasmus hatte ihr damals gehörig zu schaffen gemacht, und die Erinnerung daran bestärkte sie in dem Wunsch, ihn niemals wiederzusehen. Dennoch fiel ihr keine höfliche Floskel ein, die Madame Bonnet davon abhalten könnte, die Polizei in das Modehaus Chanel zu rufen.

»Ich werde nachsehen gehen«, rief Madame Aubert plötzlich.

Gabrielle und Madame Bonnet sahen sie erstaunt an.

»Der Herr, der vorhin einen Hut für seine Verlobte bestellte, hat Namen und Anschrift hinterlassen. Ich werde Anastasia rasch nach dem Formular fragen. So wissen wir, ob es sich wirklich um Monsieur Martin gehandelt hat.«

»Aber ich bin mir sicher …«, hob Madame Bonnet an.

»Das glaube ich Ihnen gerne«, antwortete Madame Aubert freundlich, »doch Sie werden verstehen, dass es im Modehaus Chanel so seriös wie möglich zugehen muss. Der Abgleich der Namen ist unabdingbar.« Sprach’s, drehte sich um und lief auf ihren hohen Absätzen so schnell hinaus, wie es der tulpenförmige Rock zuließ.

Gabrielle wurde das Gefühl nicht los, dass Madame Aubert die Flucht ergriffen hatte. Sie wandte sich um und drückte den Stummel in einem Aschenbecher aus. Dann nahm sie sich eine neue Zigarette und zündete sie an.

»Könnte ich bitte doch eine haben?«, bat Madame Bonnet. »Ich verliere sonst die Geduld, während wir warten.«

Madame Aubert benötigte nicht allzu viel Zeit für ihre Recherche. Kaum hatte die Besucherin ihre Zigarette hastig bis zur Kippe geraucht, erschien sie wieder in Gabrielles Büro. »Es ist alles nur ein Missverständnis«, verkündete sie. »Genauso, wie wir es von Anfang an angenommen haben. Der Kunde ist ein Monsieur Valéry und nicht Martin. Es tut mir leid, Madame Bonnet, Sie haben sich wirklich geirrt.«

Zu Gabrielles größtem Entsetzen brach Madame Bonnet schluchzend zusammen. Der Zigarettenstummel fiel ihr aus der Hand und hinterließ ein Brandloch auf dem feinen Stoff der Sessellehne.

3

Obwohl sie sich bemühte, die Angelegenheit als erledigt zu betrachten, ließ der Gedanke an Cécile Bonnets Schwester Gabrielle nicht los. Auch nachdem die echauffierte Kundin ihr Geschäft verlassen hatte, konnte sie nicht so einfach zur Tagesordnung übergehen.

Dabei gab es genug anderes, mit dem sie sich beschäftigen sollte: Die Fabrikation ihres Parfüms Chanel No 5 geriet ins Stocken, die Nachfrage war deutlich höher, als die Herstellungsmöglichkeiten es erlaubten. Théophile Bader hatte ihr zugesagt, das Toilettenwasser in den Bestand seines Kaufhauses Galeries Lafayette zu nehmen, wenn sie größere Margen garantieren könne. Er wollte sie mit den Gebrüdern Wertheimer bekannt machen, deren Fabrikation von Drogeriewaren vielversprechend war, die beiden Herren suchten nach Erweiterung ihrer Firma in den Luxusbereich und schienen als Geschäftspartner bestens geeignet. Doch es war keine leichte Entscheidung, wieder einen – oder zwei – Geschäftspartner anzunehmen. Die ersten Kredite, die es ihr ermöglicht hatten, beruflich auf eigenen Beinen zu stehen, hatte sie schon lange zurückgezahlt, und sie genoss es, ihre eigene Chefin zu sein und sich vor niemandem rechtfertigen zu müssen. Andererseits war der Erfolg von Chanel No 5 bereits enorm, aber der Himmel noch weit, wenn sie nach den Sternen greifen wollte. Und genau das wollte sie. Aber alle Eventualitäten abzuwägen, war nicht so leicht.

