Rosalie und der Duft der Provence - Julie Lescault - E-Book
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Rosalie und der Duft der Provence E-Book

Julie Lescault

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Beschreibung

Das Leben in dem provenzalischen Städtchen Vassols ist der temperamentvollen Friseurin Rosalie ein wenig zu beschaulich. Aber dass die Idylle durch den Mord an dem Winzer Rivas gestört wird, sorgt schon bald für mehr Unruhe als gewünscht. Zwar ist rasch ein Verdächtiger gefunden, der Algerier Bashaddi, der für Rivas gearbeitet hat, aber von ihm gefeuert wurde. Doch Rosalie ist von dessen Schuld nicht überzeugt – der Commissaire hingegen schon. Also beginnt Rosalie selbst zu ermitteln. Dabei findet sie Unterstützung durch den schüchternen Apotheker Vincent und den charmanten Gemüsehändler Rachid.

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Seitenzahl: 456

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Buch

Das Leben in dem provenzalischen Städtchen Vassols ist der temperamentvollen Friseurin Rosalie ein wenig zu beschaulich. Aber dass die Idylle durch den Mord an dem Winzer Rivas gestört wird, sorgt schon bald für mehr Unruhe als gewünscht. Zwar ist rasch ein Verdächtiger gefunden, der Algerier Bashaddi, der für Rivas gearbeitet hat, aber von ihm gefeuert wurde. Doch Rosalie ist von dessen Schuld nicht überzeugt – der Commissaire hingegen schon. Also beginnt Rosalie selbst zu ermitteln. Dabei findet sie Unterstützung durch den schüchternen Apotheker Vincent und den charmanten Gemüsehändler Rachid.

Autorin

Julie Lescault ist das Pseudonym von Patricia Mennen, einer vielfach und erfolgreich veröffentlichten Autorin atmosphärischer Frauenromane. Sie hat schon als Kind die Welt bereist und so früh ihre Lust am Beobachten, Geschichtenerzählen und Theaterspielen entdeckt. Nach ihrem Studium arbeitete sie einige Jahre als Redakteurin in einem Jugendbuchverlag. Heute lebt sie mit ihrer Familie abwechselnd in Oberschwaben und in der Provence.

»Rosalie und der Duft der Provence« ist der Beginn einer Serie um die lebenslustige Hobbydetektivin Rosalie.

JULIE LESCAULT

Rosalieund der Duftder Provence

Roman

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Copyright © 2017 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München Dieses Werk wurde vermittelt durch die LiterarischeAgentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen. Covergestaltung: UNO Werbeagentur München Covermotiv: © Evgeni Dinev/getty images, Sylvain Sonnet/Corbis Redaktion: Rainer Schöttle BH · Herstellung: Str. Satz: DTP Service Apel, Hannover

Prolog

Die harte Frühlingssonne warf ihr grelles Licht auf den kleinen Marktplatz von Brillon-de-Vassols. Einige der eng aneinandergeschmiegten, alten Häuserfassaden leuchteten hell und farbig, während der Rest des Platzes im Dunkel seines eigenen Schattens verharrte. Die Platanen um den kleinen Marktplatz reckten ihre noch kahlen, knotigen Äste in einen azurblauen Himmel und warfen scharfe, graphische Schattenmuster auf das unebene Pflaster. Die Luft roch mild und blütenreich.

Mit dem beruhigenden Gefühl, alles Wichtige erledigt zu haben, verließ Vincent Olivier sein Haus. Gewissenhaft verriegelte er die neu eingebaute Glastür der Apotheke und sicherte sie mit dem elektronischen Code. Einen Augenblick lang hielt er inne und betrachtete zufrieden seine neue Wirkungsstätte. Die Renovierungsarbeiten waren so weit abgeschlossen, die Lagerbestände kontrolliert und aufgefüllt, sodass er in der folgenden Woche guten Gewissens das Geschäft eröffnen konnte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er schneller mit allem fertig geworden war, als er gedacht hatte. Für ein Mittagessen im Mistral war es noch zu früh, ganz abgesehen davon, dass das Essen dort abscheulich war. Doch er meinte sich zu erinnern, dass es im nächsten Ort ein ordentliches Restaurant mit einem preiswerten Mittagsmenü gab. Der strahlend blaue Himmel und die angenehmen Temperaturen machten ihm die Entscheidung leicht. Warum nicht etwas für seine angeschlagene Gesundheit tun? Er beschloss, die gewonnene Zeit zu nutzen und über die Colline dorthin zu wandern. Außerdem hatte man von der kleinen Anhöhe, die Brillon-de-Vassols vorgelagert war, einen spektakulären Ausblick auf den Mont Ventoux. Vincent atmete befreit aus und machte sich auf den Weg. Es war ein gutes Gefühl, dem hektischen Großstadtleben in Paris endgültig den Rücken gekehrt zu haben.

Auf der Cours de la République, der Straße, die das Dorfzentrum wie einen Ring umschloss, hörte er jemanden in dem ehemaligen Blumenladen der alten Simone herumhantieren. Im nächsten Augenblick wuchtete ein stämmiger Mann eine halb zerfallene Kommode aus der Tür und ließ sie direkt vor ihm auf den Boden krachen. Vincent musste mit einem geschickten Sprung zur Seite ausweichen, um nicht mit dem Möbel zu kollidieren.

»Pardon. Ich habe Sie nicht gesehen«, keuchte der Träger. Er war völlig aus der Puste und fuhr sich mit dem Ärmel über sein staubiges Gesicht. »Bin gerade dabei, den alten Kram rauszuwerfen. Kaum zu glauben, was in so einen kleinen Raum alles hineinpasst.«

»Kein Problem. Sie konnten ja nicht ahnen, dass ich hier vorbeikommen würde.« Vincent nickte dem Mann kurz zu und beeilte sich, seinen Weg fortzusetzen. Da war sie wieder, diese Angst, die ihn immer dann überfiel, wenn er von Fremden angesprochen wurde. Agoraphobie nannte sein Psychotherapeut die scheinbar grundlosen Angstattacken.

»Sind Sie nicht der neue Apotheker?«, rief ihm der Mann hinterher. Seinem Dialekt und Aussehen nach war er Nordafrikaner. »Ich habe Sie neulich schon mal auf der Straße gesehen.«

Wie vom Donner gerührt blieb er stehen. Du musst dich der Situation stellen! Vincent versuchte, seinem Wunsch Herr zu werden, Hals über Kopf die Flucht zu ergreifen. Nur mit großer Willenskraft gelang es ihm, Doktor Bertrands Ratschläge zu beherzigen. Stellen Sie sich unangenehmen Situationen. Nur so können Sie positive Erfahrungen sammeln und ihre Ängste überwinden. Also holte er tief Luft und wandte sich dem Mann wieder zu.

»Ich will nicht aufdringlich sein«, entschuldigte sich der Nordafrikaner schuldbewusst. »Es ist nur so, dass ich ebenfalls einen Laden hier aufmachen werde – Obst und Gemüse. Wir sind also gewissermaßen Nachbarn.«

Vincent zwang sich zu einem Lächeln, während er krampfhaft nach einer passenden Erwiderung suchte. Er hasste Small Talk. Er führte ihm nur seine eigene Unzulänglichkeit in sozialen Dingen vor Augen. Tatsächlich war sein Gegenüber jedoch ein sympathischer Kerl, etwa in seinem Alter, mit einem offenen, freundlichen Gesicht und lustig funkelnden Augen. Nichts an ihm war abschreckend.

»Ich heiße Rachid. Rachid Ammari«, meinte der Mann. Er streckte ihm die Hand hin und lächelte ihm aufmunternd zu. Nur zögernd ließ er sich auf den Handschlag ein.

»Olivier, Vincent Olivier.«

»Freut mich! Auf gute Nachbarschaft! Wir sollten unbedingt demnächst einen Tee zusammen trinken, Vincent.« Rachids Lächeln war offen und unbekümmert. Er klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter, so als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen. »Vielleicht spielst du ja auch Schach? Ich bin immer auf der Suche nach einem ebenbürtigen Partner.« Rachids freundliche Worte lösten auf wundersame Weise Vincents Anspannung. Endlich hatte er sich wieder in der Gewalt.

»Das ist in der Tat keine schlechte Idee«, meinte er schon sehr viel lockerer.

»Ich bin kürzlich von Aix hierhergezogen«, plauderte Rachid munter weiter. »Mein Vater ist vor einigen Monaten gestorben, also muss ich mich jetzt um die Familie kümmern. Meine Mutter und meine Schwester wohnen schon seit einiger Zeit in Vassols. Erst wollte ich sie zu mir nach Aix holen. Leider gab’s keine passende Wohnung. Die Mieten dort sind ja unerschwinglich. Aber was soll man machen …« Er fügte seiner Bemerkung ein schicksalsergebenes Schulterzucken hinzu. »Und was hat dich hierher verschlagen?«

»Ich bin freiwillig zurück«, antwortete Vincent zurückhaltend. »Nächste Woche mache ich die Apotheke auf. Ich bin hier aufgewachsen.« Mit einem Mal hatte er das Gefühl, genug geredet zu haben. »Ich muss jetzt weiter. Man sieht sich!« Er hob die Hand zum Gruß und beeilte sich, seinen Weg fortzusetzen.

