Maggie Yellow Cloud - Brita Rose Billert - E-Book

Maggie Yellow Cloud E-Book

Brita Rose Billert

0,0

Beschreibung

Skrupellos setzt eine Pharmafirma ein neues Medikament ein, dass tödliche Nebenwirkungen hat. Dr. Maggie Yellow Cloud stößt bei ihren Recherchen dazu auf eine Studie der kanadischen Professorin Le Roux, die bereits vor Jahren Beweise veröffentlichte und eine Klage erwirkte. Doch der Zugang zu diesem Artikel wurde gesperrt. Tage später wird Maggie bedroht. Als Le Roux gekidnappt wird und Dr. Simon McPherson spurlos verschwindet, spitzt sich das Geschehen zu. Zur gleichen Zeit tyrannisiert Red Bow mit seiner Gang das Land und schreckt vor nichts zurück, nicht mal vor Mord. Die Notaufnahme des Hospitals ist überfüllt. Die Polizei steht vor einer Mauer des Schweigens.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 414

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zur Autorin:

Brita Rose Billert wurde 1966 in Erfurt geboren und ist Fachschwester für Intensivmedizin und Beatmung, ein Umstand, der auch in ihren Romanen fachkundig zur Geltung kommt. Ihre knappe Freizeit verbringt sie mit ihrem Pferd beim Westernreiten durch das Kyffhäuserland in Thüringen. Sie hat durch ihre Reisen in die USA viele Freundschaften mit Native Indians in Utah, South Dakota und British Columbia geschlossen. Diese Tatsache, die Liebe zu den Pferden und ihrem Job inspirieren Sie zum Schreiben. 15 Romane sind bereits publiziert.

Autorenhomepage: www.brita-rose-billert.de

Die Dinge wiederholen sich, gute und böse, im Algorithmus der Zeitepochen. Wir nennen es: Der siebenstufige Berg ...im Kreis der Schöpfung seit Anbeginn. Das Leben konnte sich immer wieder entfalten und die Erde wurde immer wieder fruchtbar.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 - Vorspann

Kapitel 2 - Red Bow

Kapitel 3 - Der junge Medizinmann

Kapitel 4 - Ärger

Kapitel 5 - Schlechte Medizin

Kapitel 6 - Verschwörung

Kapitel 7 - Skrupellos

Kapitel 8 – Der siebenstufige Berg

Kapitel 9 – Um Haaresbreite

Kapitel 10 – Der Prozess

Kapitel 11 – Geheimnisse

Vorspann

Jay White Horse hockte auf dem großen, grauen Stein am Sheep Mountain Table, einem Aussichtspunkt, der einen wundervollen Blick über das Gebiet der Badlands bot. Der Wind spielte mit seinem offenen Haar. Obwohl sie tiefschwarz waren, umspielten sie lodernden Flammen gleich seinen Kopf. Der siebzehnjährige Lakota beobachtete die schlanke weibliche Gestalt, die vor ihm in der Nähe des Abgrunds stand. Sie bewegte sich langsam und anmutig. Ihre Bewegungen glichen beinahe einem Tanz aus einer fremden Welt. Das Mädchen lächelte. Jay konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden. Shayla Ann war sechzehn und ging in dieselbe Schule wie Jay, in die Red Cloud Indian School. Jay spürte, dass sein Herz zu schnell pochte. Ihm war heiß. Der Wind kühlte seine Haut angenehm, doch seine Handflächen waren feucht. Ein Zeichen dafür, wie aufgeregt er war. Vielleicht war er auch verunsichert. Ständig versuchte er, seine Handflächen an der Jeans trocken zu reiben. Shayla Ann sah ihn an. Unentwegt blickte sie in seine Augen. Ihr Lächeln fand seinen Weg in die Seele des jungen Mannes, wo es sein Herz berührte. Sie waren allein hier oben. Das erste Mal! Niemand beobachtete sie. Dieser Teil der Badlands gehörte noch zum Pine-Ridge-Reservat und zu dieser Jahreszeit verirrte sich kaum jemand hier hinauf, schon gar keine Touristen. In diesem Jahr hatte der Frühling spät Einzug gehalten. Bis Mitte des Monats war der Boden noch gefroren. Erst in den letzten Tagen war es erstaunlich warm, windig und trocken geworden. Die Temperaturen an diesem Tag waren frühsommerlich. Es schien gerade, als ob die Natur meinte, etwas ausgleichen zu müssen.

Dementsprechend würde der Frühling wohl schon nach kurzer Zeit in einen heißen, Sommer übergehen, in dem die Sonne das Land wüstenähnlich verbrannte und der Präriewind es austrocknen würde. Erste grüne Grashalme, Wiesenblumen und die Blätter am Gesträuch kämpften sich mit Macht aus dem Winterschlaf. Schmeichelnd drang ihr Duft in die Nasen aller Lebewesen. In der Abendsonne dieses Tages schimmerten die sonst weißen Kalktürme der Badlands in Farbtönen von Orangerosa bis Knallrot. Ein wundervolles Naturschauspiel, das jeden Betrachter in seinen Bann ziehen musste. Sanft bog der Wind das Büffelgras, als wolle er es in den Schlaf wiegen. Shayla Ann reichte Jay ihre Hand. Er nahm sie vorsichtig, fast als befürchte er, sie zu zerbrechen. Sanft zog er die junge Frau näher zu sich, die das gern geschehen ließ. Ihre dunklen Augen funkelten wie die Sterne in der Nacht. Jay blieb auf dem Stein sitzen, als wäre er inzwischen darauf angewachsen. Direkt vor ihm blieb Shayla Ann stehen. Sie legte ihren Kopf ein wenig schräg, musterte ihn und kicherte schließlich leise.

»Was ist?«, fragte Jay verunsichert.

Oh nein, Jay war kein Feigling. Jay White Horse war ein starker junger Mann, er war klug und selbstbewusst und er war auch verliebt. Das war er gewiss nicht das erste Mal. Aber heute liebte er. Shayla Ann Blue Bird war etwas Besonderes, dessen war er sich bewusst.

»Lass uns zum Ende des Weges fahren«, sagte sie.

Jay lächelte.

»Okay«, meinte er und zog Shayla Ann noch näher zu sich. Seine Arme schlangen sich um die schlanke Gestalt der jungen Frau. Ihre Arme hingegen legten sich sanft um seinen Hals. Der Wind wirbelte die Haare der beiden Menschenkinder durcheinander, als wären sie eins. Sie küssten sich zunächst zaghaft, dann immer leidenschaftlicher. Jay bemerkte sehr wohl, dass auch ihr Herz zu schnell schlug, genau wie sein eigenes. Eine angenehme Wärme verbreitete sich im ganzen Körper. Jay spürte Shayla Anns Atemzüge.

Erst ein Motorengeräusch ließ die beiden aufhorchen, worauf sie sich voneinander lösten und sich umsahen. Jay erhob sich und stieg auf den Stein, auf dem er zuvor gesessen hatte. Staubwolken tauchten auf. Deutlich konnte er bereits vier Wagen erkennen, die sich schnell näherten.

»Shit«, zischte er kaum hörbar.

»Wer ist das?«, fragte Shayla Ann.

Jay schnappte nach Luft und schüttelte den Kopf. Er schien plötzlich sehr aufgeregt zu sein. Bevor er antwortete, sprang er vom Stein und schnappte die junge Frau am Arm.

»Komm!«, rief er und zog sie mit sich. Sein Wagen, ein alter Chevy Pickup, von dessen Karosse die hellblaue Farbe bereits abblätterte, stand nur wenige Fuß hinter ihm. Doch die fremden Wagen waren schnell. Jay rannte und schleifte die ahnungslose Shayla hinter sich her. Sie schien die Gefahr zu spüren, die in der Luft lag und sie beide bedrohte. Jay spürte ihr Zittern. Doch dann, direkt vor Jays Wagentür, stolperte sie und stürzte. Ihr kurzer Aufschrei wurde vom Lärm der vier Wagen erstickt, die bereits so nah heran waren, dass er die Fahrer darin erkennen konnte. Jay rang nach Luft, während er versuchte, Shayla Ann in seinen Chevy zu bugsieren. In seinem Mund klebte der Staub, den die Wagen aufwirbelten. Die hatten sie inzwischen eingekreist, indem sie fortwährend um das junge Paar herumfuhren.

