Mahlstrom - Yael Inokai - E-Book

Mahlstrom E-Book

Yael Inokai

0,0

Beschreibung

Am Anfang steht Barbara. Barbara, die sich mit zweiundzwanzig im Fluss ertränkt. Ihr Tod, der im ganzen Dorf die Telefone schellen lässt, bringt die anderen zum Reden: ihren Bruder Adam, ihre Freundin Nora und Yann, den Eindringling, der aus der Stadt neu zugezogen war. Sie alle sind mit der Verstorbenen und den Zwillingen Annemarie und Hans zur Schule gegangen. Es waren kinderreiche Zeiten, und die Enge im Elternhaus trieb die Kinder nach draußen. Doch unter den Erinnerungen an das Jagen über die Felder oder jenes Streichholzspiel auf dem Pausenhof liegt etwas anderes, Unausgesprochenes begraben: In einer unbeobachteten Nacht verübten sie ein Gewaltverbrechen an einem von ihnen. Einen starken Sog auslösend, erzählt Mahlstrom die Geschichte sechs junger Menschen, die in einer dicht verwobenen Dorfgemeinschaft herangewachsen sind. Zugleich geschützt und bedroht von den engen Banden, sind sie im Erwachsenenleben angekommen und stecken doch noch knietief in ihrer Kindheit. Erst Barbaras Selbstmord bringt den Stein ins Rollen und zwingt die Übriggebliebenen, sich mehr als zehn Jahre nach dem Verbrechen dem Geschehenen zu stellen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 165

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Am Anfang steht Barbara. Barbara, die sich mit zweiundzwanzig im Fluss ertränkt. Ihr Tod, der im ganzen Dorf die Telefone schellen lässt, bringt die anderen zum Reden: ihren Bruder Adam, ihre Freundin Nora und Yann, den Eindringling, der aus der Stadt neu zugezogen war. Sie alle sind mit der Verstorbenen und den falschen Zwillingen Annemarie und Hans zur Schule gegangen. Es waren kinderreiche Zeiten, und die Enge im Elternhaus trieb die Kinder nach draußen. Doch unter den Erinnerungen an das Jagen über die Felder oder jenes Streichholzspiel auf dem Pausenhof liegt etwas anderes, Unausgesprochenes begraben: In einer Winternacht verübten sie ein Gewaltverbrechen an einem von ihnen.

Einen starken Sog auslösend, erzählt Mahlstrom die Geschichte sechs junger Menschen, die in einer dicht verwobenen Dorfgemeinschaft herangewachsen sind. Zugleich geschützt und bedroht von den engen Banden, sind sie im Erwachsenenleben angekommen und stecken doch noch knietief in ihrer Kindheit. Erst Barbaras Selbstmord bringt den Stein ins Rollen und zwingt die Übriggebliebenen, sich mehr als zehn Jahre nach dem Verbrechen dem Geschehenen zu stellen.

Yael Inokai

Mahlstrom

Roman

Der Rotpunktverlag wird vom Schweizer Bundesamtfür Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre2016–2020 unterstützt.

© 2017 Rotpunktverlag, Zürichwww.rotpunktverlag.chwww.editionblau.ch

Lektorat: Daniela KochUmschlagbild: Esa Hiltula / Alamy Stock Foto

eISBN 978-3-85869-769-11. Auflage

Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich.

Für Melanie

Nora

Als sie hörten, dass eine junge Frau zu Tode gekommen war, kündigten sie sich zu Dutzenden an. Im ganzen Ort schellten die Telefone, und man fragte nach den Betten, die zu dieser Jahreszeit verwaist in den Zimmern der Herbergen standen.

Wir erwarteten die Wagenkolonnen sich ihren Weg bahnen von den Serpentinen ganz oben am Berg. Der Verkehr kam so zu uns, als befände sich der Rest der Welt weit über unseren Köpfen und wir wären in einer Senke, gesondert von ihr.

Wir schimpften nicht über sie. Seit dem Schrei, den jeder gehört haben wollte, war es seltsam still geworden unter uns. Die einfachsten Benennungen und Grüße wollten uns nicht gelingen. Statt uns Worte zu überlegen, mit denen wir uns verteidigen konnten, verhedderten wir uns in Gesprächen über das Wetter und die Arbeit.