Schon nach wenigen Minuten bereute er es, sich nicht länger mit dem Obsthändler unterhalten zu haben. Er schien ein netter Kerl zu sein, noch dazu spielte er leidenschaftlich Schach – genau wie er selbst. Vincent lächelte versonnen vor sich hin. Kein schlechter Anfang. Doktor Bertrand würde zufrieden mit ihm sein. Er war erst seit zwei Wochen wieder zurück in der Provence, und schon ging es ihm um einiges besser als in den Jahren zuvor, die er in Paris für eine fragwürdige Karriere und eine enttäuschende Beziehung geopfert hatte. Als Resultat einsamer Forschungsnächte hatte sich bei ihm eine Phobie voller diffuser Ängste herausgebildet. Alles wird sich mit der Zeit wieder legen, hatte ihm Bertrand versichert. Gehen Sie unter Leute oder fangen Sie am besten ein ganz neues Leben an. Er hatte den Ratschlag seines Therapeuten nach langen Überlegungen befolgt und war in seine Heimatstadt zurückgekehrt.

Mit neuer Zuversicht setzte er den Weg fort. Um ihn herum zirpten die ersten Grillen. Auf den zart blühenden Thymianblüten tummelten sich Wildbienen, Hummeln und einzelne Schmetterlinge. Vincent liebte diese stille Beschaulichkeit und genoss die Einsamkeit in der Natur. Sie war wie Balsam für seine Seele. Der Pfad schlängelte sich nun im Zickzack durch schulterhohe Ginsterbüsche und führte zu einem Waldstück, wo der Anstieg begann. Die Colline, ein ausgedehnter Hügel, der wie ein Riegel zwischen Brillon-de-Vassols und dem Mont Ventoux lag, stellte bereits einen vorgelagerten Teil des Mont-Ventoux-Massivs dar.

Aufgeregtes Hundebellen ließ ihn mit einem Mal aufmerken. Vermutlich war das Tier einem Wildschwein auf der Spur. Wahrscheinlich ein Jagdhund, der seinem Herrchen ausgebüxt ist, sinnierte er. Er sah sich sicherheitshalber um und lauschte, ob auch Menschen in der Nähe waren, konnte aber nichts ausmachen. Die Jagdsaison war seit zwei Wochen vorüber. Doch das wollte nicht unbedingt etwas heißen. Nicht jeder hier hielt sich an die Reglements. Als Spaziergänger konnte man leicht in die Schusslinie von Hobbyjägern geraten. Da das Bellen verstummte und auch sonst nichts Auffälliges zu hören war, setzte er seinen Weg fort und begann dem steilen, felsigen Pfad durch den Wald zu folgen. Obwohl er nicht unsportlich war, musste er immer wieder eine kurze Pause einlegen, um durchzuatmen. Ich muss dringend wieder mit dem Radfahren beginnen, nahm er sich fest vor. Meine Kondition ist hundsmiserabel. Er sah sich um und nahm sofort die veränderte Stimmung wahr. Es war dunkler und stiller als auf dem offenen Feld. Vincent fühlte sich seltsam beklommen. Er hatte irgendwie das Gefühl, dass jemand ganz in seiner Nähe war. War da nicht das Knacken von Zweigen? Sofort beschleunigte sich sein Puls, und er bekam Herzrasen. Einen Anflug von Panik niederkämpfend sah er sich in alle Richtungen um. Doch weit und breit war niemand zu sehen. Es ist nur die Einsamkeit und Stille, die mich verunsichert. Alles ist gut! Niemand verfolgt mich. Wie ein Mantra betete er die Beruhigungsfloskeln herunter, dabei schloss er die Augen und atmete tief den würzigen Duft der Pinien und Steineichen ein. Danach ging es ihm tatsächlich besser. Doktor Bertrand hatte ihm eingetrichtert, sich seinen diffusen Ängsten bei jeder Gelegenheit zu stellen. Er hatte mit ihm einige Strategien eingeübt, mit Paniksituationen zurechtzukommen. Anscheinend funktionierten sie! Ein gutes Gefühl!

Er setzte seinen Weg fort. Über gewundene, teils felsige Pfade stieg er weiter steil bergan, bis er schließlich die unbewaldete Anhöhe der Colline erreicht hatte. Auf dem Wanderparkplatz fiel ihm ein heruntergekommener ockerfarbener Lieferwagen mit einheimischem Kennzeichen auf. Beim Vorübergehen entdeckte Vincent auf dessen Beifahrersitz einen Stapel Brennholz. Bemerkenswert war, dass es sich um wertvolles Eichenholz handelte. Sein Besitzer hatte offensichtlich versucht, es mit einer Jacke zu verdecken. Vincent musste schmunzeln. Es war also auf dem Land immer noch Brauch, dass man anderen Leuten etwas Feuerholz entwendete, wenn man sich unbeobachtet fühlte.

Über einen zarten Blütenteppich von Thymian, wilden Narzissen, Veilchen und Wolfsmilchgewächsen wanderte er zu dem Aussichtspunkt nahe der Abbruchkante. Von dort hatte man einen atemberaubenden Blick in die Landschaft. Während sich in seinem Rücken das wilde, mächtige Mont Ventoux-Massiv erhob, breitete sich unter ihm die jahrtausendealte Kulturlandschaft des Vaucluse aus. So weit das Auge reichte, waren Weinfelder zu sehen, deren noch unbelaubte Stöcke wie knotige Finger aus der hellen, steinigen Erde ragten. Dazwischen gab es Oliven- und Obsthaine, einzelne Gehöfte und malerische Dörfer mit Zypressen oder Pinienalleen. Bei klarem Wetter war sogar der Papstpalast in Avignon zu sehen. Zum ersten Mal seit langer Zeit war er in der Lage, die Stille und Einsamkeit ohne irgendeinen Beigeschmack zu genießen. Hier werde ich wieder zu mir selbst finden. Da war er sich plötzlich ganz sicher.

Das wilde Bellen des Hundes riss ihn erneut aus seinen Gedanken. Es klang laut und voller Anspannung. Das Tier konnte nicht weit entfernt sein. Er überlegte, was den Hund so in Aufregung versetzt haben mochte. Womöglich hatte er tatsächlich ein Wildtier gestellt. Doch mit einem Mal ging das Bellen über in ein schmerzhaftes Fiepen und gellte durch die klare Luft wie das unerträgliche Schrillen einer Kreissäge. Vincent fuhr es durch Mark und Bein. Er rechnete schon mit einer neuen Panikattacke. Doch nichts dergleichen geschah. Er blieb erstaunlich gelassen. Stattdessen versuchte er auszumachen, woher der Klagelaut kam. Offensichtlich befand sich das Tier am anderen Ende der Colline. Nachdem das jämmerliche Fiepen nicht nachließ, beschloss er, der Ursache nachzugehen. Er hatte selbst einmal einen Hund besessen und nie vergessen, wie sehr er ihn geliebt hatte. Mit raschen Schritten begab er sich zurück zum Parkplatz, überquerte ihn und folgte der Straße in Richtung Bedoin. Das schmerzvolle Heulen des Hundes ging über in ein erbärmliches Winseln, das immer schwächer wurde und schließlich ganz verebbte. Unheilvolle Stille trat ein, selbst das Gezwitscher der Vögel war für einen Augenblick verstummt.

