8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €
Juni in der Provence: Der ehemalige Rennradprofi und Filmstar Yannis Quebec kommt zu Dreharbeiten an den Mont Ventoux. Die Bewohner des nahen Städtchens Vassols sind ganz aufgeregt ob so viel Prominenz und Glamour. Doch dann kommt Yannis' Manager Rémy Raunard bei einem Sturz mit dem Fahrrad ums Leben. Wie sich bald herausstellt, wurde sein Vorderrad manipuliert. Während sich die Hobbydetektivin Rosalie und der Apotheker Vincent Gedanken über mögliche Mordmotive machen, verbittet sich Commissaire Maurice Viale jegliche Einmischung. Viale ermittelt jedoch in die völlig falsche Richtung …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 500
Veröffentlichungsjahr: 2018
Buch
Juni in der Provence: Der ehemalige Rennradprofi und Filmstar Yannis Quebec kommt zu Dreharbeiten an den Mont Ventoux. Die Bewohner des nahen Städtchens Vassols sind ganz aufgeregt ob so viel Prominenz und Glamour. Doch dann kommt Yannis’ Manager Rémy Raunard bei einem Sturz mit dem Fahrrad ums Leben. Wie sich bald herausstellt, wurde sein Vorderrad manipuliert. Während sich die Hobbydetektivin Rosalie und der Apotheker Vincent Gedanken über mögliche Mordmotive machen, verbittet sich Commissaire Maurice Viale jegliche Einmischung. Viale ermittelt jedoch in die völlig falsche Richtung …
Informationen zu Julie Lescault
sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin
finden Sie am Ende des Buches.
JULIE LESCAULT
Rosalie und die Farben des Südens
Kriminalroman
Bédoin war eines jener malerischen Provence-Dörfer, die auf einem vorgelagerten Hügel an der Südseite des Mont Ventoux lagen. Dieser mächtige, so entrückt wirkende Berg verlieh der Gegend ihren unverwechselbaren Charme, wohl weil er einsam und mächtig aus der flachen Ebene aufragte. Über dem alten Marktflecken erhob sich die barocke Kirche St. Pierre mit ihrem geschwungenen Giebel und dem seitlich platzierten Glockenturm. Enge Gassen zwischen unregelmäßig gebauten Häusern zogen sich den Hügel hinab bis zur Hauptstraße, die von Schatten spendenden Platanen gesäumt war. Hier reihten sich Cafés und Restaurants, Bäckereien, kleine Boutiquen und Feinkostläden mit örtlichen Spezialitäten aneinander – wie in so vielen anderen Dörfern auch. Einzig Bédoins Lage machte aus ihm etwas Besonderes, denn von hier aus führte die wohl wichtigste Straße direkt auf den Gipfel des Mont Ventoux – den Berg der Götter, den Windumtosten. Seit Urzeiten sagte man dem Berg magische Fähigkeiten nach. Der Philosoph Petrarca erlag dem Ruf, den Berg zu bezwingen, genauso wie später die touristischen Wanderer und Radsportler aus aller Welt. Seit 1951 wurde der Berggipfel der ersten Kategorie immer wieder als Etappenziel für die Tour de France gewählt. Vom Glanz dieses riesigen Medienereignisses profitierte das Dorf das gesamte Jahr.
An diesem Morgen, Anfang Juni, tummelten sich besonders viele Fremde in dem kleinen Dorf. Schon frühmorgens waren die Cafés gut besucht, während sich zahlreiche Radsportler auf den Weg machten, um vor der großen Mittagshitze den fast zweitausend Meter hohen Anstieg auf den Berg zu bewältigen. Seit dem Vormarsch von E-Bikes und Pedelecs gab es auch für die weniger Sportlichen die Möglichkeit, sich an dieser Herausforderung zu messen. Eine größere Gruppe Touristen vom nahe gelegenen Campingplatz passierte auf ebendiesen Rädern mit ihrem Reiseleiter die Hauptstraße, sehr zum Ärger einiger Radrennfahrer, die vergeblich versuchten, an der etwas chaotisch fahrenden Truppe vorbeizuziehen. Mit heftigem Geklingel und lautstarken Aufforderungen erzwangen die Sportler schließlich die Gelegenheit für ihr Überholmanöver, was die E-Biker nur nebenbei registrierten, denn ihre Aufmerksamkeit wurde von etwas anderem angezogen. Auf dem Parkplatz vor der Schule befand sich ein Aufgebot von herumeilenden Menschen, die eifrig dabei waren, Requisiten, Kameras und anderes Film-Equipment von einem Lastwagen zu entladen. Eine Gruppe Journalisten wartete ebenfalls. Noch während E-Bike-Touristen diskutierten, was der Auflauf wohl zu bedeuten habe, schnurrte ein roter Ferrari FF auf den Platz, aus dem ein etwa dreißigjähriger Mann stieg. Sofort versammelten sich die Fotografen und Journalisten um den gut aussehenden Mann und begannen ihn abzulichten. Der Kameramann eines Regionalsenders brachte sich ebenfalls in Stellung und zeichnete das Gespräch auf, das einer der Journalisten mit ihm führte. Von den Seiten her strömten immer mehr Schaulustige auf den Platz.
»Das ist Yannis Quebec, der Radrennprofi!«, verriet der Reiseführer den Umstehenden stolz. »Er schrieb Berggeschichte, weil er den Mont Ventoux schneller bewältigte als irgendjemand vor ihm während einer Tour de France. Wirklich ein Jammer, dass er keine Rennen mehr fährt.«
»Dieses ganze Tamtam um den Radsport kann mir gestohlen bleiben«, bemerkte eine der Teilnehmerinnen mit hartem deutschem Akzent. »Die sind doch alle gedopt!« Ihre abfällige Bemerkung löste sofort eine eifrige Diskussion aus.
»Das können Sie nicht einfach so behaupten«, meinte ein national gesinnter Nordfranzose. »Nur weil es ein paar schwarze Schafe gibt, kann man doch nicht alles in Bausch und Bogen verurteilen!«
»Quebec ist absolut sauber«, bestätigte der Reiseleiter sofort engagiert. »Man hat in seinem Blut nie auch nur die geringste Spur eines Dopingmittels entdeckt. Er tritt für den sauberen Radsport ein und engagiert sich noch heute dafür, obwohl er längst kein Profi mehr ist.«
»Ich finde ihn einfach nur süß, ein absoluter Frauenversteher – und sooo sexy«, schwärmte eine attraktive Italienerin. Sie hatte längst ihr Handy gezückt, um ein paar Aufnahmen zu machen, was ihr Begleiter mit großem Befremden zu registrieren schien.
»Außerdem ist er wohl der derzeit angesagteste Sportmoderator und ein absoluter Megaschauspieler«, wusste eine belgische Jugendliche, die mit ihren Eltern unterwegs war. »Ich muss unbedingt ein Selfie mit ihm haben! Sonst glaubt mir in der Schule kein Mensch, dass ich Yannis Quebec so nah war.« Sprach’s, lehnte ihr E-Bike an die nächste Platane und mischte sich unter die Zuschauer, die sich nun immer zahlreicher auf dem Platz versammelten. Die attraktive Italienerin folgte ihr kurzerhand, ohne sich um ihren Freund zu kümmern.
Die Nachricht, dass Yannis Quebec sich in Bédoin aufhielt, hatte sich im Dorf wie ein Lauffeuer verbreitet. Innerhalb weniger Minuten war der ehemalige Radrennfahrer von einer ganzen Schar weiblicher Fans umringt. Die Mitarbeiter des Filmteams hatten alle Hände voll zu tun, sie auf Abstand zu halten, bis die Interviews beendet waren. Doch auch danach war es keinesfalls leicht, an den Star heranzukommen. Dafür sorgte ein bulliger Typ, der ganz offensichtlich zu cholerischen Anfällen neigte. Es handelte sich um Rémy Raunard, Quebecs Agent und Manager. Er tat alles, damit keiner seinem Schützling zu nah kam.
»Schluss jetzt! Lassen Sie uns durch! Monsieur Quebec muss weiter. Er hat dringende Termine!« Immer wieder versuchte Raunard sich zwischen seinen Schützling und die Wand von Handys zu schieben, die sich vor ihm erhob. »Wer ihn sehen will, hat im Anschluss an das morgige Querfeldeinrennen genug Möglichkeiten. Monsieur Quebec nimmt daran teil und steht anschließend für Fotos zur Verfügung.« Die Fans ließen sich von seinen Worten nicht beeindrucken. Im Gegenteil, sie bedrängten ihn von allen Seiten und versuchten Selfies mit dem Star zu ergattern. Je zudringlicher die Menge wurde, desto wütender wurde Raunard.
»Verdammt! Es reicht!« Nachdem seine Worte keine Wirkung zeigten, begann er mit Körpereinsatz, einen Abstand zwischen den Fans und seinem Schützling zu schaffen. Dabei war er keinesfalls zimperlich, was zu einem empörten Aufschrei der Anwesenden führte. »Nun mach schon«, drängte er den Star. »Im Café ist alles für dich vorbereitet.« Doch Yannis Quebec hatte es nicht eilig. Er genoss die Aufmerksamkeit seiner Fans und stellte sich immer wieder für die gezückten Kameras in Pose.
»Nur ein Selfie!«, bettelte die junge belgische Schülerin, die sich mittlerweile erfolgreich bis ganz nach vorn durchgedrückt hatte. Noch bevor Raunard sie davon abhalten konnte, war sie schon unter seinen Armen hindurchgetaucht und hatte sich neben ihrem Star positioniert.
