Mademoiselle Rosalie und der Tote im Weinkeller - Julie Lescault - E-Book
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Mademoiselle Rosalie und der Tote im Weinkeller E-Book

Julie Lescault

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Beschreibung

Ein Provence-Krimi

Der Roman ist bei Goldmann bereits unter der dem Titel »Rosalie und das Land des Lichts« erschienen.

Die Muskatweine von Beaumes de Venise sind ein süßer Traum. Eher albtraumhaft hingegen ist der Fund, den eine Touristin bei der Führung durch den Weinkeller macht: Sie entdeckt eine abgetrennte Männerhand. Die passende Leiche dazu findet die Polizei kurz darauf in einem Säurefass: Es handelt sich um den Buchhalter Patrice Meunier. Als sich Hobbydetektivin Rosalie zum Unmut des Commissaire in den Fall einmischt, kommt sie schon bald dem Mordmotiv auf die Spur: ein Skandal, von dem Meunier offensichtlich wusste. Doch weder die Polizei noch Rosalie erkennen, dass Meuniers Schwester in größter Gefahr schwebt, denn die junge Frau hat den Mord beobachtet …

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Seitenzahl: 470

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Buch

Die Muskatweine von Beaumes-de-Venise sind ein süßer Traum. Eher albtraumhaft hingegen ist der Fund, den eine Touristin bei der Führung durch den Weinkeller macht: Sie entdeckt eine abgetrennte Männerhand. Die passende Leiche dazu findet die Polizei kurz darauf in einem Säurefass: Es handelt sich um den Buchhalter Patrice Meunier. Als sich Hobbydetektivin Rosalie zum Unmut des Commissaire in den Fall einmischt, kommt sie schon bald dem Mordmotiv auf die Spur: ein Skandal, von dem Meunier offensichtlich wusste. Doch weder die Polizei noch Rosalie erkennen, dass Meuniers Schwester in größter Gefahr schwebt, denn die junge Frau hat den Mord beobachtet …

Informationen zu Julie Lescaultsowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Julie Lescault

Rosalie und das Land des Lichts

Ein Provence-Krimi

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Dieser Roman ist bereits unter dem Titel »Rosalie und das Land des Lichts« im Goldmann Verlag erschienen

Copyright © 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Redaktion: Rainer Schöttle

BH · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-25810-8V001

www.goldmann-verlag.de

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Rosalie und ihre Freunde aus Vassols

Bonjour! Mein Name ist Rosalie LaRoux. Ich bin von Beruf Haarkünstlerin und habe von meiner Tante einen kleinen Frisörsalon in Brillon-de-Vassols geerbt. Unser beschauliches Dorf liegt im Herzen der Provence direkt am Fuße des majestätischen Mont Ventoux. Zugegeben, bin ich nicht ganz freiwillig an den Ort meiner Jugend zurückgekehrt. Hätte mich nicht eine Klausel im Testament meiner Tante gezwungen, dort zu bleiben, hätte ich wohl niemals mein Vagabundenleben aufgegeben. Doch mittlerweile gefällt es mir hier ganz gut, denn in Vassols gibt es mehr kriminelle Taten und Geheimnisse aufzudecken, als man von einem Provinznest erwarten könnte. Mein Steckenpferd ist nämlich das Aufklären von Verbrechen. Dadurch gerate ich immer wieder mit meinem Halbbruder Commissaire Maurice Viale aneinander. Er kann es nicht leiden, wenn ich meine Nase in Polizeidinge stecke. Unser Verhältnis war immer schon schwierig, da ich das unfreiwillige Ergebnis eines Seitensprungs unseres angesehenen Vaters Bertrand bin.

Trotz meiner Tätigkeit als Hobbydetektivin wäre mein Leben in Vassols nur halb so aufregend, gäbe es nicht seine liebenswerten Dorfbewohner. Allen voran zwei überaus attraktive Männer, die beide ihre Vorzüge haben, was zu der einen oder anderen Verwirrung in meinem Privatleben führt: Der zurückhaltende und sehr kultivierte Vincent Olivier war früher Pathologe der Gerichtsmedizin in Paris und hat nun die Dorfapotheke übernommen. Rachid Ammari hingegen ist eher der gemütliche Typ, humorvoll, kreativ und überaus hilfsbereit. Eigentlich ist er Architekt, aber im Augenblick unterstützt er seine Mutter Zora in ihrem Gemüseladen. Rachids Familie stammt wie meine Mutter aus Algerien.

Des Weiteren leben in Vassols noch Josette Balbu und ihre Hassfreundin Arlette Farnaud; die schrullige Inhaberin des »Magasin du Journal« und die dralle nationalistische Bäckerin tragen das meiste zum Dorftratsch bei. Dem gutmütigen Riesen Joseph und der aufreizenden Maryse gehört die örtliche Bar und Brasserie »Le Mistral«. Und dann gibt es noch das etwas undurchsichtige Ehepaar Lucinde und Hervé Ligier, die den örtlichen Lebensmittelladen betreiben sowie Philippe Arduin, unseren Dorfpolizisten mit Hang zu Höherem. Trotz oder gerade wegen dieser (nicht immer ganz) liebenswerten Menschen geht es in Vassols oft hoch her. Eines ist garantiert: Tödlich langweilig wird es hier nie – eher mörderisch aufregend!

Prolog

Es war einer jener Tage im September, an denen sich das Morgenlicht sanft und seidig über der Landschaft des Vaucluse ausbreitete. Die Gewittergüsse der vergangenen Tage hatten den ausgetrockneten Böden ein frisches Grün beschert. Zartes, neues Leben, wo vor Kurzem noch trockenes Sommerbraun vorherrschte. Kaum hatte sich der Tau der Nacht verzogen, blitzte der Himmel nun blank und blau über den weiten Weinfeldern, deren Reben sich unter der Schwere der reifen Trauben bereits zu biegen begannen.

Am Horizont, von der aufgehenden Sonne beschienen, hoben sich die scharfkantigen Kalkfelsen der Dentelles de Montmirailles. Wie die gehäkelten Spitzen eines traditionellen Tischtuches ragten mehrere Felskämme in parallelen Reihen aus der Rhône-Ebene. Im samtweichen Licht des Morgens wurde die feinzackige, oftmals von Felsenfenstern durchbrochene Gipfelkette so beleuchtet, als würde sie von innen heraus glühen. Der westlich gelegene und weitaus höher aufragende Mont Ventoux wirkte neben dem pittoresken Felsengebilde wie der große Bruder, der aus der Ferne das Geschehen beobachtet.

Ein heiterer Frieden lag über der Landschaft, der nur durch das Rattern von Traktoren und Erntemaschinen unterbrochen wurde. Doch selbst das gehörte dazu, denn im September begann die vendange – die Zeit der Traubenernte.

Auf den kleinen Weinfeldern rund um das Dorf Beaumes-de-Venise wurden die Früchte nach alter Tradition von Hand gelesen. Die Rebsorte des Muscat blanc à petits grains durfte nur auf einer kleinen Fläche angebaut werden und stellte die Grundlage für den berühmten französischen Likörwein dar. Der Muscat de Beaumes-de-Venise war ein weit über die Landesgrenzen hinaus bekannter, natürlicher Süßwein, der auch in der Spitzengastronomie äußerst begehrt war. Überall zwischen den halbhohen Rebenreihen tummelten sich Erntehelfer. Sorgfältig begutachteten sie jede einzelne Traube, wägten ab, ob sie gesund und reif waren, bevor sie sie abschnitten und locker auf die Schüttkörbe legten. So mühsam die Arbeit auch war, sie hatte im Gegensatz zu den modernen Traubenvollerntemaschinen den Vorteil, dass faule, unreife und kranke Trauben nicht in das wertvolle Traubengut gelangten, eine wichtige Voraussetzung, um wirklich herausragenden Wein ausbauen zu können. Der hohe Reifegrad dieser speziellen Trauben war deshalb so entscheidend, weil die Vorschrift für eine kontrollierte Herkunftsbezeichnung vorsah, dass der Traubenmost mindestens 252 Gramm Zucker pro Liter enthalten musste. Das hohe Mostgewicht bedingte wiederum, dass der Basisertrag nur sehr gering war, was den Likörwein umso wertvoller machte.