Jay spürte, wie sehr seine Freundin sich an ihm festkrallte. Er fühlte ihre Angst, aber er empfand auch seine eigene. Schweiß trat ihm aus allen Poren. Die Fahrer und deren Beifahrer hatten die Seitenscheiben herabgelassen, schrien und lachten.

Einige anzügliche Wortfetzen erreichten Jays Ohren.

»Setz dich in den Wagen, verriegele die Türen und flieh! Versuch, Hilfe zu rufen. Ich versuche, sie von dir fernzuhalten«, schrie Jay durch den Lärm.

Shayla Ann nickte und tat sofort, was Jay verlangte. Sie spürte, wie gefährlich ihre Lage war. Gegen eine Bande von acht, vielleicht sogar mehr Leuten, hatten sie keine Chance. Die kreisenden Wagen stoppten. Aus jedem Fahrzeug stiegen zwei junge Männer. Aus einem Auto stiegen sogar zwei junge Frauen. Ob Lakota oder nicht, Uramerikaner waren sie alle. Reglos stand Jay in ihrer Mitte. Eine Flucht war aussichtslos und deshalb sinnlos. Schwer atmend wartete er auf das, was nun kommen würde. Jay wusste, dieser Besuch geschah nicht in freundschaftlicher Absicht. In letzter Zeit hatte es hier bereits mehrere Angriffe jugendlicher Banden gegeben, die um die Vorherrschaft in der Reservation kämpften. Sie selbst nannten sich die Krieger der neuen Zeit. Jay gehörte nicht zu ihnen. Er war groß und sportlich und ganz bestimmt kein Feigling. Auch geprügelt hatte er sich schon. Doch in diesen Momenten hatte Jay Angst. Er hatte Craig Red Bow längst erkannt. Jay wusste, dass der keine Gnade kannte. Der Bursche war vier Jahre älter als er und Jay wusste auch, der ging über Leichen. Gegen ihn und seine Gang hatte Jay allein keine realistische Chance.

»Hallo White Horse«, grüßte Craig. Das klang nicht einmal unfreundlich.

Jay nickte zum Gruß. Er schluckte schwer. Seine Kehle brannte. Die Männer und Jugendlichen, einige davon in Jays Alter, einige jünger, grinsten. Langsam zog sich der Ring um Jay herum immer enger zusammen.

»Weshalb steigst du nicht in deinen Wagen?«, fragte Craig.

Gute Idee, dachte Jay. Weshalb eigentlich nicht? Er wandte seinen Blick zu seinem Chevy. Die beiden jungen Frauen lehnten an der Motorhaube, hatten ihre Arme verschränkt und kauten offensichtlich gelangweilt auf Kaugummis herum. Jay kannte sie beide. Susan war achtzehn und Kathy siebzehn. Sie gingen noch zur Schule. Susan war ein halber Kerl und durchaus nicht auf den Mund gefallen. Sie prügelte sich auch mit Jungs. Aber Kathy? Was hatte sie hier zu suchen?

»Dann gebt mir den Wagen frei! Sheep Mountain gehört euch«, erwiderte Jay mit rauer Stimme.

Die jungen Männer lachten. Jays Ansinnen schien sie zu amüsieren.

»Du kannst gehen, White Horse. Aber deine Kleine da …«, Craig wies mit dem Kopf zum Chevy, »… die bleibt hier!«

Wieder schluckte Jay mühsam und sein Herz pochte schneller und schneller. Er konnte seinen eigenen Herzschlag hören. Laut und deutlich trommelte er in seinen Ohren. Das Blut rauschte in seinen Kopf, der platzen zu wollen schien.

»Nein!«, hörte er seine eigene Stimme, als hätte ein anderer gesprochen.

Jetzt überschlugen sich die Ereignisse. Craig machte zwei Schritte vor und blieb vor Jay stehen. Er blickte Jay unmittelbar in die Augen. Jay wusste, was ihm nun blühte. In diesem Augenblick sauste Craigs Faust auch schon auf Jays Nase zu. Jay wehrte den Angriff mit seinem Arm ab, sodass der Schlag im Leeren landete. Ein anderer, unverhoffter Schlag, der Jay von der Seite unter seinem erhobenen Arm traf, streckte ihn jedoch sofort zu Boden. Seine Wahrnehmung verschleierte sich und vor seinen Augen tanzten unzählige Lichtblitze.

Plötzlich war es schwarz und still um ihn herum.

Kapitel 1 <> Red Bow

Der Rettungshelikopter des Indian Health Centers umkreiste das Gebiet am Sheep Mountain, das zum Naturschutzgebiet der Pine-Ridge-Reservation gehörte. Die sehr tief stehende Sonne reflektierte auf den Glasscheiben. Ein Ranger des Visitorcenters hatte sich bereits auf den Weg gemacht. Das Besucherzentrum lag an der nördlichen Reservationsgrenze und damit wesentlich näher am Sheep Mountain als die Stammespolizei.

»Ich kann einen Pickup erkennen. Beide Türen stehen offen. Direkt davor liegt eine Person. Wahrscheinlich bewusstlos«, berichtete der Pilot der Zentrale, die seine Meldung sofort an den Ranger und die Polizei weitergab. »Ich gehe jetzt runter.«

Maggie Yellow Cloud, die diensthabende Notärztin des Indian Hospital in Pine Ridge, blickte dem Piloten besorgt in die Augen. Vielleicht dachten sie beide dasselbe. Doch niemand wagte, das laut auszusprechen. Der Pilot presste seine Lippen fest aufeinander und sog die Luft durch die Nase tief ein. Der aufwirbelnde Staub hüllte den Helikopter in eine Wolke, die wie ein Wirbelsturm wirkte.

»Ich stelle den Rotor aus.«

Maggie nickte.

Robert Yellow Cloud, der Pilot, der auch ihr Mann war, hatte inzwischen einen festen Job als Pilot bekommen. Regelmäßig versah er seinen Dienst im Indian Health Service und flog den Rettungshelikopter zu den Einsätzen. Das freute Maggie, denn so konnten sie manchmal zusammen arbeiten. Und Robert, der Pilot aus Leidenschaft, hatte endlich seinen Platz in ihrer Nähe und in der Nähe der Familie gefunden.

Als die Staubwolke sich lichtete, setzte Maggie die Kopfhörer ab und wandte sich zu Louis Three Star um. Der Rettungsassistent lächelte tapfer und nickte. Er wirkte tatsächlich etwas bleich, denn Louis hasste das Fliegen. Jedes Mal wurde ihm übel, auch wenn Robert, soweit möglich, Rücksicht auf ihn nahm. Maggie lächelte mitleidig, während Robert die Tür öffnete.

»Na, dann wollen wir uns das mal ansehen«, meinte er und sprang zuerst hinaus.

Maggie und Louis folgten ihm. Wie immer schleppte Louis den schweren Notfallkoffer mit sich. Robert, der die Transporttrage zu Boden gleiten ließ, blieb wie angewurzelt vor dem jungen Mann stehen, der vor dem Pickup im Staub lag. Zunächst konnte er keine äußerlichen Verletzungen erkennen. Ihn zu untersuchen überließ er Maggie und Louis. Maggie kniete sich sofort zu dem Unbekannten auf den Boden, um ihn zu untersuchen. Sie nickte. Er lebte! Louis half ihr, den Bewusstlosen umzudrehen. Ein leises Stöhnen war das einzige Lebenszeichen, das er von sich gab. Sein Puls war schwach und die Pupillenreaktion vorhanden.

»Das ist ja Jay!«, flüsterte Louis entsetzt.

Jay war sein Neffe. Maggie blickte kurz zu Louis, bevor sie Jays Hemd öffnete.

»Blutdruck, Pulsoxymeter, EKG und Blutzucker«, ordnete Maggie an. Sie selbst nahm das Stethoskop zur Hand, mit dem sie den jungen Mann gründlich abhorchte.

»Er atmet schwach. Ich habe noch keine äußerlichen Verletzungen finden können«, sagte sie.

»Ich auch nicht«, bestätigte Louis. »Seltsam. Ich dachte, ich hätte was von einer Schlägerei vernommen.«

Vorsichtig hoben sie den willenlosen Körper des jungen Mannes auf die Transporttrage, bevor Louis ihm die Gerätschaften anlegte. Seinen Blutzucker testete Maggie inzwischen selbst. Der Wert bewegte sich an der unteren Grenze, stellte sie zufrieden fest.