»Vous êtes un superstar«, seufzte das Mädchen hingerissen und drückte sich mit gezücktem Handy ganz nah an seine Seite. Yannis machte gute Miene, legte seinen Arm um das Mädchen und lächelte ihr charmant zu, woraufhin ein Aufschrei der Begeisterung durch die Menge ging. Nun wollte jede der jungen Frauen ein Selfie mit dem Profi haben. Die Belgierin wurde von den Nachdrängenden einfach beiseitegedrückt, und schon stand die nächste Bewunderin neben ihm. Noch bevor diese zum Zug kam, wurde sie grob weggeschubst.
Der nachfolgende weibliche Fan war besonders dreist. Bevor Yannis sich dagegen wehren konnte, legte die junge Frau ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn mitten auf den Mund. »Meine Handynummer«, flüsterte sie in sein Ohr und steckte ihm gleichzeitig einen Zettel in die Hosentasche. Quebec war erst überrumpelt, dann genervt. Als sie ihn ein zweites Mal zu küssen versuchte, war zum Glück Raunard zur Stelle. Er packte die Frau mit einem Zangengriff an den Oberarmen und zerrte sie von dem Star weg. Dabei gebärdete sich die Frau wie eine Furie. »Wir gehören zusammen! Ich liebe dich!« Ihre Stimme schnappte vor Aufregung über.
»Wenn du nicht augenblicklich verschwindest, mach ich dich fertig!«, brüllte Raunard und drehte ihr so den Arm auf den Rücken, dass sie sich nicht mehr wehren konnte. Dann ließ er sie abrupt los und stieß sie mit aller Wucht von sich. Die Frau knallte auf den Boden und blieb liegen. Ihre Dreistigkeit war wie weggeblasen, während Raunard immer noch vor Wut kochte. »Hau ab, oder ich schlag dir die Zähne aus!« Er hob drohend die Faust. Die Frau rappelte sich eilig auf und verschwand stolpernd in der Menge. Keuchend sah er ihr hinterher. Erst dann wurde er der Stille gewahr, die plötzlich eingetreten war. Die Umstehenden sahen ihn fassungslos an. »Was ist? Habt ihr noch nicht genug?« Sein wilder Blick erinnerte an einen bis aufs Blut gereizten Bullen im Stierkampf.
Mit wiegenden Schritten bewegte sich Rosalie LaRoux über den sonnenbeschienenen Marktplatz von Brillon-de-Vassols. An diesem herrlichen lauen Frühsommertag war ihre Laune besonders gut. Sie fühlte sich leicht und beschwingt und freute sich auf ihren freien Nachmittag, den sie in diversen Boutiquen in Avignon zu verbringen beabsichtigte. Die Vögel zwitscherten aus dem frischen Grün der Platanen, die den kleinen Platz wie ein Rondell umstanden. Zwischen den Schatten spendenden Bäumen mit ihren fleckigen Stämmen herrschte das wöchentliche Marktgeschehen. Da Vassols nur ein kleiner Ort war, ließ sich alles recht gemächlich an. Ein Fleisch- und ein Käsestand, daneben etwas Gemüse und Obst von Bauern aus der Umgebung, Marianne aus Mazan mit frischen Blumensetzlingen und der alte Gustav mit allerlei Haushaltswaren bildeten die übliche Hauptbesetzung. Wie immer gab es eine längere Schlange bei Albert, dem Fischhändler, der an seinem ausladenden Stand alles anbot, was die Meere um Frankreich zu bieten hatten. Rosalie entdeckte unter den Wartenden auch Arlette Farnauld, die dralle Bäckersgattin, die sich gestenreich mit ihrer Busenfreundin Josette Balbu unterhielt. Die hagere Besitzerin des örtlichen Zeitungsladens kannte sich bestens mit dem neuesten Dorftratsch aus, den Arlette gierig in sich aufsog. Rosalie winkte den beiden fröhlich zu. Josette grüßte gedankenverloren zurück, während Arlette sie geflissentlich übersah. Rosalie konnte sich ein schadenfrohes Schmunzeln nicht verkneifen. Die Bäckersfrau hatte ihr immer noch nicht verziehen, dass sie ihr kürzlich karottenrote Haare vor einer Versammlung des rechtsgerichteten Front Radical verpasst hatte, was natürlich kein Versehen, sondern sozusagen eine kleine Rache für Arlettes unmögliche politische Äußerungen gewesen war. Gegenüber dem Marktplatz befand sich die Bar Mistral, an deren Außentischen sich ein paar Handwerker zu einem morgendlichen Kaffee niedergelassen hatten. Dazwischen bewegte sich die zierliche Maryse, wie immer schäkernd und zu flotten Sprüchen aufgelegt. Rosalie konnte quer über den Marktplatz ihr glucksendes Lachen hören. Obwohl ihre Freundin immer alle Hände voll zu tun hatte, war sie stets guter Laune. Für viele im Dorf war es unfassbar, dass sich ausgerechnet die Dorfschönheit den bärenstarken, aber wenig attraktiven Josef als Ehemann ausgesucht hatte. Rosalie dagegen konnte Maryses Entscheidung gut nachvollziehen, denn sie kannte keinen Mann, der treuer und zuverlässiger war als ihr alter Jugendfreund. Außerdem las Josef seiner kleinen Frau jeden Wunsch von den Augen ab.
Unterdessen hatte sie ihr Auto erreicht. Es war etwas abseits vom Marktplatz in einer Nebenstraße geparkt. Der alte Renault Express hatte wahrlich schon bessere Tage gesehen. Er war das letzte Relikt aus ihrem früheren, sehr bewegten Leben. Nachdem ihr langjähriger Lebensgefährte Jérôme sie vor wenigen Monaten hinterhältig um ihr Erspartes betrogen und im Stich gelassen hatte, war ihr die Blechkiste als einzige Erinnerung an den miesen Typen geblieben. Rosalie hatte immer noch an seinem Verrat zu knabbern, was zu dem Entschluss geführt hatte, dass sie so schnell keinen Mann mehr in ihr Leben lassen wollte. Sie schloss das Auto auf, warf die Tasche mit den Fußpflegeutensilien und ihre Handtasche auf den Beifahrersitz und stieg ein. Bevor sie nach Avignon fuhr, hatte sie noch einen Fußpflegetermin bei der alten Suzanne Rivas, deren Sohn vor einigen Monaten ermordet worden war. Als sie den Motor anließ, tat sich nichts. Immer wieder drehte sie den Zündschlüssel und spielte mit Gas und Kupplung, aber außer einem altersschwachen Röcheln gab die Schrottkiste keinen Laut von sich.
»Nun komm schon! Verdirb mir nicht den schönen Tag!«
Schon nicht mehr ganz so gut gelaunt kramte sie nach dem kleinen Hammer in ihrem Handschuhfach, stieg wieder aus und öffnete die Motorhaube, um damit mehrere Male auf den Anlasser zu klopfen. Den Trick hatte sie von Rachid, dem Gemüsehändler. Er hatte schon so manches Mal zum Erfolg geführt. Sie stieg ein, um den Motor nochmals zu starten. Dieses Mal blieb jedoch sogar das müde Röcheln aus.
»Merde! Du bist genauso eine Enttäuschung wie Jérôme!« Rosalie sah genervt auf die Uhr, während sie auf ihrem Handy die Nummer von Raoul Dubois wählte und ihm eindringlich ihre Misere schilderte.
»Du musst sofort vorbeikommen und meinen Wagen wieder flottmachen«, forderte sie. »Ich habe gleich einen wichtigen Termin.«
»Wer hat das nicht?«, brummte der Automechaniker, der sich von nichts und niemandem aus der Ruhe bringen ließ, keinesfalls beeindruckt. »Du kannst ihn stehen lassen, dann hol ich ihn später ab.«
Rosalie kannte Raoul mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass er sich anfangs immer zierte und seine Kunden gern zappeln ließ. Dummerweise war er der einzige Mechaniker am Ort, sodass sie gezwungen war, ihn zu bestechen und vielleicht auch ein klein wenig zu erpressen.
»Du kannst Agnes sagen, dass sie einen Sonderpreis in meinem Haarstudio bekommt, wenn du in den nächsten zehn Minuten auftauchst«, flötete sie charmant. »Das wird sie sicherlich milder stimmen, wenn sie nachher beim Einkaufen erfährt, wie viel ihr geliebter Mann gestern beim Kartenspielen verloren hat.«
»Bist du verrückt? Woher willst du das überhaupt wissen, hä?«
Rosalie sah vor ihrem inneren Auge, wie er sich gerade am anderen Ende der Leitung die Haare raufte.
»Keine Angst, ich verrate dich nicht!«, beschwichtigte sie ihn sofort. »Leider sind nicht alle so rücksichtsvoll wie ich. Doch wenn du im Dorf etwas geheim halten willst, solltest du nicht mit Jean-Luc Karten spielen«, gab sie ihm einen großzügigen Rat. »Der plaudert alles ungefiltert noch am selben Abend an sein Goldstück Arlette aus. Was das bedeutet, muss ich dir ja wohl nicht sagen.«
»Verflixt! Daran habe ich nicht gedacht!« Rosalie konnte spüren, wie sich der Mechaniker endlich einen Ruck gab. »Also gut! Ich bin gleich da. Muss nur noch den Ölwechsel hier über die Bühne bringen!«
Eine knappe Viertelstunde später kam Raoul tatsächlich in seinem Lieferwagen an und begann Rosalies Auto zu inspizieren. Die Diagnose war niederschmetternd.
