Mademoiselle Rosalie und der tote Chocolatier - Julie Lescault - E-Book
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Mademoiselle Rosalie und der tote Chocolatier E-Book

Julie Lescault

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Beschreibung

Frühling in der Provence. In dem kleinen Städtchen Vassols betritt ein unbekannter Mann den Laden des Chocolatiers Arthur Bonnet und überreicht ihm einen Umschlag. Dann bricht der Fremde bewusstlos zusammen. Kurz darauf wird Bonnet tot in seiner Villa aufgefunden. Was erst nach Herzinfarkt aussieht, entpuppt sich bald als Mord. Commissaire Viale sieht den Kreis der Verdächtigen innerhalb der Familie Bonnet. Doch Friseurin und Hobbydetektivin Rosalie und ihr Freund, der Apotheker Vincent, fragen sich, was der Unbekannte mit dem Mord zu tun hat. Noch bevor sie ihn im Krankenhaus befragen können, wird jedoch auch er für immer zum Schweigen gebracht ...

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Seitenzahl: 464

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Buch

Frühling in der Provence. In dem kleinen Städtchen Vassols betritt ein unbekannter Mann den Laden des Chocolatiers Arthur Bonnet und überreicht ihm einen Umschlag. Dann bricht der Fremde bewusstlos zusammen. Kurz darauf wird Bonnet tot in seiner Villa aufgefunden. Was erst nach Herzinfarkt aussieht, entpuppt sich bald als Mord. Commissaire Viale sieht den Kreis der Verdächtigen innerhalb der Familie Bonnet. Doch Friseurin und Hobbydetektivin Rosalie und ihr Freund, der Apotheker Vincent, fragen sich, was der Unbekannte mit dem Mord zu tun hat. Noch bevor sie ihn im Krankenhaus befragen können, verschwindet dieser spurlos …

Autorin

Julie Lescault ist das Pseudonym von Patricia Mennen, einer vielfach und erfolgreich veröffentlichten Autorin atmosphärischer Frauenromane. Sie hat schon als Kind die Welt bereist und so früh ihre Lust am Beobachten, Geschichtenerzählen und Theaterspielen entdeckt. Nach ihrem Studium arbeitete sie einige Jahre als Redakteurin in einem Jugendbuchverlag. Heute lebt sie mit ihrer Familie abwechselnd in Oberschwaben und in der Provence.

Julie Lescault im Goldmann Verlag:

Rosalie und der Duft der Provence. Roman

Rosalie und die Farben des Südens. Kriminalroman

Mademoiselle Rosalie und der Tote im Weinkeller. Ein Provence-Krimi

Mademoiselle Rosalie und der tote Chocolatier. Ein Provence-Krimi

( alle auch als E-Book erhältlich)

Julie Lescault

Mademoiselle Rosalie und der tote Chocolatier

Ein Provence-Krimi

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Originalausgabe Juni 2020

Copyright © 2020 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: serts/E+/Getty Images

Susanne Kremer/huber images

Redaktion: Rainer Schöttle

BH · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-22856-9V001

www.goldmann-verlag.de

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Prolog

Wie blank geputzt strahlte der Himmel über den Bergen und Weinfeldern der Vaucluse. Der Blick in die Ferne war so klar und scharf, dass man von der höchsten Erhebung, dem fast zweitausend Meter hohen Mont Ventoux, einen Rundumblick hatte, der vom Mont Blanc in den Alpen über das Mittelmeer bis hin zu den Pyrenäen reichte. Und doch war diese Schönheit trügerisch. Ein Aufenthalt im Freien war an diesem Morgen kein Genuss. Mit beißender Schärfe fegte der Mistral über die knorzig-krummen Weinstöcke, aus denen sich schon bald zaghaft frisches Grün herauswagen würde. Im grellen Licht des kalten Nordwindes warfen sie bizarre Schattenmuster auf die rotbraune Erde. Das wolkige Weiß der Kirschblüten setzte malerische Akzente, ebenso wie die immergrünen Olivenbäume, deren Blätter im böigen Wind ein flirrend silbriges Lichtspiel boten. Mit ungebremster Wucht donnerte der Wind an diesem Tag gegen die mittelalterlichen Mauern von Brillon-de-Vassols. Unberechenbar trieb er sein Spiel in den schmalen Gassen des provenzalischen Dorfes, konzentrierte sich auf Plätzen zu aufsteigenden Wirbeln aus Staub und wintertrockenen Blättern, um nach einem kurzen, wilden Tanz wieder unversehens in sich zusammenzufallen. Die unberechenbaren Launen des Windes setzten auch den Bewohnern des Dorfes zu.

Josette Balbu, die Inhaberin des Magasin du Journal, versuchte an diesem Morgen bereits zum wiederholten Mal, den Postkartenständer für die Touristen vor ihrer Eingangstür so zu platzieren, dass der Wind ihm nichts anhaben konnte. Soeben mühte sich die hagere Frau mit einem schweren Stein ab, den sie auf den Fuß des Postkartenständers zu rollen beabsichtigte. Doch bevor ihr dies gelang, wurde sie von Arlette Farnauld unterbrochen, die sich in ihrer ganzen Breite vor ihr aufbaute.

»Verdammter Mistral«, bemerkte sie missmutig, als trüge Josette Mitschuld an dem unangenehmen Wind.

»Hmpf«, grunzte diese mindestens ebenso schlecht gelaunt. Eine weitere Bö brachte den Postkartenständer gefährlich ins Wanken. Josette ließ den Stein Stein sein und griff in letzter Sekunde nach dem fallenden Ständer. Da sie sich noch in gebückter Haltung befand, benötigte sie dazu beide Hände. Arlette ignorierte die missliche Lage ihrer Freundin und blieb weiterhin unbeeindruckt neben ihr stehen. Man konnte dabei das Gefühl haben, dass Josettes bizarre Verrenkungen sie sogar amüsierten. Die beiden Frauen verband seit Jahren eine innige Hassliebe, die sowohl von Schadenfreude und Missgunst als auch von ihrer gemeinsamen Schwäche für Dorfklatsch geprägt war. »Du hättest den Ständer lieber im Laden lassen sollen« war alles, was sie sagte.

»Hmpf.« Josette, die figürlich das genaue Gegenteil von ihrer kompakten Busenfeindin war, kämpfte immer noch mit der Tücke des Objekts. Mit viel Mühe gelang es ihr schließlich, sich an dem Ständer aufzurichten, ohne ihn loszulassen. An ihrem verkniffenen Gesicht war deutlich abzulesen, wie sehr sie sich über die Bäckersfrau ärgerte. »Hast du heute Morgen nichts Besseres zu tun, als andere Leute mit deiner Besserwisserei zu belästigen?«, fuhr sie sie giftig an.

»Ich brauche was aus deinem Laden«, entgegnete Arlette stoisch. »In La Provence steht heute ein Artikel über meinen Jean-Luc«, fügte sie mit unverhohlenem Stolz hinzu. »Erst gestern hat er einem wichtigen Journalisten ein Interview gegeben. Von ihm als Spitzenkandidaten möchten die Leute doch wissen, was er als künftiger Bürgermeister in Vassols alles verändern wird.«

Josette zog die Augenbrauen hoch und bedachte sie mit einem abfälligen Blick. »Dazu müsste er ja wohl erst einmal gewählt werden.«

»Das wird er!«, behauptete Arlette im Brustton der Überzeugung. Sie ging nahtlos in ihren Wahlkampfmodus über. »Unter Jean-Luc wird Vassols zu neuem Glanz und Wohlstand gelangen. Außerdem hat er als Einziger im Dorf das Format dazu. Das sehen wohl die meisten hier ganz genauso.«

»Träum weiter, ma Chérie!«, spottete Josette. »Noch ist die Bewerbungsfrist nicht verstrichen. Glaub mir, es gibt einige hier im Dorf, die sich einen Kandidaten oder eine Kandidatin wünschen, die nicht nur redet, sondern unser Dorf wirklich voranbringt. Und jetzt halt mal!« Sie drückte ihrer Freundin den Ständer in die Hand, damit sie endlich den Stein auf dessen Fuß rollen konnte. Noch bevor diese etwas erwidern konnte, war Josette auch schon im Laden verschwunden. Wenig später kam sie mit der geforderten Zeitung zurück.

»Den Artikel über Jean-Luc findest du auf der vorletzten Seite ganz unten«, bemerkte sie, ohne sich Mühe zu geben, ihre Genugtuung zu verbergen. »Nach einem Interview sieht mir das Ganze allerdings ganz und gar nicht aus, so knapp, wie das alles abgefasst ist.«

Arlette entriss ihr verärgert die Zeitung. Hastig blätterte sie auf die genannte Seite. Es gab tatsächlich kein Interview oder eine sonstige ausführliche Berichterstattung. Dort stand in wenigen Zeilen, dass demnächst Bürgermeisterwahlen in Brillon-de-Vassols anstünden und die Anmeldefrist für etwaige Kandidaten noch eine Woche liefe. Der bislang einzige Bewerber um das Amt sei der Bäckermeister Jean-Luc Farnauld. Sonst nichts. Kein Artikel, kein Interview, keine strahlende Vorstellung ihres Göttergatten! Arlette konnte es nicht fassen. Noch einmal blätterte sie die Zeitung von Anfang an durch und suchte nach dem erhofften Artikel.