Robert sah sich unterdessen aufmerksam um. Er hatte die überdeutlichen Reifenspuren längst entdeckt. Eine leere Brandyflasche und einige Zigarettenkippen lagen herum. Das würde die Polizei untersuchen müssen. Richard Sounding Side, Chief der Oglala Tribal Police war bereits hierher unterwegs. Nun sah Robert Yellow Cloud sich den Chevy genauer an. Deutlich vernahm er aufgeregte, schnelle Atemzüge, die aus dem Wagen zu kommen schienen. Als er genauer hinsah, konnte er seinen Augen kaum glauben. Weit unterhalb des Armaturenbretts an der Fahrerseite des Chevys hatte sich ein zusammengekauertes Bündel verkeilt. Als Robert das Mädchen ansprach, rang es offensichtlich nach Luft und schien sich noch weiter verkriechen zu wollen. Schließlich streckte Robert seine Arme aus, um das völlig verängstigte Mädchen aus seiner misslichen Lage zu befreien. Doch sie wehrte sich und schrie in panischer Angst.

»Maggie!«, rief Robert.

»Maggie! Komm schnell!«

Maggie stand auf und ging sofort zu Robert, der an der Tür des Chevys lehnte.

»Irgendjemand hat sie ganz übel zugerichtet«, sagte er.

»Oh, mein Gott«, hauchte Maggie entsetzt, als sie das zusammengekauerte Mädchen erblickte, das am ganzen Leib zitterte. Ihre Kleider waren zerrissen, ihre Lippen bluteten. Ihr rechtes Auge war dunkelblau unterlaufen und zugeschwollen. Sie weinte lautlos, denn sie war nicht fähig, auch nur ein Wort zu reden. Als Maggie sie vorsichtig mit der Hand berührte, zuckte sie angstvoll zurück.

»Ich bin Maggie Yellow Cloud. Ich bin Ärztin. Ich will dir helfen. Hast du uns angerufen?«

Shayla Ann nickte stumm.

»Kannst du aussteigen?«, fragte Maggie.

Das Mädchen reagierte nicht.

Als Robert sie abermals berührte, schien sie erneut Panik zu bekommen. Sie schrie kurz auf und wehrte sich. Nun zog sie sich noch weiter zurück, ganz wie ein Igel, der sich bei einer Berührung einrollte. Fragend sah Robert zu Maggie.

»Wie heißt du?«, fragte Maggie mit sanfter Stimme.

»Shayla«, schluchzte sie. »Shayla Ann.«

Sie schniefte hörbar und wischte sich mit dem Arm unter der Nase entlang. »Blue Bird.«

»Welch ein wunderschöner Name«, stellte Maggie fest und lächelte.

»Der Mann neben mir ist Robert Yellow Cloud. Er ist mein Mann und er fliegt den Rettungshelikopter. Er wird uns helfen. Er wird dir ganz gewiss nicht wehtun, Shayla Ann. Das verspreche ich dir.«

Scheu blickte die zu Robert. Noch zögerte sie. Doch schließlich nickte sie.

»Lebt er noch?«, fragte sie angstvoll.

Maggie lächelte.

»Ja, Jay lebt. Aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Er muss sofort ins Hospital und dich möchte ich auch gern mitnehmen.«

Erleichtert atmete Shayla Ann aus. Jetzt versuchte sie, sich zu bewegen. Das Mädchen verzog das Gesicht.

»Ich kann meine Beine nicht mehr bewegen.«

Robert reichte ihr beide Hände, während Maggie zur anderen Seite ging, um vom Wageninneren aus zu helfen, das Mädchen zu befreien. Shayla Ann fiel Robert Yellow Cloud förmlich in die Arme, sie war unfähig, zu stehen. Robert trug sie zum Helikopter. Als sie am bewusstlosen Jay White Horse vorbeikamen, fing Shayla Ann an zu weinen. Sie vermochte sich kaum mehr zu beruhigen. Ihr Körper verkrampfte sich mit dem Schluchzen immer mehr und zitterte.

»Washté«, flüsterte Robert beruhigend immer wieder. Ein Jeep näherte sich. Endlich kam der Ranger vom Bad Lands Visitorcenter. Er stoppte vor dem Chevy, stieg aus und sah sich um. Der Wind wehte sein graues Haar über sein Gesicht. Er ging zu Louis Three Star, der bei dem Bewusstlosen kniete.

»Guten Abend, Louis. Was ist passiert?«

Der Parkranger trug seine Dienstuniform und eine Brille mit echter Naturhorneinfassung. Louis sah hoch und erkannte Steward Big Horn.

»Das weiß ich noch nicht genau. Die beiden müssen überfallen worden sein.«

Der alte Big Horn atmete hörbar tief durch.

»Das ist bereits der dritte Übergriff hier oben«, meinte er besorgt.

»Die Stammespolizei weiß das, aber sie können nicht überall sein.«

»Ja«, entgegnete Maggie, die jetzt neben Big Horn stand.

»Lakota schlagen Lakota! Uramerikaner greifen Uramerikaner an! Sie töten sich selbst oder gegenseitig. Das macht mir Angst, Steward. In mir weckt das böse Erinnerungen.«

Der alte Lakota-Ranger nickte betreten.

»Der Stammesrat wird sich einschalten müssen.«

»Und nun wird es höchste Zeit für unseren Start, Louis«, drängte Maggie.

Louis nickte. Gemeinsam mit Maggie hob er die Transporttrage hoch. Nun marschierten sie zum Helikopter. Steward Big Horn trug den Notfallkoffer, den er in den Helikopter reichte. Sein Blick glitt mit erkennbarem Schrecken über das Mädchen. Doch sofort ging er ein paar Schritte zurück. Der Motor brummte, die Rotorblätter durchschnitten die Luft, bis sie ihre volle Geschwindigkeit erreicht hatten. Die Staubwolke, die sich sofort wieder entwickelt hatte, stieg mit dem Helikopter höher, bevor sie sich im Nichts verwirbelte. Der Helikopter drehte nach Süden ab, während die Sonne tief im Westen stand.

<>

Er hatte seine paar Sachen bereits gepackt. Der alte Lithgow hatte die Notfallambulanz nur vorübergehend übernommen. Zumindest so lange, bis ein neuer Chefarzt als Ersatz für Kinley eingesetzt würde, Simon McPherson seine Ausbildung zum Notfallmediziner absolviert hatte und so lange Maggie Yellow Cloud ausgefallen war, um ihre Zwillinge zu bekommen.

Vorübergehend. Mittlerweile waren zweieinhalb Jahre ins Land gegangen. Doktor Lithgow war in dieser Zeit auch nicht jünger geworden und die ersten Spuren seines Alters begannen, ihn zu ärgern. Einmal musste er gehen. Lithgow hatte sich seinen Ruhestand mehr als verdient. Der alte Arzt lächelte ein wenig, als er zum Fenster ging. Er hatte Maggie versprochen, auf sie zu warten. Noch immer war die Notaufnahme unterbesetzt. Im Reservat waren die Ärzte knapp, wie überall. Wer wollte hier schon arbeiten? Selbst für die besser bezahlte Chefstelle hatte sich lange Zeit niemand beworben. Zusätzlich zu den ärztlichen Tätigkeiten war sie mit einem enormen bürokratischen Arbeitspensum behaftet. Lithgow schob die Hände in seine Hosentaschen. Auch er hatte mit Besorgnis beobachtet, wie viele junge Leute in letzter Zeit verletzt in die Notaufnahme gebracht worden waren. Die Betten waren fortwährend belegt. War mal ein Bett freigeworden, wurde bereits ein neuer Patient mit schwerwiegenden Verletzungen eingeliefert. Was würde ihn heute noch erwarten? Der erfahrene Mediziner war auf alles gefasst. Kaum merklich schüttelte er den Kopf. Lithgow hatte sich darauf eingestellt, länger zu bleiben. Als jemand an der Tür klopfte, wandte er sich um.

»Herein!«

Schwester Marys rundes Gesicht erschien.

»Der Helikopter ist im Landeanflug, Doktor.«

»Danke«, erwiderte Lithgow, der die Hände aus den Taschen nahm, bevor er Mary mit ausgreifenden Schritten zum Ausgang folgte.