»Verteiler, Anlasser, Getriebe, alles kaputt oder kurz davor zusammenzubrechen«, knurrte er, als sein Kopf wieder aus dem Motorraum auftauchte. »Am besten du lässt die Karre so schnell wie möglich verschrotten. Wenn ich sie dir nochmals herrichte, dann kostet dich das mehr als ein neues Fahrzeug.« Er wischte sich die Hände an seinem Overall ab und sah sie abschätzend an. »Hab da allerdings was Günstiges auf meinem Grundstück stehen. Einen Citroën C4, sieben Jahre alt, fast wie neu, für schlappe sechstausend, weil du es bist …«
Rosalie verdrehte die Augen. »Sechstausend Euro? Bist du wahnsinnig? So viel Geld kann ich im Augenblick nicht aufbringen. Kannst du das Auto nicht wenigstens notdürftig reparieren?« Sie blinzelte ihm mit schief gelegtem Kopf bittend zu.
Raoul schüttelte den Kopf. »Ich fass die Karre nicht mehr an. Das ist mein letztes Wort. Aber wenn du willst, schlepp ich sie auf mein Grundstück, bis du dir überlegt hast, was du mit ihr machen willst.«
»Aber ich brauche das Auto!« Rosalies gute Laune war endgültig verflogen. Viele ihrer Kunden waren älter und lebten auf dem Land. Sie fuhr zu ihnen hinaus, um ihnen die Haare zu schneiden und die Füße zu pflegen. Ohne dieses Zubrot konnte sie ihren Haarsalon gleich dichtmachen. Sie war so mit sich beschäftigt, dass sie den Radrennfahrer, der neben ihr zu stehen kam, erst auf den zweiten Blick erkannte. Es war Vincent. In seinen bunten Radklamotten, mit der verspiegelten Sonnenbrille und dem schnittigen Helm bot der Apotheker einen sehr ungewöhnlichen Anblick.
»Salut, ma Chérie!«, begrüßte er sie gut gelaunt. »Mal wieder Probleme mit dem Auto?«
»Das ist ja wohl offensichtlich«, knurrte Rosalie mürrisch. »Raoul meint, dieses Mal lohnt es nicht mehr, die Karre zu reparieren.«
»So ein Pech! Vielleicht solltest du auch besser aufs Fahrrad umsteigen. Seitdem ich mein neues Rennrad habe, lasse ich das Auto am liebsten stehen!«
»Danke! Danach steht mir, weiß Gott, nicht der Sinn.« Rosalie hatte nicht vorgehabt, so schnippisch zu sein, aber sie ärgerte sich, dass Vincent nur an sein Vergnügen dachte, während sich vor ihr unlösbare Probleme auftürmten.
»Verzeih, das war nicht gerade einfühlsam«, setzte er rasch nach. Er schob seine Sonnenbrille in die Stirn und sah sie aus seinen warmen braunen Augen um Verzeihung bittend an. »Natürlich werde ich dir helf…«
Weiter kam er nicht, weil Rachid Ammari, der algerische Gemüsehändler, sich wild gestikulierend ins Spiel brachte.
»Ist es wieder das Auto?«, fragte er so mitfühlend, dass es Rosalie gleich viel besser ging. Er drückte ihr die üblichen drei Bisous abwechselnd auf die Wangen, während er Rosalie umarmte.
»Raoul meint, die Karre sei endgültig am Ende«, erklärte sie auch ihm.
»So ein Blödsinn«, erklärte Rachid auf seine unbekümmerte Art. »Mein Cousin Ali in Mazan bekommt das Auto unter Garantie wieder zum Laufen.«
»Der Wagen ist Schrott«, brummte Raoul finster. Es war nur allzu offensichtlich, dass ihm Rachids Bemerkung überhaupt nicht gefiel. »Soll ich die Karre nun abschleppen?« Er nahm von Rachid keine Notiz und wandte sich nachdrücklich an Rosalie. Diese war sich immer noch unschlüssig.
»Warte mal! Ich rede kurz mit Ali.« Rachid hatte bereits sein Handy in der Hand und wählte die Nummer. Kurz darauf begann er auf Arabisch zu diskutieren, wobei Raoul ihn mit keinem Blick aus den Augen ließ. Rosalie musterte unterdessen Vincent.
»Findest du deine Aufmachung nicht etwas übertrieben?«, fragte sie belustigt. »Du siehst darin aus wie ein Papagei.«
Vincent errötete wie ein Schuljunge. »Ich … nun … ich hab mir die Sachen in dem Fahrradladen in Avignon besorgt. Das ist alles Funktionskleidung, die jeden Schweiß aufsaugt. Die Leuchtfarben sind dazu da, dass man auf der Straße nicht von den Autofahrern übersehen wird. Sie sind reiner Selbstschutz.«
Als Rosalie sah, wie peinlich ihm ihre Bemerkung war, tat es ihr fast schon wieder leid, dass sie so direkt gewesen war. Manchmal wurde sie aus dem gut aussehenden Apotheker aber auch nicht schlau. Mal war er geradezu unverschämt direkt und dann wieder verlegen wie ein Teenager, der es zum ersten Mal mit Mädchen zu tun hat. »Seit wann hast du das Gefährt denn schon? Es sieht aus, als hätte es ein Vermögen gekostet«, erkundigte sie sich, um ihm zu zeigen, dass sie wirkliches Interesse hatte.
»Nun ja, billig war das Fahrrad nicht«, gab Vincent zu. Sein scheues, aber offenes Lächeln nahm ihn sofort für sie ein. »Es ist eine italienische Rennmaschine, die besonders leicht und windschnittig ist. Sie fährt gewissermaßen von ganz allein. Ich habe sie für einen guten Preis bekommen.«
»Dann hast du bestimmt schon einige Touren hinter dir.«
»Ähm … nein!« Er schmunzelte selbstbewusst. »Das ist meine erste Fahrradtour. Ich möchte damit mal kurz auf den Mont Ventoux hoch. Das dürfte mit der Technik kein Problem sein, meint der Fahrradhändler.«
»Mon Dieu, da hast du dir aber was vorgenommen.« Rosalie warf Vincent einen skeptischen Blick zu. »Ich wusste gar nicht, dass du so gut im Training bist. Ich käme wahrscheinlich nicht mal bis Bédoin. Mir geht die Luft schon auf dem Weg nach Vacqueiras aus.«
»Daran ist nur dein altes Fahrrad schuld«, behauptete Vincent. »Mit einem besseren Rad wäre das auch für dich kein Problem.«
Rosalie zuckte nur mit den Schultern. »Leider habe ich gerade ganz andere Sorgen.« Sie deutete mit dem Kopf auf ihr Auto und seufzte. »Bei Suzanne Rivas bin ich bereits seit einer halben Stunde überfällig. Es tut mir leid, die alte Frau so lange warten zu lassen …«
Vincent dachte nach. »Ich könnte mein Auto holen und dich …« Sie hörte nicht das Ende des Satzes, weil Rachid soeben sein Telefongespräch beendet hatte und ihn unterbrach.
»Alles geregelt«, teilte er Rosalie freudestrahlend mit. »Ali wird in einer halben Stunde hier sein und deinen Wagen mit in seine Werkstatt nehmen.«
»Kommt überhaupt nicht in Frage«, mischte sich Raoul sofort ärgerlich ein. »Rosalie hat mich mit der Reparatur beauftragt. Wenn hier jemand den Wagen abschleppt, dann bin ich es. Ich komm doch nicht einfach umsonst hierher.« Er stemmte seine Fäuste in die Seiten und baute sich vor Rachid auf. Der klopfte ihm nur gutmütig auf die Schulter.
»Immer mit der Ruhe, Kumpel. Das hier ist einzig und allein Rosalies Entscheidung, n’est-ce pas?« Seine treuherzigen Augen auf Rosalie gerichtet wartete er auf ihre Zustimmung. Doch sie hatte noch Skrupel. Schließlich hatte sie Raoul gerade erst genötigt, ihr zu helfen, da konnte sie das Auto doch nicht so einfach jemand anderem geben. Andererseits … Rachid bemerkte ihre Unentschlossenheit und schritt ein.
»Du hast selbst gesagt, dass das Auto nicht mehr zu reparieren ist, stimmt’s?«, wandte er sich an Raoul.
Der brummte zustimmend. »Kostet mindestens ein bis zwei Tausender, um ihn wieder einigermaßen flottzumachen, und auch dann gibt es keine Garantie, dass nicht bald etwas anderes kaputtgeht.«
»Okay, dann ist es ja nur in Ordnung, wenn mein Cousin auch noch mal einen Blick draufwirft«, schlug Rachid vor. »Kommt er zum selben Schluss wie du, schleppst du den Wagen ab. Falls Ali anderer Meinung ist, kann sich Rosalie überlegen, ob sie ihn bei ihm reparieren lassen will.«
»Ach macht doch, was ihr wollt«, schimpfte Raoul ungehalten. »Ich hab keine Zeit, um den Tag zu verplempern wie ihr Araber.« Er fuchtelte abfällig mit der Hand und stapfte, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, zu seinem Lieferwagen.
»Mit dem habe ich es mir wohl verdorben«, stellte Rosalie nicht sehr begeistert fest, als sie dem Abschleppwagen hinterhersah.
Rachid legte seinen Arm um ihre Schulter. »Ali macht das schon, keine Bange. Er hat Zauberhände, was Motoren angeht, und wenn nicht …«
»… leih ich dir das Geld für ein neues Auto«, mischte sich Vincent selbstbewusst ein.
Rosalie fühlte sich von den beiden Männern plötzlich in die Zange genommen. Wie kamen sie dazu, so einfach über sie zu entscheiden?