»Das verstehe ich nicht!«, schimpfte sie enttäuscht, »Monsieur Cabrecourt hat Jean-Luc versichert, dass der Artikel heute erscheint.« Als sie jedoch das schadenfrohe Grinsen auf Josettes Gesicht registrierte, straffte sie ihre blockförmige Figur und reckte selbstbewusst ihr Kinn vor. »Dann erscheint das Interview eben morgen!«

»Oder eben gar nicht.« Josette wollte noch etwas Bissiges hinzufügen, als ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt wurde. »Sieh mal! Da steigt einer aus!« Sie deutete auf den Regionalbus, der gerade aus Avignon eingetroffen war. Es kam nicht oft vor, dass der Bus um diese Uhrzeit vor der Apotheke hielt. Neugierig verfolgten die beiden Frauen, wer wohl so früh am Morgen ihr Dorf besuchte. Im dunklen Schatten der Häuser war zunächst nicht auszumachen, ob es ein Dorfbewohner oder ein Fremder war. Sie erkannten nur einen hochgewachsenen Mann mit einem auffallend schwerfälligen Gang.

»Mein Gott, der Kerl ist ja schwarz wie die Nacht«, entfuhr es Arlette, als er vom Schatten ins Licht trat. »Das ist bestimmt einer von diesen Flüchtlingen!«

»Sei still, du verdammte Rassistin!«, zischte Josette erbost. »Ich glaube, der Mann will was von uns!« Tatsächlich humpelte der Ankömmling auf die beiden Frauen zu.

»Bonjour, Mesdames«, begrüßte er sie höflich. Der Mann sprach mit einem starken Akzent. Seine Erscheinung war alles andere als gepflegt. Der Anzug und das weiße Hemd waren voller Ölflecken und zum Teil eingerissen. Sein linkes Auge war beinahe völlig zugeschwollen. Außerdem fehlten ihm zwei Schneidezähne. Es war offensichtlich, dass er starke Schmerzen hatte. Arlette trat sofort angewidert einen Schritt zurück, während Josette ihn neugierig musterte.

»Können Sie mir freundlicherweise sagen, wo ich die Chocolaterie von Monsieur Bonnet finde?«, erkundigte sich der Mann. Sein Dialekt ließ vermuten, dass er irgendwo aus Westafrika stammte. »Das ist die Companie, wo Schokolade gemacht wird«, fügte der Mann erklärend hinzu, als keine der beiden Frauen gleich antwortete.

»Und was wollen Sie da?«, platzte Arlette heraus. Sie hatte sich als Erste gefangen. »Die Schokolade im Supermarkt ist viel günstiger!« Josette stieß ihre taktlose Freundin grob in die Seite. Verlegen und betont freundlich erklärte sie dem Mann den Weg.

»Gehen Sie immer die Straße lang, durch das ganze Dorf hindurch. Direkt hinter dem Ortsschild halten Sie sich links. Von dort sind es etwa noch zweihundert Meter. Sie können es gar nicht verfehlen!«, antwortete sie mit ausgesuchter Höflichkeit.

»Merci, Mesdames.« Der Afrikaner nickte ihnen fahrig zu und setzte seinen Weg humpelnd fort. Die beiden Frauen sahen ihm ratlos hinterher. Kaum war er außer Hörweite, legte Arlette auch schon wieder los.

»Hast du gesehen, wie verwahrlost der Kerl war? Der hat doch nie im Leben Geld für so teure Schokolade! Bestimmt ist er nur die Vorhut von einer ganzen Meute von Flüchtlingen, die sich in Vassols niederlassen wollen!«

»Red doch keinen Schwachsinn«, widersprach Josette. Sie fuhr sich nachdenklich mit ihren hageren Fingern über den faltigen Hals. »Vielleicht sucht er ja Arbeit in der Produktion. Bonnet sucht ja ständig nach Aushilfskräften, seitdem er expandiert hat.«

»Schokoladenflecken fallen bei dem auf jeden Fall nicht auf!«, lästerte Arlette gehässig.

»Genauso wenig wie auf deiner Haut Mehlflecken zu sehen sind!«, konterte Josette.

Der Fremde bekam die Unterhaltung der beiden Frauen zum Glück nicht mit. Er hatte ganz andere Sorgen. Und er musste sich beeilen. Mühsam schleppte er sich seinem Ziel entgegen. Die Schussverletzung an seiner Seite pochte stark. Als seine Hand die Stelle berührte, stellte er fest, dass die Wunde wieder zu bluten begonnen hatte. Sehr viel länger würde er nicht mehr durchhalten. Doch so nah am Ziel war Aufgeben keine Option. Die Menschen in seinem Dorf vertrauten ihm. Er durfte sie nicht enttäuschen.

Seine dringendste Sorge galt immer noch den Verfolgern. Als er plötzlich das Geräusch eines heranfahrenden Wagens hinter sich hörte, zuckte er unwillkürlich zusammen. Rasch suchte er im Eingang eines Hauses Deckung. Ob sie seine Spur wieder aufgenommen hatten? Er hatte am eigenen Leib erfahren müssen, dass man diese Leute nicht unterschätzen durfte. Im Hafen von Marseille hatten sie ihn abgefangen und zu töten versucht. Wäre nicht jemand zufällig vorbeigekommen, hätten sie mit Sicherheit ihr Werk vollendet und ihn den Fischen im Hafenbecken zum Fraß vorgeworfen, sofern unter dem Ölfilm auf dem Wasser überhaupt noch Fische gewesen waren. Das Auto fuhr vorüber, ohne dass jemand von ihm Notiz nahm. Er atmete erleichtert auf und setzte seinen Weg fort.

Der kalte Nordwind ließ ihn frösteln. Vielleicht war es auch das Fieber, das er sich durch die Infektion zugezogen hatte. Immer wieder musste er gegen die Schwäche ankämpfen, die ihm die Sinne vernebelte. Nur der Gedanke an Sahiba und seine Familie und an seine Freunde hielt ihn noch bei Bewusstsein. Er tat es für sie alle. Schritt für Schritt kämpfte er sich weiter, bis er endlich das Ortsschild erreichte, auf das ihn die weiße Frau hingewiesen hatte. Kurz dahinter ging eine kleine Straße links ab. Ein großes Hinweisschild kündigte an, dass es nicht mehr weit war. Endlich stand er vor einem großen Gebäude mit einem schmucken, verglasten Vorbau. Über dem Eingang prangte auf einer künstlerisch gestalteten Tafel:

Chocolaterie

Bonnet & Frères, S. A. R. L.

Er schloss die Augen und dankte Allah. Er hatte es geschafft. Nun würde alles gut werden. Er lehnte sich für einen Augenblick an das Treppengeländer vor dem Eingang und sammelte sich. Dann ging er hinein.

Sara Ammari arbeitete erst seit zwei Wochen als Verkäuferin in der Chocolaterie. Die neue Beschäftigung gefiel der jungen Frau, weil sie abwechslungsreich war. Den Kontakt zu den Kunden fand sie genauso spannend wie die Führungen, die sie ab und zu für Touristen machen durfte. Sara hatte erst vor Kurzem ihr bac bestanden und war sich noch nicht sicher, was sie mit ihrem Leben nach der Schule anfangen sollte. Ihre Mutter Zora hätte sie gerne als Mitarbeiterin in ihrem Gemüseladen gehabt, jetzt, da ihr Bruder Rachid wieder seinem Beruf als Architekt nachging und nur noch wenig Zeit im Laden verbrachte. Doch Sara wollte kein Gemüse verkaufen. Sie hatte andere Pläne für ihr Leben, auch wenn sie noch nicht so genau wusste, wie sie aussahen. Im Augenblick ordnete sie Aufträge an Lieferanten hinter der Verkaufstheke und war dankbar, dass nicht allzu viel los war.

Das Zischen der automatischen Eingangstür machte sie auf einen Mann aufmerksam, der auf den ersten Blick nicht wie ein Kunde aussah. Er wirkte schmutzig und heruntergekommen, sodass sie ihn für einen Bettler hielt. Als der dunkelhäutige Mann auf sie zusteuerte, sah sie sich sicherheitshalber nach Verstärkung um. Sie gab einem Kollegen im Verkaufsraum ein Zeichen, dass er in der Nähe bleiben möge. In der Zwischenzeit war der Fremde an der Theke angelangt. Sie bemerkte, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte.

»Bonjour. Ich muss Monsieur Arthur Bonnet sprechen, sehr dringend!«, brachte der Mann keuchend hervor. Jedes Wort schien ihn Kraft zu kosten. Offensichtlich hatte er starke Schmerzen. Sie überlegte, ihm ein Glas Wasser anzubieten, aber als ihr einfiel, dass der junge Chef heute auch da war, unterließ sie es lieber. Im Gegensatz zu seinem Onkel Arthur konnte Frédéric sehr unangenehm werden.

»Monsieur Bonnet ist heute nicht zu sprechen«, versuchte sie ihn abzuwimmeln, in der Hoffnung, dass der Kerl gleich wieder verschwand.