Vincent war sich sicher, dass er den Hund nicht weit entfernt, etwas unterhalb am Hang, finden würde. Er suchte sich einen Pfad, der abwärts führte, und folgte ihm eilig, bis er zu einer kleinen Mulde kam. Unterwegs schnappte er sich für alle Fälle einen kräftigen Stock. Es war gut möglich, dass der Hund von einem Wildschwein attackiert worden war. Halb verdeckt von einem Wacholderbusch entdeckte er schließlich einen zuckenden weißbraunen Hundelauf, der von einem Schlageisen halb abgetrennt worden war. Um ihn herum breitete sich eine Lache von Blut aus. Der Hund lag leise fiepend auf der Seite. Er war kaum noch in der Lage, seinen Kopf zu heben, als Vincent sich ihm näherte. Er überlegte keine Sekunde, sondern stemmte seinen Stock zwischen die Bügel des gezähnten Tellereisens, um das arme Tier von seinem Martyrium zu befreien. Vorsichtig löste er den malträtierten Hinterlauf und umwickelte ihn mit seinem Taschentuch, um die Blutung zu stillen. Das arme Tier war zu kraftlos, um irgendeine Reaktion zu zeigen. Voller Abscheu betrachtete Vincent die grausame Falle. Sie war groß genug, um auch einem Menschen gefährlich zu werden. Welcher Idiot dachte sich nur solche Sachen aus? Er streichelte die verängstigte Hündin am Kopf und sprach beruhigend auf sie ein. »Dich bekomm ich schon wieder hin«, versprach er ihr. »Ich werde mich um dich kümmern.«

1

Mit jedem Kilometer, den sich Rosalie LaRoux ihrer alten Heimat näherte, wurde sie unruhiger. Jérômes alte Klapperkiste tuckerte erst tapfer durch die kurvigen Straßen der Seealpen, um dann in das weitläufige Tal der Durance zu rollen. Noch vor wenigen Tagen hätte sie jeden für verrückt erklärt, der ihr erzählen wollte, dass sie jemals wieder nach Brillon-de-Vassols zurückkehren würde. Nicht umsonst hatte sie in den letzten fünfzehn Jahren die Gegend rund um Carpentras gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Gerade mal neunzehn war sie gewesen, als sie von dort weggezogen war. Damals hatte sie sich geschworen, niemals mehr zurückzukehren.

»Ich werde ja nur kurz dortbleiben«, versuchte sie sich selbst aufzumuntern. »Sobald die Formalitäten erledigt sind, verschwinde ich wieder! Das ist klar!«

Sie drosselte die Geschwindigkeit des Renault Express, um in Cadenet in Richtung Lourmarin abzubiegen. Sie wählte bewusst die spektakulär schöne – wenn auch etwas zeitraubende – Abkürzung über den Luberon, weil sie nicht zu früh in Vassols, wie das Dorf von seinen Bewohnern kurz genannt wurde, ankommen wollte. Der Termin bei dem Notar war erst für drei Uhr nachmittags anberaumt. Aus diesem Grund hielt sie immer wieder an einem der Aussichtspunkte an, um einen Blick auf die hügelige Landschaft mit ihren Weinfeldern, kleinen malerischen Dörfern und Zypressenhecken zu werfen.

Bei Goult, auf der anderen Seite des Gebirges, bog sie nach links auf die D 900 in Richtung Cavaillon ab und nahm schließlich die D 901 in Richtung Isle-sur-la-Sorgue. Die von Weinfelderngesäumte Straße verlief nicht weit von dem Flüsschen Sorgue und weckte plötzlich Kindheitserinnerungen. Als sie etwa zehn Jahre alt gewesen war, hatte ihr Vater sie und ihre Halbbrüder hierher zum Angeln und Kanufahren mitgenommen. Einen ganzen Sommer lang waren sie frühmorgens in der Dunkelheit von zu Hause aufgebrochen, um mit dem ersten Morgenlicht ihre Angeln in das topasgrüne Wasser des Flusses zu werfen. Ihr Vater hatte immer behauptet, dass man dort die besten Forellen des Vaucluse fing. Die außergewöhnliche Farbe verdankte das klare Flüsschen besonderen Algen, die nur hier zu finden waren. Ebenso bemerkenswert war seine kreisrunde Quelle, die sich nicht weit entfernt am Rand eines senkrecht aufragenden Felsplateaus befand. Um diese Jahreszeit sprudelte die Karstquelle von Fontaine de Vaucluse vermutlich über. Durch die Schneeschmelze in den Seealpen wurden Unmengen von unterirdisch verlaufendem Wasser aus der Quelle gedrückt, die den Oberlauf des Flusses in ein wildes, tosendes Gewässer verwandelten. Das Wasser quoll aus einem weitverzweigten Höhlensystem mit mehreren Siphons und war nicht nur das Ziel wagemutiger Tauchexpeditionen, sondern auch unzähliger Touristen, die hier unter anderem den ehemaligen Wohnsitz des italienischen Dichters Petraca aufsuchten.

Der Sommer an der Sorgue gehörte mit zu den schönsten Kindheitserinnerungen, die Rosalie hatte. Das positive Gefühl hielt leider nicht lang an. Wie immer, wenn sie über diese Zeit nachdachte, legte sich schon bald ein schaler Nachgeschmack auf die noch eben empfundene Freude. Dieses Mal war es die Erinnerung an die Forelle, die ausnahmsweise sie selbst bei einem jener Aufenthalte aus dem Wasser gezogen hatte. Der Fisch war größer und schwerer gewesen als alle, die ihre Brüder und sogar ihr Vater in dieser Saison gefangen hatten. Was war sie stolz gewesen, als sie ihren Fang dem Vater präsentiert hatte. Die neidischen Blicke ihrer beiden Brüder im Rücken strich sie sein Lob ein und fühlte sich darauf den ganzen Tag wie auf Watte gebettet. Es war das erste und einzige Mal, dass er sie vor ihren Brüdern auszeichnete. Was machte es schon aus, dass Maurice und Louis sie dafür den ganzen Tag piesackten. Ihr Glücksgefühl verflog so schnell, wie es gekommen war, als ihr Vater bei der Rückkehr nach Hause den Fang vor der Stiefmutter als den Triumph ihrer Brüder ausgab.

»Sieh nur, was für erfolgreiche Angler unsere Jungs sind«, hatte er stolz getönt und dabei ausgerechnet Rosalies Fisch präsentiert.

Als sie daraufhin empört die Sache richtigzustellen versuchte, war ihr die Stiefmutter nur ungeduldig über den Mund gefahren. »Nun stell dich nicht so an. Es ist doch nur ein Fisch.«

Nicht Isabelles Worte hatten Rosalie damals gekränkt – sie war es gewohnt, dass ihre Stiefmutter sie ständig herunterputzte –, sondern die Tatsache, dass ihr Vater keinerlei Anstalten unternommen hatte, offen Partei für sie zu ergreifen. Nie würde sie vergessen, wie er ohne ein Wort zu sagen die Küche verlassen und sich anderen Dingen zugewandt hatte.

Es war immer dasselbe gewesen. Obwohl sie in seinem Haus aufgewachsen war, wagte ihr Vater es nicht, Isabelle seine Zuneigung zu der unehelichen Tochter zu zeigen. Ihre bloße Anwesenheit war und blieb das Mahnmal seines schlechten Gewissens. Rosalie war damals klar geworden, dass sie in dieser Familie niemals akzeptiert werden würde. Von da an hatte sie aufgehört, an gemeinsamen Familienunternehmungen teilzunehmen.

Genau genommen aber war dieser Vorfall nur einer von vielen anderen, die ihr immer wieder schmerzhaft vor Augen geführt hatten, dass sie nur der ungeliebte Bastard in der Familie Viale war – der lästige Kollateralschaden eines Seitensprungs ihres Vaters mit einer algerischen Erntehelferin.

Wildes Hupen riss Rosalie aus ihrer Gedankenwelt. Im Rückspiegel registrierte sie, wie sich von hinten mit überhöhter Geschwindigkeit ein reichlich verbeulter ockerbrauner Renault-Kastenwagen näherte und zu einem waghalsigen Überholmanöver ansetzte. Der Fahrer eines entgegenkommenden Autos hupte hektisch, woraufhin der Kastenwagen wieder knapp hinter Rosalie einscherte. Kaum war das Auto jedoch an ihnen vorüber, setzte er erneut zum Überholen an. Während er an ihr vorbeizog, öffnete sich die seitliche Schiebetür einen Spaltweit, und beim Einschwenken auf die rechte Fahrbahn wurde ein Plastikkübel mit einer Pflanze direkt vor ihren Wagen auf die Straße geschleudert. Rosalie riss in letzter Sekunde das Steuer herum. Nur um Haaresbreite gelang es ihr, dem Kübel auszuweichen. Allerdings verlor sie dabei für einen kurzen Augenblick die Kontrolle über ihr eigenes Fahrzeug. Siegeriet ins Schleudern und raste direkt auf ein erneut entgegenkommendes Fahrzeug zu. Hektisch riss sie das Steuer zurück und versuchte ihren Wagen wieder unter Kontrolle zu bringen. Schließlich kam sie mit qualmenden Reifen auf dem Seitenstreifen zum Halten. Rosalies Herz raste wie wild. Sie holte erst einmal tief Luft, bevor sie ausstieg, um den bedrohlich aufsteigenden weißen Wasserdampf unter ihrer Motorhaube zu inspizieren. In der Ferne sah sie den Lieferwagen um die nächste Kurve verschwinden.

»Idiot! – Ton permis, tu l’as trouvé dans une pochette surprise!« Der Blödmann hat seinen Führerschein wohl auf dem Jahrmarkt geschossen! Rosalie fiel es schwer, sich wieder zu beruhigen. Sie zitterte noch am ganzen Körper vor Schreck.