Eine Abwechslung in diesem Gedankenkarussell bot das Schicksal von Madeleine, der Schwester von Madame Bonnet. Außerdem fachte die Geschichte ihre Neugier an. Was mochte das für ein Mann sein, der eine verliebte Frau ihre familiären Bande vergessen ließ? Gabrielle selbst besaß vier Geschwister, zu denen sie Kontakt hielt. Niemals hätte sie daran gedacht, diese Verbindungen für einen Mann zu opfern. Allerdings hatte das auch noch keiner von ihr verlangt, und im Grunde gingen sie alle mehr oder weniger eigene Wege. Anders anscheinend bei Cécile und Madeleine, die eine sehr enge Beziehung gepflegt hatten. Vielleicht eine viel zu enge. Warum war Madame Bonnet eigentlich so überzeugt davon, Monsieur Martin habe Madeleine etwas angetan? Womöglich hatte Madeleine die Liebe des Mannes genutzt, um der Zuneigung der Schwester zu entkommen. Dann war sie untergetaucht, nicht verschwunden. Kein Mord. Kein Mörder. Sondern Glück, wenn auch einseitig, bis dass der Tod sie schied …

Ja, auch große Lieben mündeten in einem viel zu frühen Tod. Geplant oder nicht. Gabrielles große Liebe Arthur Capel war vor knapp vier Jahren bei dem Autounfall ums Leben gekommen. Er hatte sich auf dem Weg von seiner Ehefrau zu seiner Geliebten befunden. Gabrielle war sich sicher, dass er diesen Weg zum letzten Mal nahm, nicht im tatsächlichen, sondern im übertragenen Sinne. Nach einer aus gesellschaftlichen Ambitionen geschlossenen Ehe mit einer britischen Adligen hatte Boy, wie Arthur von allen genannt worden war, sich für die Frau entschieden, der sein Herz in Wahrheit einzig und allein gehörte. Eine regennasse Straße und eine unübersichtliche Kurve verhinderten, dass er ankam. Gabrielle hatte im ersten Moment gedacht, die Trauer würde sie überwältigen. In ihrem Schmerz hatte sie dann jedoch eine Idee geboren, die zu ihrem Parfüm geführt hatte. Wobei sie wieder bei dem Ansinnen von Monsieur Bader und dem bevorstehenden Treffen mit den Messieurs Pierre und Paul Wertheimer war.

Gewiss hatten die Schwestern Cécile und Madeleine andere Interessen bei der Wahl ihrer Verlobten gehabt. Meist waren diese in bürgerlichen bis hohen Kreisen wirtschaftlicher Natur, und weil sie sich eben doch nach ein wenig Zuneigung sehnten, suchten sich die Ehemänner über kurz oder lang eine zärtliche Mätresse, während die Frauen ihren Frust mit Kauforgien in Boutiquen wie dem Modehaus Chanel betäubten. Im Gegensatz zu den meisten ihrer Kundinnen konnte es sich Coco Chanel leisten, die Männer an ihrer Seite nach Gefühl zu wählen. Mit Boy war es so gewesen, obwohl er ein reicher Mann gewesen war und ihren Aufstieg anfangs finanziert hatte. Anders war es auch nicht mit dem russischen Großfürsten Dmitri, an den sie für eine gewisse Zeit ihr Herz verloren hatte. Und schließlich hatte sie sich in den schwierigen Pierre Reverdy verliebt, aber ihr Glück war nur von kurzer Dauer gewesen. Boy war verstorben, und Dmitri hatte sich aus Staatsräson von Gabrielle getrennt, Pierre hatte sie dagegen an Jesus Christus verloren. Der Dichter war plötzlich tiefgläubig geworden, hatte kürzlich die katholische Taufe empfangen und war nicht mehr gewillt, das Enfant terrible in der Boheme zu spielen. Gabrielle war also allein. Ebenso wie die Schwester von Madame Bonnet es wohl gewesen war, als sie in den Heiratsanzeigen nach dem Richtigen gesucht hatte.

Unwillkürlich griff Gabrielle nach der Tageszeitung, die noch mehr oder weniger ungelesen auf ihrem Schreibtisch lag. Sie hatte vorhin kurz die Gesellschaftsnachrichten überflogen, aber keine Zeit für die restliche Lektüre gehabt, geschweige denn für eine nähere Betrachtung der Inserate. Auch jetzt interessierten sie die Berichte über die Misere der französischen Innenpolitik herzlich wenig, ebenso der weitere Absturz des französischen Franc, auch die Frau, die tot in einer Hotelbadewanne aufgefunden worden war, erweckte nicht einmal ihre Neugier. Ihr Ziel waren die Heiratsanzeigen, größere und kleiner gehaltene Annoncen, in denen nach einem Partner oder einer Partnerin gesucht wurde.