Also warteten wir.

Wir richteten unsere Blicke auf die Kurve, wo die Nasen des ankommenden Verkehrs auftauchten. Wir sorgten dafür, dass die Kleinen, denen im Gegensatz zu uns die Worte nicht fehlten, in den Häusern blieben. Uns selbst versprachen wir, die Zeitung erst einmal nicht zu lesen, den Fernseher ausgeschaltet zu lassen, weil wir jetzt schon ahnten, dass wir all die falschen Dinge sagen würden. Als wäre die Verbindung zwischen Kopf und Mund gekappt. Keine Gewähr für die eigene Stimme, tut mir leid.

Wir praktizierten in Gedanken schon einmal die Entschuldigung.

Aber keiner kam.

Wir spähten verunsichert aus unseren Fenstern. Der jeweilige Nachbar zuckte mit den Schultern. So ging es von Haus zu Haus.

Schließlich teilte man uns mit, dass das Mädchen den Mantel seines Bruders entwendet hatte. Wir alle kannten den Anblick des hochgewachsenen Buben in seinem schwingenden Kleidungsstück. Wir kannten ihn auch, wie er bei Regen vom vollgesogenen Wollstoff zu Boden gezogen wurde. Ein Überwurf dann, der seinem Träger sämtliche Kraft abverlangte.

Damit griff der Mechanismus, der die Wagenkolonne von uns weg und zu einem anderen Unglück lenkte: Über Selbstmorde berichtet man nicht. Er ließ die Zeitungsspalten von uns unberührt, hielt unsere Gesichter von den Nachrichten fern und verschluckte die Worte, die uns schon auf der Zunge lagen, noch für weitere Tage. In uns kam die Sorge auf, wir würden nie wieder einen anständigen Satz sprechen können.

Wir dürften sie beerdigen, stand schließlich auf einem Formular.

Die Eltern und der Bruder suchten einen Sarg aus.

Die Gärtnerin fing mit dem Graben an.

Der Geistliche begann zu schreiben.

Wir anderen lagen im Dunkel unserer Häuser und gaben vor zu schlafen.

Während der Beerdigung fand das Schweigen sein Ende. Ich hörte mit halbem Ohr, wie einer sagte, Gottseidank für den geschlossenen Sarg. Dieser Satz, dessen Urheber ich unter den Leuten nicht ausmachen konnte, setzte das Flüstern in Gang.

Während der Predigt sah ich von meinem Platz aus Münder, Dutzende von Mündern, die zu Ohren geführt wurden. Ich sah, wie sich die Münder bewegten, und auch die Ohren, die das Gesagte aufnahmen. Ich sah, wie aus einem Ohr ein Mund wurde und er sich auf das nächste Ohr richtete, das wiederum zu einem Mund wurde, und wie der Pfarrer vorne seinen Mund weit und weiter aufsperrte beim Reden und doch nicht gegen das Wiederfinden der Worte ankam.

Ich wusste nicht genau, worauf man sich geeinigt hatte. Die Sätze purzelten durcheinander. Anstandshalber nannte man es einen Unfall. Wenn der Ausdruck fiel, zuckte keiner zusammen oder versuchte zu berichtigen oder schob auch nur ein aber dazwischen. Da, wo einer hinter vorgehaltener Hand von Selbsttötung sprach, von einem willentlichen Ertrinken, wurden die Gesprächspartner hingegen augenblicklich zu Stein.

Nicht in der Kirche, sagten ihre Gesichter.

Nicht vor allen Leuten.

Nicht vor dem Pfarrer.

Nicht, bis sie nicht wenigstens unter der Erde liegt.

Der Sarg war zu klein. Während die Leute redeten, umkreiste ich ihn, zählte die Schrauben im Deckel und fuhr mit der Fingerkuppe der zähen Masse nach, die den Geruch im Inneren hielt. Im Kopf versuchte ich, sein Fassungsvermögen zu berechnen, und die Resultate beunruhigten mich. Ich fürchtete, der Körper breche jeden Moment aus dem Holz.

Um mich herum sagten die Leute ohne Unterlass: Barbara. Sie benannten, was in diesem Sarg keinen Platz finden konnte. Sie machten aus diesem Leib, den das Wasser innerhalb von Tagen deformiert hatte, einen Menschen.