Mitten auf der Straße lag immer noch der Kübel mit der Pflanze, der den Zwischenfall anscheinend unbeschadet überstanden hatte. Rosalie ging darauf zu, um ihn näher in Augenschein zu nehmen. Sie fand ein filigranes, dorniges Bäumchen mit kräftigem Stamm vor. Obwohl sie sich eigentlich gut mit Pflanzen auskannte, war ihr diese Baumart gänzlich unbekannt. Da er hübsch aussah, beschloss sie, ihn mitzunehmen – gewissermaßen als Entschädigung für den Schrecken, der ihr gerade widerfahren war. Mit einiger Anstrengung versuchte sie, den schweren Pflanzkübel von der Straße in Richtung ihres Autos zu rollen. Unterdessen näherte sich ein weiterer Lieferwagen, der erst langsamer fuhr, dann ihr auswich, um schließlich in einigen Metern Entfernung anzuhalten. Wenig später sah sie den Fahrer auf sich zukommen. Rosalie richtete sich auf, um ihn näher in Augenschein zu nehmen. Der Mann mochte etwa in ihrem Alter sein, war groß, schlank und trug eine dunkle Sonnenbrille. Die dichten braunen Haare trug er schulterlang. Erst als er die Sonnenbrille auf die Stirn schob und sie zurückhaltend anlächelte, bekam sie eine Ahnung, wen sie da vor sich hatte.

»Vincent?« Rosalie war sich nicht ganz sicher. »Vincent Olivier? Bist du es wirklich?«

Das Lächeln auf dem schmalen Gesicht mit den braunen Augen wurde breiter.

»Du hast dich aber ganz schön gemacht!« Sie meinte das durchaus als Kompliment. So wie sie Vincent aus ihrer Jugendzeit in Erinnerung hatte, war er ein unscheinbarer, schlaksiger und noch dazu pickliger Junge gewesen, dem sie kaum Beachtung geschenkt hatte. Er hatte zu der Dorfclique von Vassols gehört, mit der sie damals abhing.

»Rosalie! Dich habe ich allerdings sofort erkannt! Schon allein wegen deiner feuerroten Haare. Sie sind also immer noch dein Markenzeichen. – Wenn das kein Zufall ist!« Seine Stimme klang nach wie vor jungenhaft, wenn auch kräftiger und voller als früher.

»Und was machst du hier? Besuchst du deine Eltern?«, erkundigte sich Rosalie, während Vincent sie mit den üblichen drei Bisous begrüßte. Dabei stieg ihr sein Armani-Parfum angenehm in die Nase.

»Meine Eltern wohnen mittlerweile bei meiner Schwester in Lille«, erklärte Vincent. »Ich habe in Paris gelebt, doch nun bin ich dabei, hier wieder sesshaft zu werden. Erinnerst du dich noch an die Apotheke des alten Chirac?«

»Na klar! Das war doch der alte Geizkragen, der beim Einkauf kein Rückgeld, sondern Pflaster herausgab.« Rosalie lachte. »Was hast du mit ihm zu schaffen?« Ihr fiel auf, dass er sehr sorgfältig, wenn auch leger gekleidet war. Zu den dunkelblauen Designerjeans trug er helle Chucks, ein hellblaues tailliertes Hemd, das seine durchtrainierte Brustmuskulatur betonte. Darüber ein dunkles Jackett.

»Ich habe vor Kurzem die Apotheke gekauft und werde sie selbst führen. Mit fast neunzig Jahren fand der alte Chirac wohl, dass es an der Zeit ist, an seinen Ruhestand zu denken.«

»Also hast du studiert und bist Apotheker geworden. Respekt!« Rosalie war wirklich beeindruckt. Wer hätte das gedacht. Vincent war von der Clique oft gehänselt worden, weil er so schüchtern und linkisch wirkte. Niemand hatte ihm wirklich etwas zugetraut.

Er deutete auf den Lieferwagen. »Das ist der Rest meiner Habseligkeiten. Ich habe mit Paris endgültig abgeschlossen.«

»Das kapier ich nicht!« Rosalie zog die Stirn kraus. »Wie kannst du das aufregende Großstadtleben nur freiwillig gegen Vassols eintauschen? Ich meine, du verdienst doch sicherlich genügend Geld, um es dir dort richtig gut gehen zu lassen.«

»Geld ist nicht alles!« Vincent zuckte mit der Schulter. »Paris ist mir auf die Dauer zu stressig geworden. Ich habe die letzten Jahre in der Forschung gearbeitet, und jetzt bin ich es leid, den Spielball zwischen Industrie und Wissenschaft zu geben. Da sitzt man dauernd zwischen allen Stühlen. Außerdem habe ich das Landleben und die Provence vermisst. Und was ist mit dir?«

»Ich bin weiß Gott nicht freiwillig hier«, platzte Rosalie heraus. »Mamie Babette hat mich zu ihrer Erbin gemacht.«

»Josette hat mir erzählt, dass sie vor ein paar Wochen gestorben ist.« Vincent wurde ernst. »Ihr Tod muss dich sehr getroffen haben. Hast du nicht einige Jahre bei ihr gelebt?«

Seine aufrichtige Anteilnahme irritierte Rosalie und nahm ihr etwas von ihrer eigenen Selbstsicherheit. »Ihr Tod geht mir sehr nah«, meinte sie leise. Sie musste die Lippen aufeinanderpressen, um Haltung zu bewahren. Tatsache war, dass Babettes Tod sie nicht nur schmerzte, sondern auch lange verdrängte Schuldgefühle in ihr geweckt hatte. »Ich habe Babette nicht mehr gesehen, seitdem ich damals weggegangen bin.« Merkwürdigerweise fiel es ihr leicht, Vincent gegenüber so offen zu sein. Schließlich kannten sie sich im Grunde genommen überhaupt nicht gut. »Babette war damals ziemlich sauer, als ich fortgegangen bin. Ich habe sie damit sehr gekränkt. Um ehrlich zu sein, verstehe ich überhaupt nicht, weshalb sie ausgerechnet mir ihr Erbe vermacht hat.«

Vincent deutete auf ihren vollgestopften Wagen. »Dann kehrst du also auch wieder zurück nach Vassols?«

»Auf keinen Fall!« Rosalie antwortete ruppiger, als sie beabsichtigt hatte. »Ich werde mein Erbe antreten und dann so schnell wie möglich hier wieder verschwinden! In dem Kaff zu bleiben, dazu bringen mich keine zehn Pferde. Paris ist mein nächstes Ziel.«

»Schade!« Vincent wirkte enttäuscht. »Werden wir uns trotzdem sehen, solange du dort bist? Wir könnten gemeinsam essen gehen. Ich finde, du bist mir nach deinem plötzlichen Verschwinden vor so vielen Jahren wenigstens einen gemeinsamen Abend schuldig. Ich möchte wissen, wie es dir so ergangen ist.«

Ihr fiel auf, dass seine Augen das samtige Braun einer Haselnuss hatten, während er sie erwartungsvoll musterte.

»Warum nicht?« Die Aussicht, mit einem Jugendfreund ein paar angenehme Stunden zu verbringen, war durchaus angenehm, falls sie gezwungen sein würde, länger in Vassols zu bleiben. Vielleicht konnte er ihr ja einen Tipp geben, wo sie in Paris eine günstige Unterkunft finden konnte.

»Was willst du überhaupt mit dem Dornengestrüpp?«, erkundigte sich Vincent, während er ihr half, den Pflanzenkübel in ihrem Kofferraum zu verstauen.

»Keine Ahnung. Das Teil ist gerade so einem Idioten aus dem Wagen gefallen, als er mich auf kriminelle Weise überholt hat. Ich wäre seinetwegen um ein Haar von der Straße abgekommen. Ich kann es ja schlecht hier liegen lassen.«

Vincent betrachtete den Kübel näher und zog erstaunt die Stirn in Falten. »Das ist eine Argania spinosa, ein – vor allem in einem Blumentopf – höchst seltener und womöglich alter Baum. Er wächst normalerweise im südöstlichen Algerien. Aus den Kernen seiner Früchte wird das Arganöl hergestellt. Kennst du bestimmt. Sieh nur, jemand hat den Baum über viele Jahre zu einem kunstvollen Bonsai gemacht. Sein Besitzer wird das gute Stück mit Sicherheit vermissen.«

»Geschieht ihm recht«, schnaubte Rosalie und strich sich mit einer fahrigen Handbewegung eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wenn ich mir sein Nummernschild hätte merken können, würde ich ihm das gute Stück persönlich zurückbringen, samt einer Gardinenpredigt, die sich gewaschen hat.«

»Das kann ich mir gut vorstellen«, schmunzelte Vincent amüsiert. »Dein flinkes Mundwerk war schon damals im ganzen Dorf gefürchtet.«

Rosalie dachte an ihre momentan wenig erfreulichen Lebensumstände und brachte nur ein schmallippiges Lächeln zustande.