»Was für eine dumme Idee«, brauste sie auf. »Ich mach doch keine Schulden bei dir«, meinte sie an Vincent gewandt. Dann machte sie sich ungehalten von Rachid los und ging auch zu ihm auf Abstand.
»Versteht ihr denn nicht? Wenn das Auto kaputt ist, bin ich erledigt!« Es war die pure Verzweiflung, die aus ihr sprach.
»Damit ist ja alles gesagt.« Vincent nickte ihr knapp zu und schwang sich auf sein Rad. Erst als er bereits auf die Straße in Richtung Malaucène eingebogen war, begriff Rosalie, dass sie ihn soeben gewaltig vor den Kopf gestoßen hatte.
Vincent trat wütend in die Pedale, als ginge es darum, einen neuen Rekord aufzustellen. Die Freude über seine erste Fahrradtour nach so vielen Jahren war auf ein Minimum geschrumpft – und das alles nur wegen Rosalie. Mit ihren Launen schaffte sie es immer wieder, ihn aus der Fassung zu bringen. Er nutzte den Schwung von der kleinen Abfahrt aus Brillon-de-Vassols heraus und bog unterhalb von Le Barroux auf die Hauptstraße ein, die in Richtung Malaucène führte. Die Bedingungen für eine Radtour waren heute ideal. Um diese Tageszeit waren die Temperaturen noch erträglich, und die Sonne schien an einem blank geputzten blauen Himmel. Die Sicht war klar, und um ihn herum explodierte die Welt in einer Wucht von Farben. In den Olivenhainen leuchteten die Blüten des roten Klatschmohns wie Farbkleckse auf einem impressionistischen Bild. Im milden Südwind bildeten sie einen wohltuenden Kontrast zu dem changierenden Hell- und Blaugrün der Olivenblätter. Schwarzrote Kirschen hingen schwer an überladenen Zweigen und warteten darauf, von ihrer Last befreit zu werden.
Am Wegesrand sprang Vincent das intensive Gelb von Ginster in die Augen. Normalerweise hätte er dieses Fest der Sinne tief in sich aufgesogen, doch heute hatte er kaum einen Blick dafür. Stattdessen gingen ihm Rosalies Worte durch den Sinn.
»Ich mach bestimmt keine Schulden bei dir!« Sie hallten in seinem Kopf wie eine Ohrfeige nach. Dabei hatte er ihr doch nur ganz uneigennützig seine Unterstützung angeboten.
Wahrscheinlich würde es ihn weniger wurmen, wenn sie auch Rachids Hilfe abgewiesen hätte. Dieser Kerl entpuppte sich als sein größter Konkurrent im Wettstreit um Rosalie. Dabei hatte er sich bis vor Kurzem noch eingebildet, dass sie ihm, Vincent, den Vorzug gab. Irgendetwas machte er falsch. Nun gut, er war kein Aufreißertyp, eher zurückhaltend und diskret. Dennoch bildete er sich ein, durchaus Chancen bei Frauen zu haben, eben nur nicht bei Rosalie.
Er seufzte, während er sich den ersten Anstieg hinaufquälte. Vielleicht sollte er seinem Rivalen einfach kampflos das Feld überlassen. Schließlich war Rachid weder unsympathisch noch arrogant. Er war sogar das genaue Gegenteil, noch dazu witzig und charmant. Möglicherweise war es genau das, was Rosalie von einem Mann erwartete. Außerdem musste er zugeben, dass Rachid eben die besseren Karten gehabt hatte. Er hatte ihr einen Automechaniker verschafft, während er nur mit seinem neuen Fahrrad versucht hatte, bei ihr Eindruck zu schinden.
Verdammt! Was war er doch für ein Idiot! Warum hatte er sich auch in eine Frau verliebt, die so gänzlich das Gegenteil von ihm war? Sie war unkonventionell, kreativ, impulsiv und auch unberechenbar, alles Eigenschaften, mit denen er nicht aufwarten konnte. Außerdem sah sie einfach umwerfend aus. Ihre zierliche Statur und das dichte Haar mit den schweren roten Locken musste sie von ihrer algerischen Mutter mitbekommen haben, während ihr Stolz und die auffallend grünen Augen offensichtlich ein Erbe ihres Vaters waren, der ein angesehener Weinbauer aus der Gegend von Vacqueiras war.
Rosalie war als uneheliches Kind bei ihrem Vater aufgewachsen. Ihre Stiefmutter hatte sie nie richtig akzeptiert, und auch die Beziehung zu ihren Halbbrüdern war nicht einfach gewesen. Vincent wusste, dass sie keine einfache Kindheit gehabt und deswegen ihr Elternhaus früh verlassen hatte. Schon als junges Mädchen war sie zu ihrer Patentante Babette gezogen, um dort eine Friseurlehre zu machen. Damals hatte sie sich aus Protest ihre dunklen Haare knallrot färben lassen und sich sogar den Künstlernamen LaRoux zugelegt, nur um ihrer Familie eins auszuwischen. Nach dem tragischen Unfalltod ihrer Stiefmutter, für den sie sich verantwortlich gefühlt hatte, hatte sie Vassols vor vielen Jahren verlassen und geschworen, nie wieder hier aufzutauchen. Vor ein paar Monaten war sie überraschend wieder aus der Fremde zurückgekehrt. Babette war gestorben und hatte ihr den Friseursalon und eine gute Summe Geld hinterlassen. Rosalie war in der Absicht gekommen, das Erbe anzunehmen und gleich wieder zu verschwinden. Doch der Zugriff auf das Geld war an die Bedingung geknüpft, dass Rosalie für einige Jahre den Friseursalon ihrer Tante führen musste. Anfangs hatte sie damit gehadert, doch mittlerweile hatte Vincent den Eindruck, dass sie sich in Vassols wohlzufühlen begann.
Seine schwerer werdenden Beine zwangen Vincent wieder zurück in die Realität. Auch wenn die Kurbelgarnitur der neuen Rennmaschine überaus leichtgängig war, brauchte man für diesen Sport nicht nur die Technik, sondern eben auch die Kondition. Es war vielleicht doch etwas vermessen gewesen, sich gleich den Berg der Extreme als sein erstes Ziel auszusuchen. Vielleicht sollte er nur eine kleine Runde über den Col de la Madeleine fahren und einen Abstecher zu Claude und Magali machen? Vincent verwarf den Gedanken. Er würde seine Freunde erst auf der Rückfahrt besuchen. Etwas anderes ließ sein Stolz nicht zu. Schließlich hatte er ein wochenlanges Trainingsprogramm auf seinem Spinning-Bike absolviert. Hinzu kam, dass er vor Rosalie schon damit geprahlt hatte und sich nicht ihrem Spott aussetzen wollte.
Von Le Barroux aus führte die Straße in Kurven und durch einen in den Fels geschlagenen Tunnel immer bergan in Richtung Malaucène. Im Moment war die Strecke nicht besonders schwierig im Vergleich zu der Steigung, die ihn noch erwartete. Wegen der zahlreichen Touristen war die Panoramastraße leider ziemlich befahren. Unter Einheimischen wurde auf die Radfahrer Rücksicht genommen. Die meisten Autofahrer hielten Abstand und überholten nur, wenn kein Gegenverkehr kam. Doch mitten in einer unübersichtlichen Kurve setzte eine dunkle Limousine plötzlich zu einem waghalsigen Überholmanöver an. Da Gegenverkehr war, zog der Wagen so dicht an Vincent vorbei, dass der Fahrtwind ihn in Richtung Seitengraben drückte. Es gelang ihm in letzter Sekunde, sein Rennrad wieder auf die Fahrbahn zu lenken und das Gleichgewicht zurückzuerlangen. Sein Herzschlag hatte sich verdoppelt, als er dem Fahrzeug mit Pariser Kennzeichen fassungslos hinterhersah.
*
Nach etwa einer halben Stunde hatte er den Ausgangspunkt für die Bergetappe erreicht und gönnte sich eine kleine Pause. Seine Motivation war nun gut, und er fühlte sich stark genug für die bevorstehende Herausforderung. Vor ihm lagen noch einundzwanzig harte Kilometer, die ihn ständig bergauf führen würden. Von Malaucène aus galt es einen Höhenunterschied von 1558 Metern zu bewältigen. Die durchschnittliche Steigung zwischen sieben und zehn Prozent war auch für einen guten Sportler eine Herausforderung. Vincent aß noch einen Energieriegel und trank einen Schluck von seinem isotonischen Getränk, dann startete er.
»Bon courage! Viel Glück!«, rief ihm ein Weinbauer freundlich winkend vom Wegesrand zu. Er grüßte frohgemut zurück. Zu Beginn der Etappe war die Steigung noch gut zu bewältigen. Vincent fuhr durch Weinfelder und kurbelte munter vor sich hin. Seine Beine traten wie von selbst, auch noch, als die Strecke durch kühlende Pinien- und Steineichenwälder führte und die Steigung anzog. Die ersten fünf Kilometer bezwang er ohne Schwierigkeiten. Dann wurde es schwieriger. Der Blick auf den Tachometer zeigte ihm, wie unendlich lang so ein Kilometer sein konnte. Er schwitzte und spürte, wie ihm das Wasser schon bald aus jeder Pore drang, da vermochte auch die beste Funktionskleidung nur wenig zu helfen.