Doch der Mann durchschaute sie. Er deutete mit der Hand auf die halb geöffnete Tür des Seniorchefs, durch die Stimmen zu hören waren. Dann entschloss er sich, sie einfach zu übergehen.

»Monsieur Bonnet, s’il vous plaît!«, rief er, so laut er konnte. Sie sah deutlich, wie viel Kraft es ihn kostete, seine Stimme laut zu erheben. Bevor sie ihn daran hindern konnte, rief er noch einmal. Im selben Augenblick flutete eine größere Gruppe Touristen den Verkaufsraum und steuerte direkt auf sie zu. Sara fühlte sich komplett überfordert.

»Bitte gehen Sie jetzt! Monsieur Bonnet hat jetzt keine Zeit!« Sie wollte sich von ihm ab- und den Besuchern zuwenden, doch plötzlich griff er nach ihrem Arm und umklammerte ihr Handgelenk.

»Sie müssen mir helfen!«, bat er sie mit flackernden Augen. »Ich muss Monsieur Arthur Bonnet sprechen!« Mit der freien Hand griff er in seine Jackentasche und zog daraus umständlich einen schmutzigen Briefumschlag hervor. »Er muss das hier sehen! Dann wird er kommen!«

Sara machte der Mann Angst. Sie rief nach ihrem Kollegen, der sich der Touristen angenommen hatte. Doch noch bevor der ihr zu Hilfe eilen konnte, löste sich der Griff des Fremden, und er brach vor ihren Augen bewusstlos zusammen.

Tag 1

1

Rosalie stand noch unter der Dusche, als Vincent bei ihr eintraf, um sie abzuholen. Auf das gemeinsame Abendessen im Four à Chaud mit Rachid und seiner Freundin Amina hatte sie sich schon lange gefreut. Ausgerechnet heute hatte jedoch ihre letzte Kundin sich angestellt, weil ihr die neue Haarfarbe – von der sie, Rosalie, übrigens abgeraten hatte – doch nicht passte. Bis die erneute Färbungsprozedur abgeschlossen war, war sie schon viel zu spät dran gewesen. Glücklicherweise ertrug Vincent die Verspätung mit stoischer Gelassenheit und nutzte die Zeit des Wartens mit dem Lesen einiger Fachartikel auf seinem Smartphone. Unterschiedlicher können zwei Männer nicht sein, dachte sie einmal wieder, während sie sich ihre rote Lockenpracht föhnte. Ihr früherer Freund Jérôme hätte ihr längst eine Szene gemacht und wäre schon einmal ohne sie vorgefahren. Er hatte es immer als persönliche Beleidigung empfunden, wenn sie ihn warten ließ. Im nächsten Augenblick ärgerte sie sich, weil sie die beiden überhaupt miteinander verglich. Doch tief in ihrem Innern war da immer noch die Furcht, dass Vincent sie einmal ebenso würde enttäuschen können wie Jérôme. »Was bist du nur für eine Idiotin«, schimpfte sie sich selbst und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dringenderen Dingen zu. Sie entschied sich dafür, die Haare heute offen zu tragen. Rasch schlüpfte sie in ihr dunkelgrünes Kleid und schminkte sich dezent. Wenig später war sie für den Abend bereit. Sie genoss es, wie Vincent sie mit den Augen verschlang, als sie schließlich in die Küche trat. Im nächsten Augenblick stand er vor ihr und küsste sie mit einer Leidenschaft, die unweigerlich im Bett geendet hätte, würden ihre Freunde nicht längst auf sie warten.

Als sie endlich das Four à Chaud betraten, saßen Rachid und Amina bereits an dem reservierten Tisch. Die beiden waren so in eine hitzige Unterhaltung vertieft, dass sie ihr Ankommen erst bemerkten, als Vincent sich mit einem lauten Räuspern bemerkbar machte. Beide verstummten abrupt und sahen ihre Freunde betreten an. Rachid fasste sich als Erster.

»Da seid ihr ja endlich«, begrüßte er sie mit gespielter Fröhlichkeit. »Wir dachten schon, ihr hättet unsere Verabredung vergessen.«

»Tut mir leid! Es ist meine Schuld! Ich hatte in der Apotheke noch so viel zu tun. Außerdem …«

»Außerdem stimmt das gar nicht«, unterbrach ihn Rosalie mit einem liebevollen Seitenblick, weil er die Schuld für ihre Verspätung so ritterlich auf sich nahm. »Ihr kennt uns mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass Vincent niemals zu spät kommt. Es lag an mir!« Sie hob entschuldigend die Hände und lachte. »Excusez-moi!«

»Dafür, dass sie uns so lange warten ließ, sieht sie umso bezaubernder aus«, fügte Vincent verliebt hinzu. Rosalie gab ihm einen Knuff in die Seite.

»Du Schmeichler«, gurrte sie und errötete leicht.

»Wenn ihr beiden Turteltäubchen euch nicht gleich zu uns setzt, dann fangen wir schon mal ohne euch an«, beschwerte sich Rachid. Amina hatte die Szene aufmerksam verfolgt. Die beiden Frauen umarmten sich, dann lächelte Amina Rosalie warmherzig zu. Rosalie fand ihre neue Freundin hinreißend schön in ihrem weißen Kaschmirpulli, der wunderbar mit ihrem vollen dunklen Haar kontrastierte, das ihr in großen Locken bis weit über die Schultern fiel. Sie hatte sich Rachids Freundin von Anfang an verbunden gefühlt. Nicht nur, weil sie ebenfalls algerische Wurzeln hatte, sondern weil Amina ihre Unabhängigkeit genauso sehr liebte wie sie die ihre. Als sie sich wenig später bei einem Glas Champagner als Apéro gegenübersaßen, genoss sie es umso mehr, endlich einmal wieder einen Abend mit ihren Freunden zu verbringen.

»Schön, dass du endlich einmal wieder in Vassols bist! Bleibst du dieses Mal etwas länger?«, erkundigte sie sich neugierig. Amina lebte in Paris und arbeitete in einem großen Krankenhaus als Assistenzärztin. Rachids Miene verdüsterte sich während ihrer Bemerkung. Sie sah, wie Amina ihm einen trotzigen Blick zuwarf.

»Ich muss morgen früh wieder zurück. Mein Dienst beginnt am Abend.« Wie die meisten Ärzte in Krankenhäusern hatte sie nur wenig Freizeit, was Rachid verständlicherweise nicht besonders gefiel.

»Die Zeit bis zur Facharztprüfung ist wirklich sehr stressig«, meinte Vincent, der dies aus eigener Erfahrung wusste. »Wann sind die Prüfungen?« Amina lächelte ihm dankbar zu.

»In drei Monaten! Dann bin ich endlich ausgebildete Neurologin und Psychiaterin!«

»Dann hat die Pendelei zwischen Paris und der Provence ja bald ein Ende«, stellte Rosalie fest und stieß damit ungewollt in ein Wespennest. Anstatt die Spannung zu lösen, erreichte sie das genaue Gegenteil. Als Rachids Miene noch eine Spur düsterer wurde und Amina jeglichen Blickkontakt vermied, wusste sie, dass das Streitgespräch der beiden Freunde vermutlich diesen Konflikt als Hintergrund gehabt hatte.

»Das ist noch nicht entschieden«, antwortete Amina schließlich mit einem trotzigen Blick in Richtung Rachid. »Wenn es nach mir geht, möchte ich erst noch ein wenig Berufserfahrung sammeln, bevor ich mich irgendwo niederlasse. Man hat mir ein tolles Stellenangebot am Hôtel de Dieu gemacht, das ich ernsthaft erwäge anzunehmen.«

»Also gehst du nach Paris?«, wollte Vincent sofort von Rachid wissen. »Als Architekt kannst du doch überall arbeiten.«

Rosalie verdrehte die Augen. Das war womöglich noch eine falsche Bemerkung in dieser Situation.

»Mein Job in Aix gefällt mir wirklich gut«, antwortete Rachid mindestens ebenso stur wie Amina. »Ich habe gute Chancen, über kurz oder lang dort als Teilhaber einzusteigen. Außerdem braucht mich meine Familie hier!«

»Und meine braucht mich in Paris!«

Vincent begriff endlich auch den Ernst der Lage und warf Rosalie einen alarmierten Blick zu. Sie zuckte mit den Schultern, weil sie auch keine Idee hatte, wie man die Situation entschärfen konnte. Wenn das so weiterging, wäre es besser, den Abend vorzeitig abzubrechen.

»Wenn es nach mir ginge, würde ich lieber hier im Süden und bei meiner Familie bleiben«, brummte Rachid unzufrieden.

Glücklicherweise steuerte nun Vincents Freund Roland auf ihren Tisch zu, um sie zu begrüßen. Er war der Chef des Gourmetrestaurants und machte es sich zur Aufgabe, sie über das bevorstehende Menü zu informieren. Roland und Vincent kannten sich aus ihrer gemeinsamen Pariser Zeit. Sie hatten zusammen in einer Wohngemeinschaft gelebt, wobei Vincent durch den heutigen Sternekoch zu seiner Leidenschaft am Kochen gekommen war. Roland war ein wahrer Künstler, wenn es darum ging, die saisonalen Einflüsse der Region mit Raffinesse und einem Hauch Weltläufigkeit zu verbinden. Neben einer konventionellen Speisekarte mit den provenzalischen Klassikern bot er immer auch noch ein Menu Surprise an, von dem sie noch niemals enttäuscht worden waren. Zunächst ließ er ihnen einen kleinen Gruß aus der Küche zukommen, den er ihnen persönlich servierte. Es war eine grüne Velouté in einem schmalen, hohen Glas, die mittels eines Strohhalms konsumiert wurde.