»Wirst du bei deinem Vater wohnen?«, erkundigte sich Vincent weiter. Sie war gerade dabei, unter die Motorhaube zu schielen, um sich zu vergewissern, dass kein weiterer Dampf aus dem Kühler hervortrat. Bei seinen Worten zuckte sie unwillkürlich zusammen. Sie sah mit Absicht nicht auf, als sie antwortete.

»Nein! Er weiß nicht mal, dass ich komme. Und ich möchte auch nicht, dass er davon erfährt – oder einer meiner Brüder. Für mich existiert die Familie Viale nicht mehr. Ich habe mit ihnen abgeschlossen.«

»Ihr habt euch also immer noch nicht versöhnt«, stellte Vincent nüchtern fest.

»Ich weiß nicht, was dich das angeht«, raunzte Rosalie ungehalten und richtete sich endlich auf. Es fiel ihr schwer, ihre aufwallenden Emotionen zu unterdrücken. »Wenn dir daran gelegen ist, dass wir uns wiedersehen, solltest du dieses Thema besser nicht noch einmal anschneiden. Mein Vater ist mir gleichgültig – und damit basta!« Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, sofort abzubrechen. »Ich muss jetzt los.« Sie nannte ihm ihre Handynummer und stieg in ihren verbeulten Renault Express. »Man sieht sich«, rief sie ihm zu, während sie mit angezogener Handbremse und quietschenden Reifen anfuhr.

2

Je näher Rosalie ihrem Heimatdorf kam, desto weniger konnte sie sich dem Zauber der Landschaft entziehen. Der Vorsatz, sich nie wieder daran erinnern zu lassen, verblasste in Anbetracht dieser kargen Schönheit. Wie hatte sie nur diesen ganz besonderen Geruch des Vaucluse vergessen können? Jede Jahreszeit hier hatte ihre eigene Duftnote. Im Augenblick mischte sich das unverwechselbare Aroma der zartblau blühenden Rosmarinhecken mit dem harzigen Geruch von Zypressen und dem Duft der blühenden Aprikosen- und Kirschbäume.

Die unvergleichliche Mischung legte sich wie Balsam auf die Seele und ließ vieles in einem anderen Licht erscheinen. Rosalie war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob ihre Kindheit und Jugend wirklich so unglücklich gewesen waren, wie sie es sich all die Jahre eingeredet hatte. Zumindest die Zeit, in der sie bei Mamie Babette gewohnt und durch sie ihre Liebe zur Friseurkunst entdeckt hatte, war etwas Besonderes gewesen. Die ältere Cousine ihres Vaters hatte es verstanden, die kreative Seite in ihr zum Schwingen zu bringen. Dieser wunderbaren, warmherzigen Frau war es zu verdanken, dass sie nicht einfach Friseurin, sondern Haarkünstlerin geworden war. Rosalies Ansicht nach war ein Haarkünstler dazu da, Menschen dabei zu helfen, das zu werden, was sie gern darstellen wollten. Ein passender Haarschnitt, die richtige Farbe und das notwendige Styling hatten schon oft aus einem Mauerblümchen eine attraktive Frau gemacht; wer die Friseurkunst nicht richtig beherrschte, konnte aber auch das genaue Gegenteil bewirken. Sie hatte gelernt, dass Frisuren überaus subtil sein konnten. Über Haare ließen sich Charaktereigenschaften ausdrücken, verborgene Talente oder unangenehme Züge aufspüren und Ungesagtes sichtbar machen – im positiven wie im negativen Sinne. Babette hatte sie immer darin unterstützt, genau das aus ihren Kunden herauszukitzeln.

Leider hatten ihre späteren Arbeitgeber nur selten Verständnis dafür gehabt. Das hatte zur Folge, dass sie in den letzten Jahren darauf verzichtet hatte, als angestellte Friseurin zu arbeiten. Lieber widmete sie sich anderen Aufgaben im Leben, als ihre feste Überzeugung aufzugeben. In ihren Augen war es eben ein Frevel, den kreativen Beruf einer Friseurin auf einfaches Waschen–Legen–Föhnen zu reduzieren. Rosalie ließ sich nicht gern auf vorgefertigte Muster festlegen. Sie war nicht der Typ Frau, der sich einfach vor einen Karren spannen ließ. Sie hatte ihren eigenen Kopf und war stolz darauf. Ob diese Eigenwilligkeit ihrem maghrebinischen oder provenzalischen Erbe geschuldet war, konnte sie nicht sagen. Auf jeden Fall war ihr Dickkopf der Grund dafür, dass sie schon an zahlreichen Orten viele unterschiedliche Berufe ausgeübt hatte.

Wie es wohl gewesen wäre, wenn ich damals in Vassols geblieben wäre? Zum ersten Mal seit vielen Jahren ließ Rosalie diesen Gedanken zu. Es war ja nicht nur Babette gewesen, die sie trotz ihrer Eigenheiten im Grunde genommen so akzeptiert hatte, wie sie war. Mit einigen Dorfbewohnern war sie befreundet gewesen, und es hatte eine Zeit gegeben, in der es selbstverständlich schien, dass sie für immer bleiben würde.

Doch dann war dieser schreckliche Autounfall geschehen, bei dem ihre Stiefmutter Isabelle ums Leben gekommen war. Rosalie hatte unglücklicherweise am Steuer gesessen, als sie in den Bergen der Nesque von der Straße abgekommen und den Abhang hinuntergestürzt waren. Auf der engen Fahrbahn war ihr ein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit entgegengekommen. Sie hatte ausweichen müssen, um nicht mit ihm zu kollidieren. Dabei war das Unglück geschehen. Während sie selbst wie durch ein Wunder unverletzt geblieben war, war Isabelle dabei getötet worden. Ihr Vater und ihre Brüder hatten nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie ihr die Schuld an dem Unglück gaben. Auch die Dorfbewohner schienen diese Ansicht zu teilen. Zumindest glaubte sie es aus der Art herauszulesen, wie die Menschen sie auf der Straße musterten. Rosalie, von Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen zerfressen, war nicht damit zurechtgekommen. In jeder noch so freundlich gemeinten Geste hatte sie eine stumme Anklage vermutet. Also hatte sie keine andere Lösung für sich gesehen, als die Heimat für immer zu verlassen.

Und nun ist Babette tot, und ich habe mich nie dafür entschuldigt, dass ich ihr nicht mal einen Abschiedsbrief geschrieben habe. Als einziges Lebenszeichen hatte sie ihr ab und an eine Postkarte geschickt und ihr darin ihren jeweiligen Aufenthaltsort mitgeteilt. Die darauf folgenden Briefe von Babette oder ihrem Vater hatte sie ungelesen vernichtet. Ich dürfte gar nicht hier sein, dachte sie verbittert. Doch nachdem Jérôme mit ihrem Ersparten durchgebrannt und der Traum von einem eigenen Friseursalon im fernen Australien wie eine Seifenblase zerplatzt war, blieb ihr gar keine andere Wahl, als diese Erbschaft anzutreten.

Ihre Hände umklammerten das Lenkrad, als wolle sie es zwischen ihren Fingern zerquetschen. Heftiger Zorn und nagender Schmerz wechselten mit bitterer Enttäuschung, wenn sie an diesen Schuft dachte. Im Augenblick überwog die Wut auf sie selbst. Wie hatte sie nur so naiv sein können, ihrem Geliebten die Vollmacht über ihr Konto zu erteilen? Ihr blindes Vertrauen hatte sie ihr gesamtes Erspartes gekostet. Dieser Mistkerl hatte offensichtlich nur auf solch eine günstige Gelegenheit gewartet. Wäre sie vor Liebe nicht so blind wie ein Maulwurf gewesen, wäre ihr sicherlich aufgefallen, dass Jérôme niemals vorgehabt hatte, mit ihr nach Australien auszuwandern. Noch dazu die bittere Erkenntnis, dass er sie die ganze Zeit mit einer anderen betrogen hatte. Bestimmt hatte diese Lora Jérôme dermaßen zugesetzt, dass er sie schließlich beklaut hatte. Vermutlich saßen die beiden jetzt auf ihre Kosten in irgendeinem schicken Luxushotel und lachten sich schief über ihre Naivität und Gutgläubigkeit.

Glücklicherweise gehörte Rosalie nicht zu den Menschen, die sich durch Niederlagen den Lebensmut rauben ließen, selbst dann nicht, wenn kurz darauf der nächste Schicksalsschlag folgte. Mamie Babettes Tod hatte sie tief erschüttert.

