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Das Ende des nationalsozialistischen Deutschen Reichs scheint klar verortet: Am 7. bzw. 9. Mai wird die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht unterzeichnet. Damit war zwar der Krieg zu Ende, noch nicht aber waren Wehrmacht und »Drittes Reich« endgültig untergegangen. Nicht jeder bekam sogleich mit oder wollte mitbekommen, dass alles zu Ende war. Manche kämpften weiter, Hinrichtungen von »Deserteuren« gab es noch massenhaft. Manche versuchten sich abzusetzen, begingen Selbstmord oder gerierten sich als Unbeteiligte wie Albert Speer. Großadmiral Karl Dönitz, der »Nachfolger Adolf Hitlers«, gab noch am 18. Mai einen Tagesbefehl an die Wehrmacht heraus. Am 23. Mai wurden er und andere Mitglieder der geschäftsführenden Reichsregierung in Mürwik bei Flensburg festgenommen. Am gleichen Tag beging SS-Chef Heinrich Himmler in Lüneburg Selbstmord. Gerhard Paul führt uns in Wort und Bild souverän die letzten vier absurden Wochen des zerbröselnden Reichs vor Augen, zwischen tragikomischen Momenten und brutalem Untergang. Seine Darstellung verbindet erstmals die Perspektiven der Täter, Mitläufer und Opfer, der Besiegten und der Sieger, der Akteure und der Zuschauer miteinander. Ein außergewöhnliches Buch zum 80-jährigen Ende der Nazi-Herrschaft.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Gerhard Paul
Mai 1945: Das absurde Ende des »Dritten Reichs«
Wie und wo die Nazi-Herrschaft wirklich ihr Ende fand
wbg Theiss ist ein Imprint der Verlag Herder GmbH
Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.de
Lektorat: Daniel ZimmermannCovergestaltung: Andrea Wirl, Michaela Kneißl, geviertCoverbild: »Dr. Speer, Admiral Doenitz and Colonel General Jodl in acourtyard after their arrest.« No. 5 Army Film and Photo Section,Army Film and Photographic Unit (Photographer),Sergeant Norris (Undefined). Imperial War Museum.© mauritius images/ Piemags/ww2archive/Alamy/Alamy Stock Photos – mauritius_images
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster
ISBN Print: 978-3-534-61010-5ISBN E-Book (EPUB): 978-3-534-61086-0ISBN E-Book (PDF): 978-3-534-61089-1
Vor allem jüngere Deutsche assoziieren das Ende des »Dritten Reiches« mit Bildern und Szenen der fiktionalen Geschichtsdoku Der Untergang von Bernd Eichinger über die letzten Tage Hitlers im »Führerbunker«. Im Zentrum des Films aus dem Jahr 2004 stehen Hitler und seine Entourage; der Fokus ist Berlin. Für ältere Deutsche verbinden sich mit dem Ende des »Dritten Reiches« dagegen eher eigene erlebte Bilder von zerstörten Städten, von Kolonnen von Kriegsgefangenen, Versehrten und von Flüchtlingen sowie Sorgen um Angehörige und ganz allgemein um die Zukunft. In diese Bilder mischen sich mitunter Filmsequenzen aus alliierten Wochenschauen über die letzten Tage des »Dritten Reiches«. In Feiertagsreden von Politikern und in Geschichtsbüchern wird stereotyp des 8. bzw. des 9. Mai 1945 als Ende des Krieges und damit zugleich als Ende des NS-Staates gedacht. Je nach Alter und politischer Couleur deutet man das Datum als Untergang oder Befreiung.
Dabei fand, was oft übersehen wird, mit der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde durch Vertreter der Wehrmacht am 7. und am 9. Mai nur die militärische Kapitulation gegenüber den Siegermächten statt. Die Wehrmacht und der NS-Staat existierten mit Duldung und unter argwöhnischer Beobachtung der Alliierten vorerst weiter. Das, was einst als Kampf um die Weltherrschaft der »arischen Rasse« begonnen hatte, war zu diesem Zeitpunkt Anfang Mai 1945 auf ein Hoheitsgebiet von gerade einmal 14 Quadratkilometern entlang der Flensburger Förde, unmittelbar an der Grenze zu Dänemark, zusammengeschrumpft. Man sprach großspurig von der »Festung Nord«, in die sich NS-Größen wie Heinrich Himmler, Alfred Rosenberg und Albert Speer sowie die Spitzen der Wehrmacht um Wilhelm Keitel, Alfred Jodl und Großadmiral Karl Dönitz zurückgezogen hatten. In dem von Besatzungstruppen nicht okkupierten »Sonderbereich Mürwik« agierte unter der Regentschaft des Großadmirals eine Hitler-Nachfolge-Regierung, die sogenannte »Regierung Dönitz«, mit eigenem Wachbataillon und eigenen Symbolen weiter.
Publizitätswirksame Bilder vom Ende des »Dritten Reiches« hatte es bis dato nicht gegeben. Die Führung des »Dritten Reiches« – der Diktator selbst und sein Propagandachef Goebbels – hatten sich durch Suizid aus dem Staub gemacht und damit der Verantwortung entzogen. An die Ausrufung einer neuen Republik oder eines neuen Reiches wie 1918/19 in Berlin war nach Jahren der Verfolgung und Zerschlagung der politischen Opposition nicht zu denken. Die alliierten Sieger besaßen so allenfalls symbolische Bilder: vom Hissen der roten Fahne auf dem Reichstag durch sowjetische Soldaten, vom Händedruck amerikanischer und sowjetischer Soldaten bei Torgau an der Elbe, von der amerikanischen Kriegsfotografin Lee Miller in Hitlers Badewanne in München, von der Befreiung der Konzentrationslager. All diese Bilder indes waren nur indirekte Bilder vom Ende der NS-Diktatur. Eine Chance, tatsächlich ikonische Bilder der besiegten Deutschen zu erhalten, bot sich für die internationale Presse erst mit der Festnahme der Regierung des Großadmirals Dönitz. Mit den Worten »Hosen runter! Hände hoch!« fand das »Dritte Reich« drei Wochen nach Hitlers Selbstmord und zwei Wochen nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 23. Mai 1945 in einem Vorort von Deutschlands nördlichster Stadt, in Flensburg-Mürwik, sein tragikomisches Ende.
Mit diesen vier Wochen zwischen dem Beginn der Evakuierung der Reichsregierung am 21. April 1945 von Berlin aus nach Schleswig-Holstein, dem Suizid Hitlers am 30. April 1945 und der Festnahme der Regierung Dönitz sowie der Spitzen der Wehrmacht am 23. Mai 1945 beschäftigt sich dieses Buch. Diese Wochen waren eine Zeit »zwischen Baum und Borke«, die mit klassischen Begriffen der Politikgeschichte nicht zu fassen ist. Weder wird man von einer klassischen Diktatur noch von einer Militärdiktatur sprechen können, eher – wie es bereits Zeitgenossen taten – von einem »Wurmfortsatz« des »Dritten Reiches«.