Die Stimmung unter den Winzern und Erntehelfern war in diesem Jahr sehr gut. Nach der langen Trockenheit im Sommer hatte es rechtzeitig einige Gewitter mit ausgiebigen Regenschauern gegeben, was der Qualität der Trauben zugutegekommen war. Die diesjährige Ernte schien vielversprechend zu werden. Aus einem tragbaren Radiogerät, das schon bessere Tage gesehen hatte, tönte Popmusik vom Sender NRJ:

»Und wieder einmal neigt sich der Sommer seinem Ende zu«, verkündete soeben der Moderator mit aufgekratzter Stimme. »Die vendange hat begonnen! Bleibt zu hoffen, dass der Wein das hält, was die Ernte verspricht. Passend zu dem Thema möchte ich von euch wissen, was eure Lieblingsgetränke über den Sommer waren: die wunderbaren Weine unserer Region oder doch lieber angesagte Cocktails oder ein frisch gezapftes Bier? Lasst es mich wissen und ruft unter folgender Nummer an …« Der Moderator gab eine Nummer durch und kicherte affektiert. »Mir persönlich ist ja ein gut gezapftes belgisches Bier tausendmal lieber als Wein. Und wenn ich mich so umhöre, stehe ich mit dieser Meinung nicht allein da! Wobei ich es mir natürlich nicht mit den Weintrinkern unter euch verderben will. Soll doch jeder trinken, was er gern mag. Hauptsache, ihr kommt in Stimmung! Freut euch auf jetzt auf Stromae und den Megahit ›Formidable‹. Der Junge geht einfach ab. Formidable! …«

»Was für ein idiotisches Gewäsch«, murrte der alte Gaston kopfschüttelnd. »Der Kerl vom Radio hat doch keine Ahnung von dem, was er da quatscht! Ein gut ausgebauter Wein ist und bleibt die Krönung aller Getränke, zumindest für einen Franzosen!«

»Für dich vielleicht, Papi! Wir jungen Leute mögen eben die Abwechslung!«, frotzelte sein sechzehnjähriger Enkel, der eine Reihe hinter ihm Trauben pflückte. »Eine Flasche Wodka unter Freunden zündet eben mehr als ’ne Flasche Wein!«

»Schäm dich, Christian!«, wetterte Gaston empört. »Du wirst eines Tages das Weingut deines Vaters übernehmen. Da erwarte ich schon ein wenig mehr Respekt. Parbleu!«

»Ich werde ganz bestimmt kein Winzer werden«, konterte der Jugendliche patzig. »Das ganze Jahr diese öde Plackerei für das bisschen Geld, das ist nichts für mich. Ich werde ein YouTuber. Da kann man es noch zu etwas bringen!«

»Mach erst mal deinen Schulabschluss, du Angeber«, mischte sich nun die Mutter des Jungen ein. »Wenn du es dieses Jahr nicht schaffst, wird sich niemand auf dem freien Arbeitsmarkt für dich interessieren. Dann musst du froh sein, wenn dein Vater dich noch als Hilfskraft anstellt.«

Die harschen Worte der Mutter brachten den Jungen tatsächlich zum Verstummen. Mit einem trotzigen Blick in ihre Richtung zog er seine Ohrhörer aus der Hosentasche und steckte sie sich in die Ohren, um seine eigene Musik zu hören.

»Sei nicht so streng mit dem Jungen, Gabrièla!« Der noch eben empörte Großvater nahm überraschend Partei für seinen Enkel. »Solche Flausen sind in seinem Alter doch ganz normal. Der Junge wird schon noch zur Besinnung kommen! Du wirst sehen!«

»Mir ist es ja egal, was er später einmal macht«, behauptete die Mutter. »Hauptsache, er …« Ihre Aufmerksamkeit wurde plötzlich von etwas anderem abgelenkt. »Mon Dieu, was ist das denn?« Gabrièla deutete auf die Gestalt, die sich zwischen den Weinstöcken in ihre Richtung bewegte. Die Person torkelte und fiel mehrmals auf die Knie, als wäre sie verletzt oder betrunken. Als sie näher kam, erkannten sie, dass es sich um ein junges Mädchen in einem bunten Sommerkleid handelte. Ihr dichtes dunkelbraunes Haar fiel ihr strähnig über die Schultern. Sie machte einen verwirrten Eindruck. Den Blick starr in die Ferne gerichtet, wankte sie an ihnen vorüber, als wären sie gar nicht vorhanden. Ihre Miene war ausdruckslos, allerdings überzogen dicke Tränenspuren das schmutzige Gesicht. Plötzlich erkannte Gabrièla das Mädchen und erschrak umso mehr.

»Bist du nicht Philine aus Vassols?« Die Winzerin eilte entschlossen auf sie zu und verstellte ihr den Weg. »Um Gottes willen, was ist denn geschehen? Hast du dich verlaufen?«

Wie vom Donner gerührt, blieb das vielleicht fünfzehnjährige Mädchen stehen und erstarrte. Im nächsten Augenblick durchlief ein Zittern ihren ganzen Körper, als hätte sie einen Stromschlag erhalten. Dann starrte sie die ältere Frau an, als wäre sie ein Geist, und stieß einen gellenden Schrei aus, bevor sie sie unsanft von sich stieß und schluchzend in Richtung Dorf davonrannte. Gabrièla, die durch den Stoß ins Wanken geraten war, sah ihr kopfschüttelnd hinterher. »Was hat die denn geritten?«, fragte sie ihre beiden Begleiter, die nun ebenfalls ihre Arbeit unterbrochen hatten. »Die war ja ganz außer sich!«

»Die beruhigt sich schon wieder! Du weißt doch selbst, dass sie …« Ihr Schwiegervater tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und sah sie bedeutungsvoll an. Gabrièla nickte. Jeder im Dorf wusste, dass die kleine Philine verrückt war. Sie sah dem Mädchen noch eine Weile nach. Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu.

Tag 1 Sonntag

1

Vincent erreichte gerade die Plattform des Gare TGV, als die Lautsprecheransage das Einfahren des Zuges verkündete. Mit quietschenden Rädern glitt der silberfarbene Schnellzug auf die futuristisch aussehende Plattform des Bahnhofs von Avignon und kam schließlich zum Halten. Im gleißenden Licht der Mittagssonne fluteten die Passagiere aus dem Inneren des Schnellzugs und verteilten sich wie Ameisen über den Bahnsteig. Vincent sah sich nach den beiden Personen um, die er erwartete, konnte jedoch in dem Durcheinander zunächst nichts erkennen. Er ließ den Blick angestrengt über die Menge gleiten, dabei übersah er fast Rosalie, die plötzlich wie eine Erscheinung vor ihm stand. Sein Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich, als sie lächelnd auf ihn zusteuerte. Wie eine Dame von Welt wirkte sie in ihrem eleganten cremefarbenen Hosenanzug, als sie selbstbewusst ihren Trolley über den Bahnsteig zog. Ihre rote Haarpracht hatte sie locker hochgesteckt, sodass einzelne Löckchen neckisch ihr Gesicht umspielten. Die graugrünen Augen blitzten freudig, als sie Vincent gegenüberstand.

»Was ist? Möchtest du mich nicht begrüßen?«

Ihr Lächeln war spöttisch. Er räusperte sich verlegen, weil es ihm kaum gelang, seinen Blick von den sternförmigen Grübchen auf ihren Wangen zu lösen. Schließlich war sie es, die ihn umarmte und auf beide Wangen küsste. Eine Mischung aus Rosen- und Maiglöckchenduft stieg ihm aufregend angenehm in die Nase. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte er ewig in dieser Position verharren können. Doch sie löste sich viel zu schnell von ihm.

»Schön, dass du da bist«, strahlte sie ihn weiterhin an. Ihre Herzlichkeit überflutete Vincent wie eine Woge von angenehmen Gefühlen. Dann erst wurde er gewahr, dass Rosalies Begleiter noch fehlte.

»Wo ist Joël?«, erkundigte er sich und sah sich suchend um.

»Er ist noch in Paris!« Rosalie hob vielsagend die Augenbrauen und zuckte mit der Schulter. »Er kommt erst morgen zurück.« Als sie seinen fragenden Blick bemerkte, erklärte sie es ihm. »Rachid ist bei ihm und bringt ihn rechtzeitig zum Zug. Er hilft Joël dabei, etwas Wichtiges zu erledigen.«

»Ah, Rachid!« Vincent musste schlucken, bevor er weitersprach. »Mir war nicht bewusst, dass er auch in Paris ist!« Er verspürte sofort einen Anflug von Eifersucht. War sein Freund und ewiger Konkurrent um Rosalies Gunst am Ende doch bei ihr gelandet? Die beiden mussten sehr vertraut miteinander sein, wenn sie gemeinsam in Paris gewesen waren.