Rosalie sog begeistert an der warmen Gemüsesuppe und versuchte zu ergründen, was sie so besonders machte. »Ich schmecke eindeutig grünen Spargel und Sahne«, schwärmte sie, »aber da ist noch was, was ich so noch nie probiert habe. Ich glaube, ich könnte süchtig danach werden.« Die anderen stimmten ihr zu. Sofort war die Stimmung etwas gelockerter.

Der Küchenchef wandte sich nun an Vincent. »Wenn du errätst, was noch in der Velouté steckt, geht das Dessert heute für euch alle auf meine Kosten«, schlug er vor.

Vincent gefiel der Gedanke. »Du möchtest meine Geschmacksnerven testen, alter Freund. Nun gut! Diese Wette gewinne ich!« Er kostete den Rest der Gemüsesuppe und ließ ihn sich genüsslich auf der Zunge zergehen. Roland beobachtete ihn aufmerksam. »Grüner Spargel und Sahne, genau wie Rosalie festgestellt hat«, meinte er beiläufig, »dazu Basilikum und ziemlich sicher Pistazien«, tastete er sich weiter heran. Roland nickte anerkennend. »Du bist nah dran, aber da ist noch etwas Wesentliches, ohne das der Geschmack nicht vollkommen wäre.« Vincent musste sich nun wirklich anstrengen. »Vielleicht gemahlener Koriander?«, riet er ins Blaue.

Roland grinste zufrieden. »In ein paar Dingen bin ich dir also doch noch voraus. Gib zu, du errätst es nicht!« Vincent riet zwei weitere Male falsch. Dann gab er sich geschlagen.

»Aber nun musst du dein Geheimnis auch verraten!«, verlangte er. »Was macht die Velouté so besonders, du alter Zauberer?«

»Schokolade«, verriet Roland nicht ohne Stolz. »Aber nicht irgendeine Schokolade, sondern eine ganz besondere. Eine hochwertige Criollo aus Madagaskar und eine Forastero von der Elfenbeinküste, beste Qualität und hervorragend verarbeitet, wie es nur die Chocolaterie von Bonnet & Frères vermag. Seine neuen Sorten sind wirklich einzigartig in Frankreich, wenn nicht sogar in Europa«, schwärmte er begeistert. »Vor allem seitdem Tristan Thibault für ihn arbeitet!«

»Aber die Schokolade schmeckt man doch gar nicht heraus!« Rosalie war sich unsicher. Sie war in Geschmacksdingen eher Pragmatikerin.

»Auf jeden Fall war das Entree einzigartig, und die Idee, mit Schokolade zu kochen, ist wirklich originell. Chapeau, Roland!« Vincent klopfte seinem Freund auf die Schulter.

»Mit Schokolade kochen viele meiner Kollegen«, bemerkte der Koch noch. »Allerdings kommt es wirklich auf die Zutaten der Schokolade an, die den Geschmack so hervorragend machen. Ihr werdet es beim Dessert noch bemerken!« Er schmunzelte zufrieden. »Nun muss ich aber wieder zurück in die Küche, um eure Vorspeise zu kontrollieren.« Er verabschiedete sich und verschwand durch die Tür zur Küche.

»Die Chocolaterie von Bonnet & Frères macht überall von sich reden«, bemerkte Rachid. »Die Firma hat gerade erst expandiert. Das Architekturbüro, für das ich arbeite, hat die neue Verkaufshalle entworfen, die vor Kurzem fertiggestellt wurde. Wirklich beeindruckend und sehr modern. Meine kleine Schwester arbeitet dort seit ein paar Wochen. Sie ist sehr gerne dort.«

»Vor einigen Jahren sah es noch so aus, als würde die Chocolaterie pleitegehen«, wusste Vincent. »Aber dann hat Bonnet kräftig investiert und einiges an seinem Firmenkonzept geändert, und plötzlich boomte seine Fabrikation – wohl auch deswegen, weil er auf Fairtrade-Schokolade und ›Bean to Bar‹ setzte.«

»Was bedeutet ›Bean to Bar?‹«, nahm Amina Rosalies Frage vorweg.

»Das heißt, dass der Hersteller von Schokolade den gesamten Produktionsweg von der Bohne bis zur Schokoladentafel selbst in die Hand nimmt«, erklärte Vincent, der sich in kulinarischen Dingen bestens auskannte. »Der Hersteller kauft die besten Zutaten, die er finden kann, baut sich die Maschinen so, wie er sie braucht, und macht dann seine ganz eigene, individuelle Schokolade.«

»Mein Vater hat neuerdings auch seine Liebe zu Schokolade entdeckt. Er liebt Bonnets Bio-Schokolade«, seufzte Rosalie nicht sehr begeistert. »Wir müssen ihm dauernd Nachschub besorgen, was leider nicht gerade billig ist.«

»Und die Preise dürften noch steigen, wenn die Chocolaterie diesen wichtigen Preis gewinnt und Fairtrade-zertifiziert ist. Sara hat erzählt, dass Bonnet dafür extra einen berühmten Chef-Chocolatier aus Paris hergeholt hat.«

Ihre Unterhaltung wurde von dem ersten Gang unterbrochen, der nun serviert wurde.

»Knusprig gebratenes Tête de Veau an Sauce Gribiche mit weiß-rot gestreifter Rote Bete und Kräuter-Gnocchi«, verkündete der Ober und platzierte das köstlich duftende Gericht vor ihnen. Rosalie und Vincent machten sich mit Freude darüber her, während Rachid und Amina nur von den Gnocchi und der kurz frittierten Bete kosteten.

»Wieso probiert ihr nicht von dem Kalbskopf?«, wollte Rosalie wissen. »Es schmeckt wirklich köstlich, das Kalb. Oder seid ihr neuerdings Vegetarier?«

»Es tut mir leid«, gestand Amina mit sichtlichem Widerwillen. »Aber der Gedanke, dass ich Hirn, Maul und Zunge von einem Tier essen soll, nein … das bringe ich einfach nicht übers Herz.« Rachid stimmte ihr aus vollem Herzen zu.

»An diese französische Sitte werden wir uns wohl nie gewöhnen können. Wieso müsst ihr Franzosen auch versuchen, aus allem, was die Natur hergibt, eine Delikatesse zu machen?«

»Weil daraus überraschend Köstliches hervorgeht?«, schlug Vincent vor und schob sich ein Stück Zunge in den Mund. »Rolands Kalbskopf sucht seinesgleichen. Sogar Bocuse hat ihn seinerzeit gelobt, obwohl er doch als der Vater aller Kalbsköpfe gilt.«

Amina ließ sich nicht überzeugen. »Tut mir leid, aber ich passe«, meinte sie entschieden. Auch Rachid schob seinen Teller beiseite. Wenigstens in dieser Beziehung waren sie einer Meinung.

»Jedem das Seine«, bemerkte Rosalie schulterzuckend und fischte sich noch ein Stück Kalbskopf von Aminas Teller.

»Wie war es denn heute Morgen mit deinem Vater in Avignon?«, wollte Rachid von ihr wissen.

»Der Spezialist hat mit Bertrand einige Tests gemacht. Leider haben sie genau das bestätigt, was Louis und ich schon länger befürchtet haben.« Rosalie seufzte. »Wir werden uns wohl damit abfinden müssen, dass Papa in nächster Zeit noch schwieriger wird, als er schon in gesundem Zustand war.«

»Um welche Art von Demenz handelt es sich denn?«, interessierte sich Amina. »Nicht alle Krankheitsverläufe sind gleich.«

»Das weiß ich gar nicht so genau …« Rosalie zog besorgt die Stirn in Falten. »Alzheimer ist es jedenfalls nicht. Angeblich ist das ein gutes Zeichen.«

»Hört sich irgendwie nach einer vaskulären Demenz an«, überlegte Amina. »Wenn du einen Befund hast, sehe ich ihn mir gerne einmal an«, schlug sie vor. »Das ist eines meiner Fachgebiete. Mit der richtigen Medikation und ein wenig Geistestraining wird sich der Zustand deines Vaters nicht allzu schnell verändern.«

»Ich weiß gar nicht, was schlimmer ist«, bemerkte Rosalie sarkastisch. »Ein herrschsüchtiger gesunder Vater oder der verwirrte alte Mann mit all seinen merkwürdigen Anwandlungen.« Vincent nahm ihre Hand und drückte sie.

»Ihr Geschwister werdet das schon zu dritt hinbekommen.« Doch das war nicht das, was sie hören wollte.