Die rechtschaffenen, fürsorglichen und einsamen Damen schienen heute in der Überzahl, doch auch einige Herren gaben zu, ihrem Alleinsein ein Ende setzen zu wollen. Diese Herren waren alle von Anstand und solide in jeder Hinsicht, finanziell abgesichert und großzügig, gut aussehend und mit den besten Manieren ausgestattet. Die Inhalte der Anzeigen ähnelten sich, und Gabrielle fragte sich, welchen Typ Frau sie ansprechen mochten. Da traf ihr Blick auf ein paar fett gedruckte Wörter nebst Zusatz:

Der Bürgerlichkeit entronnen

wünsche ich mir eine Gefährtin für das Abenteuer Leidenschaft.

Ich habe als emeritierter Professor viel erlebt, mir fehlt aber die Frau, mit der ich mein Geld und meine Erlebnisse in Liebe teilen kann. Zuschriften bitte an die Redaktion …

Ein Lehrer außer Diensten klang nach einem älteren Mann, irgendetwas sagte Gabrielle jedoch, dass dieses Inserat nicht von einem Rentner aufgegeben worden war. Natürlich entsprach der Hinweis auf die verlorene Bürgerlichkeit, verbunden mit der Suche nach einem Abenteuer, ihrer persönlichen Einstellung zum Leben. Ihre große Wohnung in der Rue Gabriel war so etwas wie ein Zuhause für allerlei Bohemiens geworden, sie hieß jeden willkommen, der mit ihr friedlich feierte, und Joseph, ihr treuer Diener, verköstigte in der Küche arme Künstler, die sich kein warmes Essen leisten konnten. Ihr eigener Zufluchtsort war auch der ihrer Freunde. Sicher wäre dort auch ein sich seiner bourgeoisen Fesseln entledigter Mann willkommen, vielleicht würde er sich sogar wohlfühlen inmitten einer Gesellschaft, die nicht viel auf Bürgerlichkeit gab, aber im Herzen zuweilen recht spießig zu sein vermochte.

Schmunzelnd riss Gabrielle die Zeitung auseinander und die auffällige Heiratsanzeige heraus. Sie wollte nicht darauf antworten. Natürlich nicht. Aber sie wollte sie trotzdem in ihrer Schreibtischschublade aufbewahren. Wofür auch immer.

4

»Mademoiselle Chanel!« Madame Aubert erschien am nächsten Vormittag mit bleicher Miene im Atelier, wo Gabrielle damit beschäftigt war, Stoffbahnen für ein Kleid abzustecken. Als Modeschöpferin hatte Coco Chanel ihre Kleider, Röcke, Hosen, Blusen und Jacken schon immer an einer Puppe oder – noch besser – an einem Frauenkörper entworfen. Ihre Zeichnungen waren nur die flüchtige Erinnerung an einen Gedankenblitz, das eigentliche Modell drapierte sie auf Figur. Gerade zupfte sie an der Rückenpasse eines Hängers aus schimmernder Seide herum, einem Cocktailkleid, für das ein Mannequin Modell stand, das, wie die Verkäuferinnen in der Boutique, mit einer umfangreichen, überaus noblen Familiengeschichte, aber ohne einen Centime aus Russland nach Paris geflohen war.

»Sie stören«, zischte Gabrielle durch die Lippen, zwischen die sie ein paar Stecknadeln geschoben hatte, ohne sich von ihrer Tätigkeit ablenken zu lassen.

»Sie haben Besuch«, erwiderte Madame Aubert. »Ich habe den Herrn in Ihr Büro gebracht, weil Sie sicher nicht wünschen, dass die Kundinnen bemerken, wie ein Polizist hier herumschnüffelt.«

»Ein …« Gabrielle nahm verärgert die Nadeln in ihre Hand. »Polizist? Was für ein Polizist? Was will er hier? Hat er sich in der Adresse geirrt?«

»Nein, Mademoiselle Chanel, er wurde von Madame Bonnet gerufen. Das ist die Kundin, die gestern …«

»Ich weiß, wer Madame Bonnet ist«, fiel Gabrielle ihrer Geschäftsführerin entnervt ins Wort. »Ich dachte, sie hätte verstanden, dass der Kunde von gestern nichts mit dem Verschwinden ihrer Schwester zu tun hat.«

Madame Aubert schüttelte stumm den Kopf.