»Er muss dort für seinen neuen Job eine Fortbildung machen«, erklärte Rosalie, seine säuerliche Miene ignorierend. »Er war Joël und mir wirklich eine große Hilfe. Ohne ihn und seine Kontakte hätten wir Fatima, seine große, verlorene Liebe, wohl nie aufgespürt. Er hat es wirklich drauf!«

Vincent befriedigte die Antwort nicht wirklich. »Das freut mich für Joël«, bemühte er sich zu sagen und schalt sich gleichzeitig für seine lächerlichen Gefühle. »Dann sind die beiden nun wieder glücklich vereint?«

Rosalie schüttelte bedauernd den Kopf. »Weit entfernt davon. Joël weiß jetzt nur, wo sie wohnt – was daraus wird, wissen die Götter. Nachdem Fatima im Frühjahr plötzlich von ihrer Familie verschleppt wurde, hatte der arme Junge kaum Anhaltspunkte. Er wusste nur, dass sie in Paris bei Verwandten lebt. Sie selbst hat sich nie gemeldet. Joël redet sich ein, dass ihre Liebe unvergänglich ist. Er bestand darauf, sie zu sehen. Vorher wollte er nicht nach Hause. Wenn alles klappt, wie er es sich vorstellt, treffen sie sich vielleicht heute. Aber wie gesagt, ob das so eine gute Idee ist …« Sie sah Vincent nachdenklich an. »Die Verwandten, bei denen ihr Vater sie untergebracht hat, scheinen ganz sympathisch zu sein. Fatima macht einen zufriedenen Eindruck. Außerdem besucht sie wieder das Lycée und wird nächstes Jahr ihren Abschluss machen.«

»Das hört sich doch gut an! Sobald Fatima achtzehn ist, kann sie doch tun und lassen, was sie will …«

»Als wenn das so einfach wäre!« Rosalie schnaubte ungehalten. »Aus dem Kulturkreis, aus dem sie stammt, löst man sich nicht so einfach, nur weil man achtzehn wird.« Sie sah ihm offen in die Augen. »Ich fürchte, Joël und sie werden niemals den Segen ihrer Familie bekommen. Sie sind alle sehr strenggläubig, einen Christen würden sie niemals in ihren Kreisen dulden. Außerdem ist sie bereits einem Cousin in Algier versprochen. Das allein birgt noch jede Menge Dynamit, wenn du mich fragst. Doch der Junge will das verständlicherweise nicht einsehen. Er ist so in das Mädchen vernarrt, dass er das alles nicht sehen will. Er muss wohl seine eigenen Erfahrungen machen.«

»Und Fatima? Meinst du, sie liebt Joël noch?«

Rosalie zuckte unschlüssig mit den Schultern. »Keine Ahnung. Sie möchte sich immerhin mit ihm treffen. Deswegen war er auch nicht davon abzuhalten, noch einen Tag länger zu bleiben, obwohl seine Eltern mir deswegen die Hölle heiß machen werden. Dummerweise konnte ich meine Abreise nicht verschieben. Mein Laden wartet auf mich. Außerdem werde ich auch hier gebraucht. Familiendurcheinander, wenn du verstehst!« Vincent wartete darauf, dass sie es ihm erklärte. »Bei Louis und Papa wohnt seit ein paar Tagen ein deutscher Austauschschüler. Nun hat sich Louis aber dummerweise das Bein gequetscht und fühlt sich mit dem Jungen total überfordert. Er hat mich angefleht, ihn zu erlösen. Ziemlich viel Durcheinander, wenn du mich fragst …«

»Was macht Louis denn mit einem Austauschschüler?«, wunderte sich Vincent. »Er hat doch gar keine Kinder.«

»Der Junge ist bei ihm und Papa doch nur zwischengeparkt«, erklärte Rosalie leicht genervt über seine Begriffsstutzigkeit. »Sobald Maurice aus seinem Urlaub zurück ist, zieht der Deutsche zu ihm um. Papa, der alte Sturkopf, kann es kaum mehr erwarten, den Jungen loszuwerden. Er ist es einfach nicht mehr gewohnt, junge Menschen um sich zu haben. Auf jeden Fall klang Louis ziemlich echauffiert. Ich werde wohl später bei ihm vorbeisehen müssen, obwohl ich wirklich keine Lust habe, mich in diese Männergeschichten einzumischen.«

Vincent war klug genug, nicht weiter an der Geschichte zu rühren. Er wusste nur allzu gut, wie schwierig das Verhältnis zwischen Rosalie, dem Vater und ihren Brüdern war. Er nahm ihren Koffer und dirigierte sie in Richtung Ausgang. Sein Auto stand auf dem Parkplatz vor dem futuristisch anmutenden Bahnhofsgebäude.

Nachdem er den Parkschein gelöst hatte, verlud er ihr Gepäck im Kofferraum. Rosalie hatte in der Zwischenzeit schon auf dem Beifahrersitz Platz genommen und kontrollierte im Spiegel ihr Äußeres. Als er einstieg, zog sie gerade mit dem Lippenstift ihre vollen Lippen nach. Sie spürte seinen bewundernden Blick auf sich und kräuselte belustigt die Stirn. Vincent fühlte sich sofort befangen. Er startete umgehend den Motor und fuhr los.

Während sie in Richtung Carpentras auf die Schnellstraße abbogen, beschäftigte sich Rosalie mit ihrem Handy. Es herrschte reger Verkehr, der sich immer wieder staute. Deswegen beschloss Vincent, über Nebenstraßen nach Brillon-de-Vassols zu fahren. Während er sie über die Dörfer kutschierte, begegneten ihnen überall Erntemaschinen und Traktoren. Zwischen den Weinreben waren Erntehelfer bei der Arbeit. Rosalie hatte ihr Handy beiseitegelegt und sah gedankenverloren aus dem Fenster.

Ob sie wohl an Rachid dachte? Vincent hasste sich für diesen Gedanken und rief sich seinen festen Vorsatz in Erinnerung, sich diese Frau endlich aus dem Kopf zu schlagen. Frauen wie Rosalie standen eben nicht auf solche Langeweiler, wie er es war. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, begann sie über Paris zu plaudern.

»Wusstest du, dass Paris eine der am dichtesten besiedelten Städte Europas ist und es dort über achttausend Cafés gibt?«, plauderte sie, ohne eine Antwort von ihm zu erwarten. »Wenn man die Stadt von Nord nach Süd als Fußgänger durchqueren wollte, bräuchte man zweieinhalb Stunden und wäre immer nur zwischen Beton und Autolawinen unterwegs. In den fünf großen Kaufhäusern gibt es etwa siebzehneinhalbtausend Boutiquen, die im Jahr an neunundsechzig Tagen Ausverkauf haben. Das ist einfach nur krass … Allein die Vorstellung erzeugt bei mir eine Gänsehaut. Abgesehen davon, dass mir zum ausgiebigen Shoppen ohnehin das nötige Kleingeld fehlt.« Gedankenverloren starrte sie aus dem Fenster.

»Das hört sich nicht sehr begeistert an«, bemerkte Vincent amüsiert. »Ich dachte immer, Paris wäre deine Traumstadt!« Rosalie verzog unwillig den Mund. »Noch vor ein paar Monaten hätte ich alles gegeben, um dort zu leben, aber nun …« Ihr Blick wanderte für einen kurzen Augenblick zerstreut zu ihm, bevor er wieder zur Straße glitt und den Rest des Satzes in der Luft hängen ließ.

»Und nun hast du deine Meinung geändert?« Vincent vollendete den Satz für sie. Ihre Launen liebte er ebenso wie ihre Sprunghaftigkeit. »Du möchtest damit aber nicht etwa andeuten, dass es dir mittlerweile bei uns in Vassols gefällt, oder?« Es war schließlich ein offenes Geheimnis, dass sie nur in Brillon-de-Vassols geblieben war, weil es das Testament ihrer verstorbenen Tante Babette verlangt hatte. Rosalie widersprach ihm so prompt wie auf Knopfdruck.

»Natürlich nicht!«, konterte sie bissig. »Sobald die fünf Jahre um sind, hält mich hier in der Provinz nichts mehr!« Ihre Augen blitzten verärgert. »Ich wollte damit lediglich andeuten, dass Paris größere …«

Vincent sollte nicht erfahren, was Rosalie damit meinte, denn direkt vor ihnen rannte ein maskierter Mann über die Straße. Er hatte eine Pistole in der Hand.

2

Vincent drückte scharf auf die Bremse und wich ihm aus. Vergeblich versuchte er seinen Wagen wieder unter Kontrolle zu bekommen und kam schließlich am Straßenrand zum Stehen. Den Mann sahen sie gerade noch hinter einer Zypressenhecke verschwinden. Er trug eine auffällige Clownsmaske.

»Da stimmt doch was nicht!«, rief Rosalie alarmiert. Sie deutete hektisch auf die Tankstelle, an der sie gerade vorbeigekommen waren. Die Tür stand weit offen.

Vincent reagierte sofort. Er riss die Fahrertür auf und hechtete dem Flüchtenden hinterher.

Bevor der Typ hinter der Zypressenhecke verschwand, fiel Rosalie nochmals die auffällige Clownsmaske auf, die seinen ganzen Kopf verdeckte, und noch immer hielt er die Waffe in der Hand. Sie befanden sich kurz vor der Ortsumfahrung von Beaumes-de-Venise. Das Tankstellengebäude lag so weit außerhalb der Ortschaft, dass niemand den Überfall bemerkt hatte. Als Rosalie Vincent ebenfalls hinter der Hecke verschwinden sah, bekam sie ein ungutes Gefühl. Sein Wagemut passte so gar nicht zu seinem Wesen. Außerdem – was geschah, wenn der Täter von seiner Waffe Gebrauch machte? Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, ob sie ihm ebenfalls folgen sollte, sah sie, wie der Tankstellenbesitzer aus dem Shop wankte. Sie entschied, sich erst um ihn zu kümmern.