»Allein vom Drang beseelt, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen«– die Worte des italienischen Humanisten Petrarca erschienen Vincent immer mehr wie blanker Hohn. Dabei bewunderte er diesen außergewöhnlichen Mann, der vor über siebenhundert Jahren den kühnen Entschluss gefasst hatte, als erster Mensch rein aus Selbstzweck und um des Erlebnisses willen einen Berg zu besteigen. Mit seiner Unternehmung hatte Petrarca damals die Schwelle zu einem neuen Weltgefühl überschritten. Niemand vor ihm hatte sich jemals ohne Sinn und höheren Zweck solchen Strapazen unterworfen. Man muss die Erde nicht als Jammertal sehen, sondern man kann sich auch an ihren Schönheiten begeistern, war seine Botschaft gewesen. Doch Vincent war augenscheinlich zu solcher Größe nicht fähig. Er nahm die Landschaft um ihn herum kaum wahr. Das Einzige, was ihm im Bewusstsein war, waren die Mühen, die noch vor ihm lagen.
Tapfer trat er weiter in die Pedale. Tritt für Tritt, Meter um Meter, immer weiter. Irgendwann dachte er über gar nichts mehr nach, sondern konzentrierte sich nur noch auf den Asphalt, der vor ihm lag. Ab und zu griff er zu seiner Trinkflasche, trank einen Schluck und mühte sich weiter ab. Wenn ihn sportlichere Radfahrer überholten, versuchte er sie einfach zu ignorieren. Als ihn von hinten ein Fahrer einholte und für eine ganze Zeit in seinem Windschatten fuhr, fühlte er sich wieder angespornt und strengte sich mehr an. Dann überholte der Mann und zeigte ihm an, dass er sich nun an ihn hängen konnte. Vincent sah an seinem Trikot, dass es ein Holländer war. Er versuchte das Tempo mitzuhalten, hielt aber nicht lange durch. In einer Kurve versuchte er noch einen Gang zurückzuschalten, aber er war schon auf dem letzten Ritzel. Auch im Wiegetritt ging nichts mehr. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den anderen abreißen zu lassen. Seine Niederlage war umso bitterer, weil sein Mitstreiter keinesfalls ein durchtrainierter Radsportler war, sondern ein teigiger Mittvierziger, dem das Trikot um die Hüften spannte. Ausgerechnet jemand, der aus einem Land kam, das so flach wie ein Pfannkuchen war, ließ ihn hier am Berg so alt aussehen.
Nach sechzehn unendlich langen Kilometern mit unzähligen Kurven und mörderischen Zwischensteigungen hatte er elfhundert Höhenmeter geschafft und verließ kurz darauf die Waldzone. Sechs weitere quälende Kilometer lagen noch vor ihm. Dabei hatte er Glück, dass ihm kein kalter Wind entgegenschlug, als er das karge obere Drittel des Berges befuhr. Bei knapp zehnprozentiger Steigung gelangte Vincent endgültig an seine Grenzen und musste mehrmals kurze Pausen einlegen, die ihm jedoch kaum Linderung brachten. Danach fiel es ihm jedes Mal noch schwerer, wieder auf sein Fahrrad zu steigen. Jeder einzelne Muskel tat ihm weh, und seine Lunge brannte wie Feuer. Nichtsdestotrotz lag die karge Mondlandschaft des Mont Ventoux nun in aller Pracht vor ihm. In der strahlenden Sonne blendete der Kalkschotter, der den Gipfel überzog, selbst durch die Sonnenbrille. Der hässliche Turm auf dem Gipfel, der an eine Festung mit schmalen Fenstern wie Schießscharten erinnerte, kam immer näher. Das daneben liegende Observatorium sah nicht minder abweisend aus. Dann hatte er den Gipfel endlich erreicht. Schwer atmend und abgekämpft, aber glücklich war er an seinem Ziel angekommen.
Die Aussicht war an diesem späten Vormittag hervorragend. Kein anderer Berg verstellte das Rundumpanorama. Im Osten leuchteten die verschneiten Alpengipfel in der Sonne, im Süden glitzerte blau das Mittelmeer. Im Westen konnte er das Rhônetal mit seinen Weinbergen erkennen und unter der Dunstglocke sogar Avignon mit seinem Papstpalast. Obwohl Vincent schon oft auf dem Gipfel des Ventoux gewesen war – so intensiv hatte er den Blick noch nie erlebt. Seine Leistung erfüllte ihn mit großer Zufriedenheit und ließ ihn sogar seinen Kummer um Rosalie vergessen.
Als er spürte, wie ihm vom frischen Bergwind kalt wurde, zog er seine Windjacke über und schwang sich wieder auf sein Fahrrad. Dieses Mal nahm er die Teerstraße in Richtung Bédoin. Zwei Kilometer unterhalb des Gipfels tauchte ein grauer Stein auf, der die gebückte Silhouette eines Radfahrers zeigte. Das Monument erinnerte an den englischen Radfahrer Tom Simpson, der am 13. Juli 1967 auf der dreizehnten Etappe der Tour de France an dieser Stelle umkippte und verstarb. Er war das erste bekannt gewordene Dopingopfer in der Geschichte des Radrennens gewesen. Bei seiner Obduktion entdeckte man, dass er Amphetamine geschluckt und Alkohol im Blut hatte. Unter den Radfahrern war es Brauch geworden, an seinem Gedenkstein etwas abzulegen. Dementsprechend lagen abgefahrene Bremsgummis, ein geplatzter Reifen und eine ganze Batterie an Trinkflaschen auf den Stufen vor dem Stein herum. Vincent verzichtete darauf anzuhalten und rollte leichten Herzens daran vorbei. Er genoss die zunehmend wärmer werdende Luft, die seine verschwitzten Beine längst getrocknet hatte, und träumte sich durch die Landschaft.
Über den Col de Tempêtes, der über den Grat der Schotterlandschaft führt, passierte er einen kleinen Skilift, der um diese Jahreszeit wie ein Fremdkörper wirkte. Darunter befand sich das Restaurant Chalet-Reynard, vor dem eine Menge Rennräder und Mountainbikes lehnten. Auch das ließ er links liegen, denn er hatte sich längst entschlossen, auf der Rückfahrt doch noch einen Abstecher bei Claude und Magali zu machen. An der Schutzhütte, die eine kleine Ausstellung über die Flora und Fauna des Mont Ventoux zeigte, hielt er an. Seine vom Bremsen strapazierten Handgelenke benötigten eine kurze Pause, außerdem beabsichtigte er, seine Trinkflasche an dem Brunnen aufzufüllen.
Als er auf den Parkplatz vor der Schutzhütte zurollte, stand dort die Limousine, die ihn auf der Fahrt nach Malaucène beinahe in den Straßengraben abgedrängt hatte. Zwei Männer in teuren Anzügen waren ausgestiegen und bedrängten einen Radfahrer, der offensichtlich von Bédoin aus unterwegs war. Der kräftigere der beiden Anzugträger hatte den Radfahrer an den Schultern gepackt.
»Bis übermorgen, sonst bist du fällig«, konnte Vincent verstehen.
Dann sah es einen Moment so aus, als wollte der Hüne dem ebenfalls kräftigen Radfahrer einen Faustschlag versetzen, doch sein Begleiter hatte Vincent entdeckt und gab ihm ein Zeichen.
»Wir behalten dich im Auge«, hörte Vincent noch. Ihm entging nicht die massive Drohung, die dahintersteckte. Dann wandten sich die Männer ab und stiegen in ihr Auto. Die Reifen drehten auf dem hellen Kalkschotter durch, als der Fahrer Vollgas gab und in Richtung Bédoin davonfuhr.
Vincent sah, dass das Gesicht des Radfahrers trotz seines Vollbarts ganz bleich war. Seine Hände umklammerten den Lenker so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Kann ich Ihnen helfen, Monsieur?«, erkundigte sich Vincent, der näher gekommen war.
Der Radfahrer starrte dem Wagen immer noch hinterher, bevor er Vincent endlich wahrnahm. »Was wollen Sie?«, fuhr er ihn unfreundlich an. Vincents Anteilnahme kam ihm offensichtlich nicht gelegen.
»Ich hatte das Gefühl, dass die beiden Männer Sie bedroht haben«, rechtfertigte sich Vincent unbeeindruckt. »Möchten Sie, dass ich die Polizei rufe?«
»Wir haben uns nur unterhalten.« Der Bärtige musterte Vincent unfreundlich. »Kümmern Sie sich gefälligst um Ihren eigenen Kram. Mir geht es gut.« Dann stieg er auf sein Mountainbike und fuhr grußlos in Richtung Berg davon.
*
Wenig später erreichte Vincent Bédoin und wunderte sich über den Auflauf, der dort herrschte. Im Dorf war heute noch mehr los als gewöhnlich. Da waren nicht nur Touristen, sondern auch Handwerker, die auf dem Platz vor der Schule irgendetwas installierten. Durch die Straßen war kaum ein Durchkommen, obwohl an diesem Tag nicht einmal Markttag war.
Vincent fühlte sich sofort unbehaglich. Er litt seit geraumer Zeit an einer Psychose, die es ihm unmöglich machte, längere Zeit in Menschenansammlungen zu verbringen. Das war unter anderem ein Grund dafür gewesen, dass er seine gut bezahlte Stelle als Forensiker in Paris aufgegeben hatte und zurück in das beschauliche Brillon-de-Vassols gezogen war.
Mehrere Lastwagen blockierten die ohnehin schmale Hauptstraße, und auf den Gehwegen schoben sich Touristen, als gäbe es etwas Besonderes zu sehen. Vincent verspürte keinen Drang herauszufinden, was die Ursache für den Auflauf war. Er schob sein Fahrrad durch die Menge und verließ den Ort, so schnell es ging.