Energisch steckte Gabrielle die Stecknadeln in das Nadelkissen an ihrem Arm, als wäre es eine Voodoopuppe, durch die sie einen bösen Zauber bannen könnte. Einen Moment nahm das Schneiderinnenrequisit durchaus die Züge von Cécile Bonnet an. Gabrielle hatte ja durchaus versucht, der Dame aus Le Havre Verständnis entgegenzubringen, aber die Polizei zu alarmieren, war nicht nur übertrieben, sondern geschäftsschädigend.

»Ich kümmere mich um den Besucher«, erklärte sie. »Kein Wort. Zu niemandem sonst. Ich hoffe, dass die Uniform nicht zu auffällig war …« Während sie sprach, machte sie sich bereits auf den Weg.

»Er trägt Zivil«, rief Madame Aubert ihr nach. »Sie …« Der Rest verklang mit dem Knall, mit dem Gabrielle die Tür zuwarf.

Als sie das Büro betrat, wurde ihr sofort klar, dass sie Madame Aubert doch noch ein wenig hätte zuhören sollen.

Vollkommen in sich versunken tanzte ein Mann durch Gabrielles Büro. Eigentlich von unscheinbarem Äußeren, erkannte sie ihn auf Anhieb, obwohl sein Haar und sein Bart inzwischen mehr grau als sandfarben waren und sein Jackenärmel nicht mehr leer, sondern offenbar mit einer Prothese gefüllt war. Seit ihrer letzten Begegnung waren sieben Jahre vergangen, aber sein Steppschritt war noch so talentiert wie damals. Und auch seine Stimme hatte keineswegs an Festigkeit eingebüßt, während er sang: »Qui qu’a vu Coco … Coco … Coco …« Im Gegensatz zu früher verstummte er jedoch, als er sie bemerkte.

»Monsieur le commissaire«, stieß Gabrielle mit einem unterdrückten Stöhnen hervor. Sie mochte es nicht, an ihre Zeit im Tingeltangel erinnert zu werden. Das Chanson, das er intoniert hatte, war ihr Auftrittslied gewesen und führte zu ihrem Spitznamen, der heute eine Marke war. Und sie mochte es nicht, Kommissar Hollande wiederzusehen, der eine Menge schrecklicher Erlebnisse wachrief, die sie tief in ihrem Innersten verborgen hielt.

»Mademoiselle Chanel«, erwiderte er mit einer höflichen Verbeugung.

»Nachdem Sie mein Büro in einen Tanzpalast verwandelt haben, möchten Sie sich nun vielleicht setzen«, schlug sie vor. Ohne seine Antwort abzuwarten, ließ sie sich auf einer Sessellehne nieder. Erwartungsvoll blickte sie zu ihm auf.

»Ich dachte eher an ein Revuelokal«, meinte er lächelnd.

»Auch dort gibt es Sitzgelegenheiten.«

Sein Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen. Dieses erlosch jedoch, als er ihr gegenüber auf dem Sofa Platz nahm. Sein billiger Anzug passte so wenig zu dem Bezugsstoff wie sein Beruf in ein elegantes Modehaus. Doch dorthin gehörte natürlich auch kein Mörder. »Eine Dame rief bei der Polizei an und meldete eine ungewöhnliche Begegnung«, hob er an. »Ihre Mitteilung wurde an mich weitergeleitet. Deshalb bin ich hier …«

»Es ist nicht notwendig, das eigentliche Thema zu umschreiben«, warf Gabrielle ein. »Ich habe mit Madame Bonnet gesprochen. Sie behauptete, den Mörder ihrer Schwester gerochen zu haben. Sie hat ihn nicht gesehen, sondern ihn gerochen, Monsieur le commissaire. Das ist völlig unverständlich, denn in meinem Geschäft riecht es nach nichts anderem als meinem Duft – und den wird ein Mörder wohl kaum benutzen.« 

»Wer weiß?« Hollande wiegte seinen Kopf hin und her. »Ich kann mich an eine Mörderin erinnern, die Hüte von Coco Chanel trug.«

Gabrielle überlegte, welche Gesichter sich noch in ihrem Nadelkissen verbargen. »Hören Sie auf. Ich will daran nicht mehr denken. Es war eine schreckliche Zeit.«

»Ja. Das war es. Aber Sie haben sich seitdem erheblich verbessert, wenn ich das so sagen darf. Zehn Hausnummern machen einen erstaunlichen Unterschied.«

Sie nickte. Ihre Suite hier war nicht zu vergleichen mit dem kleinen Glaskasten, der ihr Büro in der Rue Cambon 21 gewesen war. »Ich habe sehr hart dafür gearbeitet.«

»Das ist mir bekannt. Wissen Sie, ich habe hin und wieder die Gesellschaftsnachrichten in den Zeitungen gelesen und darauf geachtet, ob ich eine Notiz über Sie finde. So habe ich Sie im Laufe der Zeit ein wenig begleiten dürfen.«

Hollandes Geständnis machte sie sprachlos.