Die alte Frau mit ihren violetten Haaren und dem extravaganten Auftreten war eine der wenigen Personen gewesen, die es immer gut mit ihr gemeint hatten. Sie hatte immer Verständnis für Rosalies Eigenwilligkeit gezeigt und nicht wie alle anderen versucht, sie in irgendeine Schublade zu stecken. Sie hatte Babette nicht umsonst Mamie genannt. Die ältere Frau war für sie immer wie eine Großmutter gewesen. Auch wenn sie sich geschworen hatte, nie wieder nach Vassols zurückzukehren, war sie es der alten Dame, auch nach ihrem Tod, schuldig. Und sie sah in dem Schlag, den Babettes Tod ihr versetzt hatte, auch ein Zeichen dafür, dass es Zeit war, sich einen neuen Ort zum Leben zu suchen. Also hatte sie kurzerhand ihre Anstellung in der Brasserie in Nizza aufgegeben und befand sich nun statt auf dem Weg nach Australien unterwegs nach Brillon-de-Vassols.

Der klapprige Renault sollte das Einzige bleiben, was sie noch an Jérôme erinnerte. Die Schrottkiste drohte zwar, jeden Augenblick ihren Geist aufzugeben, doch solange sie fuhr, würde sie sich nicht von ihr trennen.

Rosalie dachte an einen Umzug nach Paris. Sie hatte dort einige alte Bekannte, die sie aufsuchen wollte, sobald sie die Angelegenheit mit dem Testament hinter sich gebracht hatte. Womöglich würde sie in der Hauptstadt eine neue Anstellung als Friseurin finden. Schließlich waren die Pariser für ihre Kreativität bekannt. Dem Schreiben des Notars hatte sie entnommen, dass Babette sie als Alleinerbin eingesetzt hatte. Doch wenn sie es realistisch betrachtete, war außer dem Inventar des kleinen Salons wohl nichts Wertvolles zu erwarten.

3

Als das mächtige Bergmassiv des Mont Ventoux vor ihr auftauchte, wurde ihr mit einem Mal warm ums Herz. Mons Ventosus, der Windige, hatten die Römer den kegelförmigen Berg genannt, auf dessen beinahe zweitausend Meter hohem Gipfel selbst im Hochsommer ein kühler Wind wehte. Der Berg mit seiner kahlen Spitze sah aus, als wäre er ständig von Schnee bedeckt. In Wirklichkeit handelte es sich jedoch um ein immenses Kalkschotterfeld, das diesen Eindruck hervorrief. Da der Berg sich über eine Ebene erhob, die sich nur wenige Meter über dem Meeresspiegel befand, war seine Höhe umso beeindruckender. Er hatte etwas geheimnisvoll Beherrschendes, das der gesamten Landschaft seine Prägung aufdrückte. Nicht umsonst zählte er schon seit der Keltenzeit zu einem der »heiligen« Berge der Provence. Er beherrschte die Ebene auf der östlichen Seite der Rhône und war bis Avignon gut zu sehen.

Rosalie umfuhr die kleine Provinzstadt Carpentras und näherte sich langsam Brillon-le-Vassols. Der kleine Ort zählte nicht einmal zweitausend Einwohner und thronte auf dem Rücken eines sanften Hügels nur wenige Kilometer vor dem Anstieg auf den Mont Ventoux. Während der Revolution waren sowohl das Schloss als auch Teile der Befestigungsmauern niedergerissen worden. Dennoch hatte das Dorf seinen Festungscharakter behalten. Der Ortskern bestand aus eng stehenden, alten Steinhäusern, deren heller, oft ins Orange und Rötliche gehende Verputz sie wie aneinandergereihte farbige Würfel aussehen ließ. Eine romanische Kirche, unter deren Fundamenten Reste eines keltischen Heiligtums gefunden worden waren, stand abseits des Dorfkerns und bildete mit seinem polygonalen Turm ein Pendant zu dem runden Glockenturm mit seinem schmiedeeisernen Gitter in der Dorfmitte.

Rosalie stellte ihren Wagen auf dem von Platanen umringten Parkplatz vor der Kirche ab, wo zweimal die Woche ein Markt stattfand. Jetzt um die Mittagszeit war der Platz fast leer. Das Dorf machte seinen gewohnt verschlafenen Eindruck. Nur ein paar Katzen streunten entlang der Hausmauern. Rosalie war, als wäre sie nie fort gewesen.

In einer der Seitengassen befand sich die Etude des Notars. Nachdem sie mit Hilfe des Rückspiegels ihre Hochsteckfrisur geordnet und sich die Lippen nachgezogen hatte, stieg sie aus dem Wagen. Sie hatte sich extra für diesen Anlass in Schale geworfen und zu ihrer schwarzen Röhrenlederhose, der hellen Bluse und der grünen Lederjacke ihre High Heels angezogen, mit denen sie jetzt über den unebenen Platz stolzierte. Aus dem Augenwinkel registrierte sie eine Bewegung in einer der Seitengassen der Cours de la République. Als sie genauer hinsah, entdeckte sie zu ihrer Überraschung den ockerfarbenen Kastenwagen, der beinahe den Unfall auf der Landstraße verursacht hatte. Zwei Männer waren gerade dabei, ihn zu entladen. Möbel, Teppiche und Umzugskisten stapelten sich bereits in der Gasse und wurden nach und nach in ein schmales Haus transportiert. Eineältere, stämmige Frau mit Kopftuch und bodenlangem Mantel beaufsichtigte die Arbeiten. Sie schien eine recht energische Person zu sein, denn sie gestikulierte heftig und trieb die Männer zur Eile an. Rosalie überlegte, ob sie die Männer kurz ansprechen sollte. Trotz des Unmuts, den sie über die Rücksichtslosigkeit des Fahrers immer noch empfand, regte sich in ihr das schlechte Gewissen. Schließlich besaß sie etwas, das ihr nicht gehörte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr überdies, dass sie keine Zeit mehr hatte. Einen Notar ließ man schließlich nicht warten.

Maître Colombère empfing sie mit der distanzierten Würde, die das Amt des Notars ihm auferlegte. Nach einer kurzen, förmlichen Begrüßung wies er ihr den Weg durch einen dunklen Flur. Das Kabinett, in das er sie geleitete, war ebenso düster wie einschüchternd. Ein massiver Schreibtisch beträchtlichen Ausmaßes beherrschte den länglich geschnittenen, hohen Raum. Davor standen vier gepolsterte Stühle. Die polierte Tischfläche war bis auf einen fein säuberlich gestapelten Aktenberg und eine schwere Messinglampe leer.

Der Maître bat Rosalie, auf einem der Stühle Platz zu nehmen, und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Da er direkt vor dem einzigen Fenster saß, wurde Rosalie durch die eindringende Nachmittagssonne geblendet. Sie konnte nur die Umrisse des Notars sehen, während er seine Akten und Mappen noch einmal sorgfältig ordnete. An der Wand links von ihr entdeckte sie einen mit Stuck verzierten Kamin, über dem zwei in Goldrahmen gefasste Männerporträts hingen. Beiden Herren, die mit strengem Blick in den Raum starrten, war der missbilligende Ausdruck gemein, den Rosalie auch bei Maître Colombère beobachtet hatte. Vermutlich handelte es sich um Vater und Großvater des Notars.

Rosalie räusperte sich ungeduldig, als der Notar auch nach einigen Minuten keinerlei Anstalten machte, endlich mit der Testamentseröffnung zu beginnen. Sie hatte ihm bereits ihren Ausweis ausgehändigt und sich ausreichend legitimiert. Sie sah im Gegenlicht, wie der Maître auf seine Uhr sah und kaum merklich seinen Kopf schüttelte. Erst dann bequemte er sich zu einer Äußerung.

»Sie müssen sich noch ein klein wenig gedulden, Madame LaRoux«, bat er sie mit seiner leisen, näselnden Stimme. »Monsieur Viale muss jeden Augenblick hier eintreffen.«

Rosalie glaubte sich verhört zu haben. »Sagten Sie gerade Monsieur Viale?«

»Ihr werter Herr Vater, ganz genau!«

»Das … das verstehe ich nicht!«

Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Die Aussicht, ausgerechnet diesem Menschen hier zu begegnen, war das Unangenehmste, was sie sich im Augenblick vorstellen konnte. Die Neuigkeit weckte in ihr sofort den Wunsch, die Kanzlei Hals über Kopf zu verlassen, nur um ihrem Vater nicht begegnen zu müssen. Zum Glück schaltete sich ihr Verstand jedoch kurz darauf wieder ein und Entrüstung machte sich breit. »In Ihrem Anschreiben stand, dass ich die Alleinerbin bin«, sagte sie, um eine feste Stimme bemüht.

»Das mag schon sein«, bestätigte Maître Colombère, »allerdings wünschte meine Mandantin Madame Babette Cluzot ausdrücklich, dass auch Ihr Vater bei der Verlesung des Testaments anwesend sei.«

Bevor Rosalie ihren Schreck auch nur annähernd überwunden hatte, klopfte es an der Tür. Kurz darauf betrat Bertrand Viale den Raum. Rosalie vermied es, sich ihm zuzuwenden. Sie wartete, bis er mit gewohnt schweren Tritten neben sie getreten war. Auch dann musterte sie ihn nur aus den Augenwinkeln. Ihr Vater war immer noch ein beeindruckender Mann von kräftiger Statur. Doch sie hatte ihn größer und ehrfurchtgebietender in Erinnerung gehabt.