Probleme, diese vier Wochen auf einen Begriff zu bringen, hatten bereits Zeitgenossen. Alle waren sich indes darin einig, dass diese Zeit etwas Künstliches, Inszeniertes und Absurdes an sich hatte. Heinrich Lienau – Sozialdemokrat und freigelassener Häftling des KZ Sachsenhausen, der die vier Wochen vor Ort erlebte – sprach in seinen Erinnerungen vom »Possen- und Operettenspiel« bzw. von der »Dönitzoperette« und von dem Großadmiral als dem »kleinen Mann mit dem Micky-Maus-Gesicht«. Für Albert Speer – selbst Angehöriger der Dönitz-Regierung – war das, was er erlebte, »eine Art Oper«, allerdings ohne grandioses Finale. Alliierte Journalisten und Wochenschauregisseure bezeichneten die Tage als »strange show« bzw. als »fiasco«. Auch Nachkriegshistoriker bemühten eher Begriffe aus der Theater- und Showbranche. Der britische Deutschlandhistoriker Ian Kershaw sprach wie Lienau von einer »Posse«, der Weltkriegshistoriker Richard Overy von der Dönitz-Regierung als einer »Fantasieregierung, die über ein Fantasieland« geherrscht habe. Der Historiker und Journalist Sven Felix Kellerhoff schrieb 2021 von einer »zynischen Realsatire in Flensburg«. Das Titelbild dieses Buches und so manche Formulierungen des Inhaltsverzeichnisses unterstreichen die Absurdität dieser Zeit. Wie das Foto vom Schlagbaum 1939 in Danzig zu Beginn des Zweiten Weltkrieges war auch unser Coverfoto vom tatsächlichen Ende der Diktatur eine Inszenierung für Presse und Öffentlichkeit. Hier wie dort liefen den Fotografen andere Reporter und Kameramänner ins Bild.
In vier Großkapiteln beschreibe und untersuche ich im Folgenden in der Art eines Theaterstücks die Evakuierung von Reichsregierung, SS und Wehrmacht in Deutschlands Norden, das Personal und die Tätigkeit der »Regierung Dönitz« zwischen Krieg und Frieden, das Ende der Wehrmacht sowie die alliierte Beendigung des Flensburger »Wurmfortsatzes«. Ein Epilog befasst sich mit Nach(kriegs)geschichte(n) und dem weiteren Schicksal unserer »Hauptdarsteller«. Im Einzelnen geht es um Fragen wie: Warum fand das »Dritte Reich« ausgerechnet in Flensburg und Umgebung sein Ende, und warum ist diese Geschichte heute weitgehend vergessen? Warum existierten Staat und Wehrmacht auch nach der deutschen Gesamtkapitulation weiter? Welches Interesse hatten die Alliierten an dieser Fortsetzung? Wie sah der Alltag der Menschen zwischen Krieg und dem definitiven Ende des »Dritten Reiches« aus? Was bekamen sie überhaupt davon mit? Womit beschäftigte sich die Regierung des Großadmirals? Wann fand das blutige Sterben tatsächlich ein Ende? Wie schnell ließ sich die Todesmaschinerie des Krieges anhalten? Was machten Männer wie Himmler und Speer und ihr Gefolge in dieser Zeit? Welchen Sog löste der Rückzug der NS-Elite in Deutschlands hohem Norden aus? Wie wurde medial die Festnahme der Nachfolgeregierung Hitler und damit das faktische Ende des »Dritten Reiches« inszeniert und wie kommuniziert? Wie gingen die Angehörigen der NS-Elite mit dem absehbaren Ende um? Welche Hoffnungen machten sie sich? Welche Interessen und Ziele verfolgten die alliierten Siegermächte und hier insbesondere die Briten mit der Regierung Dönitz?
Über die Trauer über die Toten und den Genozid an den Juden haben wir fast vergessen, was der Krieg der Natur angetan hat, dass Meere und Seen als Müllkippen für Schrott, Munition und chemische Kampfstoffe zweckentfremdet wurden – und dies von allen Seiten des Krieges. Den ökologischen Hinterlassenschaften des Krieges bis in die Gegenwart geht daher ein eigener Abschnitt nach. Er fragt: Wie gingen die Verantwortlichen auf deutscher und auf alliierter Seite mit den ungeheuren Bergen von Militärschrott und mit den nicht zum Einsatz gekommenen hochtoxischen chemischen Kampfstoffen um?
Man könnte dieses Buch ein »Untergangsstück« nennen – »Untergang« deshalb, weil die Mehrzahl der Deutschen diese Zeit als Untergang und nicht, wie wir Nachgeborenen, als Befreiung erlebte. Diesen Untergang schauen wir uns in seiner Dramatik, Vielschichtigkeit, Absurdität und in seinen mitunter gleichzeitig stattfindenden Ereignissen Tag für Tag an.
Die Schauspieler dieses Untergangsstückes sind ein Großadmiral in sauberer, blaumariner Uniform und seine Entourage, der Reichsführer SS und sein Gefolge in feldgrauen Heeresuniformen, eine Pilotin der Wehrmacht, die später zur erfolgreichsten Pornoproduzentin der Bundesrepublik wurde, in eisblauer Uniform, zwei KZ-Häftlinge, die man nach Westen transportierte, in ihren gestreiften, verschlissenen und verdreckten Häftlingsuniformen, außerdem ein Marineangehöriger, der zum Radiosprecher avancierte und das Ende des Weltkrieges verkündete, der letzte Propagandafotograf, der in seinen Aufnahmen das Ende der Kriegsmarine inszenierte, ein »erfolgreicher« U-Boot-Kommandant, für den es noch nach Kriegsende ein Staatsbegräbnis gab, und ein junger U-Boot-Fahrer, alliierte Foto- und Filmreporter, die zuvor die Horrorszenarien der befreiten Konzentrationslager gesehen hatten und nun über das Ende von »Micky Maus« & Co. berichteten, englische Offiziere als Emissäre und Kommandeure, die die deutsche Kapitulation und die Festnahme der Dönitz-Regierung und ihrer Gefolgschaft organisierten.
Vieles an der Geschichte des »Wurmfortsatzes« ist skurril und absurd: das einst mächtige OKW, das sich im Auftrag des »Führers« anschickte, die Welt zu erobern, und sein Ende in einem 80-Seelen-Dorf in der Landschaft Angeln fand; die Themen, mit denen sich die Regierung des Großadmirals beschäftigte, und die militärischen Rituale, die sie krampfhaft aufrechterhielt; der Wechsel der Kostümierung mitten im Spiel, um sich der Verantwortung zu entziehen; ein Kommandeur, der das von ihm selbst erfundene Codewort vergaß und daraufhin erschossen wurde; Soldaten und NS-Größen, die ihre Hosen fallen lassen mussten und denen der Feind auf der Suche nach Giftampullen in den Anus griff; das eitle Gezeter um einige Koffer mit Unterwäsche, die der Großadmiral mit in die Gefangenschaft nehmen wollte; die bürokratisch-penible Protokollierung der Erschießung von Soldaten noch Tage nach der deutschen Kapitulation, während sich die Spitzen der Regierung, der NSDAP und der SS längst abgesetzt hatten; das Beharren auf Sauberkeit, Disziplin und Ordnung über die tatsächlich angerichtete Katastrophe hinaus.