Ich versuchte es selbst. Barbara, sagte ich mir. Ich sah auf das Foto, das ihr Vater aufgestellt hatte. Barbara, kam es wieder von den anderen. Eine ständige Berichtigung, um was es ging: einen lebenden Menschen und nicht das tote Gewebe, das an seiner Stelle nun da war.

Schon so ein Körper, der sich Kleidern nicht fügen wollte. Ein Körper, der nicht auf Stühle passte, nicht durch Türen, der sich mit sich selbst nicht auf eine Gehrichtung einigen konnte. Dort gingen die Füße durch. Da die Arme. Hier der Kopf.

Ein Torso, der kein Verhältnis zu seinen Beinen hatte. Ein Rechts, das sich mit dem Links nicht absprach. Ein Mädchen, das immer im ganzen Raum gleichzeitig war.

Kein Platz für andere, nirgends.

Seltsamerweise – und kein Foto gab das wieder – nicht unansehnlich. Kein Mensch, von dem man sich beschämt abwendet. Jemand, dem man beim Gehen zuschaut, beim Essen, beim Atmen, weil er es macht, wie man es nicht kennt, und es ihm trotzdem spielend gelingt.

Und alles noch einmal anders, kaum hat man sie einmal sprechen hören. Die Stimme geht durch ihren Bauch, bis in die Fingerspitzen, in die Zehen, macht aus dem wilden Zusammenspiel von Muskeln, Sehnen, Knochen und Fleisch eins. Die Stimme setzt den Körper zusammen.

Sie macht ein Mädchen aus Barbara.

Die Stimme.

Ich suchte sie unter dem Gewirr der anderen.

Sie ließ sich in meinem Kopf nicht aufrufen.

Tiere ertranken so.

Sie gerieten in die scheinbar harmlose Strömung, die sie unter den Felsvorsprung trieb. Das Wasser dort war nur etwas über einen Meter tief, aber war man einmal in die Kuhle geraten, ließ es einen nicht mehr frei. Es bündelten sich die Kräfte eines ganzen Flusses, gegen die kein Strampeln und kein Rudern je hätten ankommen können.

Wenn die Tiere Glück hatten, stießen sie sich den Kopf und bekamen die Gemeinheit nicht mehr mit. Das Wasser blähte sie dann mit den Tagen auf das Zwei- bis Dreifache ihres Körpervolumens auf. Es formte ihre Bäuche zu Kugeln. Es brachte ihre Organe zum Platzen.

Der Fluss schwemmte die aufgequollenen Kadaver an Land, wenn er sie nicht mehr haben wollte.

Wir warfen sie zurück.

Er spuckte sie erneut aus.

Barbara hätte er beinahe nicht hergegeben. Obwohl der Körper schon vollgesogen und aufgeweicht war, hielt ihn das Wasser weiter in seinem kräftigen Griff. Nur ihr Rock hätte es fast aus der Kuhle herausgeschafft. Vom aufgehenden Leib in zwei Teile gerissen, reckte er sich bis zur Wasseroberfläche. Er zitterte in der Strömung, wie eine Fahne, die dem Suchenden sein Ziel verriet.

An dieses Stoffstück klammerte sich der Vater. Er umschloss es mit der Faust, ehe er weitertastete. Er fand den dicken Wollstoff, aus dem der Mantel des Sohns gefertigt war, und er fand Haare. Er griff danach und zog ein ganzes Büschel nach oben.

Und über diese Haare dann der Schrei, von dem jeder Einzelne sagte, er habe ihn gehört. Der Schrei rief die Männer zusammen, die den Körper zu bergen versuchten. Sie standen im Wasser, das ihnen nicht einmal bis zu den Hüften reichte und gegen das sie trotzdem nicht ankamen. Sie verfluchten es und droschen mit der flachen Hand darauf ein. Sie schrien in Richtung Himmel, als dieser Protest unbeantwortet blieb. Daraufhin, behaupteten später ein paar, hätten die Wolken sich von den Rändern des Tals aus aufeinander zubewegt und zu einem grauen Teppich verwebt. Erst sei es noch trocken geblieben, aber dann habe sich der Himmel entladen: klumpiger, bräunlicher Regen, der Dreck eines ganzen Winters.