Der Helikopter setzte bereits auf, als Lithgow und Mary vor dem Eingang der Notfallambulanz erschienen. Das Licht der sich neigenden Sonne warf bereits lange Schatten. Die kühle Luft, die ihnen entgegenwirbelte, nahm ihnen fast den Atem. Schützend hielten Mary und Lithgow die Hände vor die Augen, bis der Rotor ausgedreht hatte. Jetzt schoben sie das Gestell für die Transporttrage vorwärts, während Louis und Maggie bereits ausstiegen. Während Louis die hintere Tür öffnete, sprach Maggie wenige Worte zu Lithgow. Der nickte, zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Dann blickte er zu dem jungen Mann auf der Trage, der abwesend um sich blinzelte. Mary und Louis brachten ihn rasch ins Behandlungszimmer, in dem Doktor Lithgow sich sofort an die Arbeit machte. Jay reagierte zwar sporadisch, konnte aber weder antworten noch gezielte Handlungen ausführen. Doktor Lithgow bat Louis, den Patienten auszuziehen, um ihn gründlich zu untersuchen.

Währenddessen trug Robert Yellow Cloud das Mädchen herein. Maggie wusch sich gründlich die Hände. Shayla Ann zitterte noch immer, als die Ärztin ihre Verletzungen untersuchte. Ihr ganzer Körper war angespannt. Noch immer stand der Schrecken in ihrem Gesicht, auf dem die Spuren ihrer Tränen inzwischen angetrocknet waren. Ihre Augen flackerten. Rücksichtsvoll verließ Robert das Zimmer.

Leise sprach Maggie mit Shayla Ann. Behutsam berührte sie sie. Die Spuren ihrer Vergewaltigung waren offensichtlich. Maggie fragte nicht, was man ihr angetan hatte. Vielmehr fragte sie Shayla Ann, ob sie beobachtet hatte, was man Jay White Horse angetan hatte. Sie nickte.

»Er wollte Jay schlagen. Jay nahm den Arm nach oben, um den Schlag abzuwehren. Genau in diesem Augenblick schlug ein anderer Jay seitlich gegen die Rippen, sodass Jay sofort bewusstlos zu Boden fiel. Sie haben gelacht. Sie haben sich vergewissert, dass er nicht wieder aufsteht. Sie haben ihn einfach liegenlassen und …«

Mitten im Satz brach Shayla ab. Ihre Stimme versagte. Maggie vollendete den Satz.

»Und dann sind sie zu dir gekommen.«

Shayla nickte. Tränen rannen über ihre Wangen.

»Kennst du sie?«, fragte Maggie.

Das Mädchen reagierte nicht.

Maggie atmete tief durch.

Lithgow erschien in der offenen Tür zwischen den beiden Behandlungszimmern.

»Wohin genau hat man Jay geschlagen?«, fragte er. Traurig blickte Shayla zum Arzt.

»In die Seite.«

»Unter den erhobenen Arm?«

Sie nickte.

Fragend blickte Maggie zu Lithgow. Der winkte Maggie zu sich. Sie folgte ihm nach nebenan. Mary schloss leise die Tür und ging ohne Aufforderung zu dem Mädchen.

»Der Junge hatte verdammtes Glück«, sagte Lithgow zu Maggie. »Der Kerl, der ihn schlug, hat nur einmal zugeschlagen und er wusste ganz genau, wohin er schlagen musste.«

Doktor Lithgow zeigte Maggie die Stelle unter der Achselhöhle, die nur leicht gerötet war.

»Unscheinbar.«

»Sonst nichts?«

»Nein«, antwortete Lithgow. »Solch ein Schlag kann tödlich sein. Ein Schlag, der den Vagusnerv voll erwischt, setzt einen Reflex frei, der das Herz zum Stillstand bringt. Der Kerl hat den Nerv nicht richtig erwischt. Zudem hat der Junge ein starkes Herz. Aber das sind Dinge, Maggie, die weiß nur Wakan Tanka allein.«

Maggie sog scharf die Luft durch die Nase ein und schüttelte betreten den Kopf.

»Wer tut so etwas?«, flüsterte sie.

»Armeekämpfer«, antwortete Louis Three Star.

»Eher einer, der dem Täter so etwas erzählt hat. Einer, der in der Army ausgebildet wurde, schlägt nicht daneben, Louis«, meinte Lithgow.

Der Jüngere nickte.

»Ja, aber auch schon das ist gefährlich genug.«

»Der Junge ist noch etwas schwach, aber seine Werte sind alle im grünen Bereich. Er schafft das«, meinte Lithgow überzeugt.

Erleichtert atmete Maggie auf.

»Was ist mit dem Mädchen?«, fragte Lithgow.

»Sie wurde misshandelt und brutal vergewaltigt. Die Spuren sind eindeutig.«

»Sie kennt die, die ihr und Jay das angetan haben«, stellte Louis fest.

»Doch sie spricht nicht.«

»Du weißt, dass wir die Stammespolizei informieren müssen«, stellte Lithgow fest.

»Sie haben von diesen Vorkommnissen bereits Kenntnis. Richard Sounding Side ist im Moment am Tatort, am Sheep Mountain, um die Spuren aufzunehmen. Bald wird ein Officer hier sein«, antwortete Maggie.

Lithgow nickte. »Gut. Für mich ist es Zeit, zu gehen. Werdet ihr mir wohl vom Ausgang dieser Geschichte berichten?«

»Aber natürlich«, entgegnete Maggie.

Auch Louis nickte.

»Also dann …«, seufzte Lithgow, dem das Gehen nicht leicht zu fallen schien.

»Danke«, sagte Maggie.

Nun wandte der Arzt sich um und ging ohne ein weiteres Wort. Leise klackte die Tür hinter ihm in das Schloss.

Maggie war müde. Draußen war es bereits dämmrig geworden. Sie hatte das Licht angeschaltet und schrieb ihren Bericht. Jay White Horse lag inzwischen in einem der Patientenzimmer der Notaufnahme, während Shayla Ann Blue Bird in der gynäkologischen Abteilung versorgt wurde. Schwester Mary Nitghtkiller hatte sie begleitet.

Robert Yellow Cloud war mit dem Helikopter längst wieder in Rapid City, bereit für den nächsten Einsatz.

Maggie sah auf die Uhr. Viertel nach elf. Ihre Augen brannten. Als das Telefon klingelte, nahm Maggie ab und meldete sich. Sounding Side von der Stammespolizei meldete sich. Er erkundigte sich als erstes nach dem Befinden der beiden jungen Leute.

»Jay ist inzwischen zu sich gekommen, ist vor morgen früh aber bestimmt nicht vernehmungsfähig. Das Mädchen habe ich auf die Gynäkologische eingewiesen. Sie ist brutal vergewaltigt worden und konnte ihre Peiniger sehen. Sie ist immer noch total verstört und spricht kein Wort.«

»Hm«, hörte sie Richards Stimme. »Ich habe es kaum anders erwartet. Aber ich bin froh, dass die beiden am Leben sind. Ich muss die Eltern informieren.«

»Danke, Richard.«

»Keine Ursache. Ich komme also morgen früh. Bist du da?«

»Wie immer«, lachte Maggie. »Also bis nachher, Richard!«

»Okay. Ruhigen Dienst«, entgegnete der Polizist und legte auf.

»Ich hoffe es«, sagte Maggie zu sich selbst und löschte das Licht im Büro. Der PC blieb an. Wenig später legte Maggie sich auf die Couch im Bereitschaftszimmer. Das Buch, das sie gerade aufgeschlagen hatte, rutschte ihr schnell aus den Händen. Maggie war eingeschlafen.