Gegen Mittag erreichte er den Bauernhof der Belliers, der etwas abgelegen unterhalb der Dentelles lag, einem dem Mont Ventoux vorgelagerten bizarren Gebirgskamm. Die junge Familie saß gerade beim Mittagessen unter der schattigen Weinlaube vor dem Haus.
»Du hast dich in letzter Zeit ja ganz schön rargemacht«, warfen ihm Claude und seine Frau Magali vor. Sie waren offensichtlich sehr erfreut, ihn zu sehen, und begrüßten ihn herzlich.
»Komm, setz dich«, forderte ihn Claude auf. »Du siehst aus, als könntest du eine Stärkung brauchen. Es gibt frisch ausgebackene Zucchiniblüten aus dem Garten und danach noch etwas von Magalis wunderbarer Daube mit Wildstierfleisch aus der Camargue.«
Vincent lief das Wasser im Munde zusammen. »Ich bin noch ganz verschwitzt und möchte euch nicht zur Last fallen«, zierte er sich der Form halber. Doch Magali hatte ihm schon aus dem Haus einen Teller und ein Weinglas geholt und auf den Tisch gestellt.
»Du bist hier immer gern gesehen«, ließ sie keine weitere Widerrede zu und wies ihm den Platz neben dem Hochstuhl ihrer kleinen Tochter zu. Die kleine Emma war offenkundig über den Besuch hocherfreut und schlug voller Begeisterung mit ihrem Löffel auf den Tisch. Vincent schnitt ein paar Grimassen, was die Kleine nur noch mehr amüsierte. Dann fing sie plötzlich an zu quengeln.
»Sie hat Hunger«, erklärte Magali und begann ihre Tochter zu füttern. »Am besten kriegt sie ihren Willen, sonst können wir unser Essen später nicht in Ruhe genießen.«
»Lass uns schon mal ein Glas Wein trinken«, schlug Claude vor und schenkte aus einer Karaffe allen etwas Rosé ein. Er stieß mit Vincent an und fragte ihn über seine Radtour aus. Voller Stolz berichtete dieser über sein kleines Abenteuer und ignorierte tapfer seinen strapazierten Hintern und seine müden Knochen.
»Donnerwetter, da hast du dir ja so einiges zugetraut«, meinte Claude voller Anerkennung. Er war selbst ein begeisterter Rennradfahrer. »Ich wünsche dir nur, dass du es morgen nicht allzu sehr bereuen wirst.«
»Ich weiß schon jetzt, dass ich mich morgen vor Muskelkater kaum mehr werde rühren können«, fürchtete Vincent. Im Augenblick war ihm das jedoch völlig gleichgültig, weil der Stolz auf seine Leistung immer noch alles überstrahlte.
»Hast du in Bédoin auch etwas von den Filmarbeiten mitbekommen?«, wollte Magali wissen, die unterdessen mit dem Füttern ihrer Tochter fertig geworden war.
»Ich hab nicht allzu viel davon gesehen«, gestand er.
Magali ging nicht darauf ein. Sie war ganz aufgeregt. »Sie drehen dort einen Dokumentarspielfilm über die Geschichte des Mont Ventoux. Es ist eine Idee von Yannis Quebec. Er hat das alles wohl initiiert. Soweit ich gehört habe, hat er sowohl das Drehbuch geschrieben als auch gemeinsam mit seinem Manager das Geld dafür beschafft. Er wird außerdem die jeweiligen Hauptrollen in den begleitenden Spielfilmszenen übernehmen. Der Schwerpunkt liegt natürlich auf der Auto- und Radfahrgeschichte. Die ganze Gegend steht deswegen kopf. Sie suchen Statisten aus den umliegenden Dörfern und auch sonst Leute, die ihnen bei den Dreharbeiten zur Hand gehen. Sag bloß, du hast noch nichts davon erfahren.«
Vincent hatte von alldem natürlich keine Ahnung. »Ihr wisst ja, dass ich Menschenmengen nicht gut vertrage, deswegen bin ich gar nicht stehen geblieben«, gestand er freimütig.
»Mir kann der ganze Trubel auch gestohlen bleiben«, sprang ihm Claude zur Seite. »Diese Filmarbeiten werden nur noch mehr Radfahrer an unseren Ventoux locken. Man kann ja jetzt schon kaum mehr in Ruhe radeln. Jeder Tourist bildet sich doch ein, einmal auf den Berg fahren zu müssen.«
»Ganz schlimm finde ich die Mountainbike-Fahrer mit Elektromotor«, empörte sich Magali sofort. »Mittlerweile zerstören ganze Horden den Wald. Claude und seine Leute haben alle Hände voll zu tun, um den Schaden, den sie anrichten, wieder in den Griff zu bekommen.«
»Mal ganz abgesehen davon, dass es zunehmend Verletzte gibt«, fügte Claude hinzu. Als Garde Champêtre, als Forstpolizist, war er für die Instandhaltung der Wälder rund um den Ventoux zuständig. »Die E-Biker sind doch alle nicht trainiert. Der Motor hilft ihnen vielleicht, den Berg hinaufzukommen, aber beim Runterfahren kommt es immer wieder zu heftigen Stürzen, weil sie ihre schweren Räder beim Bremsen nicht im Griff haben.«
»Wir sind hier schließlich alle auf die Touristen angewiesen«, gab Vincent zu bedenken.
»Das sollte uns nicht davon abhalten, nun endlich zu essen!«, beendete Claude das Thema und stand auf.
Wenig später stand eine Platte mit frisch in Olivenöl und Eierteig ausgebackenen Zucchiniblüten auf dem Tisch. Dazu ein bunter Wildkräutersalat mit Walnüssen und frisches Pain à l’ancienne. Magali hatte vor dem Ausbacken in die Zucchiniblüten einen Löffel Ziegenfrischkäse gegeben, was dem Gericht einen raffinierten Anstrich verlieh. Vincent, der selbst ein passionierter Hobbykoch war, lobte die Köchin begeistert. Auch der Rosé aus der Cooperative in Caromb passte hervorragend dazu.
»Warte nur, bis du die Daube kostest«, versprach Claude grinsend. »Die habe ich selbst angesetzt. Ich habe sie über dem Feuer nach alter Tradition mindestens sieben Stunden garen lassen.«
Er hatte nicht zu viel versprochen. Wenig später stand die tönerne Daubière auf dem Tisch und verströmte einen würzigen, aromatischen Geruch. Das knusprige Landbrot passte hervorragend zu dem Schmorgericht, in dem sich neben dem dunklen Stierfleisch auch Kartoffeln, Möhrenstücke, Zwiebeln, Oliven und Kräuter der Provence befanden. Die Schale einer Orange verlieh dem Gericht eine raffinierte, herbe Fruchtnote. Vincent aß mit großem Appetit auch noch eine zweite Portion. Dazu tranken sie ein Glas Rotwein aus Vacqueiras.
Als Claude ihm noch ein drittes Mal auftun wollte, winkte Vincent ab. »Wenn ich jetzt noch etwas esse oder trinke, dann kann ich nach Vassols hinunterrollen, und zwar ohne Fahrrad«, stöhnte er. Doch Magali kam schon mit einem Clafoutis, einem herrlich lockeren Kirschauflauf, aus der Küche und nötigte Vincent, auch davon noch ein Stück zu probieren. Erst nachdem er dieses verzehrt und einen kleinen Café noir getrunken hatte, waren seine Gastgeber zufrieden.
»Das Essen war hervorragend. Ihr könntet wahrlich ein Restaurant eröffnen.« Er erhob sich schwerfällig von seinem Stuhl und machte Anstalten zu gehen.
»Apropos Essen – hast du nächsten Freitagabend Zeit?«, erkundigte sich Magali. »Claude hat mal wieder Lamm von der Causse bekommen. Ein Kollege von der dortigen Police rurale hat ihm eine wunderbare Lammkeule überlassen …«
Vincent hob abwehrend die Arme. »Ich kann doch nicht schon wieder zu euch …«
»Rosalie kommt übrigens auch.« Claude zwinkerte ihm vielversprechend zu, woraufhin Vincent freudig zusagte. Die Aussicht, endlich einmal wieder einen Abend mit Rosalie zu verbringen, verlieh ihm neue Hoffnung.
»Okay, das war’s!«
Rachids Cousin Ali hatte soeben den letzten Gurt auf dem Anhänger festgezurrt und saß bereits wieder in der Kabine seines Abschleppwagens. »Ich mach mich gleich morgen an dein Auto. Mach dir keine Sorgen, das wird schon.« Er zwinkerte Rosalie zum Abschied zu.
»L’affaire est dans le sac! – die Sache ist so gut wie geritzt!« Rachid strahlte Rosalie treuherzig an. »Was ist, kommst du noch mit auf einen Kaffee zu Josef?«
»Ein andermal gern, aber die Zeit läuft mir davon«, bedauerte Rosalie. »Ich geh noch kurz über den Markt, und dann muss ich mich wohl oder übel auf mein Fahrrad schwingen. Suzanne wird schon ganz ungeduldig sein!«
»Ich werde dich hinbringen«, schlug Rachid großzügig vor. »Ich muss nur vorher kurz meiner Schwester Bescheid geben, damit sie im Laden bleibt.«
»Lass mal!« Rosalie wiegelte ab. Rachids Hilfsbereitschaft schien keine Grenzen zu kennen, und genau das war es, was ihr plötzlich missfiel. Sie mochte nicht, dass er ihr noch einen Gefallen tat. »Ein wenig Bewegung wird mir guttun. Außerdem muss ich noch über etwas nachdenken.«
»Wie du meinst!« Rachid nahm es gelassen. Im Gegensatz zu Vincent war er weit weniger empfindlich, wenn man seine Hilfe ablehnte. Sie mochte seine direkte Art und schätzte seine Fähigkeit, alle Probleme pragmatisch zu lösen. Vor allem in handwerklichen Dingen war er unschlagbar und hatte für alles eine Lösung bereit. Außerdem verbanden sie beide ihre nordafrikanischen Wurzeln. Auf der anderen Seite war nicht zu übersehen, dass er in letzter Zeit auffällig darum bemüht war, möglichst viel Zeit mit ihr zu verbringen. Rosalie fürchtete, dass er in sie verliebt sein könnte, und das machte die Beziehung zu ihm dann doch wieder kompliziert … Während sie ihren Gedanken nachhing, bekam sie überhaupt nicht mit, wie Rachid sie etwas fragte.