»Vergiss meine Brüder, pah!«, brauste sie sofort auf. »Louis ist schon jetzt völlig überfordert, und Maurice will von Papas Aussetzern einfach nichts wissen, weil er angeblich genügend eigene Probleme hat. Die beiden stellen sich vor, dass ich mich um Bertrand kümmere. Aber da haben sie sich geschnitten. Schließlich bin ich ja nur das Kuckuckskind, der Bastard oder das Überbleibsel einer algerischen Erntehelferin. So zumindest haben sie mich damals genannt, als ich zu ihnen in die Familie kam. Deshalb fühle ich mich ihnen in keiner Weise verpflichtet.«

Amina hob erstaunt die Augenbrauen. Rosalie hatte ihr noch nie etwas davon erzählt.

»Meine Mutter war eine algerische Erntehelferin, mit der mein Vater ein Verhältnis hatte. Sie hat mich als Baby vor der Tür meines Vaters ausgesetzt, obwohl er schon eine eigene Familie hatte«, erklärte sie ihr verbittert. »Ich stand wohl ihrem zukünftigen Leben im Weg.«

»Das … das ist furchtbar!«

Als sie Aminas betroffene Miene bemerkte, fügte sie rasch hinzu: »Das ist alles schon eine Ewigkeit her, und ich hatte das große Glück, wenigstens eine fürsorgliche Tante zu haben. Babette hat mich wie ihr eigenes Kind behandelt. Von ihr habe ich auch meinen Friseursalon geerbt. Alles ist also gut!« Sie lächelte aufmunternd. Amina blieb dennoch betroffen.

»Du hast also algerische Wurzeln wie Rachid und ich«, stellte sie fest. »Wolltest du nie wissen, was aus deiner Mutter geworden ist?«

»Sie hat angeblich einen Landsmann aus Algerien geheiratet, den ihre Eltern für sie ausgesucht haben. Mehr weiß ich nicht, und wenn du es genau wissen willst: Es interessiert mich auch gar nicht.«

Ihre Aufmerksamkeit wurde nun wieder aufs Essen gelenkt. Der Hauptgang mit einem exzellenten Weißwein bestand aus gebratenem Saiblingsfilet, das mit weißem Spargel und frischen Morcheln an aufgeschäumter Portweinbutter und kross gebratenem Salbei serviert wurde. Als Höhepunkt stellte sich jedoch der Nachtisch heraus, dessen Hauptbestandteil wiederum die Schokolade der Chocolaterie Bonnet war. Roland servierte eine luftige Mousse au Chocolat aus sortenreiner Schokolade von Honduras in leicht angefrorenem Zustand, die mit Erdbeeren aus Carpentras und etwas Minze getoppt wurde. Alle waren sich sicher, dass sie noch nie etwas Köstlicheres probiert hatten. Roland nahm das Lob gerne entgegen und ließ es sich nicht nehmen, ihnen zu erklären, weshalb die Mousse so hervorragend war.

»Arthur Bonnet hat eine Walzmaschine nach seinen eigenen Vorstellungen bauen lassen«, erklärte er ihnen. »Diese Maschine ermöglicht es ihm, die Kakaomasse so zu präparieren, dass sie mehr Aromastoffe aufnehmen kann, als es die Maschinen der Konkurrenz vermögen. Dafür müsst ihr wissen, dass man die Kakaomasse in einem Raffineur durch mehrere Walzen zu einer hauchdünnen Schicht walzen muss, damit sie eine so weiche Konsistenz bekommt, dass sie nicht mehr ›sandig‹ schmeckt. Die Grenze, bis zu der die menschliche Zunge einzelne Körner wahrnehmen kann, liegt bei etwa dreißig Tausendstelmillimetern. Bonnets Maschine schafft nicht nur das besser als andere, sondern sie erhöht durch ihre Druck- und Scherkräfte außerdem die Temperatur im Walzenspalt so stark, dass die Schmelztemperatur des in der Schokomasse enthaltenen Zuckers überschritten wird. Dadurch können weitere Aromastoffe wie beigefügte Vanille, Pfeffer oder andere Gewürze in die Schokomasse eingelagert werden. Das ist wirklich einzigartig!«

Rosalie fand die Erklärung reichlich kompliziert, aber sie war beeindruckt von seiner Begeisterung. »Du hast mir so viel Appetit auf Bonnets Schokolade gemacht, dass ich gleich morgen Nachschub für Papa kaufen gehe und mir die Produkte nochmals genauer ansehen werde«, beschloss sie vergnügt. Der gelungene Abschluss des Menüs hatte alle Spannungen abgebaut. Beim Abschied stiegen Rachid und Amina eng umschlungen in dessen alten Kastenwagen. Vincent fuhr Rosalie nach Hause.

»Kommst du noch mit zu mir?«, fragte sie, indem sie eine Hand auf sein Bein legte.

»Heute lieber nicht. Ich muss morgen ganz früh raus. Dein Bruder wünscht, dass ich ein Gutachten für ihn erstelle!«

Rosalie versuchte ihre Enttäuschung zu verbergen. »Dein Aushilfsjob als Médecin légiste scheint dir ja sehr wichtig zu sein. Wer hätte das gedacht!«

»Darf ich dich daran erinnern, dass du mir dazu geraten hast?«, erwiderte Vincent belustigt. »Aber du hast recht, die Arbeit fordert mich mehr heraus als meine Tätigkeit als Apotheker. Außerdem genieße ich die Anerkennung der Kollegen.«

Rosalie schwieg dazu. Seit Vincent regelmäßiger als Rechtsmediziner für die Ermittlungsbehörden arbeitete, war er richtig aufgeblüht. Seine Schüchternheit hatte sich fast vollständig gelegt. Er war eindeutig viel selbstbewusster geworden. Sie mochte sein neues Auftreten, auch wenn er sich dadurch ermutigt fühlte, immer mehr von ihrer Beziehung zu verlangen. Neulich hatte er sogar Andeutungen gemacht, ob sie nicht zusammenziehen sollten. Rosalie ging das alles viel zu schnell. Ihre gescheiterte Beziehung zu Jérôme lag noch nicht allzu lange zurück, und die damit verbundene Enttäuschung steckte noch tief in ihr. Sie wollte ihre Freiheit nicht so einfach aufgeben.

»Vielleicht sollte ich ja doch noch mit zu dir kommen«, überlegte Vincent. Nun war es Rosalie, die plötzlich keine Lust mehr hatte.

»Ich bin auch ziemlich müde«, meinte sie. »Aber wir könnten den morgigen Abend gemeinsam verbringen.«

Vincent bog auf die Cours de la République ein und parkte sein Auto vor der Apotheke.

»Dann bleibt es also dabei?«, vergewisserte er sich. Er sah sie begehrlich an. Rosalie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Nasenspitze.

»Ja, mon amour! Aber das bedeutet nicht, dass ich dich nicht mehr mag!« Sie wollte gehen, doch er zog sie noch einmal in seine Arme und küsste sie so heftig, dass sie beinahe schwach geworden wäre. Etwas abrupt machte sie sich schließlich von ihm los.

»Schlaf gut«, sagte sie und verschwand im Hauseingang.

2

Die Ereignisse des Vormittags hatten Arthur Bonnet mehr mitgenommen, als ihm guttat. Solche Zwischenfälle verkraftete sein ohnehin angeschlagenes Herz immer schlechter. Während er rastlos sein Büro durchstreifte, wartete er ungeduldig auf seinen Neffen, der ihm einiges zu erklären hatte. Schlimm genug, dass dieser Afrikaner schwer verletzt in seinem Verkaufsraum zusammengebrochen war. Aber noch erheblich verhängnisvoller war das, was der Mann ihnen hinterlassen hatte. Auf die Fotos in dem Umschlag war er erst aufmerksam geworden, nachdem die Sanitäter den Verletzten schon längst abtransportiert hatten. Auch dass er den Mann aus Afrika kannte, war ihm im Tumult der Ereignisse gar nicht bewusst geworden. Er musste sich unbedingt um ihn kümmern.

Doch zuerst galt es herauszufinden, ob das, was auf den Fotos zu sehen war, auch den Tatsachen entsprach. Er mochte gar nicht daran denken, was das für Konsequenzen haben konnte. Arthur setzte sich hinter seinen Schreibtisch und fuhr sich mit beiden Händen durch sein schütter gewordenes Haar. Welch ein Dilemma! Wenn jetzt etwas schieflief, war alles, wofür er die letzten dreißig Jahre gekämpft hatte, umsonst gewesen. Ob Frédéric mit diesen Schwierigkeiten wirklich allein fertigwurde, wenn er selbst dazu nicht mehr in der Lage sein würde? Womöglich war es doch ein Fehler gewesen, den Sohn seines viel zu früh verstorbenen Bruders so kurzfristig zu seinem Nachfolger zu bestimmen, nur weil Madeleine ihn enttäuscht hatte. Er seufzte. Er und Frédéric mussten einfach alles daransetzen, dass sich diese schlimme Sache möglichst schnell aus dem Weg räumen ließ. Gerade jetzt, wo die Zertifizierung für das ECOCERT-Label zum Greifen nah war, konnten sie keinerlei Schwierigkeiten gebrauchen. Außerdem hatte sich Marie-Claire Betaincourt höchstpersönlich angesagt, um die neue Création von Tristan Thibault zu verkosten. Ihr Urteil war maßgeblich dafür, in welcher Liga seine Chocolaterie künftig spielen würde. Sie war die Preisrichterin, die die Charte Pur Beurre de Cacao verlieh, die höchste Auszeichnung in seiner Branche. Arthur nahm die Fotos nochmals zur Hand. Sie waren nicht gefälscht, das spürte er.