»Bonjour, Maître Colombère. Ich bitte meine Verspätung zu entschuldigen. Ich wurde aufgehalten.« Seine tiefe Bassstimme war kräftig, aber nicht mehr so klangvoll wie früher. Die Brüchigkeit des Alters hatte ihr etwas von ihrer Schärfe genommen. Sie überlegte, wie alt ihr Vater jetzt wohl sein mochte. Mitte sechzig, oder gar schon siebzig? Die Zeit hatte auch vor ihm nicht Halt gemacht.

»Rosalie«, begrüßte er sie knapp, doch sie spürte sehr wohl seinen neugierigen Blick. Ja, sie hatte sogar das Gefühl, dass er eigentlich vorgehabt hatte, noch etwas hinzuzufügen. Doch als er ihre ablehnende Haltung wahrnahm, begnügte er sich mit einem zackigen Nicken. Rosalie schien dies in Anbetracht ihres abgekühlten Verhältnisses durchaus angemessen.

»Nehmen Sie doch Platz, Monsieur Viale, und überreichen Sie mir freundlicherweise Ihren Ausweis«, forderte ihn der Notar äußerst zuvorkommend auf. An seinem Ton war zu hören, dass er Bertrand große Achtung entgegenbrachte. Schließlich gehörte dieser einer der angesehensten und reichsten Familien der Region an. »Wir können dann gleich mit den Formalitäten beginnen. Das Testament von Madame Babette Cluzot ist nicht sehr umfassend.«

Ihr Vater schob, wie verlangt, seinen Ausweis über den Schreibtisch und setzte sich auf den Stuhl neben sie. Es wunderte Rosalie nicht, dass er selbst zu diesem offiziellen Anlass nur seine gewöhnliche Arbeitskleidung trug. Zu der grauen Stoffhose hatte er ein braunes Hemd und eine grobe Cordjacke an. Die Füße steckten in schlammverschmierten Stiefeln, was ihr zeigte, dass er vermutlich direkt von den Weinfeldern kam. Sie wusste, dass um diese Jahreszeit viel zu tun war.

Der Notar begann mit seiner näselnden Stimme ihrer beiden Personendaten zu verlesen, um sie dann über die formalen und juristischen Umstände einer Testamentsvollstreckung aufzuklären. Dazu gehörte unter anderem, dass er, wie er nicht müde wurde zu betonen, befugt war, das Testament zu eröffnen, weil seine Mandantin Madame Babette Cluzot (er wiederholte ständig den gesamten Namen) ihn persönlich zum Testamentsvollstrecker ernannt hatte. Rosalie hörte der zähen Litanei, die aus der Aufzählung unzähliger Paragraphen bestand, nur mit halbem Ohr zu. Ihr Vater ließ die Prozedur ebenfalls mit unbewegter Miene über sich ergehen und blickte nicht einmal zu ihr hinüber. Rosalie ärgerte sich nun doch über sein offenkundiges Desinteresse. Nach einer gefühlten Unendlichkeit war der formale Teil endlich vorüber.

»Aus dem Artikel 1007 des Code Civil ergibt sich nun, dass ich Ihnen das handschriftlich bei mir hinterlegte Testament der Madame Babette Cluzot vorlese. Ich habe es ordnungsgemäß innerhalb der vorgeschriebenen Frist geöffnet und beim ›Fichier Central‹ angefragt, ob dort eine Schenkung oder ein anderweitiges Testament registriert ist. Nachdem dies nicht der Fall ist und Monsieur Viale so freundlich war, alle erforderlichen Unterlagen für die Eröffnung zusammenzustellen, werde ich nun den letzten Willen von Madame Babette Cluzot verlesen. Gibt es dazu noch irgendwelche Fragen?«

Als sowohl Bertrand als auch Rosalie dies verneinten, zog der Notar endlich aus einem bereits geöffneten Umschlag einen handgeschriebenen Brief heraus.

Mein letzter Wille.

Liebe Rosalie, lieber Bertrand,

wenn dieses Schriftstück verlesen wird, werde ich nicht mehr unter Euch weilen. Jetzt, da ich das schreibe, scheint mir das ein seltsamer Gedanke, denn ich fühle mich noch gesund und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte. Ich hatte ein gutes Leben und wunderbare Freunde. Nach einer unglücklichen Liebe in meiner Jugend war mein größtes Leid, ohne Familie und Kinder durchs Leben gehen zu müssen. Doch dann kamst Du, liebe Rosalie, in mein Leben – und ich lernte in Dir die Tochter oder Enkeltochter zu sehen, die ich mir immer gewünscht hatte. Ich habe mich vom ersten Augenblick, als man Dich vor Bertrands und Isabelles Tür gefunden hat, für Dich verantwortlich gefühlt und deswegen auch später, als die Schwierigkeiten mit Deinen Eltern immer größer wurden, zu mir genommen.

Das hatte auch einen bestimmten Grund. Bitte verzeih mir, dass ich Dir niemals erzählt habe, dass ich Deine leibliche Mutter gut kannte. Es gab eine Zeit, da waren wir tatsächlich gute Freundinnen. Immer wieder wollte ich Dir von Malika erzählen, doch nie schien mir der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein. Dann warst Du nach dem schrecklichen Unglück plötzlich verschwunden und hast leider auch nie auf meine Briefe geantwortet. Ich befürchte, Du hast sie nicht einmal gelesen, denn sonst wärst Du sicherlich noch einmal nach Vassols zurückgekehrt.

Aber das ist eine andere Geschichte. Zurück zu Deiner Mutter. Malika war eine wunderbare Frau, die Dich niemals im Stich gelassen hätte, wenn sie die Wahl gehabt hätte. Es waren die Umstände, die sie zu dem für sie so fürchterlichen Schritt gezwungen haben. Ihr blieb keine Wahl, als die Schwangerschaft mit Dir geheim zu halten, denn hätte ihre algerische Familie davon erfahren, hätte man sie nicht nur verstoßen, sondern womöglich grausam bestraft. Wie du weißt, war Bertrand damals längst mit Isabelle verheiratet und hatte zwei kleine Söhne. Malika wusste, dass er sie ihretwegen nie verlassen würde. Abgesehen davon war er Christ, und Malika war schon seit Kindertagen einem muslimischen Landsmann versprochen. Sie befand sich durch die Schwangerschaft in einer ausweglosen Situation und dachte daran, sich das Leben zu nehmen. Ich war damals ihre einzige Vertraute und hielt sie davon ab. Gemeinsam tüftelten wir an einer Lösung. Schließlich einigten wir uns, dass Malika die Schwangerschaft geheim halten sollte. Ich half ihr dabei. Ich war es auch, die ihr bei Deiner Geburt zur Seite stand und die Dich vor Bertrands und Isabelles Tür ablegte.

Du siehst also, Bertrand, ich war von Anfang an über alles im Bilde! Da ich Dein aufbrausendes, aber im Grunde genommen gutmütiges Wesen nur allzu gut kenne, haben wir darauf vertraut, dass Du Dich um die kleine Rosalie kümmern würdest, was Du ja auch getan hast. Es hat mich immer sehr bekümmert, wie schwierig Dein Verhältnis zu Deiner Tochter war. Isabelle hat es Dir dabei auch nicht leicht gemacht. Sie hat sich leider nie damit abgefunden, dass Du sie betrogen und ihr ein fremdes Kind untergeschoben hast. Darunter hattet Ihr alle zu leiden. Ich weiß, dass Du Rosalie im Grunde Deines Herzens über alles liebst. Leider machtest du den großen Fehler, es ihr niemals zu zeigen. Doch Fehler sind dazu da, dass man aus ihnen lernt, findet Ihr nicht auch?

Vielleicht gelingt es mir ja noch einmal, ein wenig Schicksal zu spielen. Deshalb hört meinen letzten Willen. Ihr habt nun lange genug darauf gewartet.

Rosalie soll meine Alleinerbin sein, denn sie steht meinem Herzen nah. Auch sehe ich in ihr meine Nachfolgerin für meinen Friseursalon. Deshalb ist es mein Wunsch und letzter Wille, dass sie sowohl mein Haus samt allem Inventar sowie mein kleines Barvermögen erben soll. Es wird ausreichen, um ihr ein bequemes Leben zu ermöglichen. Allerdings knüpfe ich an meine Erbschaft eine kleine Bedingung. Erst wenn Rosalie fünf Jahre lang in meinem Haus gelebt und meinen Friseursalon weitergeführt hat, wird sie endgültig Besitzerin von Haus und Vermögen sein. Danach kann sie damit machen, was sie will. Ist sie nicht damit einverstanden, gehen Haus und Vermögen an Bertrand Viale und seine beiden Söhne Maurice und Louis. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.