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Es überrascht, dass die Geschichte dieses Untergangs außerhalb von Berlin nicht geschrieben und damit bis heute – also acht Jahrzehnte nach dem Ende des »Dritten Reiches« – trotz einer enormen Flut von Literatur und Filmen über diese Zeit weitestgehend unbekannt geblieben ist. Etliche große historische Darstellungen – ob ältere wie Karl-Dietrich Brachers Die deutsche Diktatur oder jüngere wie Ulrich Herberts Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert – erwähnen die Episode in Flensburg nicht einmal. Andere Darstellungen wie die ältere Studie von Marlis G. Steinert Die 23 Tage der Regierung Dönitz von 1967 oder auch Ian Kerhaws Buch Das Ende. Kampf bis in den Untergang aus dem Jahr 2011 reduzieren die Ereignisse auf reine Politikgeschichte. Das neuere Buch von Volker Ullrich Acht Tage im Mai. Die letzte Woche des Dritten Reiches von 2020 endet abrupt und nicht nachvollziehbar mit dem 8. Mai. Die politischen Aktionen der Regierung Dönitz und damit das tatsächliche Ende des »Dritten Reiches« nimmt es gerade einmal auf fünf Buchseiten zur Kenntnis. Ignoriert bleibt auch hier die reichhaltige lokal- und regionalgeschichtliche Literatur etwa zum Abtauchen und zum Identitätswechsel von NSDAP- und SS-Größen, zu militärischen Aktionen wie der »Operation »Regenbogen«, zum Weiterwirken der NS-Kriegsgerichtsbarkeit usw.
Eine Gesamtschau der letzten vier Wochen des »Dritten Reiches« steht somit aus – eine Gesamtschau, die multiperspektivisch unterschiedliche Blickweisen zusammenbringt: die Sicht »von oben« und die Sicht »von unten«, die Perspektive der Verfolger und die Perspektive der Verfolgten, die deutsche und die alliierte Betrachtung desselben Geschehens, die Absurdität der Geschehnisse und die Alltagsrealität. Diese Leerstelle will das vorliegende Buch füllen.
Seine Quellen sind Erinnerungsberichte des damaligen Führungspersonals von Dönitz und seinem Adjutanten Lüdde-Neurath, von Albert Speer und dem Chef der Mürwiker Regierung, Lutz Graf Schwerin von Krosigk, von einfachen Soldaten wie einem späteren Hamburger Verfassungsschutzpräsidenten und Terrorismusexperten, von einem Seekadetten der Crew 1/45, von einem entlassenen Soldaten, von einem Berichterstatter einer Marinepropagandaeinheit und einer Offizierin der Luftwaffe, von einfachen Bürgern wie einem pensionierten, der dänischen Minderheit nahestehenden Lehrer und einer Lehrerin aus dem nordfriesischen Leck, von Seeleuten und einer jungen Wehrmachtshelferin, die von der Dönitz-Regierung als Schreibkraft beschäftigt wurde, von einem später bekannten Maler und einem ebenso bekannten Verlagschef, von einem aus der KZ-Haft entlassenen Sozialdemokraten, von einem Landrat aus dem Holsteinischen sowie von englischen Offizieren wie dem britischen Generalfeldmarschall Bernard Montgomery, von ausländischen Beobachtern, Fotoreportern usw. usf. Weitere Quellen sind zeitgenössische Chroniken wie die des Flensburger Stadtarchivars, die Schulchronik eines Lehrers von der Geltinger Bucht, Tagebucheintragungen eines KZ-Häftlings und die autobiografischen Aufzeichnungen des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß. Dieses Buch basiert schließlich auf Gesprächen und Interviews mit Zeitgenossen wie einem leitenden örtlichen Gestapomitarbeiter, dem Sprecher des letzten Wehrmachtsberichts, der Tochter eines in letzter Minute noch hingerichteten Marineoffiziers, dem Sohn des Flensburger Gestapochefs, einem U-Boot-Kommandanten, Angehörigen des Wachbataillons Dönitz und weiteren.
Eine wichtige Quelle stellt die lokal- und regionalgeschichtliche Literatur dar. Ich selbst habe mich in einigen Arbeiten mit dem Reichssender Flensburg, mit dem Weiterwirken der NS-Militärgerichtsbarkeit, mit dem Abtauchen von NS-Größen in Norddeutschland und mit der medialen Praxis der Alliierten befasst. Zitate aus diesen Aufsätzen habe ich nicht explizit belegt. Vieles von dem, was in dieses Buch eingeht, habe ich in Gesprächen mit Zeitzeugen erfahren, ohne dass ich heute im Einzelnen nachweisen kann, von wem welche Informationen stammen und wann ich sie erhielt. Allerdings will dieses Buch auch keine wissenschaftliche Dokumentation sein, weshalb mir dies verziehen sei.
Gegliedert habe ich das Buch in vier Großkapitel: in das Kapitel »Flucht und Phantom«, in dem es um den Rückzug, die Flucht und die Evakuierung von Dienststellen der Reichsregierung, der Wehrmacht und der SS sowie die Verlegung von KZ-Häftlingen in die vermeintliche »Festung Nord« geht. Das Kapitel »Schnaps und Symbolik«, in dem ich die Tätigkeiten der Regierung des Großadmirals Dönitz untersuche. In das Kapitel »Regenbogen und Eisbär«, das vom Ende der Wehrmacht, ihren Ritualen und ihrer Selbstinszenierung handelt, sowie das Kapitel »Eclipse und Blackout«, in dem ich die Perspektive wechsele und die alliierten Aktivitäten zur definitiven Beendigung des Wurmfortsatzes des »Dritten Reiches« in Flensburg und Umgebung beschreibe. Das abschließende Kapitel »›Micky Maus« und ›Sarotti-Mohr‹« thematisiert Nachkriegsgeschichten und -karrieren der Protagonisten der vorangegangenen Kapitel.
Ausgangspunkt eines jeden Unterkapitels sind – soweit es möglich war – Schlüsselbilder von Ereignissen und Gegenständen, die im Folgenden kontextualisiert und exemplarisch interpretiert werden. Größtenteils handelt es sich dabei um Fotografien aus dem Bestand des Imperial War Museums in London und um Aufnahmen eines Propagandafotografen der Kriegsmarine, die in einem kleinen Gemeindearchiv an der Geltinger Bucht verwahrt werden. Am Ende der einzelnen Kapitel erzähle ich unter dem Titel »übrigens« kleine Nachgeschichten zu Personen, Gegenständen und Themen des vorangegangenen Kapitels.