Die einen sagten, er habe dieser Bergung Schutz gewährt vor neugierigen Blicken. Die anderen: Es sei eine Warnung gewesen, die Barbara genau da zu lassen, wo sie ihr Ende gefunden habe.

Schlussendlich gab der Fluss sie frei. Man schälte sie aus dem schweren Mantel, der auch dem verformten Körper zu groß war, und zerrte sie an Land. Das Kleidungsstück wurde von der Strömung zurück unter den Felsvorsprung gerissen. Alle schauten weg, als die Leiche am Ufer lag.

Aber alle hatten ein Bild im Kopf, zusammengesetzt aus den Bildern der ertrunkenen Tiere, das sich nicht mehr abschütteln ließ. Sie sagten umso energischer, kaum hatten sie an der Beerdigung ihre Stimme wiedergefunden: Barbara.

Barbara.

Barbara.

Barbara.

Barbara.

Barbara.

Manche hätten gesagt, wir seien Freundinnen gewesen.

In einem Dorf von dieser Größe gibt es nicht viele Möglichkeiten: Entweder man mag sich, oder man hasst sich, oder man ist sich gleichgültig. Meist empfindet man das eine und handelt nach dem anderen.

Es war eine kinderreiche Zeit, sagen die Älteren. Balge überall. Ein unaufhörlicher Strom an Bewegung, der in alle Himmelsrichtungen wuchs. Helle Laute füllten das Tal aus: Belustigung in der einen Sekunde, schiere Verzweiflung in der nächsten.

Wenn ich es von heute aus beschreiben müsste: Erziehung, an jeder Ecke. Mahnende Zeigefinger, erhobene Hände, bereit, kräftig zuzulangen. Tu das nicht, tu dies nicht, komm sofort her.

Ich erinnere mich nicht daran, dass es mir etwas ausgemacht hätte. Für mein Empfinden waren wir nur selten ohnmächtig. Es gab eine Handvoll Greise, die alt in ihren Fenstern saßen und dort noch älter wurden, eine stattliche Zahl Erwachsene, die in einer komischen Welt lebten, und es gab uns Kinder. Wir waren eine ganze Armee. Laut war das Kriegsgeheul, wenn wir in der Schule auf unsere Bänke trommelten, Fäuste gegen Holz, bis sie rot waren und schmerzten, kaum hatte der Lehrer den Raum verlassen. Es war die Vorbereitung für das Draußen, das uns zu allen Jahreszeiten gehörte.

Einmal aus der Tür, teilten wir uns zuverlässig in Gruppen auf und jagten einander über die Felder. Weil einen die Größeren ohne Müh einfingen, einem die Taschen ausleerten und alles an sich nahmen, vom Kleingeld bis zum angebissenen Brötchen, ging man seinerseits auf die Kleineren los und holte sich so seinen Besitz zurück. Die Kleinsten hatten das Nachsehen und erduldeten es, hungrig, mit blanken Hintern, wenn man sie bis zu den Socken ausgezogen und die Kleider an einem unerreichbaren Ort aufgehängt hatte. Keiner war zu jung, um getriezt zu werden, und kein Plärren und Betteln konnte das Gegenüber in seinem Angriff besänftigen. An den Waden gepackt und kopfüber wie ein Sack Kartoffeln ausgeschüttet zu werden, gehörte zur Kindheit wie das Verlieren der Milchzähne.

Nur wenige entgingen dem. Barbara war eine davon.

Sie war eine seltsame Erscheinung. Immer mindestens einen Kopf größer als der Rest der Klasse. Sie sprach so gut wie nie, und wenn, dann hielt sie sich kurz. Der Respekt fiel der Schweigenden wie von selbst in den Schoß. Ihre Stimme hingegen machte sie zerbrechlich und klein.

Sie schien um diese Wirkung genau zu wissen. Tagelang kam kein Wort aus ihr heraus, und dann passierte ihr eine Verfehlung, ein schmutziger Unterarm, ein Kratzer im Gesicht, und unter den strengen Augen des Lehrers begann sie zu stammeln, eine Entschuldigung nach allen Regeln der Kunst, bis sich sein Blick aufzuweichen begann.