»Das … das war ein Überfall!«, stammelte der etwa fünfzigjährige Mann. Trotz seiner braun gebrannten Haut war er aschfahl. Sein Atem ging schnell und unregelmäßig. »Der Kerl hat mir einfach eine Pistole vor die Nase gehalten!«

»Was für ein Idiot!« Rosalie bezog ihre Bemerkung sowohl auf den Täter als auch auf Vincent, der immer noch nicht zurückgekehrt war. Was zum Teufel hatte ihn nur geritten, mit einem Mal den Helden zu spielen? Besorgt sah sie zu der Hecke hinüber und war versucht, ihm zu folgen. Doch dann wurde ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Tankstellenbesitzer gelenkt, der plötzlich einem Nervenzusammenbruch nahe war.

»Sind Sie verletzt?« Der Mann antwortete nicht, er starrte sie nur an und zitterte dabei am ganzen Leib. Als sie ihn berührte, schien er sich langsam wieder von seinem Schock zu erholen. Dann begann er wie ein Wasserfall zu reden.

»Nein … ähm … nein! Ich bin in Ordnung. Ich meine, bis auf den Schreck, den mir der Kerl gerade versetzt hat. Erst ist er mir gar nicht groß aufgefallen, da ich noch bei einem anderen Kunden abkassiert habe, aber dann stand er plötzlich vor mir – mit dieser schrecklichen Maske mit den blau umrandeten Augen und der gelben Kappe. Der sah irgendwie aus wie der durchgeknallte Clown von Stephen Kings Es. Kennen Sie den Film?« Seine Augen flackerten vor Aufregung.

Rosalie klopfte dem Mann beruhigend auf die Schultern. »Keine Angst! Der Kerl tut Ihnen nichts mehr. Er ist längst auf und davon. Aber wir müssen sofort die Polizei verständigen!«

»Die Polizei?« Der Tankwart starrte sie erneut aus großen Augen an, dann nickte er. Rosalie zückte ihr Handy und wählte die Nummer von Maurice. Ihr Halbbruder war Lieutenant de Police bei der Police Nationale in Carpentras. Da er noch im Urlaub war, erreichte sie nur seinen Kollegen, Capitaine Duval. Sie teilte ihm die Umstände mit und bat dringend um Hilfe. Duval versicherte ihr seine Unterstützung.

»Die Flics werden gleich da sein«, beruhigte sie den Tankwart, nachdem sie aufgelegt hatte. »Der Capitaine sagt, Sie sollen im Laden auf die Polizei warten. Ist das in Ordnung? Ich werde noch so lange bei Ihnen bleiben.«

Der Mann sah Rosalie dankbar an. Die Tatsache, dass sich jemand um ihn kümmerte, hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn. Rosalie führte ihn in das Innere des Tankstellengebäudes, wo er sich schwerfällig auf einen Stuhl hinter dem Kassiertresen fallen ließ. Sein nächster Griff ging in die Schublade unter dem Tresen, aus der er eine Flasche Wodka hervorzog, um kurzerhand einen tiefen Schluck daraus zu trinken.

»Wollen Sie auch?« Er hielt Rosalie die Flasche hin. »Ich bin übrigens Luc. Luc Robert.«

Sie lehnte dankend ab und sah immer wieder besorgt aus dem Fenster. Wo Vincent nur so lange blieb? Sie machte sich nun langsam wirklich Sorgen, obwohl sie wusste, dass er ein überaus besonnener Mann war. Es passte so gar nicht zu ihm, dass er sich Hals über Kopf in eine Verfolgungsjagd stürzte. »So was ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert!« Ihre Aufmerksamkeit wurde zwangsläufig von Monsieur Robert in Anspruch genommen. Er verspürte das dringende Bedürfnis, sich erneut mitzuteilen. »Wir leben doch hier auf dem Land. Da muss man doch sicher sein können, dass einem so was nicht passiert. Fuchtelt der Clown doch einfach mit der Pistole vor meinem Gesicht herum und hat einen riesigen Spaß daran, wie ich mir vor Angst fast in die Hose mache …«

»Das ist bestimmt schrecklich für Sie gewesen!« Rosalie war mit den Gedanken woanders. Sie dachte an Vincent, der draußen unbewaffnet einen Gangster verfolgte. »Hat er Ihre ganzen Einnahmen mitgehen lassen?«, erkundigte sie sich schließlich.

Der Gedanke ließ den Tankwart noch mehr erschrecken. Er stutzte, überlegte kurz und schüttelte darauf verwirrt den Kopf. Um noch einmal sicherzugehen, öffnete er die elektronische Kasse und starrte hinein.

»Alles noch da!« Er atmete sichtlich erleichtert auf. »Unglaublich! Der Kerl hat nur ein paar Schokoriegel mitgehen lassen. Vom Geld hat er nichts gesagt. Hat immer nur gekichert wie der Horrorclown aus diesem Spielfilm und mir dabei seine fiese Visage entgegengestreckt. Einen roten Mund mit scharfen, blutbefleckten Reißzähnen. Einfach grauenhaft! Der hat sich an meiner Angst richtig aufgegeilt und mich ausgelacht!«

Die Erinnerung ließ ihn erneut schaudern. Mit unsicheren Fingern griff er nochmals nach der Flasche und trank einen großen Schluck. Im nächsten Augenblick summte die Ladentür, und Vincent kam zurück.

»Der Kerl ist mir entwischt«, teilte er ihnen völlig außer Atem mit. »Ich bin ihm noch ein ganzes Stück hinterher. Er ist hinter der Hecke über eine Wiese gerannt und dann in einem Wäldchen verschwunden. Dahinter liegt die Straße nach Aubignan. Vermutlich versucht er die zu erreichen.«

»Das will ich hoffen!« Rosalie konnte den Vorwurf in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Kannst du mir vielleicht verraten, was du mit dem Kerl angestellt hättest, wenn du ihn erwischt hättest? Der Typ war bewaffnet! Er hätte auf dich schießen können!«

Vincent sah sie irritiert an. »Er war bewaffnet?« An diesen Aspekt seiner Verfolgungsjagd hatte er offensichtlich keinen Gedanken verschwendet. Umso mehr traf ihn jetzt die Macht der Erkenntnis. Von seiner heroischen Haltung war schnell nichts mehr übrig. »Das … das ist mir gar nicht in den Sinn gekommen«, gab er fassungslos zu.

Kurze Zeit später tauchte die Polizei auf. Aus einem Polizeiwagen stieg Capitaine Duval von der Police Nationale, aus einem anderen Philippe Arduin, der Dorfpolizist von Brillon-de-Vassols. Der junge Adjoint arbeitete seit einigen Monaten für die Kollegen der Police Nationale, obwohl er eigentlich zu der Police Municipale gehörte und direkt dem Bürgermeister unterstellt war. Sein Aufgabengebiet dort beschränkte sich eher auf das Ausstellen von Strafzetteln, doch Rosalies Bruder, Commissaire Maurice Viale, hatte den jungen Polizisten ein wenig unter seine Fittiche genommen. Er winkte Vincent und Rosalie fröhlich zu, als er die Tankstelle betrat, während der ranghöhere Duval sich wesentlich zurückhaltender verhielt.

»Sie haben also den Tankstellenüberfall gemeldet, Madame LaRoux?« Capitaine Duvals kleine Augen musterten sie hinter seiner dicken Brille geradezu streng. Man sah ihm an, dass er nicht über besonders viel Humor verfügte. Rosalie bejahte die Frage und wollte gerade dazu ansetzen, die Umstände zu schildern, als Duval sich auch schon an den Tankstellenbesitzer wandte, ohne sie zu Wort kommen zu lassen.

»Dann sind Sie demnach der Geschädigte. Kommen wir also gleich zur Sache. Wie ist Ihr Name?«

Monsieur Robert starrte den Polizisten mit großen Augen an.

»Ähm … Luc, ich meine … Luc Robert«, antwortete er mit bereits schwerer Zunge. Er hatte sich in der Zwischenzeit kräftig an seiner Flasche bedient, um seine Nerven zu beruhigen. Der Capitaine befragte ihn nach den Umständen, woraufhin er sich alle Mühe gab, die Fragen zu beantworten. Der Wodka beeinträchtigte seine Konzentrationsfähigkeit. Er verhaspelte sich und vergaß die Hälfte. Rosalie sah sich deswegen gezwungen einzuschreiten.

»Monsieur Robert, Sie müssen dem Capitaine noch erzählen, dass bei dem Überfall gar kein Geld gestohlen wurde«, erinnerte sie ihn.

»Ach ja, richtig!« Der Tankstellenbesitzer nickte eifrig und ließ die Kasse aufspringen, um dem Capitaine zu beweisen, dass Rosalie recht hatte.