Für mich, der ich seit drei Jahrzehnten in Flensburg lebe, sind die Ereignisse und Orte zwischen dem 21. April und dem 23. Mai 1945 nicht einfach nur abstrakte und ferne Gegenstände einer akademischen historiografischen Arbeit am Schreibtisch. Mir sind und waren sie in vielerlei Hinsicht nahe. Ich lebe in einem Stadtviertel, in dem Angehörige der NS-Eliten nach Kriegsende abgetaucht sind. Fast jedes Haus in meiner unmittelbaren Nachbarschaft erzählt mir ihre Geschichte. Auf dem Weg zu meinem Arbeitsplatz an der Universität bin ich täglich am Polizeipräsidium und an der ehemaligen Reichspost vorbeigefahren, wo die Engländer Dönitz & Co. der Presse vorgeführt hatten und der Sender stationiert war, der das Ende des Krieges verkündete. Die Sitzungen unseres Instituts fanden im Gestühl der letzten Reichsregierung statt. Unzählige Male bin ich an der Marinesportschule – dem Sitz der Dönitz-Regierung – vorbeigefahren, an der ein steinerner Reichsadler, dem das Hakenkreuz abhandengekommen ist, an die damaligen Ereignisse erinnert. Meine Bandholm, mein Segelboot, hatte ihren Liegeplatz an der Geltinger Bucht, wo sich die U-Boot-Waffe der Kriegsmarine und andere Kriegsschiffe zur Selbstversenkung versammelten und die Bucht in einen riesigen Schrottplatz verwandelten.
In der offiziellen Erinnerungskultur meiner Stadt kommt die Zeit zwischen Krieg und Frieden so gut wie nicht vor. Die Einrichtung eines Gedenkortes in den Räumen der Marinesportschule, dort, wo die letzte Reichsregierung residierte, traf schon vor mehr als vier Jahrzehnten auf den Widerspruch ihres Hausherrn: des Bundesministers für Verteidigung. Stattdessen erinnerte man sich auf dem Gelände der Schule mit einem Gedenkstein lieber an einen hochdekorierten U-Boot-Kommandanten und strammen Nazi. Eine für 2015 geplante Ausstellung über das Ende in Flensburg scheiterte am mangelnden Engagement des örtlichen Museumsdirektors, die Idee einer Dauerausstellung am Desinteresse einer Oberbürgermeisterin – ausgerechnet einer Sozialdemokratin. Was die Erinnerungskultur in Deutschland betrifft, sollte man daher nicht vorschnell von Berlin mit seinem Holocaustmahnmal, seinem jüdischen Museum, seinen unzähligen Erinnerungsorten und Gedenkstätten auf die Verhältnisse in der Provinz schließen. Hier ist alles sehr viel bescheidener, begrenzter und gebrochener, vielleicht auch, weil die Geschichte hier sehr viel näher daherkommt und durch konkrete Menschen und deren Familien, die man vielleicht kannte und kennt, repräsentiert wird.
Viel zu wenig im Bewusstsein ist schließlich die Tatsache, dass auf den Tag – fast auf die Stunde – genau vier Jahre nach der Festnahme der Regierung Dönitz und damit dem definitiven Ende des »Dritten Reiches« in Flensburg in Bonn am Rhein die Mitglieder des Parlamentarischen Rates das Grundgesetz unterzeichneten und damit die Bundesrepublik gründeten.
Abschließend möchte ich einigen Kollegen meinen ausdrücklichen Dank aussprechen: dem verstorbenen Hochschullehrer und Hobbyhistoriker Ulf Lüers (Flensburg) für dessen Forschungen über die KZ-Transporte nach Flensburg, dem engagierten Lokalhistoriker Burkhard Asmussen (Steinbergkirche) für seine Arbeiten zur Operation »Regenbogen« in der Geltinger Bucht, dem Historiker und Studienleiter für Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit Dr. Stephan Linck (Ahrensburg) für seine wegweisenden Arbeiten zur »Festung Nord«, dem Marinehistoriker Dr. Dieter Hartwig (Kiel) für seine Studie über Karl Dönitz sowie dem Diplombiologen Dr. Stefan Nehring (Koblenz) für seine Forschungen zum Militärschrott in Nord- und Ostsee und für die Überlassung von Fotografien. Ohne ihre Arbeiten und Hilfestellungen wäre dieses Buch kaum möglich gewesen. Motiviert, dieses Buch zu schreiben, hat mich Philipp Grieß, Senior Producer der UFA Documentary GmbH, die ursprünglich plante, eine Geschichtsdoku über die letzten Tage des »Dritten Reiches« zu drehen, wozu es letztlich aber nicht kam. Auch ihm gilt mein Dank.
Vorhang auf für das Untergangsstück: »Vier Wochen in Absurdistan«.
Flensburg, im Oktober 2024
Die Akteure: der »Führer«, seine Entourage, ein Großadmiral in einer sauberen dunkelblauen Uniform und ein feldgrau gekleideter Bösewicht * Orte der Handlung: der »Führerbunker« in Berlin, die Idylle der Holsteinischen Schweiz, die Abgeschiedenheit der Flensburger Förde * Besondere Requisiten: Landkarten vom Norden Deutschlands
Großherzogliches Regierungs- und Amtsgerichtsgebäude in Eutin; Ende April 1945 zeitweiliger Sitz der Regierung des »Dritten Reiches«. Zeitgenössische Ansichtskarte.
Es ist die Nacht nach Hitlers 56. Geburtstag, der 21. April 1945. Die Lage im Reich ist unübersichtlich. Vor wenigen Tagen haben Engländer das KZ Bergen-Belsen befreit. Die Bilder der menschlichen Skelette, die von Baggern in ein riesiges Massengrab geschoben werden, gehen um die Welt. Vor fünf Tagen hat die Rote Armee die Schlacht um Berlin eröffnet. Amerikanische und sowjetische Soldaten werden sich in wenigen Stunden bei Torgau an der Elbe die Hände reichen und Deutschland damit in zwei Teile, in einen südlichen und einen nördlichen Teil, zerschneiden.
Von »Götterdämmerung« fehlt im Befehlsbunker unter der Reichskanzlei jede Spur. Vielmehr dämmert der Diktator in seinem selbstgewählten Grab dumpf vor sich hin und bedauert nur noch sich selbst. An eine geordnete Regierungstätigkeit ist seit Monaten nicht mehr zu denken. Eine funktionsfähige Zentralgewalt existiert schon lange nicht mehr. Es droht eine schäbige Abschiedsvorstellung zu werden.
Soeben hat der »Führer« die Geburtstagsgratulanten verabschiedet, jene Getreuen, die ihm »Treue bis in den Tod« geschworen haben, sich tatsächlich aber längst innerlich von ihm abgewendet haben. Etliche seiner Mitarbeiter und Kampfgefährten haben sich schon vor Monaten nach Quartieren fernab der Hauptstadt umgeschaut und ihre Familien und ihr Vermögen dorthin in Sicherheit gebracht. Nur der Propagandachef des Diktators verharrt mit seiner Familie nibelungentreu noch im Bunker. Hitler glaubt, von Verrätern umzingelt zu sein. Auch das deutsche Volk habe ihn verraten. Die Bunkercrew versorgt sich derweil mit Munition und Gift, um dem eigenen Leben gegebenenfalls ein schnelles Ende zu bereiten.
Von Ferne sind das dumpfe Grollen von Geschützen und die Einschläge von Granaten zu hören. Der Feind hat sich ein besonderes Geburtstagsgeschenk für den Diktator ausgedacht: den ganzen Tag über attackieren mehr als 1000 Bombenflugzeuge die Hauptstadt.