Ihr jüngerer Bruder hing an ihr. Er war ein komisches Gewächs von einem Buben, erst kulleräugig schön, andauernd Mutterhände im schwarzen Haarschopf, dann mit Pusteln und krummer Wirbelsäule gestraft, als hätte ihn die frühe Pubertät wie die Pest befallen.

Unsereins unterlag den Regeln der Physiognomie. Hüften und Brüste formten sich, Bartflaum spross, Stimmen krachten und krächzten, ehe sie sich senkten. Barbara und ihr Bruder wuchsen dorthin und dahin, als ginge sie das gar nichts an.

Sie hat sich getötet.

Erst ein paar Tage nach der Beerdigung wurde es mir bewusst. Langsam verschob sich das Bild in der Dauerschleife; das stürzende Mädchen, das sich festzukrallen versuchende Mädchen, das panisch rudernde und schreiende Mädchen, das der Fluss mit sich riss. Hände sah ich, die noch aus der Kuhle griffen und an den glitschigen Steinen nach Halt suchten. Unbewusst streckte ich die Arme aus, ich reckte mich diesem ertrinkenden Menschen mit ganzer Kraft zu, aber er entglitt mir, es war nichts zu machen.

Aus dieser sich windenden, riesigen Gestalt wurde in meinem Kopf eine Puppe. Mit jedem Mal, da das Bild ungefragt wiederkam, wurden ihre Bewegungen statischer. Die Puppe begab sich ins Gewässer, sank dort in die Knie und vornüber. Sie hielt die Arme eng am Körper, damit sie sich an keinem Hindernis verfing. Sie zuckte noch für ein paar Sekunden, als sie unter Wasser kam, da konnte sie nichts dagegen tun; sie war so gebaut.

Der Zeit war es gleichgültig. Sie lief einfach weiter. Die Leute nahmen ihre Arbeit wieder auf. Die Eltern gingen einkaufen und bezahlten ihre Rechnungen. Es kam noch Post an die Tochter, und sie telefonierten den Absendern hinterher und waren so gründlich anzubieten, die Todesanzeige nachzureichen.

Sie bestellten die Zeitschrift ab. Der Bruder bekundete kein Interesse an der Lektüre. Mir brachten sie einen Stapel ausgelesener Exemplare, Eselsohren an den Seiten, die mit bunten Kleidern bedruckt waren, in die Barbara nie hineingepasst hätte.

Fast beiläufig fragten sie: Magst du noch andere Sachen von ihr haben?

Aber dann dachten sie doch nicht mehr an mich.

An Orten, wo sie häufig gewesen war, bewegten sich die Leute nun anders. Im Architekturbüro des Vaters war ihr Tisch schon leer geräumt worden, aber die Mitarbeiter zogen weite Kreise darum, wie schon zuvor, als Barbara ihnen keinen Platz gelassen hatte.

Nur fiel es jetzt erst auf.

Es fiel auf, wie groß die Räume waren. Dass sie in die Höhe und in die Breite wuchsen, wenn Barbara sie nicht ausfüllte.

Im Graben, wo sie in der Mittagspause und abends häufig gewesen war, saßen die Leute zusammengedrückt da. Sie scharten sich um ihre Biere und ihre Suppen und ließen den halben Tisch ungenutzt. Bernhard legte an fast allen Tagen ein Gedeck zu viel aus, das verloren auf der leeren Tischhälfte übrig blieb. Wenn er jeweils schamvoll seinen Fehler bemerkte, Messer, Gabel, Serviette und Glas wieder abräumte, blieben alle Blicke auf dem verwaisten Platz hängen.

Der unmögliche Körper war noch nicht aus den Köpfen. Sie hat geschrieben, es tue ihr leid, sagte der Bruder, als ihm vom Alkohol die Lider zufielen, er in unserer Gegenwart schwitzte und stank und ich erleichtert war, dass es einen Riss gab in dieser wieder eingekehrten Ordnung. Und um den Riss zu vergrößern, um ein klaffendes Loch daraus zu machen, sagte ich, wie könne es ihr denn im Vornherein leidtun und wie könne sie dann dazu noch sein allerliebstes Kleidungsstück mitnehmen und in den Fluss steigen, als wäre es nicht anders gegangen. Und schon wollte ich mir die Hand vor den Mund schlagen und mich selbst entschuldigen, nur um nachzusetzen, dass es Reue sei, wenn sie danach komme und nicht davor, als er sich noch einmal aufrichtete und sich seelenruhig eine Zigarette anzündete.