Babette Cluzot

Brillon-le-Vassols, den 15. Februar 2017

»Haben die hier Anwesenden den Inhalt des Testaments verstanden?« Maître Colombère sah erst Rosalie, dann Bertrand Viale an.

»Da war ja wohl nichts misszuverstehen«, brummte Bertrand ungnädig. Rosalie nickte nur schwach. Sie stand noch viel zu sehr unter dem Eindruck der eben verlesenen Worte. Obwohl vom Notar so trocken und spröde vorgetragen, hatte der Brief Babette noch einmal lebendig werden lassen. Vor ihrem inneren Auge sah Rosalie deutlich die alte Frau mit ihrer gepflegten Föhnfrisur. Mehr noch als das Testament musste sie verdauen, dass Babette ihre Mutter gekannt hatte. Warum hatte sie ihr niemals von ihr erzählt?

»Neben dem Haus in der Rue Salette hat Ihnen Ihre Tante ein Barvermögen von hundertfünfzigtausend Euro hinterlassen. Die Besitzurkunde für das Haus und die Zugangsdaten für die Bank erhalten Sie gemäß des Testaments zu gegebenem Zeitpunkt. Datum der Übergabe ist der heutige Tag in fünf Jahren, also der achte April 2022, vorausgesetzt, Sie nehmen das Erbe an. – Madame LaRoux?«

Rosalie schreckte auf. Nur langsam drangen die Worte des Notars in ihr Bewusstsein. Hundertfünfzigtausend Euro! Mince alors! Das war mehr Geld, als sie jemals besessen hatte. Dazu ein Haus, das gut und gern noch mal so viel Geld einbrachte. Damit konnte sie auswandern, wohin sie wollte! Ihr schwirrte der Kopf. Erst dann wurde ihr bewusst, welche Bedingungen an das Erbe geknüpft waren, und ihre Euphorie fiel in sich zusammen wie ein Soufflé, das Zug bekommen hatte. Plötzlich spürte sie nicht nur den erwartungsvollen Blick des Maîtres auf sich, sondern auch den ihres Vaters. Sie glaubte auf seinem Gesicht Spott und Schadenfreude zu sehen. Wahrscheinlich ging er davon aus, dass sie das Erbe nun ausschlug. Das machte sie wiederum wütend.

»Wie lange kann ich darüber nachdenken?«, wandte sie sich an den Notar.

»Sie haben von heute an zwei Monate Zeit, Madame LaRoux. Sobald ich Ihre Zusage habe, bekommen Sie von mir die Schlüssel für das Haus.«

»Verstehe!« Rosalie biss sich verbittert auf die Lippen. So einfach, wie sie sich alles vorgestellt hatte, würde es wohl nicht werden. Sie wollte sich gerade erheben, um sich zu verabschieden, als ihr plötzlich in den Sinn kam, dass sie noch gar nicht wusste, wo sie heute Nacht schlafen sollte. Zu Vincent konnte sie nicht gut gehen. Er würde ihre Bitte um ein Nachtlager falsch verstehen, und für ein Zimmer im einzigen Hotel war ihr Budget zu knapp. Sie überlegte hin und her, bis ihr ein neuer Gedanke kam.

»Was ist, wenn ich das Erbe sofort antrete und später die Bedingungen nicht einhalten kann?«

»Dann geht das Erbe von Madame Cluzot in die Hände Ihres Vaters und seiner Söhne über. Das Barvermögen wird Ihnen ohnehin erst dann zugeteilt, wenn die von Madame Cluzot geforderte Frist verstrichen ist. Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt!« Er räusperte sich und warf Bertrand Viale einen Blick zu, den sie nicht deuten konnte.

»Ich möchte dir einen Vorschlag machen.« Die Stimme ihres Vaters suchte noch nach Festigkeit. Es war das erste Mal, dass er das Wort an sie richtete. »Ich weiß, dass dich in Vassols nichts hält, und ich habe auch verstanden, dass Babette möchte, dass du nicht leer ausgehst. Was hältst du deshalb davon, wenn du auf das Erbe verzichtest und ich dir im Gegenzug daraus fünfzigtausend Euro sofort und in bar zukommen lasse? Damit kannst du gehen, wohin du willst, und dir etwas Anständiges aufbauen.«

Rosalie hatte Mühe, ihre Überraschung zu verbergen. Das Angebot hatte durchaus etwas Verlockendes. Fünfzigtausend Euro. Das war eine Menge Geld. Wenn sie annahm, konnte sie damit innerhalb kürzester Zeit von hier verschwinden und endlich nach Paris gehen. Ein unbestimmtes Gefühl ließ sie jedoch mit der Antwort noch etwas zögern.

»Ein großzügiges Angebot, wenn Sie nicht vorhaben, in Vassols zu bleiben«, pflichtete Maître Colombère ihrem Vater bei. Der Notar hatte zweifellos recht. Dennoch verstärkte sich Rosalies Unwohlsein, denn sie hatte mit einem Mal das Gefühl, die beiden Männer könnten irgendwie unter einer Decke stecken. Und das ließ ihre inneren Alarmglocken schrillen. Ihr fiel plötzlich wieder ein, wie gut ihr Vater in der ganzen Gegend vernetzt war. Es gab kaum jemanden, der ihm nicht einen Gefallen schuldete. Hatte Colombère Bertrand womöglich vorab über die Erbschaftsbedingungen informiert? Wieso kam der Vorschlag wie aus der Pistole geschossen, ohne dass ihr Vater darüber länger nachgedacht hatte? Babettes letzter Wille musste doch auch für Bertrand überraschend gewesen sein. Selbst für einen Mann wie ihn war ihr Erbe nicht uninteressant.

Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr begriff sie, dass ihr Vater dabei war, sie zu übervorteilen. Während sie mit einem lächerlich geringen Anteil abgespeist werden sollte, würde ihm so gut wie alles sofort zur Verfügung stehen. Das sparte ihm nicht nur eine lange Wartezeit, sondern damit wurde er seine Tochter auch ein für alle Mal los. Allein die Möglichkeit, ihre Schlussfolgerung könne der Wahrheit entsprechen, empörte sie dermaßen, dass sie sich zu einer Trotzreaktion hinreißen ließ.

»Dein Angebot ist einfach lächerlich«, schnaubte sie verächtlich. »Du möchtest mich gern billig loswerden. Das werde ich nicht akzeptieren. Vergiss es!«

Bertrand holte tief Luft. »Du verlangst also mehr Geld?« Seine Stimme klang gepresst, während sich in seinen Gesichtszügen eine Spur von unfreiwilliger Anerkennung widerspiegelte. »An wie viel hast du gedacht? Gibst du dich mit siebzigtausend zufrieden?«

Rosalie spürte, wie ihr bei seinen Worten das Blut nur noch mehr in den Kopf schoss. Ihr Vater hatte sich tatsächlich darauf eingelassen, mit ihr um ihr Erbe zu feilschen, nur, damit er sie möglichst rasch wieder loswurde. Diese demütigende Erkenntnis schmerzte nicht nur, sie verstärkte auch ihren Widerstand. In einem tiefen Winkel ihres Unterbewusstseins traf sie gleichzeitig die Erkenntnis, dass Babette genau diese Reaktion bei ihr vorausgesehen haben musste. Dennoch konnte sie nicht anders. Sie wandte sich Maître Colombère zu, ohne ihren Vater noch einmal eines Blickes zu würdigen.

»Ich habe mich bereits entschieden«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich nehme Babette Cluzots Erbe an!«

4

Josette Balbu war gerade dabei, die neu gelieferten Magazine und Zeitungen in die Ständer einzuordnen, als Arlette Farnauld in das Magasin du Journal schwebte.

»Hast du schon gesehen, dass in das Haus der Meunières jetzt schon wieder eine dieser Araberfamilien einzieht?«, fragte die Frau des Bäckers sichtlich erregt. Sie war eine energische Frau Mitte vierzig, an der jegliches Körperteil irgendwie rund war. »Wenn das so weitergeht, leben im Dorf bald mehr Ausländer als Franzosen! Ganz abgesehen davon, dass sie dem Staat und damit uns nur auf der Tasche liegen! Die sind doch alle radikal und arbeitslos! Es wird höchste Zeit, dass sich das ändert. Unser Bürgermeister ist viel zu nachsichtig. Jean-Luc würde dafür sorgen, dass das Algerierpack schnell wieder aus dem Dorf verschwindet.«

»Die Bürgermeisterwahlen sind erst nächstes Jahr, liebe Arlette. Du kannst dich also mit dem Wahlkampf für deinen Mann noch etwas zurückhalten.«