Nachdem Hitler die Evakuierung seiner Regierung bislang vehement abgelehnt, diese gar als Defätismus betrachtet und damit eine planmäßige und rechtzeitige Vorbereitung auf die Niederlage verhindert hatte, ist er nun bereit, den Weg für deren Abzug freizumachen. Die Führungsstäbe der Ministerien sind aufgefordert, Berlin schnellstmöglich zu verlassen. Seit Monaten haben sie Evakuierungspläne – sowohl in südlicher als auch in nördlicher Richtung – ausgearbeitet, ihre Häuser dementsprechend in Arbeitsstäbe Süd und Nord aufgeteilt und zum Teil bereits – ohne Wissen des Diktators – Ausweichquartiere gesucht, ohne jedoch den entscheidenden Schritt zu wagen, die Hauptstadt zu verlassen. Die erforderlichen Transportkapazitäten, insbesondere Flugzeuge, sind knapp geworden. Die Straßen sind verstopft. Auf Drängen seines Finanzministers, Lutz Graf Schwerin von Krosigk, der Berlin nicht ohne schriftlichen »Führerbefehl« verlassen will, unterschreibt Hitler eine Anweisung, wonach sich die Minister mit ihren Stäben in ein Ausweichquartier in der Holsteinischen Schweiz, nicht unweit von Lübeck, begeben sollen. Wie sich Albert Speer mit Bezugnahme auf den Hamburger Gauleiter später erinnert, habe Hitler dem Befehl den Codenamen »Thusnelda« gegeben.
Thusnelda – das ist die Gemahlin des von Hitler hochverehrten Cheruskerfürsten Arminius: von Hermann dem Cherusker, dem »Befreier Germaniens«, wie ihn Tacitus nennt, jenes Mannes, der den Römern in der Varusschlacht eine empfindliche Niederlage beigebracht hat. Thusneldas Name war im 19. und frühen 20. Jahrhundert populär und mit viel patriotischem Pathos behaftet. Seine Verehrung für die Frau von Arminius hat Hitler dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er in seinem gigantischen Arbeitszimmer in der Neuen Reichskanzlei das Gemälde Hermann von Thusnelda gekrönt der schweizerisch-österreichischen Malerin Angelika Kauffmann aus dem Jahr 1786 hat aufhängen lassen. Es zählt zu seinen Lieblingsbildern.
Eher situativ, vom Gegner getrieben und der Not der Situation gehorchend, bildet sich im noch unbesetzten Norden des Reiches – zunächst in der Idylle der Holsteinischen Schweiz, ganz in der Nähe des später zu Filmehren gelangten Gutes Immenhof, anschließend am Ufer der Flensburger Förde – ein neues Machtzentrum des untergehenden Reiches heraus. Großspurig ist die Rede von der »Festung Nord«, die indes weder befestigt ist noch überhaupt gegen den alliierten Ansturm verteidigt werden kann. Die »Festung Nord« ist ein Phantom, ein Fantasieprodukt. Befördert wird das Gerede über sie durch eine Reportage in der Londoner Times vom 30. April 1945 über die Kriegslage in Norddeutschland mit dem Titel »Northern Bastion«.
Während die Evakuierung der Regierung ein hochsymbolischer politischer Akt war, den Hitler so lange hinauszögerte, wie es ging, erschien die Verlagerung von militärischen Kommandostellen als normaler Vorgang in einem Krieg. Ab Mitte April 1945 war Hitler bereit, sowohl die militärischen als auch die zivilen Schaltstellen des Regimes ziehen zu lassen und die Reichshauptstadt als Regierungszentrale aufzugeben. In der Folge zersplitterte sein eh schon weitgehend dezentralisierter Machtapparat in weitere Teile.
Frontverlauf Stand 1. Mai 1945: dunkel markierte Flächen letzte alliierte Geländegewinne.
Als sich, bedingt durch den raschen Vormarsch der Alliierten, die Gefahr einer Spaltung des Reichsgebietes in einen nördlichen und einen südlichen Teil abzuzeichnen begann, ein Entweichen in westlicher Richtung nicht mehr möglich erschien und im Osten die Russen standen, wurde die Errichtung von getrennten militärischen Führungsstäben vorbereitet. Am 11. und 12. April 1945 befahl Hitler in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Wehrmacht die Bildung von jeweils getrennten Außenkommandostellen des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) und des Oberkommandos des Heeres (OKH). Durch »Führerbefehl« vom 15. April wurden für den Fall, dass die Landverbindung in Mitteldeutschland unterbrochen und Hitler in dem jeweiligen betreffenden Raum selbst nicht anwesend sein konnte, für den nördlichen Raum der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine (OKM) Großadmiral Karl Dönitz (Gruppe A) und für den südlichen Raum Generalfeldmarschall Albert Kesselring (Gruppe B) zu neuen Oberbefehlshabern bestimmt, wobei die Befugnisse von Dönitz zunächst auf den zivilen Sektor beschränkt blieben.
Die Bildung von jeweils getrennten Außenkommandostellen des OKW und des OKH indes durchkreuzte die Rote Armee, deren Panzerspitzen an Hitlers Geburtstag 18 Kilometer südlich von Zossen auftauchten, jenem Ort im märkischen Sand, wo sich nach ihrem Abstecher nach Ostpreußen seit Jahresbeginn 1945 wieder die obersten Führungsstäbe des OKW und das OKH befanden. Zossen war eine mächtige militärische Bunkerzentrale, in der Tausende von Offizieren, Unteroffizieren, Dolmetschern, Kartenzeichnern, Kraftfahrern, Nachrichtenstäben, Telefonistinnen usw. ihren Dienst versahen.
Noch am 20. April verließ das OKW unter Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel – von seinen Gegnern ob seines arroganten und zugleich devoten Benehmens »LaKeitel« genannt – fluchtartig sein bisheriges Domizil und verlegte seinen Sitz in die Luftschutzschule Wannsee und einige umliegende Villen. Dort teilte sich auch der Wehrmachtsführungsstab. Das Gros ging allerdings nach Süden und eröffnete am 23./24. April bei Berchtesgaden – allerdings ohne Truppen – einen neuen Befehlsstand, genannt »Führungsstab Süd«.
Das Ende des OKW an der Elbe, 20. April bis 3. Mai 1945
Zum »Führungsstab Nord« schlugen sich auf Befehl Hitlers der Chef des OKW und der Chef des Wehrmachtführungsstabes und engster militärischer Berater des Diktators, Generaloberst Alfred Jodl, durch. In Etappen ging es über Rheinsberg, wo man vom 24. bis zum 29. April Quartier machte, über Wismar, Lübeck nach Neustadt in Holstein, wo die Wehrmachtsspitze am 1. Mai eintraf und schon am kommenden Tag weiter in Richtung Flensburg zog. Der Tross hatte sich in eine Armada von Hunderten von Lastwagen, Bussen, Personenkraftwagen und Krafträdern aufgeteilt, um dem Feind kein einfaches Ziel zu bieten. Im allgemeinen Chaos auf den Straßen fielen die Konvois aus Zossen allerdings ohnehin nicht sonderlich auf.