<>

Irgendwann schreckte Maggie aus dem Schlaf hoch. Die kleine Lampe war noch an. Durch die Fensterscheiben schimmerte Tageslicht. Draußen war es hell. Sofort blickte Maggie zur Uhr. Beruhigt stellte sie fest, dass es erst zehn vor sechs Uhr morgens war. Nicht verschlafen! Langsam stand sie auf, um sich frischzumachen. Vorher stellte sie die Kaffeemaschine an. Etwa eine halbe Stunde später saß sie am Computer. Kaffeeduft erfüllte den Raum. Die dampfende Tasse stand direkt neben ihr. Maggie recherchierte über alle gängigen Drogen, die legalen und die illegalen. Auch in Krankenhäusern wurden rezeptpflichtige Drogen, starke Schmerzmittel und auch Antidepressiva verordnet und verabreicht. Jede pharmakologische Firma hatte ihre eigene Marke entwickelt. Das war schon seit Jahren die gängige Handhabung: Wurden die Patienten entlassen, bekamen sie ihre Medikamente, von denen viele dann bereits abhängig waren, nicht mehr per Rezept verschrieben. Daher blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich ihre Medizin anderweitig zu besorgen und das dann leider nicht immer auf legalen Wegen. Der Drogenhandel blühte und nahm mitunter groteske Formen an, genau wie der Ideenreichtum der Pharmaindustrie. Die hatte sich inzwischen darauf eingerichtet, ausreichend frei verkäufliche Medikamente herzustellen und die Nachfrage bestimmte den Preis. Bereits vor Jahrzehnten war eine Studie dazu von der kanadischen Professorin Annie Le Roux veröffentlicht worden, doch der Zugriff darauf blieb Maggie verwehrt. Sämtliche Ergebnisse dazu konnte sie nirgendwo mehr öffnen. Mehr als die Überschriften konnte Maggie nicht einsehen.

Enttäuscht seufzte Maggie, die nachdenklich an ihrem Kaffee nippte.

Im vergangenen Jahr hatte sie sich mehrmals Zugriff erhofft, da die Situation in der Reservation mehr und mehr eskaliert war, doch ihre Versuche endeten immer erfolglos. Vor allem Jugendliche waren derzeit davon betroffen. Doch nicht nur das. Maggies lückenlose Aufzeichnungen offenbarten einige bedenkliche Nebenwirkungen des gängigen verordneten Schmerzmittels Phenacetin, wie Entzündungen des Verdauungstrakts, der Leber, des Pankreas sowie schweren Schädigungen der Nieren, die bis zur Insuffizienz gehen konnten. Auch Simon und selbst der neue Chefarzt der Notaufnahme, Seth. C Thompson, teilten ihre Meinung. Das waren verheerende Nebenwirkungen für ein Medikament, das sie tagtäglich verschrieb! Doch die Häufigkeit dieser Nebenwirkungen war alarmierend gestiegen und nie zuvor mit so hohen Sterberaten belastet, wie im letzten Jahr.

Maggies Aufmerksamkeit galt auch den gängigen Antidepressiva. Jetzt stellte Maggie auch eine Liste davon auf, und zwar von allen psychopharmazeutischen Medikamenten, die hier in der Reservation verordnet wurden. Sie ordnete den Mitteln die Namen der Patienten zu, deren Diagnosen, den sozialen Status sowie deren Alter.

Während die Jugendlichen früher wegen ihrer Ausweglosigkeit resignierten, weil sie kaum eine Chance für eine gute Ausbildung hatten, keine Jobs und keine Perspektiven, tendierten sie eher zum Rauchen von Gras. Die aus der tiefen Hoffnungslosigkeit folgenden Depressionen hatten schon einmal zu vermehrten Suiziden unter Jugendlichen geführt. Die moderne Medizin hatte inzwischen bessere und schneller wirksame Medikamente zur Verfügung. Die wurden natürlich auch auf dem Schwarzmarkt gehandelt. Die Unverträglichkeiten und die fatalen Wechselwirkungen durch zusätzlichen Alkoholgenuss oder globale Nebenwirkungen waren wohl auch niemandem bewusst, oder niemand wollte davon etwas wissen. Und das Dilemma war nicht nur hier so, sondern in den gesamten USA allgemein verbreitet. Das war ein einträgliches Geschäft und nicht einmal die Drogenfahndung konnte den Leuten etwas anhaben, denn die meisten Medikamente waren einfach nur Medikamente. Wenn die Patienten sie einmal verordnet bekommen hatten, war das nicht illegal. Nur wenn jemand auf eigene Rechnung Handel damit betrieb, folgten strafrechtliche Verfolgungen sowie strafrechtliche Konsequenzen.

Langsam schüttelte Maggie ihren Kopf. Ihre Gedanken drehten sich auf der Stelle.

Die meisten Jugendlichen, die derzeit hier im Hospital lagen, hatten versucht, sich selbst zu töten, während einige darauf aus waren, andere zu töten. Wieder hatten sich Banden gebildet, die sich miteinander im Kriegszustand befanden. Das waren nicht mehr nur einfache Prügeleien, das waren gefährliche Körperverletzungen, oft mit Todesfolgen! Das beste Beispiel dafür waren die gestern Abend eingelieferten Jugendlichen Jay und Shayla Ann. Maggie fröstelte.

Viele Patienten in der Reservation bekamen das Antidepressivum Oyavato. Zu viele! Wo waren die alten Werte, die Selbstbeherrschung, die spirituelle Rückbesinnung und der Stolz geblieben? Natürlich musste jeder selbst jeden Tag für sich darum kämpfen, nicht aufzugeben.

Mussten nicht alle Lebewesen kämpfen?, fragte Maggie sich. Immer wieder und immer wieder und auch ich selbst?

Vor mehr als einem Jahr hatte Maggie selbst eine Studie begonnen. Sie und Simon Mc Pherson führten akribisch Buch über die Auffälligkeiten, die diese Medikamente mit sich brachten, denn sie fragten sich nach deren Notwendigkeit. Inzwischen hatten sich ihnen andere Ärzte des Hospitals angeschlossen und arbeiteten gemeinsam mit ihr an dieser Langzeitstudie. Die vielen Einzelfälle, die mit den Nebenwirkungen zu kämpfen hatten oder gar starben, fielen im Gesamtbild des Hospitals nicht wirklich auf. Nur durch diese dokumentierte Auflistung der Fälle insgesamt konnten die Ärzte zu einem Ergebnis kommen, das am Ende dazu führen könnte, diese Medikamente vom Markt nehmen zu lassen. Aus diesen Puzzleteilen war inzwischen ein ziemlich klares Bild geworden. Bereits vor einer Woche hatte Maggie in einem Schreiben an die herstellende Pharmafirma B&B darauf aufmerksam gemacht, das von ihr und dem Chefarzt Seth C. Thompson unterzeichnet worden war. Inzwischen müsste das Schreiben bei der Pharmafirma eingegangen sein. Nachdenklich kaute Maggie auf ihrer Unterlippe.

Vielleicht sollten wir doch mal Kontakt mit der Professorin in Vancouver aufnehmen?, sinnierte sie. Das Telefon klingelte.

Maggie erschreckte, denn das Klingeln riss sie aus ihren Gedanken. Sie nahm sofort ab. Richard meldete sich.

»Guten Morgen, Maggie. Wie war dein Dienst?«

»Oh, guten Morgen Richard. Der war ausgesprochen ruhig.«

»Was ich von meinem nicht sagen kann. Ich war die halbe Nacht unterwegs und habe noch bis mindestens Mittag zu tun. Dann komme ich zu dir. Die beiden laufen inzwischen hoffentlich nicht weg.«

»Wer weiß …?«, zweifelte Maggie.

Sie hörte Richard tief durchatmen. Auch wenn sie das jetzt ironisch gemeint hatte, so war doch nichts ausgeschlossen.

»Wer löst dich heute ab? McPherson?«

»Nein, Doktor Seth C. Thompson, der neue Chefarzt der Notambulanz.«

»Der ist mutig, hmm …«, meinte Richard.

»Sehr!«, bestätigte Maggie. »Und sehr motiviert.«

»Oh ja. Und bissig wie ein Dorfköter«, entgegnete Richard.

Maggie, die das Lachen in seiner Stimme hören konnte, grinste. »Bis dann, Richard.«

Noch bevor Maggie den Hörer auflegen konnte, klopfte es laut an der Tür.

»Herein!«, rief sie.

Die Tür öffnete sich. Seth C. Thompson kam herein. Der große, schlanke Mann mit dem gepflegten Schnauzbart trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine blaue Krawatte.

»Guten Morgen, Doktor Yellow Cloud«, trällerte er fröhlich.

Seine Stimme klang so melodisch, als hätte er die Worte gesungen. Er stellte seine Aktentasche mit Schwung auf den Stuhl und wechselte die Anzugjacke gegen seinen weißen Arztkittel. Der ließ seine dunkelbraune Haut noch stärker zu Geltung kommen, als ohnehin schon.

»Guten Morgen, Chief«, begrüßte Maggie ihn.