»Der hat mich hauptsächlich erschreckt! Richtig gruselig war das!« Seine Hand glitt erneut unter den Tresen, um sich an der Flasche zu bedienen, doch in letzter Sekunde unterließ er es, nachdem er den missbilligenden Blick des Polizisten bemerkt hatte.

»Wahrscheinlich wurde der Täter von irgendetwas aufgeschreckt«, stellte Duval fest und machte sich auf seinem Block Notizen.

»Terrible«, murmelte Monsieur Robert kopfschüttelnd. »Der Clown hatte einen richtigen Spaß daran, mich zu erschrecken. Und dann sein Lachen! Hat sich angehört wie eine rostige Maschine, gar nicht gut!«

»Hört sich für mich so an, als hätte sich der Kerl einen Spaß erlaubt«, überlegte Rosalie, die sich nicht erklären konnte, weshalb der Täter kein Geld geklaut hatte. Doch Duval ließ sich nicht ins Handwerk pfuschen.

»Ein Tankstellenüberfall ist ein Gewaltverbrechen, ungeachtet der Tatsache, ob nun Geld mitgenommen wurde oder nicht«, kanzelte er sie kurzerhand ab.

»Aber dass der Kerl kein Geld gestohlen hat, lässt doch zumindest die Vermutung zu, dass es dem Täter um etwas anderes als das Geld gegangen ist«, bestand Rosalie trotzig auf ihrer Meinung. Es gefiel ihr nicht, wie der Capitaine ihr den Mund verbat. »Sie sollten schon hinhören, was Monsieur Robert erzählt …«

»Ja, der hat mich ausgelacht …«, bestätigte Monsieur Robert prompt treuherzig.

»Das spielt nun wirklich keine Rolle«, unterband Capitaine Duval weitere Spekulationen. »Wir von der Polizei sind durchaus in der Lage, uns unser eigenes Bild zu machen.« Er bedachte Rosalie mit einem verkniffenen Lächeln. »Hören Sie auf den Rat Ihres Bruders, Madame LaRoux, und mischen Sie sich nicht in unsere Angelegenheiten«, fügte er hinzu. Damit spielte er darauf an, dass Rosalie sich bereits mehrere Male ungebeten in Ermittlungen eingeschaltet hatte. Dann wandte er sich wieder an den Tankwart. »Gibt es in Ihrem Laden eine Videokamera, die den Überfall aufgezeichnet haben könnte?«

»Schon, aber die ist leider im Augenblick defekt«, erklärte dieser bedauernd. »Ich wollte sie schon längst repariert haben …«

»Also bleibt uns nur Ihre Aussage«, stellte Duval klar. »Informieren Sie die Kollegen und schreiben Sie eine Fahndung nach unbekannt aus«, wandte er sich an Arduin, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte. »Finden Sie heraus, ob es in der Gegend schon ähnliche Überfälle gab.«

»Vielleicht ist ja jemandem ein Fahrzeug aufgefallen, das auf der Strecke zwischen Aubignan und Vacqueiras abgestellt wurde«, mischte sich nun auch Vincent in die Unterhaltung ein. Er hatte das Gespräch bislang schweigend verfolgt. Auf Nachfragen des Capitaine berichtete er, dass er dem Täter hinterhergejagt war und beobachtet hatte, wie er durch das Wäldchen in Richtung besagter Straße geflohen war.

»Das ist in der Tat der erste wertvolle Hinweis«, bemerkte Duval. Er wandte sich erneut an Arduin. »Kümmern Sie sich sofort darum und befragen Sie mögliche Zeugen, die sich dort aufgehalten haben. Sieht mir ganz nach Beschaffungskriminalität aus. Wahrscheinlich ein Junkie aus Avignon, der glaubt, auf dem Land leichtes Spiel zu haben. Wir werden den Kerl schon schnappen.«

Philippe nickte eilfertig. »Wird sofort erledigt, mon Capitaine!«

»Sie können nun ebenfalls gehen«, beschied Duval Rosalie und Vincent. »Falls wir noch irgendwelche Fragen an Sie haben sollten, weiß ich ja, wo ich Sie beide finden kann.« Er schenkte ihnen ein verkniffenes Lächeln und wandte sich wieder Luc Robert zu. Rosalie lag eine bissige Bemerkung auf der Zunge, doch Vincent zog sie mit sich zur Tür, sodass sie erst an der frischen Luft ihrem Unmut freien Lauf lassen konnte.

»Der hat sie doch nicht mehr alle«, brach es aus Rosalie heraus. »Der hat Monsieur Robert gar nicht ernst genommen. So was ist doch keine ordentliche Polizeiarbeit!«

3

Verdammt! Schon wieder Stau! Maurice schlug mit den Händen genervt auf das Lenkrad und unterdrückte nur deswegen einen Fluch, weil seine Tochter neben ihm im Auto saß. Da war sein Urlaub noch nicht einmal zu Ende, und schon fühlte er sich wieder gestresst.

Obwohl er es hätte besser wissen müssen, hatte er den Rückreiseverkehr so kurz vor der Rentrée vollkommen unterschätzt. Dabei war es jedes Jahr dasselbe. Am Wochenende vor Schulbeginn waren sämtliche Autobahnen verstopft. Doch das war ja nicht alles.

Die Rückreise von Korsika hatte sich bislang als ein einziges Desaster erwiesen. Erst war die Fähre von Korsika nach Toulon komplett überbucht gewesen. Da er etwas verspätet von dem Ferienhaus abgefahren war, hatte er trotz eines gültigen Tickets keinen Platz mehr auf der Fähre bekommen und musste auf die nächste warten. Das hatte einen ganzen Rattenschwanz von Unannehmlichkeiten nach sich gezogen. Angefangen von der zusätzlichen Nacht in einem unverschämt teuren Hotel mitten im Stadtzentrum von Bastia bis zu der Tatsache, dass er kein Auge zugetan hatte, weil der Lärmpegel um das Hotel herum dem eines Heavy-Metal-Konzerts entsprochen hatte. Ihre Absteige war so hellhörig gewesen, dass Cathérine und er genauso gut auf der Straße hätten übernachten können. Im Nachhinein wäre das wahrscheinlich die bessere Lösung gewesen, denn dann wäre ihm immerhin die nicht regulierbare Klimaanlage erspart geblieben, die ihre eiskalte Luft direkt auf seinen Kopf gepustet hatte.

Darüber hinaus hatte er Sylvie eine gefühlte Ewigkeit lang nicht erreichen können, um sie über ihre verspätete Rückkehr zu informieren. Als er sie dann endlich in der Leitung hatte, lachte sie ihn aus, statt Mitgefühl zu zeigen. Überhaupt schien es seiner Frau überraschend wenig auszumachen, dass er noch einen Tag später nach Hause kam – und das, nachdem sie sich den ganzen Sommer lang kaum gesehen hatten.

Maurice litt immer noch unter den Kopfschmerzen der letzten Nacht und versank in Selbstmitleid, denn außer den Abgasen um ihn herum hatte er auch noch die schlechte Laune seiner Tochter zu ertragen.

»Du hattest mir fest versprochen, dass wir am Samstagnachmittag zu Hause sind«, quengelte sie gerade zum wiederholten Mal. »Wenn Emma nun nichts mehr mit mir zu tun haben will, dann bist du schuld daran. Wir hatten schon vor Wochen ausgemacht, dass wir das letzte Ferienwochenende gemeinsam bei ihr zu Hause verbringen wollen.«

»Dann müsst ihr euer gemeinsames Wochenende auf nächste Woche verschieben«, wiederholte Maurice genervt. Das Thema begleitete sie nun schon seit Stunden. Erwartungsgemäß war seine Antwort genau das, was Cathérine nicht hören wollte.

»Du hast doch wieder mal keine Ahnung! Gestern waren Emmas neue Freunde da, alles coole Typen, die ich immer schon kennenlernen wollte. Du weißt ja gar nicht, was ich verpasst habe!«

»Du wirst Emmas Freunde ein andermal kennenlernen!«

»Pah! Wegen dir gehöre ich nun bestimmt nicht mehr zu ihrer Clique! Und das nur, weil ich mit dir in diesen blöden Korsikaurlaub fahren musste!«

»Du wolltest unbedingt wieder nach Korsika!«, erinnerte Maurice sie.

»Ja, weil du mich sonst zum Angeln in die Auvergne mitgenommen hättest oder ich bei Grandpère in Vacqueiras versauert wäre! Das ist doch total uncool. Emma war mit ihren Eltern in den USA, das wäre es gewesen.« Sie unterstrich ihre Äußerung mit einem vorwurfsvollen Blick.

»Du weißt genau, dass Maman und ich uns solch einen Urlaub nicht leisten können. Wir hatten doch auch eine gute Zeit miteinander! Du könntest auch mal dankbar sein!« Maurice kostete es zunehmend Mühe, immer wieder beschwichtigend auf seine Tochter einzuwirken.