»Und, was denkst du? Hörst du mir überhaupt zu?«
Sie zuckte unwillkürlich zusammen und lächelte ihn entschuldigend an. »Verzeih, ich hab nur gerade überlegt, ob ich meinen Laden abgeschlossen habe«, log sie rasch. »Was hast du gesagt?«
»Na, dass ich dich Freitagabend gern zum Essen ausführen möchte«, wiederholte Rachid geduldig. »In Carpentras hat ein Bekannter meiner Mutter ein neues Restaurant eröffnet. Seine Tajine ist fast noch besser als die von Zora.« Er lächelte und nahm ihre Hand. »Es ist mir sehr wichtig, denn ich habe eine Überraschung für dich!«
»Schade, das wird wohl nicht gehen!«, bedauerte Rosalie. »Ich habe für diesen Abend schon bei Magali und Claude Bellier eine Einladung.«
Dieses Mal gelang es ihm nicht, seine Enttäuschung zu verbergen.
»Wie schade! Der Abend sollte etwas ganz Besonderes werden.«
»Ein anderes Mal gern.« Rosalie hatte plötzlich das Bedürfnis, die Unterhaltung rasch zu beenden. »Wir finden bestimmt einen anderen Termin.« Sie gab Rachid einen Wangenkuss und machte, dass sie davonkam.
Auf dem Wochenmarkt war um kurz vor zwölf reger Betrieb. Viele Bewohner von Vassols und aus der näheren Umgebung nahmen die Gelegenheit gern wahr, sich einmal in der Woche über den neuesten Tratsch auszutauschen. Rosalie rief Suzanne an und teilte ihr mit, dass sie erst am Nachmittag zu ihr kommen könne. Die Pläne für den Einkaufsbummel durch Avignon hatte sie längst aufgegeben. Nun, da alles wegen des kaputten Autos durcheinandergeworfen war, konnte sie genauso noch ein wenig Zeit auf dem Markt verbringen.
Vor dem Obststand, an dem heute hauptsächlich Kirschen und die ersten Aprikosen feilgeboten wurden, traf Rosalie auf Hervé Ligier und Bruno Bouvier. Bei ihnen stand ein ausnehmend gut aussehender junger Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Nachdem Rosalie ihre beiden Bekannten mit Küsschen und dem üblichen Smalltalk begrüßt hatte, stellte Bruno ihr seinen Begleiter als Lucas Leroy vor. Er war der neue Gehilfe in seiner Boucherie und ebenfalls Traiteur. Bruno und sein Bruder Etienne betrieben die örtliche Metzgerei, in die ein Feinkostladen integriert war. Es war ein offenes Geheimnis, dass Bruno lieber ein eigenes Restaurant eröffnet hätte, als hinter der Fleischertheke zu stehen und ständig seiner strengen Mutter Joséphine Rechenschaft abzulegen. Doch bislang hatte er nicht den Mut dazu aufgebracht. Immerhin hatte er sich seiner Mutter gegenüber so weit durchgesetzt, dass er neben seiner Metzgerei noch einen Catering-Service aufgebaut hatte. Das Geschäft musste gut angelaufen sein, überlegte Rosalie, wenn er es sich jetzt schon leisten konnte, einen Gehilfen anzustellen.
Für einen Traiteur war Lucas Leroy noch ziemlich jung. Sie schätzte ihn auf Anfang, Mitte zwanzig. Sein halblanges samtschwarzes Haar fiel in einer leichten Außenwelle auf seine Schultern und verlieh ihm einen femininen Anstrich. Rosalie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als ihr Hervé Ligiers schmachtende Blicke auffielen. Er fühlte sich offenkundig von dem Traiteur angezogen. Es war ein offenes Geheimnis im Dorf, dass Hervé schwul war, obwohl er mit Lucinde verheiratet war. Die beiden betrieben den örtlichen Lebensmittelladen und hatten eine liaison arrangée, die allein dem Zweck diente, dass sie ein gemeinsames Auskommen hatten. Das Betreiben dieser Art von Ladenketten war nämlich nur Eheleuten erlaubt. Hervé hatte ungefähr so viel Interesse an Frauen wie eine Kuh am Zeitunglesen, während man über Lucinde munkelte, dass sie über das Internet immer wieder Männerbekanntschaften unterhielt. Das alles wurde in dem kleinen Ort allerdings nicht an die große Glocke gehängt, auch wenn die meisten Einheimischen sich sehr wohl ihre Gedanken darüber machten.
Das Gespräch der drei Männer drehte sich um das Eintreffen der Filmcrew in Bédoin. Bruno war überaus stolz, dass er den Auftrag bekommen hatte, für das leibliche Wohl des gesamten Teams zu sorgen.
»Vier Wochen lang liefere ich jeden Tag dreißig Mittag- und Abendessen. Außerdem verlangt Quebec für sich und die anderen Schauspieler Snacks für zwischendurch, und ab und zu kommt noch eine größere Presseveranstaltung hinzu«, verkündete er zufrieden. »Damit habe ich meinen Jahresumsatz schon fast in der Tasche.«
»Gratuliere!« Rosalie freute sich für den begeisterten Koch. In Anbetracht solcher Herausforderungen wuchs er über sich hinaus. »Also wirst du in nächster Zeit hauptsächlich in Bédoin sein?«
»Pas du tout, überhaupt nicht, ich bereite das Essen hier in Vassols zu, und Lucas«, er deutete auf seinen Gehilfen, »wird die Gerichte dann ausliefern und sich vor Ort um alles kümmern.« Er grinste schelmisch. »Er sieht einfach besser aus als ich.«
»Da wird dir wohl keiner widersprechen«, meinte Hervé mit einem Zwinkern in Richtung Lucas. Dieser lächelte ohne Scham zurück, was den armen Hervé zum Erröten brachte.
»Wer weiß, vielleicht werben sie dir ja deinen Mitarbeiter gleich wieder ab«, setzte Rosalie gleich munter noch einen obendrauf.
Lucas strahlte nun auch in ihre Richtung.
»Das wird er ganz schön bleiben lassen«, brummte Bruno. »So einen guten Job wie bei mir bekommt er so schnell nicht wieder.«
»Keine Angst, ich liebe meinen Beruf!«, versicherte Lucas treuherzig. Rosalie fand den Kerl auf Anhieb sympathisch. Er schien unkompliziert und offen zu sein.
»Warst du schon mal bei dem Filmteam?«, erkundigte sie sich neugierig.
»Gestern Abend war ich zum ersten Mal dort. Quebec hat in seiner Villa eine Party für die Filmleute geschmissen. Alles war furchtbar durcheinander, aber sooo aufregend!« Er lächelte in die Runde. »Dabei habe ich Yannis Quebec sogar persönlich kennengelernt. Wir hatten Gelegenheit, uns ein wenig zu unterhalten.« Sein Blick bekam etwas Versonnenes, als er über den Star sprach. Offensichtlich war er von ihm sehr beeindruckt.
»Ist er wirklich so charmant, wie alle Welt immer von ihm behauptet?« Rosalie wusste aus den Gazetten in ihrem Salon, dass Quebec als vielumschwärmter Herzensbrecher galt.
»Mehr als das!« Lucas geriet sofort ins Schwärmen. »Er ist elegant, weiß sich zu bewegen und hat eine Ausstrahlung, die im Innersten berührt.« Nun war sich Rosalie sicher, dass Hervé nicht umsonst einen Blick auf Lucas geworfen hatte.
»Und erst seine Figur«, fügte Hervé hingerissen hinzu. »In Les Enfants d’Amour verblassen einfach alle anderen Hauptdarsteller neben ihm, nicht wahr?«
Bruno warf seinem Freund einen irritierten Blick zu. »Also mich interessieren ja in den Filmen die Weiber und nicht die Männer.«
»Und ich finde, dass man viel zu viel Aufhebens über seine schauspielerischen Qualitäten macht«, gab nun auch Rosalie ihren Senf dazu. »Als Sportmoderator hatte er wenigstens Ahnung und wusste, wovon er sprach. Als Schauspieler ist er für mich austauschbar. Er zeigt für mich einfach keine Ecken und Kanten.«
»Auf jeden Fall ist er superbe sympathisch«, resümierte Lucas. »Allein seine Anwesenheit macht aus dem provinziellen Bédoin nun eine Metropole rund ums Filmgeschehen. Ich bin froh, dass Bruno mir den Job überlassen hat!«
»Ach, ich wünschte, ein wenig von dem Glamour käme auch hier in Vassols an«, seufzte Rosalie sehnsüchtig. »Brauchen die nicht noch jemanden, der ihnen die Haare macht?« Die Arbeit in ihrem Friseursalon Les Folies Folles machte ihr zwar Spaß, doch sie sehnte sich nach ein bisschen mehr Ablenkung. Das Dorfleben war doch oft sehr beschaulich.