Thompson setzte sich Maggie gegenüber. Seine großen, schwarzen Augen funkelten seine Kollegin durch die goldumrandeten Brillengläser an. Er räusperte sich, bevor er fragte: »Was gibt es denn Neues seit vorhin?«

Dann grinste er breit, sodass seine weißen Zähne aus seinem moccafarbenen Gesicht hervorstachen. Dieses Grinsen war ansteckend. Das hatte Maggie bereits festgestellt und das tat ihr gut. Thompson war zur Abwechslung ein erfahrener Arzt, der seit zwanzig Jahren im Dienst war und er war kein Weißer, kein Wasicu-Arzt. Außerdem hatte er sich eigens für diese Stelle beworben und er hatte keine Vorstrafen. Ein wahrer Glücksfall für das Pine-Ridge-Hospital.

»Kaffee?«, fragte Maggie.

Thompson nickte.

»Schwarz und stark, wie immer«, grinste er.

Thompson besaß einen eigenartigen Humor mit einer Prise Selbstironie, der nicht nur Maggie begeisterte. Selbst zu den Patienten hatte er erstaunlich schnell den richtigen Draht gefunden. Dabei war er erst seit vier Wochen hier. Maggie schenkte ihm Kaffee ein und reichte ihm die Tasse.

»Vielen Dank, Maggie.«

Thompsons Lächeln war charmant.

»Wir haben zwei junge Leute mit dem Helikopter vom Sheep Mountain Table holen müssen«, begann sie zu berichten.

Thompson hob die Augenbrauen und blickte Maggie aufmerksam an, während sie sprach. Seine Gesichtszüge wirkten nun etwas angespannt, gaben seine Gedanken dazu jedoch nicht preis. Nicht mal, als Maggie ihre Ausführungen beendet hatte, sah man ihm an, was er dachte. Nun schwieg sie, Thompson ebenfalls. Beinahe ungerührt trank er von seinem Kaffee.

»Wir sind bereits überbelegt. Ich werde umgehend einen weiteren Arzt anfordern«, beschloss er. »Auf McPherson können wir nicht warten.«

Maggie nickte, obwohl sie sich fragte, wie er das durchsetzen wollte. Simons Stelle galt als besetzt, obwohl er derzeit zur Prüfung in Sioux Falls war. Er steckte mitten in seinen Abschlussprüfungen, die ihn nicht nur zum Notfallarzt, sondern auch zum Doktor der Medizin machen sollten. Maggie glaubte fest daran, dass er alles schaffen würde. Nein, sie war sogar fest davon überzeugt, dass Simon als Doktor zurückkam.

»Das macht mir verdammt Sorgen. Das Hospital ist voll mit Jugendlichen unserer Reservation, die brutal geschlagen und misshandelt wurden. Einige haben versucht, sich selbst das Leben zu nehmen. Der Jüngste ist erst 10!«

»Was sagt Richard?«, fragte Thompson.

»Er vermutet Bandenkriege. Nein, er ist da schon ziemlich sicher! Er weiß, dass Craig Red Bow allen Furcht einflößt. Richard konnte ihn noch nicht fassen, weil es keine Beweise gegen ihn gibt. Alle schweigen sich aus. Dieser Red Bow muss von einem bösen Geist besessen sein.«

»Und er steht mit Sicherheit unter Drogen. Seine Bande ebenfalls. Können wir ihn zu einer Blutentnahme bewegen?«

»Eine wirklich gute Idee, Seth. Ich wünsche dir viel Erfolg«, entgegnete Maggie, die ihr Grinsen dabei kaum unterdrücken konnte.

Seth rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Ich dachte daran, dass wir uns mit Professorin Le Roux in Verbindung setzen. Sie weiß mit Sicherheit etwas und sie wird uns weiterhelfen können, das Rätsel zu lösen«, schlug Maggie vor.

Seth nickte. »In Ordnung.«

»Fein! Dann überlasse ich dir das Chaos und flüchte zu meinen Patienten, bevor es zu spät ist«, sagte Maggie schließlich und erhob sich.

»Ja, verschwinde endlich«, zischte Thompson mit einer eindeutigen Handbewegung.

Maggie lachte. Dieser schwarze Mann tat ihr inmitten der ernsthaften Lage richtig gut.

<>

Da die Notaufnahme gegenwärtig tatsächlich überbelegt war, gab es ein großes Arbeitspensum. In allen Zimmern stand mindestens ein Zustellbett. Schwester Mary richtete gerade den Verbandswagen, als Maggie zu ihr kam. Sie begrüßten sich und begannen mit dem Wechsel der Verbände. Der Chefarzt übernahm die Visite von allen stationären Patienten. Während in der Notambulanz ein Zugang mit starken Bauchschmerzen auf Maggie wartete, knurrte ihr Magen. Sie verdrängte das Hungergefühl. Ein Schluck Wasser aus der Flasche musste zunächst genügen. Doch noch bevor sie das Behandlungszimmer betreten konnte, trat Maggie ein stämmig gebauter Mann mit Igelfrisur entgegen. Er spielte mit einer Sonnenbrille, die er in der Hand hielt. Maggie hatte den Chief der Stammespolizei völlig vergessen. »Oh, hallo Richard«, begrüßte sie ihn.

»Guten Tag, Maggie. Mir scheint, ich komme ziemlich

ungelegen. Das bringt der Job so mit sich.«

»So ist es. Ich könnte dir einen Termin geben, sagen wir … ungefähr in drei Monaten?«

Richard lachte. »Ich will ja nicht zu dir. Ich bin vielmehr auf der Suche nach Jay White Horse und Sheyla Ann Blue Bird. Vielleicht kann mich jemand zu ihnen bringen.«

»Das lässt sich gerade noch einrichten«, lächelte Maggie.

»Komm mit!« Maggie führte Richard zum Zimmer des jungen Patienten. »Er liegt nicht allein drin und er wird sicher nicht reden. Das Mädchen ist in der Gynäkologie.

Sie wird gar nicht mit dir reden, denn du bist ein Mann.«

»Danke, Maggie. Du machst mir echt Mut.«

»Wenn du Hilfe brauchst, findest du mich nachher im Behandlungszimmer. Mary ist auch im Dienst.«

Richard seufzte. »Wir könnten einen weiblichen Officer wirklich gut gebrauchen«, meinte er.

»An wen dachtest du denn?«, schmunzelte Maggie.

»Lass dich überraschen«, antwortete Richard achselzuckend und klopfte an die Tür, während Maggie bereits zurückeilte.

Kurz darauf betrat sie das Behandlungszimmer. Die Frau, Sarah Spotted Tail, war gerade mit starken, unklaren Bauchschmerzen eingeliefert worden. Maggie kannte sie noch von ihrer gemeinsamen Schulzeit. Sarah wirkte abgemagert und war offensichtlich müde. Dunkle Schatten umrandeten ihre Augen. Maggie machte sich ernste Sorgen um Sarah, die bereits seit mehreren Monaten unter chronischen Oberbauchschmerzen litt.

»Guten Morgen, Sarah. Ärgern deine Bauchschmerzen dich schon wieder?«

»Sie waren nie wirklich weg, Maggie.«

»Ich werde dich jetzt gründlich untersuchen. Solange wir

die Ursache dafür nicht finden, kann ich dir nicht wirklich helfen.«

Sarah nickte missmutig.

Nachdem Maggie Sarahs Bauch abgetastet hatte, dunkelte sie das Zimmer für die Sonografie ab, um die Bilder auf dem Monitor besser sehen zu können, und begann mit der Untersuchung. Währenddessen kaute sie auf ihrer Lippe herum. Das war ein Zeichen ihrer Anspannung. Ab und an machte sie Fotos für die Akte.

»Wir sollten eine Endoskopie deines Magens und deines Darmes machen, Sarah. Das, was ich sehe, macht mir ernsthafte Sorgen, gibt mir aber keine genauen Aufschlüsse. Die Schleimhautentzündung ist heftig, hat sich ausgebreitet. Ich denke, wir müssen jetzt die Therapie ändern. Die Tabletten haben dir keine Besserung gebracht. Um dir wirklich helfen zu können, brauche ich genauere Untersuchungen.«

Sahra nickte nur, als hätte sie nichts anderes erwartet. Automatisch nahm sie das Tuch, das Maggie ihr reichte und wischte sich das Gel vom Bauch.

»Ich möchte dir unbedingt helfen, Sarah«, sagte Maggie eindringlich. »Ich tue alles für dich, nicht nur das, was ich als Ärztin tun kann.«

»Danke, Maggie«, antwortete Sarah tonlos und stand auf.