»Es war aber langweilig ohne Maman und Joël. Mit ihnen hätte ich viel mehr Spaß gehabt!«

Maurice sparte sich eine Antwort darauf. Cathérine sprach ihm aus der Seele. Auch ihm hatten Sylvie und sein Sohn gefehlt. Seit ihrer Hochzeit vor sechzehn Jahren war dies der erste Urlaub gewesen, den sie nicht alle miteinander verbracht hatten. Ob Sylvie ihre »Auszeit von der Familie«, wie sie es genannt hatte, wirklich so nötig gehabt hatte?

Auf jeden Fall schien sie die Zeit ohne ihn und die Kinder sehr genossen zu haben. Sie war mit einer Freundin drei Wochen lang auf dem Jakobsweg gepilgert und hatte sich während dieser Zeit nicht einmal bei ihm gemeldet. Sie brauche das, um sich über die wesentlichen Dinge in ihrem Leben klar zu werden, hatte sie behauptet und ihn damit mächtig vor den Kopf gestoßen.

Maurice hatte keine blasse Ahnung, wieso das plötzlich so wichtig für sie war. Hatte er ihr nicht bislang alles geboten, was sie sich immer gewünscht hatte? Die Idee, das viel zu teure Haus mit dem Swimmingpool am Stadtrand von Avignon zu kaufen, war ganz bestimmt nicht auf seinem Mist gewachsen. Aber er hatte sich gefügt, als Sylvie immer wieder davon angefangen hatte, wie wunderbar glücklich sie alle darin sein würden. Dabei waren die finanziellen Belastungen mit seinem bescheidenen Polizistengehalt für ihn kaum zu stemmen. Und wenn er nicht bald zum Capitaine ernannt wurde, würden sie noch ewig weiterknapsen müssen. Absurderweise machte sie ihm gerade das zum Vorwurf. Auf der einen Seite arbeitete er zu viel, auf der anderen Seite brachte er aber zu wenig Geld nach Hause. Da sollte mal einer die Frauen verstehen. Wieso hatte sie ihn dann überhaupt geheiratet, wenn er ihr doch nicht genügte? Sie wusste schließlich von Anfang an, worauf sie sich eingelassen hatte.

Wenn er ehrlich zu sich war, musste er zugeben, dass Sylvie und er sich in letzter Zeit ziemlich fremd geworden waren. Lange war ihm das gar nicht bewusst gewesen. Aber seitdem sie begonnen hatte, Dinge zu entscheiden, ohne ihn mit einzubeziehen, kam er sich ziemlich überflüssig vor. Erst hatte sie ihn mit der Pilgerfahrt überrumpelt und damit alle Ferienpläne der Familie über den Haufen geschmissen, und dann hatte sie ihn damit überrascht, dass sie eine Ausbildung zur Moderatorin in einem Privatsender machen werde. Nicht, dass sie es mit ihm diskutiert hätte, nein. Sie hatte den Vertrag quasi schon unterschrieben, als sie ihn darüber informierte. Sie müsse nun auch einmal an sich denken, hatte sie ihm erklärt, als er sie – wie er fand – in durchaus freundlichem Ton darauf hingewiesen hatte, dass solch eine Entscheidung doch wohlbedacht sein müsse. Die Folge war ein handfester Streit gewesen, bei dem sie sich gegenseitig Dinge an den Kopf geworfen hatten, für die er sich immer noch schämte. Schlussendlich hatten sie sich zwar wieder versöhnt, doch er fürchtete, dass es nur eine momentane Stimmung war, die so launisch war wie der Mistral.

Auch wenn es nichts mehr am Resultat änderte, so hoffte Maurice doch sehr, dass Sylvie in den fünf Wochen, die sie sich nicht gesehen hatten, nun wieder bereit war, auf ihn zuzugehen. An ihm sollte es nicht scheitern. Ihm war während der Ferien auch einiges durch den Kopf gegangen, und er musste zugeben, dass seine Frau in gewissen Dingen durchaus auch recht gehabt hatte. So war er mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, dass es ganz gut war, wenn sie wieder arbeitete. Abgesehen davon, dass sie nun auch zum Lebensunterhalt beitragen konnte, würde sie wahrscheinlich auch wieder zufriedener mit sich selbst und mit dem Familienleben sein. Und die Kinder waren längst alt genug, um zu verkraften, dass beide Eltern tagsüber außer Haus waren.

Er dachte an das leuchtende Strahlen in Sylvies Gesicht, als sie ihm mitgeteilt hatte, dass man sie trotz ihres Alters beim Casting den jüngeren Mitbewerberinnen vorgezogen hatte. Es versetzte ihm einen Stich, denn es war ihm klar geworden, dass er seine Frau schon lange nicht mehr so glücklich gesehen hatte. Dabei müsste er sich doch für sie freuen. Wer von seinen Kollegen und Bekannten konnte schon behaupten, dass seine Frau demnächst im Fernsehen moderieren würde? Maurice versuchte schon die ganze Zeit, sich selbst zu überzeugen, dass die Entscheidung seiner Frau gut für alle war. Und trotzdem hatte er dabei ein mieses Gefühl. Wo war nur seine kleine, heile Familie geblieben?

Er erinnerte sich noch an die unbeschwerten Urlaube vor wenigen Jahren, in denen es kaum mal Zwist und Streitereien gegeben hatte. Jetzt war Joël schon ein junger Mann, der gerade seiner ersten großen Liebe nachtrauerte. Und Cathérine begann ebenfalls ihr eigenes Leben zu planen.

Maurice legte den Gang ein und fuhr an die Zahlstelle der Mautstation von Lançon. Dahinter löste sich der Stau zum Glück auf. Nur noch ungefähr fünfzig Kilometer, dann waren sie endlich zu Hause. Sylvie würde sie sicherlich längst erwarten. Sie war bereits vor über einer Woche von ihrer Pilgerreise zurückgekehrt und kurz darauf zu einem Workshop nach Toulouse aufgebrochen, den ihr neuer Chef für sie gebucht hatte. Sein Sohn Joël war in dieser Zeit mit seiner Halbschwester nach Paris gereist, um seine unglückliche Liebe aufzuspüren. Mittlerweile musste auch er zurück sein, denn die Schule begann schon am folgenden Tag.

Maurice mochte sich gar nicht vorstellen, wie frustriert sein Sohn wohl sein mochte. Seiner Meinung nach konnte die planlose Idee nur in einer Enttäuschung geendet haben. Joël und seine algerische Liebe Fatima konnten kein glückliches Paar werden. Dafür würde schon die Familie des Mädchens sorgen. Ihre Brüder waren strenggläubige Muslime, denen man sogar Verbindungen zu radikalislamischen Kreisen nachsagte. Das war brandgefährlich, und als Vater sorgte er sich um das Wohlergehen seines Sohnes. Als die Verbindung der beiden vor einigen Monaten bekannt geworden war, war Fatima von ihren Angehörigen gezwungen worden, Avignon zu verlassen und nach Paris zu gehen. Obwohl ihm sein Sohn in all seinem Liebeskummer natürlich leidgetan hatte, war Maurice damals beinahe erleichtert gewesen, als sie verschwand. Außerdem war er davon ausgegangen, dass sein Sohn das Mädchen bald vergessen würde. Doch er hatte nicht mit der Beharrlichkeit von Joëls Gefühlen gerechnet, der nicht bereit gewesen war, sich mit der Situation abzufinden. Der Junge hatte sich durch nichts davon abhalten lassen, Fatima in Paris aufspüren zu wollen, und Maurice fürchtete, dass ihm das wohl auch gelungen war, vor allem, weil seine Halbschwester ihn begleitet hatte. Nun, das würde er ja wohl bald erfahren.

Eine gute halbe Stunde später hatten sie die Abfahrt in Avignon erreicht und waren weitere fünfzehn Minuten später endlich am Ziel. Mittlerweile war es später Nachmittag geworden. Nach der schlaflosen Nacht, der rauen Überfahrt mit der Fähre und der quälend langsamen Fahrerei auf der Autobahn freute er sich auf zu Hause. Cathérine erging es nicht anders. Sie konnte es nicht abwarten, bis er das Auto geparkt hatte, und sprang schon heraus, sobald er angehalten hatte. Als er wenig später zu ihr stieß, klingelte sie immer noch stürmisch an der Haustür.

»Maman öffnet nicht!«, stellte sie enttäuscht fest.