Als Reaktion auf den Vormarsch der Roten Armee und die Einkesselung Berlins erging am 19. April 1945 auch der Befehl zur Verlegung der Führungszentrale des OKM sowie der Hauptfunkstelle des Befehlshabers der U-Boot-Flotte vom Lager »Koralle« nördlich von Berlin in das Ausweichquartier Objekt »Forelle« bei Plön in Ostholstein. Anlässlich seines Besuchs zu Hitlers Geburtstag am kommenden Tag in Berlin erhielt Großadmiral Karl Dönitz von Hitler den Auftrag der »sofortigen Vorbereitung zur restlosen Ausschöpfung aller personellen und materiellen Möglichkeiten für die Verteidigung des Nordraums im Falle einer Unterbrechung der Landverbindung in Mittel-Deutschland«.1 Im noch kampffreien Raum Eutin-Plön-Malente sollte er ein neues Regierungs- und Verwaltungszentrum für die zu errichtende »Nordfestung« aufbauen.
Karl Dönitz war ein Durch-und-durch-Nazi, ein Hitler-Gläubiger – auch über den Tod seines »Führers« hinaus. Vor allem war er ein Pflichtmensch, ein Ordnungsfanatiker und ein »Diener«. Sein Lebensmotto lautete: »Kämpfen heißt opfern und dienen.« »Für mich war die Wahrung der Ordnung (…) zu dieser Zeit das Wichtigste«, schrieb er später selbst über sich.2 Sein Mürwiker Kabinettschef Graf Schwerin von Krosigk hat ihn 1951 vielleicht am genauesten charakterisiert: »Die Erfüllung der Pflicht ohne Rücksicht auf sich selbst war ihm das oberste Gebot. (…) Sein Herz gehörte der U-Boot-Waffe, mit ihr verlor er seine Hoffnung. Er verehrte den Führer, mit ihm verlor er seinen Glauben. Seine Liebe galt dem Vaterland, und er war in der schwersten Stunde dazu bestimmt, seinen Namen mit der Niederlage zu verbinden.«3 Ein britischer Historiker bezeichnete Dönitz später als »des Teufels General« (Peter Padfield). Eine etwas andere Charakterisierung liefert der Marinehistoriker Dieter Hartwig: »Er war ein nüchterner Denker. Er hatte einen begrenzten Humor. Er konnte im Kameradenkreis auch lachen, aber im Wesentlichen mit Jüngeren. Älteren oder Dienstälteren oder Dienstgradgleichen gegenüber war er ausgesprochen streng und sehr zurückhaltend, weil er wohl immer Angst hatte, die könnten ihn auch infrage stellen.«4 In jedem Fall war Dönitz ein Mann ohne jede politische Erfahrung. Er besaß eine ausschließlich militärische Sicht auf die Dinge. Noch über die deutsche Gesamtkapitulation hinaus glaubte er, den Kampf gegen die Sowjetunion gemeinsam mit den Westalliierten, besonders mit England, weiterführen zu können.
Was ihn mit seinen Gegenspielern auf britischer Seite, Premier Winston Churchill und dessen Generalfeldmarschall Bernard Montgomery, verband und gegebenenfalls ein Stück weit sein Verhalten zu erklären vermag, war sein abgrundtiefer Russenhass. In seinen Memoiren bezeichnete Montgomery die Russen später als »Barbaren« und »unzivilisierte Asiaten«, die »noch nie eine Kultur gekannt hatten, die der des übrigen Europa vergleichbar war«.5 Eine ähnliche Einstellung dürfte auch Dönitz gehabt haben.
In der Nacht vom 21. zum 22. April startete Dönitz von seinem Quartier aus in Richtung Nordwesten. Da die Straßen durch zurückflutende Wehrmachtseinheiten und Flüchtlingstrecks verstopft waren, kam der Konvoi nur langsam voran. Am späten Vormittag des 23. April traf Dönitz in seinem neuen Hauptquartier in der Holsteinischen Schweiz ein, der Barackenanlage »Forelle« am Suhrer See bei Plön. Nachdem in Berlin die Entscheidung für Ostholstein gefallen war, hatte die Seekriegsleitung, die bereits am 27. März in Plön Quartier bezogen hatte, für Dönitz und dessen Stab einige Baracken an der Straße von Plön nach Eutin freigemacht. Zwischen dem 22. und 26. April 1945 verlegte schließlich auch das erst Anfang April in Schwerin aufgestellte Marinesturmbataillon 1 – das spätere Wachbataillon Dönitz – unter Korvettenkapitän Peter-Erich Cremer seinen Sitz ebenfalls an den Suhrer See. Erste Sitzungen von Dönitz, einigen Gauleitern und hohen Offizieren fanden am 25. April 1945 in Eutin statt. Dabei ging es u. a. um die Einschätzung der militärischen Lage, um den Umgang mit hoch gefährlichen Kampfstoffen sowie um die Bildung von Fliegenden Standgerichten zur Erhaltung der Moral in der Truppe.
Funktionierende Kommunikationswege bedeuteten in diesen Tagen alles. Daher führten sowohl Dönitz als auch Himmler eigene Rundfunkübertragungswagen mit, mit denen sie sich notfalls direkt an die Bevölkerung wenden konnten. Bewegliche Marinefunktrupps mit neuester Technik hielten die Verbindung mit den Befehlsstellen in Norddeutschland und mit der Reichshauptstadt aufrecht. Diese Marinefunktrupps bestanden aus schweren Fünftonner-Lastwagen, in die Sender und Empfänger eingebaut waren. Betrieben wurden sie von jungen Marinenachrichtensoldaten. Einer von ihnen war der damals 20-jährige Marinefunker Obergefreiter Siegfried Unseld – später mächtiger Chef des renommierten Suhrkamp-Verlages.
Am 21. April 1945 wurde Berlin als Regierungssitz definitiv aufgegeben. Die Evakuierung der Kommandozentralen der Macht begann. Alle Reichsminister und Staatssekretäre sollten, so der telefonisch aus der Reichskanzlei ergangene Befehl, unverzüglich und auf eigene Faust mit ihren Wagen nach Eutin – einer gerade einmal 10 000 Einwohner zählenden Kreisstadt – aufbrechen. Die Ministerien, die Parteidienststellen, die Reichsführung SS sowie das OKW hatten sich bereits seit Wochen auf eine Verlegung vorbereitet und Ausweichquartiere und Unterkünfte für ihr Spitzenpersonal gesucht, sodass sie die Anweisung Hitlers nicht völlig unvorbereitet traf.
Anders als dies das Gerede von der »Alpenfestung« später Glauben machte, hatten sich nur wenige Einzelpersonen wie Generalfeldmarschall Hermann Göring oder der Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) Ernst Kaltenbrunner unmittelbar nach Hitlers Geburtstagsempfang Richtung Süden abgesetzt und dort verschanzt: Göring in sein Landhaus auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden, Kaltenbrunner nach Alt-Aussee im Salzkammergut. Die große Mehrheit des Führungsapparates des NS-Regimes indes – zum Teil wie Alfred Rosenberg mit Familienanhang – brach am Sonntag, dem 22. April 1945, in Richtung Ostholstein auf, darunter die Spitzen der Regierung, der SS und des OKW sowie das einst mächtige RSHA. Angesichts der militärischen Lage war eine andere Route auch gar nicht mehr möglich.