Wenig später klopfte es an der Tür, und beinahe gleichzeitig trat Frédéric ein.

»Du wolltest mich sprechen?«

Mit forschen Schritten durchmaß sein Neffe das Büro und nahm selbstbewusst auf einem der beiden Ledersessel an dem kleinen Besprechungstisch Platz. Mit übereinandergeschlagenen Beinen und einem verbindlichen Lächeln wartete er darauf, dass sich sein Onkel zu ihm setzte. Bonnet dachte gar nicht daran, dem Folge zu leisten. Stattdessen blieb er an seinem Schreibtisch sitzen und nahm sich die Zeit, seinen Neffen ausgiebig zu mustern. Seine Selbstsicherheit passte zu seiner äußeren Erscheinung. Zu dem maßgeschneiderten Anzug trug er ein helles, perfekt gebügeltes Hemd, das am Kragen offen stand. Sein Haar war modisch geschnitten, die Hände frisch manikürt. Keine Spur von Verunsicherung. Arthur forderte ihn auf, sich ihm gegenüberzusetzen. Dann präsentierte er ihm die Fotos auf dem Tisch. »Ich möchte wissen, was du dazu zu sagen hast.«

Frédéric nahm die Bilder auf und begann sie in aller Ruhe zu betrachten. Auf seinem Gesicht war keine Regung abzulesen. Arthur wartete ungeduldig auf eine Reaktion. Schließlich handelte es sich um ihre Kakaoplantagen in Westafrika. Was auf den Fotos zu sehen war, war einfach schockierend. Alles, wofür er sich in den letzten Jahren eingesetzt hatte …

Es hatte so viel Mühe gekostet, die »Bean to Bar«-Produktion in einem Drittweltland aufzubauen, das eher für die Minderwertigkeit seiner Kakaosorten bekannt war. Seine Idee, mit dieser Methode eine Schokolade von höherer Qualität zu erzeugen, indem man den Produktionsweg von der Bohne bis zur Schokoladentafel selbst in die Hand nahm, war von vielen als verrückt abgetan worden. Doch er hatte sie, auch dank der Hilfe seiner Exfrau, im Laufe der Zeit durchgesetzt.

Das innovative Grundkonzept lag darin, dass er nicht nur auf biologisch-dynamische Plantagenwirtschaft baute, sondern auch die Bauern eines Dorfes für sich gewann. In jahrelanger Überzeugungsarbeit hatte er sie dazu gebracht, anstatt der minderwertigeren Forastero-Sorte den hochwertigen, wenn auch empfindlicheren Criollo-Kakao anzubauen. Den damit verbundenen geringeren Ertrag konnten die Bauern in Kauf nehmen, da er ihnen den kompletten Absatz und einen fairen Preis garantierte. Dank einer Stiftung, die er zusammen mit seiner Exfrau gegründet hatten, waren eine Schule gebaut und Lehrer verpflichtet worden, die die Kinder der Bauern unterrichteten. Ziel war es, die Unabhängigkeit der Kakaobauern zu erhalten, damit sie den Dumpingpreisen der internationalen Konzerne trotzen konnten. Im Gegenzug versprachen sie, alle Qualitätsanforderungen einzuhalten, derer es zur Herstellung von biologisch einwandfreier Schokolade bedurfte. Dazu gehörte unter anderem das Verbot, gefährliche Spritzmittel einzusetzen, und selbstverständlich durfte es keine Kinderarbeit geben. Doch die Fotos zeigten einen ganz anderen Sachverhalt. Auf mehreren Bildern waren Kinder von maximal zehn Jahren zu sehen, wie sie schwere Fünfzig-Kilo-Säcke mit Kakaobohnen auf ihrem Rücken trugen. Sie sahen zerlumpt und armselig aus. Dass es sich dabei um seine Plantagen handelte, verriet ausgerechnet ein Schild, vor dem einer der Jungen gerade die schwarz-braunen Kakaobohnen zum Trocknen auf dem Boden verteilte. Wie zum Hohn war darauf zu lesen, dass die Genossenschaft von Bonnet & Frères nachhaltig arbeite, die Umwelt schütze und keine Kinder arbeiten ließ. Auf anderen Fotos waren Kanister mit verbotenen Spritzmitteln zu sehen. Welche Wirkung der Einsatz von Chemie auf die Bauern und ihre Familien hatte, zeigten wiederum andere Fotos. Menschen mit Ekzemen an Armen, Beinen und im Gesicht. Manche Leute waren offenbar erblindet oder hatten kaum noch Haare auf dem Kopf. Es war erschütternd.

Endlich legte Frédéric den Stapel beiseite.

»Das sind schockierende Fotos«, stellte er nüchtern fest. »Woher hast du sie?« Er sah seinen Onkel prüfend an. »Du wirst doch nicht etwa glauben, was darauf zu sehen ist?«

»Willst du damit andeuten, sie könnten gefälscht sein?« Arthur gelang es nur mit Mühe, seine Empörung unter Kontrolle zu halten. »Gobeni war gestern hier und hat sie persönlich vorbeigebracht. Ich kenne den Mann schon seit Jahren. Er hätte sich niemals auf den weiten Weg gemacht, wenn an der Sache nichts dran wäre. Wie du weißt, ist er der Dorfvorsteher und spricht für die Genossenschaft.« In knappen Worten fasste er zusammen, was geschehen war. »Wenn auch nur ein Bruchteil von dem, was auf den Fotos zu sehen ist, stimmt, dann ist das ein Riesenskandal! Wir setzen damit alles aufs Spiel, was wir bislang erreicht haben! Wie konnte es nur so weit kommen? Ich dachte, du hättest alles im Griff!«

»Ich habe alles im Griff«, versicherte Frédéric ungeduldig. »Als ich vor sechs Wochen im Kongo war, habe ich nichts dergleichen gesehen. Ich war mit de Slagter auf den Plantagen und habe mich davon überzeugt.«

»Offensichtlich nicht gründlich genug! Wir müssen das in Ordnung bringen, und zwar sofort, hast du mich verstanden?« Arthurs Blick war scharf auf seinen Neffen gerichtet. »Hast du alle Plantagen regelmäßig in Augenschein genommen?«, verlangte er zu wissen. Bis vor seiner Herzoperation vor fast einem Jahr hatte er sich persönlich um das Wohlbefinden der Bauern und die Einhaltung aller Standards gekümmert. Alles war bestens gelaufen, und die Qualität der Kakaobohnen war überragend gewesen. Wenn ihm nicht sein Herz einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte, wäre das immer noch so.

»Nun ja«, räumte Frédéric zögernd ein. »Für alle Plantagen blieb beim letzten Mal einfach keine Zeit. Es gab Wichtigeres zu regeln. Die Anpassung der neuen Verträge, Konsulatsbesuche und andere Behördengänge, die unser Mittelsmann nicht alleine unternehmen konnte. Du weißt doch, wie langwierig das in diesen Ländern sein kann. Meine Zeit war begrenzt. Aber de Slagter hat sich verbürgt, dass es auf allen Plantagen gleich gut aussieht wie auf der, die wir besucht haben.«

»Du warst also nur auf einer Plantage?« Arthur gelang es immer weniger, seinen Ärger unter Kontrolle zu halten. »Wie konntest du dich nur damit zufriedengeben? Du weißt doch genau, dass die Demokratische Republik Kongo ein Entwicklungsland ist, in dem Korruption einen enormen Stellenwert hat. Wenn man nicht alles selbst ständig kontrolliert und überprüft, wird man an allen Ecken und Enden betrogen. Nicht nur für uns steht damit alles auf dem Spiel, auch für die Bauern! Was ist eigentlich mit de Slagter? Wieso hat er dir nichts von den Zuständen erzählt? Du hast ihn zu unserem Vertrauensmann erklärt!«

»Er ist nur für die Qualitätskontrolle der Kakaobohnen zuständig. Da gibt es auch nichts zu beanstanden.«

»Die Pflanzen wurden mit verbotenen Spritzmitteln behandelt«, regte sich Bonnet weiter auf. »Damit entsprechen sie nicht unseren Standards. Nächste Woche wird darüber entschieden, ob wir das ECOCERT-Siegel bekommen. Wenn das Komitee davon Wind bekommt, sind wir erledigt. Ist dir das klar?« Arthur lockerte seine Krawatte, weil er plötzlich einen Druck auf der Brust spürte. »Du musst das so schnell wie möglich in Ordnung bringen«, sagte er erschöpft. »Ich habe mich auf dich und Madeleine verlassen. Ich habe dir die Verantwortung für Afrika nur übergeben, weil du mir in die Hand versprochen hast, dass du dir regelmäßig selbst ein Bild von dem Zustand unserer Plantagen machst. Sollte ich mich in dir getäuscht haben, kannst du unsere Abmachung vergessen! Hast du mich verstanden?«

»Es ist nicht meine Schuld, wenn dort unten etwas schiefgelaufen ist.« Frédéric klang zwischenzeitlich weitaus weniger selbstsicher. »Natürlich werde ich mich um alles kümmern. Du kannst dich darauf verlassen. Ich werde mich sofort mit de Slagter in Verbindung setzen und Aufklärung einfordern.«

»Das wird aber nicht reichen«, brauste Arthur erneut auf. »Du musst sofort einen Flieger nach Kinshasa buchen und die Angelegenheit vor Ort regeln. Wir müssen sicher sein, dass die Kakaobohnen allen Anforderungen des ECOCERT entsprechen, mal ganz abgesehen davon, dass unser investiertes Geld ganz offensichtlich in falsche Kanäle läuft. Hast du die Bilder von den arbeitenden Kindern gesehen? Wenn die Presse davon Wind bekommt, sind wir erledigt.«

»Das ist mir durchaus klar! Vertrau mir, Arthur! De Slagter wird mir Rechenschaft ablegen müssen.« Frédéric erhob sich. »Außerdem werde ich gleich unsere Anwälte einschalten. Falls unser Mittelsmann wirklich ein falsches Spiel spielt, werden wir ihm die Hölle heißmachen. In ein paar Tagen ist die Sache vom Tisch!«

»Das hoffe ich schon allein in deinem Interesse«, grunzte Arthur ungnädig. Frédéric blieb in der Tür noch einmal kurz stehen.