Maurice zückte seinen Hausschlüssel und schloss selbst die Tür auf. Nachdem sie das Haus betreten hatten, stellte er fest, dass alles noch so war, wie sie es vor zwei Wochen verlassen hatten, selbst die gebrauchte Kaffeetasse stand noch auf der Küchentheke. Er war sich sicher, dass Sylvie schon längst wieder aus Toulouse zurück sein musste. Ihre Fortbildung hatte nur drei Tage gedauert. Außerdem hätte sie ihm bei ihrem gestrigen Telefonat doch sicherlich verraten, wenn sie nicht zu Hause gewesen wäre. Maurice fiel es schwer, seine Enttäuschung zu verbergen. Dabei war er sich nicht einmal sicher, was er zu Hause erwartet hatte. Vielleicht ein Abendessen oder wenigstens ein herzliches Willkommen? Und wo war überhaupt sein Sohn? Joël und Rosalie sollten heute schon am Morgen aus Paris zurückgekehrt sein. Vielleicht hatte ja ihr Zug Verspätung, und Sylvie war noch auf dem Bahnhof? Das war eine mögliche, wenn auch keine befriedigende Erklärung.

»Was hat Maman geschrieben, als du ihr vorhin auf dem Handy eine Nachricht geschickt hast?«, fragte er seine Tochter.

»Sie hat nicht geantwortet.« Cathérine war mindestens ebenso enttäuscht wie er. »Und jetzt ist sie nicht einmal zu Hause. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie sie aussieht!«

»Maman wird bestimmt gleich kommen. Wahrscheinlich holt sie gerade Joël vom Bahnhof ab.« Maurice zog sein Handy hervor und wählte ihre Nummer. Doch statt Sylvie zu erreichen, hörte er das Klingeln eines Handys aus dem Nebenraum.

»Parbleu!« Er ging dem Klingeln nach und fand Sylvies Telefon auf dem Küchentisch. Es wurde gerade geladen. »Kein Wunder, dass sie sich nicht meldet.« Er zeigte seiner Tochter das Smartphone. »Maman hat das hier wohl vergessen. Bestimmt kommt sie gleich mit Joël zurück.«

Cathérine sah sich suchend in der Küche um. »Maman hat nicht mal gekocht«, beschwerte sie sich vorwurfsvoll. »Dabei hat sie es doch versprochen!«

Ohne nachzudenken, nahm Maurice seine Frau in Schutz. »Wahrscheinlich hatte sie keine Zeit. Maman hatte die Woche bestimmt eine Menge mit ihrem neuen Job zu tun.«

»Es ist Wochenende!« Cathérine sah ihn strafend an, als wäre jetzt er auch noch schuld an der Misere.

»Dann lass uns doch mal nachsehen, was wir im Kühlschrank finden«, schlug er vor. »Vielleicht hat Maman ja etwas vorbereitet.« Doch diese Hoffnung erwies sich ebenso als trügerisch wie die Erwartung, etwas halbwegs Essbares zu finden.

»Leer«, stellte seine Tochter grimmig fest und starrte auf die einsam stehende Milchtüte im Kühlschrank. »Und was machen wir nun?« Sie seufzte resigniert. »Tiefkühltruhe? Da sind aber höchstens noch ein paar Hähnchenkeulen und Pommes drin.« Ihr Blick zeigte alles andere als Begeisterung. Maurice reagierte mit einem schlechten Gewissen. Während der letzten beiden Wochen in ihrem Ferienhaus hatten sie sich fast ausschließlich von Tiefkühlkost ernährt.

Um sich seine Tochter etwas gewogener zu machen, schlug er ihr etwas anderes vor. »Schluss mit dem Tiefkühlzeug! Wir bestellen uns jetzt eine richtig leckere, frische Pizza mit gemischtem Salat. Was hältst du davon?«

Cathérines Augen leuchteten sofort auf. »Dann möchte ich die mit Thunfisch, aber ohne Zwiebeln!«

»Gut, dann ist das also beschlossen!« Maurice wählte die Telefonnummer des Pizzaservices und gab die Bestellung auf – nicht nur für Cathérine und sich selbst, sondern auch für Sylvie und Joël, die sicher in wenigen Minuten zu ihnen stoßen würden. Zwanzig Minuten später saßen sie beide an dem gedeckten Tisch und machten sich heißhungrig über die Pizza und Salate her. Maurice hatte eine Flasche Rotwein geöffnet und begann sich langsam zu entspannen. Als sie schon fast aufgegessen hatten, hörten sie den Haustürschlüssel, und wenig später rauschte Sylvie überaus gut gelaunt ins Zimmer. Bei allem Unmut, den er in Anbetracht ihrer Unbekümmertheit verspürte, musste er zugeben, dass seine Frau umwerfend aussah. Sie trug ein elegantes Sommerkleid, das er noch nie an ihr gesehen hatte. Außerdem hatte sie eine neue Frisur. Überhaupt wirkte sie viel jünger und dynamischer, als er sie in Erinnerung hatte. Allerdings schien sie nicht mehr ganz nüchtern zu sein.

»Mon Dieu! Ihr seid schon da?« Sie blinzelte überrascht und musste sich offensichtlich erst einmal auf ihre Rolle als Mutter und Ehefrau besinnen. »Ma fille! Wie schön, dich zu sehen!« Sie eilte auf Cathérine zu, die mit dem ihr eigenen grimmigen Löwenblick am Tisch saß und kritisch den Auftritt ihrer Mutter beäugte. Als sie sie umarmte, um sie auf die Wange zu küssen, schob Cathérine sie mit gerümpfter Nase weg.

»Du stinkst nach Alkohol«, tadelte sie angewidert und rückte demonstrativ von ihr ab. Sylvie nahm es gelassen.

»Ich war noch bei Gilbert im Studio, um die Einsatzpläne für nächste Woche zu besprechen«, erklärte sie leichthin. »Da gab es zum Abschluss noch etwas Champagner!«

Die Kritik ihrer Tochter perlte an ihr ab wie Wasser an einem Regenschirm. Als wäre an ihrem Verhalten nichts auszusetzen, strich sie ihrer Tochter mit einer beiläufigen Bewegung über das Haar und wandte sich schließlich Maurice zu. Der saß mit versteinerter Miene vor den Resten seines Mahls und ließ ihre flüchtige Umarmung und den hingehauchten Kuss stoisch über sich ergehen, obwohl er sie am liebsten zur Rede gestellt hätte.

»Hattet ihr eine gute Zeit?«, fragte seine Frau und überging damit auch seine Reserviertheit. Bevor Maurice darauf antworten konnte, plapperte Cathérine drauflos.

»Es war super! Ich habe sogar meinen Surfschein gemacht«, erzählte sie munter drauflos. Ihr Ärger war schon wieder verflogen. Mit einem Mal konnte sie es gar nicht mehr erwarten, ihrer Mutter alles zu erzählen. Ganz anders als gerade noch während der Autofahrt mit ihrem Vater behauptet, schien der Urlaub nun doch sehr angenehm gewesen zu sein. Ihr begeistertes Schwärmen versöhnte Maurice ein wenig mit der Situation, sodass er sich schließlich herabließ, sich ebenfalls in die Unterhaltung einzubringen. Sylvie machte sich unterdessen gierig über ihre Pizza mit Meeresfrüchten her, ohne ihnen eine Erklärung zu liefern, weshalb sie nicht gekocht hatte.

»Wieso ist Joël noch nicht hier? Hat sein Zug Verspätung oder ist er noch bei Freunden?«, wollte Maurice wissen.

»Er hat angerufen, dass er noch etwas länger in Paris bleibt«, erklärte Sylvie so beiläufig, als ginge sie das nichts an.

»Und das hast du ihm einfach so erlaubt?« Maurice musste nun doch an sich halten. »Der Junge muss morgen schon wieder in der Schule sein! Was macht das für einen Eindruck, wenn er gleich am ersten Schultag fehlt?«

»Nun mach doch nicht gleich solch einen Aufstand!« Seine Frau machte aus ihrer gegensätzlichen Meinung keinen Hehl. »Joël weiß schon, was er tut. Er und Rosalie haben Fatima tatsächlich aufgestöbert. Sie wohnt jetzt bei Verwandten, aber es ist nicht so einfach, an sie heranzukommen. Deshalb konnten sie sich noch nicht treffen. Die beiden sehen sich heute. Du weißt doch, wie wichtig das für unseren Sohn ist. Wenn ich ihm das verboten hätte, hätte er es trotzdem gemacht.«

»Und was ist mit der Schule?«, beharrte Maurice stur. »Er kann nicht einfach einen Tag später dort aufkreuzen! Er wird gleich schon zu Schuljahresbeginn Ärger bekommen! Das kann nicht in deinem Interesse sein!«

»Dann schreiben wir ihm eben eine Entschuldigung«, antwortete Sylvie ungerührt. Als sie sah, wie er immer ungehaltener wurde, versuchte sie es ihm verständlich zu machen. »Unser Sohn ist jung und verliebt. Vielleicht erinnerst du dich ja noch an das Gefühl.« Sie warf ihm einen abschätzenden Blick zu, bevor sie fortfuhr. »Außerdem passt Rachid auf ihn auf und bringt ihn morgen sicher zum Zug nach Avignon.«

»Und was ist mit Rosalie?« Maurice gefiel Sylvies eigenmächtige Entscheidung immer weniger, und auch von seiner Schwester hätte er mehr Verantwortungsbewusstsein erwartet.