Die Absetzbewegungen in Deutschlands Norden wurden dadurch erschwert, dass die Alliierten mit ihren Flugzeugen den Luftraum über Deutschland beherrschten und auf alles schossen, was sich bewegte. Dabei waren sie nicht wählerisch. Getroffen wurden Züge und Schiffe, darunter auch etliche mit jüdischen Zwangsarbeitern und mit KZ-Häftlingen, sich auf den Straßen in die Heimat zurückziehende Soldaten, Flüchtlinge mit ihren Fuhrwerken aus dem Osten, ganz normale Straßenpassanten.
Die Initiative, ein Ausweichquartier in Deutschlands Norden für die Reichsregierung zu finden, ging vermutlich auf Heinrich Himmler in seiner Funktion als Reichsinnenminister sowie auf seinen Staatssekretär Wilhelm Stuckart zurück. Bereits Anfang April hatte dieser von seinem Chef den Auftrag erhalten, ein solches Quartier zu finden, wobei die Wahl auf die Holsteinische Schweiz zwischen Hamburg und Kiel fiel. Beamte des Berliner Innenministeriums waren daraufhin bei dem Eutiner Landrat vorstellig geworden, um die Verlegung ihres Ministeriums in die holsteinische Provinz vorzubereiten und die notwendigen Funkverbindungen sicherzustellen. Der Landrat bot der Delegation aus Berlin den zweiten Stock seines Amtssitzes an.
Das Dreieck zwischen Plön im Westen, Eutin im Südosten und Malente im Nordosten war vom Krieg bislang relativ verschont geblieben. Es war exakt jene Landschaft, in deren Mitte das Gut Immenhof lag: das filmische Nachkriegssymbol für Idylle, Harmonie und Vergessen. Die Entscheidung für Ostholstein mag auch darin begründet gewesen zu sein, dass sich hier die Möglichkeit bot, über die nahen Seehäfen Hamburg und Kiel gegebenenfalls schnell das Land zu verlassen. Außerdem lag es, wie man einigen im Januar 1945 erbeuteten Dokumenten der Alliierten entnehmen konnte, in der zu erwartenden britischen Zone. Mit den Engländern glaubte man sich besser arrangieren zu können als mit dem kompromisslosen Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Nordwesteuropa, US-General Dwight D. Eisenhower. Von Flensburg war zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede.
Ostholstein galt als politisch zuverlässig und militärisch weitgehend uninteressant. In Eutin hatte es 1933/34 ein frühes KZ gegeben. Im Plöner Schloss residierte seit April 1933 bis unmittelbar vor dem Eintreffen der Reichsregierung eine Nationalpolitische Erziehungsanstalt (NAPOLA), auf deren Wandrelief im Eingangsbereich des Schlosses zu lesen war: »Unser Leben gilt nichts, wenn es nicht eingesetzt wird für die Nation und den Führer«. Hunderte von künftigen Führungskräften des NS-Regimes waren hier ausgebildet worden. In Stadtbek am südlichen Ufer des Großen Plöner Sees hatte die Waffenfirma Walter an der Entwicklung von V1-Raketen geforscht und eine Versuchs-Abschussrampe installiert.
Als einer der ersten Minister traf Rüstungsminister Albert Speer, mit dem Flugzeug aus Hamburg kommend, noch am 21. April am Eutiner See ein. Sein neues Quartier fand er in drei räderlosen Bauwohnwagen der Reichsbahn, die auf einem toten Gleis im Seeschaarwald am nördlichen Ufer des Großen Eutiner Sees, etwa 1 ½ Kilometer vom Eutiner Schloss entfernt, abgestellt waren. Hatte Speer einst monumentale Bauwerke entworfen, die gigantischen Inszenierungen der Reichsparteitage der NSDAP in Nürnberg geplant und sich in seiner Fantasie bereits in der »Welthauptstadt Germania« bewegt, so campierte er jetzt mit wenigen persönlichen Habseligkeiten in Bauwagen der Reichsbahn: Deckname »Kasimir«. Auf Bitte von Dönitz zog Speer am 30. April in die Barackenanlage »Forelle« bei Plön um.
Auf Speer folgte Außenminister Joachim von Ribbentrop, der sich in unmittelbarer Nähe von Plön niederließ. Per Telefon hatte die Reichskanzlei auch Alfred Rosenberg – den Reichsminister für die besetzten Ostgebiete – informiert, dass sich alle Minister unverzüglich nach Eutin begeben sollten. Verkehrsminister Julius Dorpmüller fand in Malente sechs Kilometer nordöstlich vom neuen Dienstsitz von Dönitz Unterkunft. Justizminister Otto Thierack und sein Staatssekretär quartierten sich im Bahnhofshotel von Eutin ein, etwa acht Kilometer östlich des Lagers »Forelle«. Finanzminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk ließ sich in einem Forsthaus am Ukleisee östlich von Malente nieder; andere Quellen sprechen davon, dass der Graf seinen Wohnsitz beim Landrat von Bad Segeberg fand, von wo aus er täglich nach Eutin bzw. Plön pendelte, um dort an Gesprächen der verbliebenen Reichsregierung teilzunehmen bzw. diese zu leiten.
Landrat Ernst Sieh beschrieb nach dem Krieg das Eintreffen des Kabinetts in Eutin. Nach seiner Erinnerung war Reichsjustizminister Thierack der erste Minister, der in Eutin ankam. Er hatte Berlin bereits am 20. April verlassen. »Vor dem Landratsamt stehen zwei Volkswagen, mit denen der Reichsjustizminister, sein Staatssekretär Klemm und sein Adjutant gekommen sind. In meinem Amtszimmer erzählt mir der Reichsjustizminister folgendes: In der letzten Nacht habe Berlin einen schweren Bombenangriff erlebt. Sie seien bis 2 Uhr im Bunker gewesen. Bei seiner Rückkehr in die Wohnung habe er den Befehl Hitlers vorgefunden, sofort Berlin zu verlassen und sich in Eutin auf dem Landratsamt zu melden. Dort würden sich alle Mitglieder des Reichskabinetts einfinden. Hitler wolle nicht, dass die Minister in die Hand der Russen fielen. In aller Eile habe er einen Staatssekretär und seinen Adjutanten verständigt, seine Sachen gepackt und sei aus dem brennenden Berlin gefahren. Sein Ausweis habe ihm überall die Wege freigemacht. Alle Routen bis auf eine seien um Berlin bereits von den Russen besetzt und unter Feuer gehalten. In Mecklenburg hätten ihnen die Jabos (Jagdbomber; G. P.) der Engländer und Amerikaner sehr zugesetzt.«6
Über die Ankunft weiterer Kabinettsmitglieder berichtete der Landrat: »Im Laufe des Nachmittags kamen die anderen Kabinettsmitglieder vor meiner Wohnung in der Bismarckstrasse 16 vorgefahren. / Zunächst parkte Rosenberg seinen großen Maybach vor dem Hause. Er stieg aus dem Wagen. Gebückt ging er am Stock hinkend, an dem einem Fuss einen Filzschuh, ins Haus. Er war von seiner Frau und seiner Tochter begleitet. Rosenberg machte einen völlig niedergeschlagenen Eindruck. Sein Gesicht war grau und zerfurcht. Nur der Anblick Thieracks hellte seine Gesichtszüge etwas auf. / Als nächster kreuzte Reichserziehungsminister Rust in seinem großen Maybach auf. Rust begrüsste mit einem grossen, offenbar durch Alkohol beschleunigten Redefluss die beiden Minister. Er sei als letzter aus Berlin abgefahren. Erst um 7 Uhr früh habe er in seine Wohnung gelangen können. Zu seinem größten Erstaunen habe er dort den Abreisebefehl vorgefunden. Sein Diener sei nirgendwo aufzutreiben gewesen, deshalb habe er allein packen müssen. Die Berliner hätten sich geradezu merkwürdig benommen. Sie hätten hinter seinem Wagen her geschimpft, ja, sie hätten ihn sogar bedroht und mit Steinen beworfen. / In den nächsten Stunden treffen der Staatssekretär Stuckart, Reichsarbeitsminister Seldte, Reichsfinanzminister Schwerin von Krosigk und Staatssekretär Meissner ein. / Stuckart trug feldgraue SS-Obergruppenuniform. Er war verhältnismässig frisch, ruhig und sehr zurückhaltend. Ein grosser breiter Mann mit undurchsichtigem Gesicht.