»So habe ich die Karriere der Hutmacherin zur Modeschöpferin begleitet. Und nun ist also ein Parfüm Ihr ganz großer Erfolg. Das ist großartig, Mademoiselle, nur ein wenig unglücklich, wenn gerade dann eine Zeugin auftaucht, die behauptet, einen Mörder bei Ihnen gerochen zu haben.«

Es war typisch für ihn, seine Spitzen in ein freundliches Geplänkel zu verpacken. Gabrielle hätte von Anfang an vorsichtiger sein müssen. Offenbar glaubte er Madame Bonnets Geschichte. »Chanel No 5 ist kein Herrenduft«, versetzte sie trotzig.

»Ich habe mir sagen lassen, dass es ein äußerst frischer Duft sei.«

Sie ging nicht auf seinen Einwand ein, sondern fragte: »Haben Sie denn eine Leiche gefunden? Und ohne eine Leiche kein Mörder, nicht wahr?«

»Dennoch muss ich der Anzeige von Madame Bonnet nachgehen.«

»Sie konnte nicht mit absoluter Sicherheit den Tod ihrer Schwester bestätigen«, gab Gabrielle zu bedenken. »Madame Bonnet fühlte es nur. Das ist ein genauso fragiler Beweis wie die angebliche Erinnerung ihrer Nase.«

»Es gibt keine Beweise, da haben Sie recht«, stimmte Hollande zu. »Ich habe in meiner Abteilung Anweisung gegeben, alle ungeklärten Todesfälle von Frauen noch einmal zu überprüfen. Leider dauert das Aktenstudium immer recht lange. Aber es ist nicht auszuschließen, dass in der Vergangenheit irgendetwas übersehen wurde und wir auf eine Person stoßen, auf die Madame Bonnets Beschreibung ihrer Schwester passt.«

»Nun, ich wünsche Ihnen und Ihren Mitarbeitern gutes Gelingen. Aber ich muss leider auch wieder an meine Arbeit.« Gabrielle rutschte von der Sessellehne. »Es war nett, Sie wiedergesehen zu haben«, log sie. Vorsichtshalber fügte sie hinzu: »Mehr kann ich zu Ihrem Fall nicht beitragen. Ich habe Madame Bonnet gestern zum ersten Mal gesehen – und ihre Schwester kenne ich gar nicht.«

Hollande blieb seelenruhig auf dem Sofa sitzen. »Ich interessiere mich für den Mann, den Madame Bonnet wiedererkannt hat.«

»Den Herrn kenne ich nicht«, versicherte Gabrielle. »Er heißt Valéry, soviel ich weiß. Seine Verlobte suchte einen Hut für ihre Hochzeit aus, wenn ich mich recht erinnere, und da eine Änderung nötig ist, hinterließ er Namen und Adresse.«

»Interessant.«

»Finden Sie?« Gabrielle zog ihre Augenbrauen hoch. »Es ist nicht unüblich, dass das Hutband dem Kopfumfang der Trägerin angepasst wird.«

Er ignorierte ihre Erklärung. »Sind Sie sicher, dass von einer Hochzeit die Rede war?«

Glaubte er, sie sei vergesslich? »Absolut sicher«, bestätigte Gabrielle. »Ich habe die Kundin davon sprechen hören. Madame Aubert wird Ihnen dasselbe sagen. Und Anastasia, die Verkäuferin, die die Verlobte von Monsieur Valéry bediente, ebenfalls.«

»Könnte ich bitte mit Madame Aubert und Mademoiselle Anastasia sprechen?«

»Selbstverständlich. Warten Sie hier, ich schicke die beiden zu Ihnen.« Ohne sich zu verabschieden, drehte sich Gabrielle um und marschierte hinaus. Dabei dachte sie beklommen, dass die Geschichte um den Mordfall damals auch mit dem Kauf eines Huts begonnen hatte.

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