»Du kannst dich auf mich verlassen, Onkel.«

Bonnet sah seinem Neffen kopfschüttelnd hinterher. Er fragte sich, ob der Junge überhaupt begriff, worum es hier ging. Frédéric hatte Marketing und Volkswirtschaft studiert und war ein exzellenter Analytiker, wenn es um Zahlen und Marktforschung ging. Die besten Voraussetzungen für einen erfolgreichen Geschäftsmann. Allerdings gab es für eine Chocolaterie wie die seine auch noch ganz andere Voraussetzungen für einen Erfolg. Bonnet & Frères hatten ihren Ruf wegen ihrer Leidenschaft für Schokolade und technische Innovationen erlangt. Er selbst hatte das Handwerk von der Pike auf gelernt und wusste, worauf es ankam. Frédéric hingegen sah das Geschäft immer nur mit den Augen eines Zahlenmenschen. Zwar war er ehrgeizig und hatte gute Ideen, aber ob das alles reichte?

Ein erneutes Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Tristan Thibault balancierte schwungvoll ein Tablett hinein, über das eine Silberglocke gestülpt war. Der für seine Erfolge weit über die Landesgrenzen hinaus bekannte Chef-Chocolatier war sichtlich aufgeregt. Sein dynamisches Auftreten ließ keine Zweifel zu, dass er ihm etwas sehr Wichtiges mitzuteilen hatte.

»Verzeihen Sie die Störung, Monsieur Bonnet«, begrüßte er ihn voller Überschwang. »Soeben ist mir mein letzter Coup gelungen! Ich denke, wir haben nun die ultimative Création, mit der wir nächste Woche Madame Betaincourt beeindrucken werden.«

Mit einer eleganten Bewegung platzierte er das Tablett mitten auf Arthurs Schreibtisch und hob die Glocke an. »Voilà!«

Auf einem weißen Porzellanteller lagen sechs unterschiedliche Pralinés und Trüffeln, die auf fantasievolle Weise geformt und verziert waren. Jedes einzelne Stück war ein Kunstwerk für sich. Arthur beschloss, seine Sorgen für einen Augenblick zu vergessen und sich auf die schönen Dinge zu konzentrieren. Thibault war wirklich ein Meister seines Fachs. Er hatte ihn vor einigen Monaten von Paris in die Provinz locken können – nicht nur, weil es ihm gelungen war, ihn von seiner »Bean to Bar«-Idee zu überzeugen, sondern auch, weil er ihm ein großzügiges Gehalt bezahlte und alle Freiheiten bezüglich seiner eigenen Ideen zugesagt hatte.

»Ich habe mich in den letzten Tagen selbst übertroffen«, schwärmte Thibault ohne falsche Bescheidenheit. Er trug eine blütenweiße Kochjacke mit modischen Paspeln am Kragen, dazu einen grauen Vorbinder über einer eleganten Designer-Jeans. Er reichte Arthur mit einer Zange das erste Praliné. »Probieren Sie!«

Die Umhüllung war aus feiner Zartbitterschokolade, wie man sie nur durch den hochwertigen Criollo-Kakao bekam. Die weiche Füllung, die Ganache, bestand aus weißer Schokolade und diversen schwer auszumachenden Aromen.

»Ich habe mich bei der Füllung von Wild- und Gartenkräutern inspirieren lassen«, erklärte Thibault stolz. »Bei dieser Sorte habe ich der weißen Schokolade leuchtend grünen Koriander hinzugefügt. Etwas Zitrone balanciert die Süße schön aus. Was halten Sie davon?«

»Sehr anregend und dennoch nicht zu aufdringlich«, lobte Arthur. »Etwas in dieser Art habe ich noch nirgendwo anders gekostet. Kompliment, mein Freund!« Thibault zeigte sich geschmeichelt.

»Es ist mir eine Ehre, für Ihre Chocolaterie zu arbeiten.« Er reichte Arthur als Nächstes einen Trüffel, dessen Hülle aus weißer Schokolade bestand, die mit Pistaziensplittern dekoriert war. Auch hier erwartete Arthur ein besonderes Geschmackserlebnis. Der Reihe nach probierte der Firmenchef nun die übrigen Kunstwerke, denen essbarer Lavendel, Bergamotte-Tee sowie Himbeeren und Meersalz beigefügt waren. Insgesamt vertraten sie verschiedene Produktlinien, die sich der Schokoladenkünstler ausgedacht hatte. Um die letzte Praline machte Thibault ein besonderes Aufhebens.

»Dies ist die Königin meiner Künste«, pries Thibault sein letztes Kunstwerk an. »Die alkoholisierte Praline vereint einfach alles, was es an höchster Handwerkskunst in meinem Metier gibt. Feinste Criollo-Schokolade aus unseren Bio-Plantagen mit ihrem fruchtigen Geschmack aus natürlicher Süße und feinen Zitrusnoten trifft auf eine Ganache, die mit dem besten Marc der Provence hergestellt wurde. Eine königliche Hochzeit von Kakao und Tresterschnaps, der übrigens von Louis Viale aus Vacqueiras stammt. Sein Marc hat es innerhalb kürzester Zeit zu internationalem Renommee geschafft. Bitte beachten Sie auch die gelungene Trauben-Deko aus weißer Schokolade, die das Kunstwerk auch schon äußerlich zu etwas ganz Besonderem macht …« Thibaults schwarze Augen funkelten erwartungsvoll, als er ihm seine Top-Création samt Tablett unter die Nase hielt. Arthur fühlte sich von dessen Begeisterung unweigerlich angesteckt. Auch äußerlich machte die Praline einiges her. Sie hatte die Form einer dunklen Kakaoschote, auf der hauchzart eine Rebe mit Trauben aus weißer Schokolade aufgebracht war. Als er in die Praline biss, begriff er sofort, dass der Maître mit seinen Lobpreisungen nicht übertrieben hatte. Mit dieser Praline war ihnen die Auszeichnung sicher!

Tag 2

3

Als Rosalie am nächsten Morgen das Folies Folles aufschloss, hatte der Mistral zum Glück nachgelassen. Mit derselben Unberechenbarkeit, mit der der Wind die Menschen überfiel, verschwand er auch wieder. Mit dem Wetterwechsel besserte sich sofort die Laune der hiesigen Menschen, die nun endlich den Aufenthalt im Freien wieder genießen konnten.

»Guten Morgen«, rief Josette, die gerade die Gasse entlangkeuchte. Rosalie hatte die Besitzerin des Zeitschriftenladens normalerweise eher schlurfend in Erinnerung. Heute hingegen trug sie Sportklamotten, die ihrer hageren Erscheinung ein noch merkwürdigeres Aussehen verliehen. Die engen weißen Leggins betonten unvorteilhaft ihre dünnen, knochigen Beine. Rosalie musste unwillkürlich an die Gliedmaßen eines Skeletts denken. Aber auch das knallbunt gemusterte Funktionshemd und das dazu passende Schweißband in ihrem grauen Wuschelkopf machten nicht gerade eine Schönheit aus ihr. An ihrem Handgelenk trug sie einen nagelneuen, pinkfarbenen Fitness-Tracker, dessen Display sie nicht aus den Augen ließ, während sie trippelnd vor Rosalie verharrte.

»Seit wann treibst du denn Sport?« Rosalie gelang es kaum, den Spott in ihrer Frage zu unterdrücken.

»Seit heute! Ich werde im Mai beim Dorflauf von Vassols mitmachen«, antwortete Josette wichtig.