»Mary nimmt dir gleich Blut ab und gibt dir einen Termin für die endoskopische Untersuchung. Du wirst dann eine Nacht bei uns bleiben«, entschied Maggie, obwohl Sarah nach der geplanten Endoskopie wieder nach Hause gehen könnte. Maggie wollte Sarah damit helfen. Zudem hätte Maggie dann vielleicht eine Gelegenheit, sich eingehender mit ihr zu unterhalten, so hoffte sie zumindest. Sarah nickte abwesend und verabschiedete sich.

»Hast du noch Fragen?«, wollte Maggie wissen, während sie Sarah das Formular für die Untersuchung reichte.

»Nein«, sagte Sarah einsilbig und ging.

Maggie hockte noch immer auf dem Hocker vor dem Bildschirm, als sie ihr nachsah. Dann schrieb sie ihren Bericht und sah sich Sarahs Medikamentenplan ganz genau an. Kurz darauf trugen ihre Füße sie schließlich ins Schwesternzimmer zu Mary. Dort roch es gut.

Mary hatte den Frühstückstisch gedeckt. Brot, Butter, Gewürzgurken und gebratene Eier, die längst kalt geworden waren. Die Uhr zeigte kurz vor 11 Uhr.

»Na? Hungrig?«, fragte Mary.

Wie zur Bestätigung knurrte Maggies Magen laut und deutlich. Sie lachten beide.

»Setz dich, ich habe auch schon Hunger«, meinte Mary.

»Ich habe noch Speck im Kühlschrank.«

Maggie nickte. Der Kaffee war nur noch lauwarm, denn die Kaffeemaschine litt unter Altersschwäche. Die beiden Frauen schien das nicht zu stören. Auch den Speck legten sie direkt aus dem Kühlschrank auf die Brote. Ihnen blieb nicht viel Zeit, ihren Hunger zu stillen. In diesem Augenblick kam der schwarze Mann um die Ecke. Ein erfreutes Lächeln erschien auf seinem glatten, dunkelbraunen Gesicht. Seine Augen leuchteten.

»Perfekt! Da komme ich ja gerade richtig. Mein Magen knurrt seit zwei Stunden wie ein hungriger Bär.«

Maggie und Mary grinsten und baten Thompson mit einer freundlichen Geste, sich zu ihnen zu setzen. Der tat das prompt und packte sich den Teller voll. Sein Kittel stand offen, sodass die Frauen das hellblaue Shirt sehen konnten, von dem ihnen eine Giraffe frech entgegen grinste. Jeden Tag trug er ein anderes lustiges Shirt, das nicht nur dem gesamten Personal, sondern auch und vor allem den Patienten ein Lächeln in die Gesichter zauberte. Dieser Mann war ein wahrer Glücksfall für alle. Seth war Kinderarzt, Doktor der Medizin und nun seit vier Wochen Chefarzt der Notambulanz. Mit Maggies Hilfe hatte er sich sehr schnell in die Arbeit hineingefuchst. Trotz des hohen Arbeitspensums verbreitete er mit seinem Humor etwas Besonderes.

»Danke«, sagte er kauend und trank Kaffee.

Man konnte schließlich nie wissen, wie lange Zeit für eine Pause blieb. An der offenen Tür klopfte jemand.

»Herein«, rief Mary fröhlich.

Eine braunhäutige Frau kam herein, die ebenso fröhlich zurückgrüßte. Erschrocken blickte Thompson hoch und starrte in das lächelnde, runde Gesicht seiner Frau.

»Ist noch heiß«, sagte sie mit dunkler Stimme, indem sie eine große Auflaufform auf den Tisch packte. Sofort erfüllte ein verführerischer Duft nach ihrem Essen den Raum.

»Setz dich doch zu uns, Ruth«, sagte Maggie. »Was hast

du uns Schönes mitgebracht?«

»Einen Kartoffelauflauf mit Zucchini, frischen Kräutern, Sauercreme und Käse. Und zur Nachspeise gibt es Schokoladenmuffins«, antwortete sie triumphierend.

»Du verwöhnst uns, Ruth. Vielen Dank!«, sagte Mary.

»Irgendjemand muss es ja schließlich essen«, grinste Ruth.

»Und du dachtest, es wäre praktisch, dass deine Opfer bereits in der Notaufnahme sind«, meinte ihr Mann trocken.

»Scheusal!«, empörte Ruth sich.

Maggie und Mary kicherten.

»Etwas lauwarmen Kaffee?«, fragte Maggie.

»Oh, ja. Ich liebe lauwarmen Kaffee. Ich wollte schon immer mal ein Magengeschwür haben.«

»Das ist nicht dein Ernst«, zweifelte Maggie.

»Nein, aber vielleicht bekomme ich dann einen Termin beim Chefarzt. Wie war doch gleich sein Name?«

»Doolittle!«, rief Seth spontan in die Runde. Das Lachen der vier Menschen war bis auf den Flur zu hören. Ausgerechnet in dieses Lachen piepte der Pieper störend hinein und im gleichen Augenblick klingelte im Schwesternzimmer das Telefon. Mary nahm den Anruf entgegen. »Ein Notfall? Wo?«, fragte sie und nahm sich etwas zu schreiben.

»Da draußen hat jemand mitbekommen, dass es bei uns etwas zu essen gibt«, zischte Maggie.

»Und ein warmes, weiches Bett inklusive Bedienung«, ergänzte Thompson.

Als Mary aufgelegt hatte, schilderte sie die Situation.

»Ein Arbeitsunfall im stammeseigenen Bauhof. Nicht weit von hier, direkt an der Interstate 18 in Richtung Martin.«

Mit den Worten: »Lasst mir was übrig!«, sprang der Chefarzt selbst hoch und verließ eilig den Raum. In Anbetracht dessen, dass das Wartezimmer der Notambulanz hoffnungslos überfüllt war, erhoben sich auch Maggie und Mary. Doch nicht, bevor sie wenigstens etwas von Ruths Auflauf probiert hatten. Die lächelte mitfühlend und versicherte, dass ihr Auflauf aufgewärmt noch besser schmecken würde. Ruth hatte Verständnis. Sie half Mary den Tisch abräumen, während Maggie bereits auf dem Weg zu ihren Patienten war.

<>

Eine Stunde später meldete Thompson sich zurück. Der Verletzte war mit dem Rettungshelikopter des Sioux San abgeholt worden. Der Mann war vom Dach gestürzt und hatte außerdem mehrere Dachplatten abbekommen. Prellungen, ein gebrochener Fuß und etliche Schürfwunden waren vergleichsweise harmlos. Doch seine inneren Verletzungen sowie der Verdacht einer Milzruptur waren lebensbedrohlich. Maggie nickte.

Wieder kaute sie auf ihrer Lippe, ohne es zu bemerken. Ihr Chef lächelte.

»Ich habe eine Assistenzärztin gefunden, die unter chronischem Beschäftigungsmangel leidet. Ich werde die Klinikleitung informieren, damit sie baldmöglichst einen Vertrag bekommt.«

»Im Ernst? Kannst du etwa zaubern, Seth?«, fragte Maggie erstaunt. Wie oft hatte sie schon vergeblich um eine Aushilfe für McPherson gebeten.

Thompson grinste Maggie hintergründig an.

»Ich wünschte wirklich, ich könnte das.« Dann seufzte er hörbar. »Ich will dich nicht lange auf die Folter spannen, Maggie. Ruth ist Assistenzärztin. Sie beschwert sich ständig, dass ich zu selten zu Hause bin und dass ich viel zu viel arbeite, während sie sich daheim langweilt. Da wir leider keine Kinder haben und all unsere Verwandten weit weg wohnen, kocht und putzt sie seit vier Wochen, als ob wir Besuch von der ganzen Sippe erwarten würden und nebenbei versucht sie, mich fett zu füttern.« Maggie schmunzelte.

»Einerseits wäre es eine Erlösung für mich, wenn Ruth sich hier austoben könnte. Andererseits bin ich mir nicht sicher, ob das wirklich eine gute Idee ist. Immerhin habe ich sie dann den ganzen Tag …« Seth beendete seinen Satz nicht, sondern verzog zweifelnd sein Gesicht, während Maggie ungeniert kicherte.

»Keine Sorge, Ruth wird sich in die Arbeit stürzen und wenn du hungrig bist, wirst du dir in Zukunft eine Pizza bestellen müssen«, meinte sie.