Aber nicht das, sagte er beschwichtigend in meine Richtung, nicht das sei es, was ihr leidgetan habe.

Adam

Warum, werde ich mich nicht fragen. Jedes Menschenleben ist voll mit Darums. Aber die erzählen einfache Geschichten, und einfach war meine Schwester nicht. In meinem Kopf gehe ich die Fakten durch. Es ist meine Art, mit diesem Krater umzugehen, den die Barbara hinterlassen hat.

Ihren genauen Todeszeitpunkt werden wir wahrscheinlich nie kennen. Zwischen ihrem Verschwinden und dem Fund der Leiche liegen sieben Tage. Dass sie in diesem Zeitraum noch gelebt hat, ist allerdings zu bezweifeln. Es gibt keinen, der sich daran erinnert, sie gesehen zu haben, nachdem sie am Samstag spät das Haus verlassen hatte. Auch in der Beiz ist sie an diesem Abend nicht mehr aufgetaucht. Ich erinnere mich, wie sie uns zugerufen hat, dass sie im Graben einen trinken gehen wolle, als ich mit dem Papa und der Mama im Wohnzimmer saß und wir uns bei einem Schnaps über den Tag unterhielten. Es war das letzte Lebenszeichen, das ich von ihr vernahm.

Ich vermute, die Barbara hat sich kurz vorher meinen Mantel aus dem Schrank genommen. Statt zum Graben ist sie zum Bach gegangen, hat am Ufer Steine in die Manteltaschen gefüllt und sich dann im Wasser ertränkt.

Ihr Verschwinden ist uns während des ganzen Sonntags nicht aufgefallen. Es kam seit eh und je vor, dass sie sich übers Wochenende in ihr Zimmer zurückgezogen hat, das mit seinem eigenen Bad ja fast schon eine kleine Wohnung für sich ist. Warum und wie sie sich dann die Zeit totgeschlagen hat, haben wir als ihre Privatsache angesehen. Meine Schwester hat schon sehr früh den Anspruch gestellt, möglichst in Ruhe gelassen zu werden, und wenn man das befolgte, war sie in ihren sozialen Momenten ein warmer und umgänglicher Mensch. So oder so ähnlich hab ich sie auch immer den Leuten beschrieben, die sie noch nicht oder nicht gut genug kannten und mit diesem Verhalten gefremdelt haben.

Ich kann mir beim besten Willen keinen Vorwurf machen, dass wir uns erst am Montagnachmittag zu sorgen begannen, als sie auch nach der Mittagspause noch nicht ins Büro gekommen war. Dass sie am Morgen nach einem Wochenende länger schläft und dafür als Letzte wieder geht, war fast schon Usus. Um halb zwei hatte sie allerdings spätestens ihren Platz wieder eingenommen und die anstehenden Arbeiten in Augenschein genommen. So etwas wie Krankheit hat sie daran nie hindern können.

Wir haben mehrmals zu Hause angerufen, nachdem wir aus dem Graben gekommen waren und sie nicht an ihrem Tisch vorfanden. Nach einer weiteren Stunde bin ich dann nach Hause gefahren, ihr Zimmer war leer.

Über die Reihenfolge der Orte, an denen ich sie danach suchte, bin ich mir nicht mehr hundertprozentig sicher. Als Erstes hab ich natürlich mit der Mama gesprochen, die sich gleich bei der Arbeit entschuldigt und den Bernhard angerufen hat. Der gab zu unserer Bestürzung an, sie sei Samstagabend nie im Graben aufgetaucht. Ich hab mich bei unseren Nachbarn nach ihr erkundigt und im Specht, wo sie sonntags meistens zum Frühstück war. Bin auch beim Haus am Bach vorbei. Ich hab die Bruchbude betreten und mich darüber gewundert, dass sie noch nicht eingestürzt ist. Wände, Böden, Türen, da hat alles gelebt. Und trotzdem keine Barbara.

Danach blieb mir nichts anderes übrig, als einen nach dem anderen anzurufen. Es gab bestimmt kein Telefon im Dorf, das in diesen Stunden nicht geklingelt hätte.