»Und dafür willst du dich quälen?«

»Es ist für einen guten Zweck. Außerdem war ich als junges Mädchen einmal ziemlich sportlich.«

Rosalie bezweifelte dies stirnrunzelnd. »Aber das ist ein Zehn-Kilometer-Lauf! Bist du sicher, dass du überhaupt ins Ziel kommst?«

»Natürlich«, behauptete Josette selbstbewusst. »Ich habe doch das hier!« Sie deutete auf ihr Monstrum am Arm. »Das ist ein Computer, der mich Stück für Stück auf mein Ziel vorbereiten wird. Er steht in Verbindung zu meinem Smartphone, auf dem mein Trainingsplan gespeichert ist. Da kann gar nichts mehr schiefgehen!« Sie wollte gerade noch etwas hinzufügen, als ihr Tracker zu piepsen begann. Plötzlich hatte sie keine Zeit mehr. »Ich muss dann los! Zwei Minuten sprinten«, verkündete sie wichtigtuerisch. Sie winkte ihr zu und trabte weiter in Richtung Dorfrand.

Während Rosalie ihr kopfschüttelnd hinterhersah, bog Lucinde Ligier um die Ecke. Ihre Freundin, die mit ihrem Mann den örtlichen Supermarkt betrieb, war heute ihre erste Kundin.

»Komm schon mal rein! Ich bin gleich so weit«, meinte Rosalie, während sie ihren Laden aufschloss und Lucinde hineinließ. Sie schaltete das Licht ein und fuhr die Kasse hoch. Lucinde setzte sich unterdessen auf ihren Lieblingsplatz und summte zufrieden vor sich hin. Rosalie fiel die Veränderung sofort auf. Lucindes vorrangige Eigenschaften waren chronische Unzufriedenheit und ein missmutiges Auftreten. Sie gehörte zu der Sorte Frauen, die ihr gutes Aussehen geschickt hinter Griesgrämigkeit und Nörgelei zu verstecken wussten. Nichts davon war heute zu spüren.

»Ist das nicht ein herrlicher Tag heute?«, meinte Lucinde verträumt. Sie rekelte sich wohlig auf ihrem Frisierstuhl, als läge sie auf einem Liegestuhl am Strand. »Ich glaube, heute ist ein guter Zeitpunkt, um etwas ganz Neues auszuprobieren. Ich möchte einen Haarschnitt, der mich jünger aussehen lässt und mir neuen Schwung verleiht. Er soll zu meinem neuen Outfit passen. Hast du eine Idee?«

Rosalie verkniff sich eine Bemerkung und brachte ihrer Kundin stattdessen einen Stapel Modezeitschriften, die sie durchblättern konnte. »Hier kannst du mal nachsehen«, schlug sie vor. »Aber wenn du meine Meinung hören willst, dann schlage ich dir vor, endlich auf den strengen Mittelscheitel zu verzichten und die Haare asymmetrisch zu schneiden. Wenn du Mut hast, tendiere ich sogar zu einem kleinen Undercut.«

Zu ihrer Überraschung war Lucinde sofort damit einverstanden. Seit sie vor knapp zwei Jahren den Haarsalon ihrer Tante Babette übernommen hatte, kämpfte Rosalie darum, Lucinde von ihrem eigenwilligen Modebewusstsein zu befreien. Diese hatte ein Händchen dafür, immer die falschen Accessoires für ihren Typ auszusuchen. Obwohl sie eine herbe Schönheit mit deutlich römischem Profil und blonden, glatten Haaren war, stand sie auf mädchenhafte Rüschenkleider mit Volants und Firlefanz aus Glitter, die wie eine Verkleidung an ihr aussahen. Rosalie hatte ihr die Diskrepanz zwischen ihrem Typ und ihrem Kleidungsstil schon mehrfach zu erklären versucht, bislang jedoch ohne Erfolg. Doch plötzlich schien Lucinde wie verwandelt. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, trug sie etwas, das zu ihrem Stil passte. Die dunkelblaue Jeans mit den modischen Sneakers, dazu einen senffarbenen Baumwollpullover mit U-Boot-Ausschnitt und einer schlichten Perlenkette wirkten an ihr sehr vorteilhaft.

»Du siehst heute umwerfend aus«, bemerkte Rosalie, während sie ihr den Frisierumhang umlegte. »Dein neues Outfit hat was.«

»Das Kompliment habe ich heute schon einmal gehört«, gab Lucinde verträumt zu. Rosalie hob verwundert die Augenbrauen.

»Habt ihr heute Hochzeitstag?«

»Hochzeitstag?« Lucinde sah Rosalie verblüfft an. Kurz darauf begann sie herzlich zu lachen. »Hervé hat damit rein gar nichts zu tun.« Sie überlegte einen Augenblick. Dann traf sie eine Entscheidung. »Ich habe mich auf einem Onlineportal angemeldet«, gestand sie ihr verlegen. »Die machen auch eine Typberatung, die ich nun erfolgreich abgeschlossen habe. Das Kompliment stammt also von meinem Berater, mit dem ich heute Morgen geskypt habe.«

»Hat dich Hervé zu dieser Sache ermutigt?«

»Ach, Hervé!« Lucinde winkte erneut verächtlich ab. »Was der denkt, kümmert mich nicht wirklich. Der hat doch keine Ahnung von solchen Dingen!«

»Ich hatte immer das Gefühl, dass ihm sehr viel daran liegt, dass du dich wohlfühlst«, nahm Rosalie Lucindes Mann in Schutz. Hervé war ein großherziger, gutmütiger Mann, der stets alle Rechnungen seiner Frau widerspruchslos beglich. Allerdings war es auch kein Geheimnis, dass die Beziehung der beiden eher einem gewissen Nutzen diente, als dass sie von Liebe geprägt war. Außer ihrem Laden hatte das Paar so gut wie keine Gemeinsamkeiten. Man sah sie nur selten zusammen, weil jeder seiner eigenen Wege ging. Keiner im Dorf konnte sich so richtig erklären, weshalb der gemütliche Hervé mit seiner künstlerischen, weichen Ader und die herbe, nüchterne Lucinde überhaupt zusammengefunden hatten. Es ging das Gerücht, dass sie nur wegen des Pachtvertrages für den Supermarkt geheiratet hatten. Die Kette, für die sie arbeiteten, nahm nur Ehepaare unter Vertrag.

»Hervé mag ja ganz nett und großzügig sein«, gab Lucinde widerwillig zu. »Aber auf Dauer reicht mir das nicht mehr!«

»Habt ihr eine Krise?«

Lucinde schüttelte unwirsch den Kopf. »Nein, haben wir nicht! Ich habe nur in letzter Zeit festgestellt, dass ich etwas verändern möchte. Ich fühle mich einfach zu jung, um hier auf Dauer zu versauern. Und jetzt möchte ich, dass du endlich loslegst.« Damit beendete sie abrupt das Thema, und die beiden Frauen besprachen Lucindes neue Frisur.

Rosalie freute sich auf ihr neues Projekt und stürzte sich mit Feuereifer in die Arbeit. Sie wusch ihrer Freundin die Haare und verpasste ihr daraufhin einen asymmetrischen, schulterlangen Schnitt, der sie sofort um fünf Jahre jünger aussehen ließ. Während der Prozedur unterhielten sie sich nur über belanglose Dinge. Beschwingt von dem Resultat ließ sich Lucinde auch noch zu ein paar helleren Glanzlichtern überreden, die die harte Wirkung ihres Gesichts etwas abmildern sollten. Während Rosalie ihr die Farbe mit einem Kamm dezent auftrug, kam Lucinde nochmals von sich aus auf ihre persönliche Situation zu sprechen.

»Früher dachte ich immer, dass es reicht, wenn man einen Job und ein einigermaßen sorgloses Leben hat«, bekannte sie freimütig. »Hervé dachte ähnlich. Als wir uns vor Jahren kennenlernten, passte einfach vieles zusammen. Wir hatten beide denselben Beruf und wollten gerne selbstständig arbeiten. Außerdem waren wir beide Singles, wir mochten uns, hatten aber keine große Vorstellung von der wahren Liebe. Kinder wollten wir beide nicht. Ich dachte immer, das reicht aus, um einigermaßen glücklich zu sein. Als dann das Angebot kam, den Dorfladen zu übernehmen, haben wir nicht lange gezögert und geheiratet. Eine ganze Weile waren wir damit auch beide zufrieden. Doch vor einiger Zeit begann ich mich zu fragen, ob das wirklich alles ist, was das Leben noch für mich bereithält …« Sie legte eine kleine Pause ein. »Du hingegen …« Sie warf Rosalie einen Blick zu, den diese nur schwer zu deuten vermochte. »Als ich neulich gesehen habe, wie glücklich du mit Vincent bist, da ist mir plötzlich klar geworden, dass ich solch ein Gefühl auch einmal erleben möchte.« Sie kicherte unsicher. »Kannst du das verstehen?«

Rosalie musste nicht lange überlegen. »Klar kann ich das!«

Lucinde stieß einen tiefen Seufzer aus. »Und ich wollte endlich auch einmal die große Liebe spüren! Deswegen habe ich mich auf einem Dating-Portal angemeldet.«

»Du hast dich was?« Rosalie ließ ihren Kamm fallen. Zum ersten Mal, seit sie Lucinde kannte, überraschte die Freundin sie. »Hast du keine Angst, dass du an den Falschen gerätst?«

»Natürlich habe ich mir ein seriöses Portal ausgesucht«, entgegnete Lucinde pikiert. »Außerdem ist das alles mehr oder weniger nur ein Spiel. Ich will einfach sehen, wie hoch mein Marktwert noch ist.«