»Na klar!« Lucas’ Augen funkelten vergnügt. »Du bist doch hier die Friseurin, nicht wahr?«
»Haarkünstlerin«, stellte Rosalie klar.
»Die Maskenbildnerin sucht tatsächlich noch jemanden, der ihr zur Hand geht, am liebsten eine Friseurin!«
»Haarkünstlerin«, wiederholte Rosalie. Ihre Neugier war jedoch geweckt. »Meinst du, die Stelle ist noch frei?«
»Wenn du willst, kann ich gleich heute Nachmittag nachfragen«, bot sich Lucas sofort an. »Ich kann dich auch gleich mitnehmen, wenn du willst!« Er schenkte ihr einen hinreißenden Blick aus seinen dicht bewimperten Augen, was Hervé überhaupt nicht gefiel.
»Heute nicht, da hab ich schon was vor. Aber wie wär’s mit morgen Nachmittag? – Ich bin übrigens Rosalie!« Sie lächelte ihm kokett zu. Damit war die Sache abgemacht.
»À bientôt, ma Chérie! – Ich kann es kaum noch erwarten, bis du endlich bei mir bist!«
Mit einem genussvollen Seufzer legte Yannis sein Handy beiseite und blickte selbstzufrieden von seiner Terrassenliege aus in Richtung des Mont Ventoux. Wie angenehm es doch war, wenn das Leben endlich in den richtigen Bahnen verlief. Beruflich befand er sich als Schauspieler, Koproduzent und Drehbuchautor auf dem Zenit seiner Laufbahn. Alle bewunderten ihn, und er konnte es sich leisten, endlich die Projekte umzusetzen, von denen er immer geträumt hatte. Obwohl er auch als Radsportler viele Jahre überaus erfolgreich gewesen war, war sein jetziges Leben sehr viel angenehmer. Ohne Wehmut dachte er an all die Jahre, in denen er sich nur gequält hatte, um ein guter Sportler zu sein. Er konnte sich heute kaum noch vorstellen, wie er die Plackerei der ständigen Trainingseinheiten und die Disziplin des damit verbundenen mönchischen Lebens überhaupt ausgehalten hatte. Feiern, Liebschaften, Alkohol – all das hatte er erst in seinem Leben danach kennengelernt. Er griff nach dem Glas Pastis neben sich und trank es in einem Zug leer. Obwohl es gerade erst Mittag war, hatte er bereits mehrere Gläser intus und spürte die beruhigende Kraft des Alkohols. Vor ihm spiegelte sich das glitzernde Sonnenlicht in dem türkisfarbenen Wasser des Swimmingpools. Aus den Borken der umstehenden Olivenbäume zirpten die ersten Zikaden ihre schnarrenden Sommerlieder. Alles war wunderbar!
Das Haus, das man ihm während der Filmarbeiten zur Verfügung gestellt hatte, bot wirklich jeden erdenklichen Luxus. Sieben Zimmer, vier Bäder, eine offene Wohnküche und ein Séjour mit einem großen offenen Kamin. Von der ausladenden Terrasse hatte Yannis einen unverstellten Blick auf den Ventoux, zum Dorf waren es weniger als zwei Kilometer. Vielleicht sollte ich mir das Haus kaufen, falls ich Melissa bitte, mich zu heiraten.
Der Gedanke, sich an diese Frau zu binden, schwirrte Yannis schon seit einiger Zeit durch den Kopf. Melissa war schon etwas ganz Besonderes. Er hatte immer noch ihre samtweiche Stimme im Ohr, die ihn selbst durch das Telefon erregte. Ob sie wohl bereit war, ihm das Jawort zu geben? Natürlich liebte sie ihn. Er hatte gerade erst gespürt, wie verrückt sie nach ihm war – und er auch nach ihr. Aus all den unzähligen Affären, die er in den letzten Monaten und Jahren gehabt hatte, stach sie schon als etwas ganz Besonderes hervor, dabei spielte das Vermögen, das ihr Vater besaß, nicht einmal die größte Rolle. Melissa Broutignant hatte es als erste Frau verstanden, ihn als Mensch zu berühren. Deswegen liebte er sie. Sie war ihm vor einigen Monaten einfach so in Paris über den Weg gelaufen, ohne zu wissen, wer er überhaupt war. Ihr unbekümmerter Charme hatte ihn sogleich beeindruckt. Er hatte sie spontan zu einem Kaffee einladen wollen, doch sie hatte ihm die kalte Schulter gezeigt. Als er sich zu erkennen gegeben hatte, war sie keineswegs beeindruckt gewesen, wie er es sich erhofft hatte. Er hatte sich mächtig ins Zeug legen müssen, um ihr ein erstes Date abzuringen.
Yannis tat etwas Eis aus dem Eiskübel ins Glas und goss neuen Pastis darüber. Der klare Alkohol vermischte sich mit dem Eis zu einer milchigen Flüssigkeit.
Mit Melissa konnte er sich tatsächlich vorstellen, alt zu werden. Sie war nicht nur sexy, witzig und intelligent. Sie teilte auch sein Interesse für den Radsport und bewunderte ihn als Schauspieler und Mensch. Darüber hinaus hatte sie ihm gezeigt, dass es auch noch andere Dinge gab, für die es sich einzusetzen lohnte. Als sie ihn zum ersten Mal mit in das Hospiz genommen hatte, in dem sich sterbenskranke Kinder aufhielten, hatte er sich völlig überfordert gefühlt. Doch dank ihr war es ihm gelungen, sich darauf einzulassen. Zu seiner Überraschung zog er aus dem Zusammensein mit den todkranken Kindern sogar eine gewisse Befriedigung. Das war eine ganz neue Erfahrung für ihn, der nur gelernt hatte, an sich selbst zu denken. Ja, Melissa würde in der Lage sein, aus ihm einen besseren Menschen zu machen, wenn das alles hier überstanden war.
Seit Yannis den Radsport vor zwei Jahren an den Nagel gehängt hatte, um als Sportmoderator und später dann als Filmstar Karriere zu machen, hatte er begonnen, sehr ausschweifend zu leben. Der Ruhm und die Bewunderung seiner Fans hatten das Übrige getan. Und doch fühlte er sich oft allein und konnte die Einsamkeit nur ertragen, wenn er sich mit Alkohol volllaufen ließ. Er war sich bewusst, wie schädlich das war, und konnte doch nicht anders. Wenn er nicht vor die Hunde gehen wollte, war es höchste Zeit, sein Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Doch für das neue Projekt benötigte er nochmals alle Energie, die er aufbringen konnte.
Die Produktion des Dokumentarspielfilms über die Rad- und Autosportgeschichte des Mont Ventoux, die er gemeinsam mit seinem ehemaligen Geliebten und Manager Rémy Raunard auf die Füße gestellt hatte, war nicht nur eine große Herausforderung, sondern auch ein finanzielles Wagnis. Sie hatten keine Kosten und Mühen gescheut. Ihm wurde noch jetzt ganz schwindlig, wenn er an die auf zweieinhalb Millionen Euro geschätzten Kosten dachte. Allein schon aus diesem Grund war es gut, dass ihm jemand zur Seite stand, der ihn auch erden konnte. Der einzige Wermutstropfen war der Umstand, dass Melissa von ihm auch in sexueller Hinsicht Treue verlangte. Und gerade damit hatte Yannis enorme Schwierigkeiten. Er hatte es mehrfach versucht, doch sein Schwanz schien, losgelöst von seinem Verstand, oft ein Eigenleben zu führen. Sobald ihm jemand Attraktives über den Weg lief und sich noch dazu die passende Gelegenheit bot, fühlte er sich wie fremdgesteuert. Dabei war es völlig gleichgültig, ob es sich um eine hübsche Frau oder einen attraktiven Mann handelte. Yannis war nicht nur sexsüchtig, sondern er fühlte sich gleichermaßen zu beiden Geschlechtern hingezogen, was ihn nicht nur einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte. Würde es ihm gelingen, Melissa zuliebe so ohne Weiteres auf all die schönen Abenteuer zu verzichten?
Yannis trank das nächste Glas leer. Vielleicht sollte er sich mit dem Heiratsantrag doch lieber noch etwas Zeit lassen, wenigstens bis zum Ende der Dreharbeiten? So konnte er noch einmal das Leben in vollen Zügen genießen, bevor er sich an die Kette legen ließ. Der attraktive Traiteur kam ihm plötzlich in den Sinn. Er fand ihn ungemein sexy. Unwillkürlich ging sein Griff wieder in Richtung Flasche. Da hörte er über den Kies der Einfahrt ein Fahrzeug kommen, das kurz darauf energisch hupte. Yannis zuckte zusammen. Verdammt! Er hatte Rémy und das Fahrradrennen ganz vergessen.
*
Rémy hupte genervt. Vor gut einer Stunde war er in Bédoin mit Yannis verabredet gewesen. Doch der Kerl war einfach nicht aufgetaucht. Verärgert stieg er aus dem Wagen und klingelte Sturm. Als ihm Yannis kurz darauf die Tür öffnete und mit seinem arglosen Lächeln verriet, wie hoch sein Alkoholpegel war, bestätigten sich seine Befürchtungen.
»Hey, Rémy, komm rein.« Die Begrüßung klang so entspannt, als hätten sie alle Zeit der Welt. Ein Blick in die glasigen Augen und die schwerfällige Aussprache sprachen Bände. Yannis war angetrunken, obwohl sie ausgemacht hatten, dass er wenigstens so lange keinen Tropfen Alkohol anrührte, bis das Rennen und die Interviews vorüber waren.