»Sie ist bereits wieder in Vassols. Aber du kannst Rachid vertrauen. Er ist Rosalies Freund.«

»Kaum ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch«, knurrte Maurice, riss sich dann aber zusammen, weil er nicht gleich nach ihrer Ankunft schon den ersten Streit vom Zaun brechen wollte. Sylvie beließ es ebenfalls dabei und wechselte geschickt das Thema, indem sie in den höchsten Tönen von ihrer Pilgerreise schwärmte.

»So eine Erfahrung würde euch sicherlich auch einmal guttun«, erzählte sie begeistert. »Die Landschaft und die Menschen in Spanien sind einfach wundervoll. Man muss nur loslaufen, und schon öffnet sich eine ganz neue Sicht auf die Welt. Eveline und ich sind jeden Tag zwischen fünf und acht Stunden gewandert. Abends waren wir in einfachen Pilgerherbergen, wo wir mit anderen Wanderern gesellig beisammensaßen. Früh am Morgen ging es dann wieder weiter. Jeder in seinem Tempo. Oft war es anstrengend, und die Hitze war lästig, aber auf der anderen Seite wurde man auch völlig auf sich zurückgeworfen und mit Gedanken konfrontiert, die einen auf das Wesentliche führen.«

»Das hört sich ziemlich langweilig an«, kommentierte Cathérine und sprach damit unfreiwillig aus, was auch Maurice dachte. »Bevor ich so was mache, müsstet ihr mir viel Geld geben.«

Sylvie ließ sich ihre Freude nicht nehmen. »Du wirst dich wundern, aber es gab tatsächlich auch Familien, die sich gemeinsam auf den Pilgerweg gemacht haben.«

»So etwas ist in unserer Familie ja wohl kaum noch möglich.« Maurice konnte sich die bissige Bemerkung nun doch nicht ersparen. Gleichzeitig überlegte er, ob die Tatsache, dass jeder gerade seine eigenen Wege verfolgte, wirklich zu bedauern war. Sylvie warf ihm einen nachdenklichen Blick zu, bevor sie unvermittelt erneut das Thema wechselte.

»Was ist eigentlich mit unserem Gastschüler?«, erkundigte sie sich und brachte Maurice damit vermutlich absichtlich in Verlegenheit. Den deutschen Jungen hatte er in all der Aufregung komplett vergessen.

»Was soll schon mit ihm sein?«, konterte er unwirsch. »Er ist immer noch bei Louis. Das war doch so abgemacht.«

»Es war abgemacht, dass du ihn heute von dort abholst«, erinnerte Sylvie ihn mit dem ihr eigenen leisen Vorwurf in der Stimme. »Du wolltest dich um alles kümmern, was mit dem Jungen zu tun hat. Schließlich war es deine Idee, ihn einzuladen. Schlimm genug, dass er schon seit über einer Woche allein bei deinem Bruder sein musste. Er wird sich bei den beiden Junggesellen sicherlich zu Tode langweilen.«

»Das wird er schon überleben«, verteidigte sich Maurice, obwohl er wusste, dass es stimmte. »Niemand konnte schließlich ahnen, dass wir erst einen Tag später hier eintreffen. Louis und Papa haben sicherlich nichts dagegen, wenn er noch ein wenig länger bei ihnen bleibt. Joël ist ja auch noch nicht da! Ich rufe gleich bei ihnen an und regle das.«

»Tu das!«, entgegnete ihm Sylvie spitz und erhob sich, um in die Küche zu gehen. Cathérine half ihr beim Abräumen, während Maurice sitzen blieb und sein Glas Rotwein zu Ende trank. Als sein Handy klingelte und er sah, dass es die Polizeidienststelle in Carpentras war, war er fast dankbar für den Anruf. An diesem Abend fand er sogar die Aussicht auf Arbeit verlockender als die angespannte Atmosphäre in seinem eigenen Haus.

4

Sie wusste nicht, wie lange sie schon so dalag. Nachdem sie nach Hause gekommen war, war sie sofort in ihr Zimmer gegangen, um die Fenster und Läden zu schließen, dann war sie in ihr Bett gekrochen und hatte sich die Decke über den Kopf gezogen und darauf gewartet, dass alles wieder so wurde, wie es einmal war. Sie durfte sich nicht rühren, denn sobald sie sich bewegte, würde auch die Zeit weiterlaufen und das Schlimme, was sie gesehen hatte, wurde zur Gewissheit. Also blieb sie unter ihrer Bettdecke liegen, eingerollt wie eine Schnecke, und wartete darauf, dass alles wieder so wurde wie immer.

Doch das Warten war so anstrengend. Außerdem war sie hungrig und hatte Durst. Wo blieb ihr Bruder denn nur so lange? Sie wollte, dass er endlich zur Tür hereinkam, die Fensterläden öffnete und ihr das morgendliche Glas mit Orangensaft auf den Nachttisch stellte. So war es schließlich jeden Morgen gewesen, schon seit sie bei ihm wohnte. Doch ihr Bruder kam nicht, auch wenn sie durch den Schlitz ihrer angehobenen Bettdecke genau sah, dass es draußen schon ganz lange hell war und dann auch wieder dunkel wurde, um dann erneut hell zu werden.

Irgendwann hielt sie es nicht länger unter ihrer Bettdecke aus. Es war heiß und muffig, und ihr taten vom langen Liegen alle Glieder weh. Vielleicht hatte sie ja nur geträumt?

Vorsichtig streckte sie einen Fuß unter der Decke hervor und überlegte, was wohl passieren würde, wenn sie doch aufstand. Zentimeter für Zentimeter schob sie den Fuß aus dem Bett, bewegte ihn langsam in Richtung Boden und lauschte in die Stille des Hauses. In dem Augenblick, als der Fuß den kalten Fliesenboden berührte, erschrak sie durch ein Geräusch und zog ihn schnell wieder unter die Decke. Ihr Herz klopfte wild, und die Angst vor dem Monster kehrte zurück. Ihr Bruder hatte ihr immer wieder versichert, dass ihr Bett vor Ungeheuern sicher war, so sicher wie eine Festung, in die niemand hineinkommt. Auch nicht das gelb-blaue Schreckgespenst, das so schrecklich Böses getan hatte. Immer, wenn sie daran dachte, wurde ihr furchtbar kalt. Da half selbst die Bettdecke nichts, unter der sie sich verkrochen hatte.

»Kommst du nicht, weil ich mit Straßenkleidern ins Bett geschlüpft bin?«, wisperte sie leise. »Ich weiß wohl, dass schmutzige Kleider krank machen, aber mir blieb keine Wahl.« Ihr Bruder konnte so streng sein, vor allem, wenn sie manchmal so stur war. Einmal hatte er sie sogar geschlagen, weil sie nicht gewollt hatte, dass er schon wieder so lange wegblieb. Sie war ihm deswegen jedoch nicht böse. Er war ihr großer Bruder, und er beschützte sie vor allem Bösen. Sie war so froh, dass er immer auf sie aufpasste. Sie war manchmal dumm und machte Fehler, so wie den, dass sie ihm neulich einfach hinterhergelaufen war. Die Angst griff erneut mit kalten Fingern nach ihr.

»Wo bist du?«, flüsterte sie nun etwas lauter. Gleichzeitig hob sie die Bettdecke ein wenig an, um mehr zu sehen. Auf den Sonnenstrahlen, die durch die Lamellen der Fensterläden drangen, tanzten Staubkörnchen wie kleine Tiere, die einen Tanz aufführten. Sie wollte sie nicht sehen. Sie wollte nur, dass alles wieder so war wie immer. Sie ließ die Bettdecke wieder fallen und schloss ganz fest die Augen. Wenn man die Augen schloss und sich was wünschte, ging es in Erfüllung, hatte ihre Mutter immer behauptet. Doch sie hatte gelogen. Wie oft hatte sie sich gewünscht, dass sie wieder lebendig würde. Doch sie war immer noch tot, so tot wie Papa und so tot wie …

»Mein Bruder lebt«, sagte sie mit fester Stimme. Doch sie konnte nichts dagegen tun, dass der gelb-blaue Dämon, das Schreckgespenst, wieder in ihrem Kopf tanzte und ihr all das vor Augen führte, was sie doch vergessen wollte: Den Schlag mit der Stange, ihr Bruder, wie er zu Boden stürzte und einfach mit geöffneten Augen liegen blieb. Das viele Blut, das seinen Kopf wie einen Heiligenschein umfing. Den starren Blick, der einfach durch sie hindurchgegangen war. So fremd, so kalt, so schrecklich. Sie konnte diese Gedanken nicht mehr ertragen und schlug sich mit beiden Fäusten gegen den Kopf. Doch der Dämon blieb hartnäckig in ihrem Kopf und weigerte sich, sie in Ruhe zu lassen.