Thompson schüttelte den Kopf. »Ja. So könnte das etwas werden.« Dann schlug er mit beiden Händen auf die Tischfläche, atmete tief durch und stand auf.

Weil Maggie sitzen blieb, zögerte er zu gehen.

»Ich sehe da eine grässliche Sorgenfalte über deiner Nasenwurzel. Was ist los?«, fragte er und ließ sich ganz langsam wieder auf den Stuhl gleiten.

»Sarah Spotted Tail war vorhin bei mir. Sie leidet seit einiger Zeit unter unklaren Oberbauchschmerzen. Die Sonographie war deutlich auffällig. Die Schleimhautentzündung hat sich rasant ausgebreitet und Blutungen sind nicht ausgeschlossen. Der Stress allein kann das nicht forciert haben.« Maggie schüttelte den Kopf. »Ich habe mir ihren Medikamentenplan mehrmals ganz genau angesehen. Sie bekam vor drei Monaten im Sioux San zu ihrer Operation am Knie Sufentanil und wurde drei Tage später auf Pyrotidin umgestellt. Seit der Operation hat Sarah Bauchschmerzen, doch ich konnte das Medikament nicht abrupt absetzen.«

»Die Liste ist voll, Maggie. Wir verordnen ab sofort kein Pyrotidin mehr. Nimmt sie Drogen?«

Erschrocken blickte Maggie Thompson an.

»Nimmt sie Medikamente oder irgendetwas, das nicht auf deinem Plan steht? Sie hat ziemlich viel Stress, Sorgen und Ängste. Und sie redet kaum.«

»Worauf willst du hinaus, Seth?«

»Ich befürchte, dass Sarah zusätzlich etwas einnimmt, von dem du nichts weißt, Maggie. Vielleicht ist das der Grund für die überaus rasante Verschlechterung ihres Zustandes oder es sind Wechselwirkungen.«

Maggie nickte. »Das leuchtet mir ein. Wenn sie zur Untersuchung kommt, will ich mit ihr reden.«

»Das ist gut. Sie vertraut dir«, meinte Thompson.

Jetzt erhoben sich beide gleichzeitig. Wie immer gab es viel zu tun. Selbst wenn etwas Ruhe einkehrte, war noch der Aktenberg abzuarbeiten, der sich angehäuft hatte.

Fröhlich pfeifend tanzte Thompson zur Tür hinaus.

Maggie grinste. Auch sie hatte noch alle Hände voll zu tun, bevor sie Dienstschluss haben würde. Die Zeit des Nachmittags rann weg wie feiner Sand durch die Finger einer Hand.

<>

In der Red Cloud School war die letzte Unterrichtsstunde gerade vorbei. Die Kinder und Jugendlichen quollen zu den Türen hinaus ins Freie. Die Frühlingsluft war mild, die Sonne schien. Der Präriewind bewegte die Blätter der Bäume, sodass am Boden stellenweise ein quirliges Schattenspiel tanzte. Unter einem der dicken Bäume auf dem Hof sammelte sich eine Gruppe männlicher Schüler, während die meisten Kinder und Jugendlichen bereits zu den Schulbussen strömten. Freitags war oft früher Schulschluss. Außer den wenigen, die noch zum Basketballtraining oder zu verschiedenen Workshops gingen, blieb niemand. Am Eingang zum Schulbüro, einer kleinen einfachen Holztür, zu der einige Stufen hinaufführten, saß Sharon Yellow Cloud. Die Treppe lag im Schatten. Der Eingang war von Kletterpflanzen umrahmt. Das dreizehnjährige Mädchen beobachtete die großen Jungen, zu denen auch ihr zwei Jahre älterer Bruder Ray gehörte. Sharon wagte es nicht, zu ihnen zu gehen. Sie wartete geduldig auf Ray. Die Jugendlichen redeten und lachten. Sharon spielte mit ihrem iPhone, das sie kürzlich bekommen hatte, um sich die Zeit des Wartens zu vertreiben. Das Gerät war zwar nicht neu, aber noch voll funktionstüchtig. Nur das Display hatte einige kleine Blessuren. Ihre Schultasche stand zwischen ihren Beinen. Sharons Freundin, Lory Crow Horse, war krank und deshalb seit zwei Tagen nicht in der Schule gewesen. Einige von Lorys Geschwistern waren bereits zum Bus gegangen. Wenn Ray sich nicht beeilte, würde der Schulbus ohne sie nach Hause fahren. Ray war so mit sich und den anderen Jungs beschäftigt, dass er ringsum alles vergessen haben musste. Sharon atmete tief durch. Schließlich steckte sie das iPhone weg und erhob sich, um sich Lorys Geschwistern anschließen. Sie kannten sich alle sehr gut, denn sie waren ja Nachbarn. Während Sharon gerade ihre Tasche nahm, beobachtete sie, wie zwei junge Männer direkt zu der Gruppe unter dem Baum gingen. Ihr Atem stockte, als sie Craig Red Bow und Luke Loneman erkannte. Langsam setzte sie sich wieder hin. Im Schatten des Eingangs schien sie eins zu werden mit den Blättern der Kletterpflanzen. Sharon wagte nicht mehr, sich zu bewegen. Red Bow zog Ray unsanft aus der Gruppe heraus und mit sich fort. Niemand von den anderen hielt ihn davon ab. Keiner protestierte. Auch die Jugendlichen bewegten sich nicht mehr.

Sie schwiegen.

Luke blieb bei ihnen stehen, gerade so, als würde er sie bewachen. Indes zitterte Sharon vor Angst. Als Red Bow mit Ray in Richtung der Straße aus Sharons Blickfeld verschwunden war, wählte sie eine Nummer auf ihrem Telefon. Antonio Martinez stand als Erster in ihrer Liste. Er meldete sich auch sofort.

»Sie haben Ray«, flüsterte Sharon.

»Wo bist du?«, fragte Antonio.

»Auf dem Schulhof, am Büroeingang.«

»Okay. Bleib dort und rühre dich nicht von der Stelle! Ich komme.«

Noch bevor Sharon etwas antworten konnte, hatte Antonio aufgelegt. Sharon wusste, dass sie sich auf Antonio verlassen konnte. Er war Rays und ihr großer Bruder geworden, nachdem Maggie und Robert ihn vor zweieinhalb Jahren adoptiert hatten. Sharon lenkte ihre Gedanken zu ihm, um ihre Angst zu bekämpfen. Antonio war in den Slums von Rapid City aufgewachsen und deshalb mit allen Wassern gewaschen. Der nun Neunzehnjährige war in der Pine Ridge Reservation geblieben. Er schätze es sehr, eine Familie und ein Zuhause zu haben. Großvater Ian Yellow Cloud hatte ihm Dinge über das Leben eines Lakotas gelehrt, die Antonio bis dahin nicht gewusst hatte. Großvater Ian war dadurch wieder richtig aufgelebt. In den letzten zwei Jahren waren die beiden fast unzertrennlich gewesen. Antonio war ein sehr aufmerksamer und neugieriger Schüler. Er begriff schnell. So war er inzwischen von dem draufgängerischen Stadtindianer, der er gewesen war, zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Mehr noch. Ians alter Freund, der Medizinmann Moses Running Deer, hatte Antonio unter seine Fittiche genommen, nachdem er seine ganz besonderen Fähigkeiten entdeckt hatte. Jetzt war Antonio auf dem besten Wege, in Running Deers Fußstapfen zu treten, um bald selbst ein Medizinmann zu werden. Das war auch Antonios Wunsch. Manche bezeichneten den jungen Mann hinter vorgehaltener Hand sogar als gefährlich. Gefährlich aber nur gegen Feinde und Lügner. Sie hielten Antonio für einen Mann mit starker Medizin, weil er seinen draufgängerischen Charakter dennoch nie ablegen konnte. Für Sharon war ihr großer Bruder Antonio ein Held, ein Anführer und Beschützer. Sie bewunderte ihn sehr.

Craig hatte Ray mit sich bis zur Straße gezerrt, wo er ihn unsanft an seinen parkenden Wagen drückte. Nur mit Mühe unterdrückte Ray seine Angst, denn er kannte Craig nur zu gut. Weder mit ihm noch mit seiner Bande war gut Kirschen essen. Diese Leute waren das schlechte Beispiel eines Lakotas, die dunkle Seite der Reservation. Arbeitslose und arme Familien gab es überall in der