Abgeklärt, in sich gekehrt, erschien der Finanzminister. Er ist hager, etwas über mittelgross. / Seldte machte den Eindruck wie ein Soldat nach schweren Erlebnissen, innerlich etwas aufgelockert und aufgeschlossen. / Meissner, selbstbewusst, verbindlich, die letzten Strapazen waren ihm kaum anzumerken. / Am Abend wurde noch viel gesprochen von Berlin, den Russen, der Aufspaltung Deutschlands durch das Zusammentreffen der Engländer und Amerikaner mit den Russen.«7
Gerüchte machten die Runde, auch Schleswig-Holstein würde an die Russen fallen. »Diese Gerüchte machten die Angst und die Lähmung vollständig«, schrieb der Landrat später. »Viele Männer und Frauen trugen sich ernsthaft mit Selbstmordgedanken. Die Apotheken und andere gaben ihren engsten Freunden Gift. Die Angst vor den Russen war unbeschreiblich.« Anders als weiter östlich, etwa in Vorpommern oder Berlin, kam es indes hier zu keinen Suizidexzessen.
Die wenigen Stunden der Vorbereitung, die Zeit der Evakuierung und auch die ersten Tage in Ostholstein nutzten etliche Regierungsmitglieder, um sich auch materiell auf eine Zeit nach Hitler bzw. nach dem Krieg vorzubereiten. Emmi Bonhoeffer – die Schwägerin von Dietrich Bonhoeffer – berichtete in ihrer Chronik der letzten Kriegsmonate aus Berlin, dass Justizminister Thierack sein Auto mit Schnäpsen und Zigarren aus der Kantine des Ministeriums vollgeladen hatte. Außenminister Ribbentrop soll in seinem »Gepäck« Gold der Banca d’Italia – das sogenannte Ribbentrop-Gold – aus der Berliner Reichsbank mitgeführt haben, das später die Engländer sicherstellten. Auch von anderen Ministern wie Heinrich Himmler wird berichtet, dass sie mit größeren Gold- und Geldbeständen unterwegs waren. Wie der Historiker Magnus Brechtken recherchiert hat, hatte sich Albert Speer bei seinem Geburtstagsbesuch bei Hitler schnell noch einen »Reisekostenvorschuss« über 30 000 RM auszahlen lassen und anschließend auf dem Jagdschloss Sigrön östlich von Wittenberge in der Altmark zusammen mit einem Referenten seiner Berliner Generalinspektion das Verladen von wertvollen Möbeln und Kunstgegenständen, von Edelmetallen und anderen Vermögenswerten überwacht, um diese vor dem Feind in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in Sicherheit zu bringen.
Eine Sonderstellung in dem sich bildenden neuen Machtgefüge nahm Reichsführer SS Heinrich Himmler – der »Methodiker des Schreckens« (Lutz Graf Schwerin von Krosigk) – ein. Seit einigen Monaten lebte er zusammen mit seiner Geliebten – seiner Privatsekretärin – in Brückentin mitten in der Uckermark gut 100 Kilometer nördlich von Berlin, ganz in der Nähe der Heilanstalten von Hohenlychen, wo er unter dem Schutz des Roten Kreuzes, das deutlich sichtbar auf dem Dach angebracht war, eine neue Kommandostelle der SS-Reichsführung eingerichtet hatte. Dorthin kehrte er nach dem Geburtstagsbesuch bei Hitler zurück und empfing hier noch am 22. April den schwedischen Diplomaten Graf Folke Bernadotte, mit dem er seine Friedenspläne mit den Westalliierten besprach. Zur restlichen Regierung hielt er Distanz.
Vor den näher rückenden sowjetischen Truppen teilte auch Himmler das SS-Führungshauptamt wie zuvor schon das RSHA in zwei unabhängig voneinander agierende Arbeitsstäbe auf, einen Arbeitsstab Nord und einen Arbeitsstab Süd. Die von SS-Obergruppenführer Hans Jüttner geführte Gruppe Nord sowie einige Ämter des RSHA verlegten ihren Sitz am 23. April in eine Polizeikaserne nach Lübeck. Den Mitarbeitern des Amtes IV – der Spitze der Gestapo – wurde von ihrem Amtsleiter, SS-Gruppenführer Heinrich Müller, am 20. April freigestellt, nach Norden zu gehen. Müller selbst blieb in Berlin.
Himmler, der zuvor seine Geliebte mit seinen beiden unehelichen Kindern nach Süddeutschland geschickt hatte, und sein persönlicher Stab machten sich von Hohenlychen über Parchim, Schwerin und Schloss Kalkhorst in Mecklenburg nach Ostholstein auf. Unterwegs trafen sie auf eine Gruppe der ehemaligen Inspektion der Konzentrationslager unter ihrem Chef Richard Glücks, die sich von Oranienburg aus über Ravensbrück, den Darß und Wismar nach Westen durchgeschlagen hatte. Zu dieser Gruppe zählte auch Rudolf Höß, der ehemalige Leiter des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, in der Zwischenzeit Amtschef im Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (WVHA) der SS. Dieser schilderte die Flucht später so: »Diese Fluchtfahrt war grauenhaft. In der Nacht ohne Licht auf den vollgestopften Straßen mit der dauernden Sorge, daß ja alle im Wagen zusammenblieben (…) In Rostock blieben mir zwei große Lastwagen mit dem ganzen Funkgerät stecken (…) Tagsüber von einem Waldstück nach dem anderen preschend, da die Tiefflieger diese Hauptrückzugsstraße dauernd befunkten. In Wismar stand Keitel selbst auf der Straße und fahndete nach Frontflüchtigen.«8 Das Motto der Flucht habe gelautet: »Immer befehlsgemäß dem RFSS nach.«
Himmler – der nach Hitler einst zweitmächtigste Mann des »Dritten Reiches« – war in diesen Tagen viel unterwegs. Am 28. April hielt er sich beim OKW in Rheinsberg auf, wo er zufällig auf Dönitz traf. Himmler hatte sich mit seinem persönlichen Stab umgeben: einer unter Waffen stehenden Gruppe von etwa 150 SS-Männern, dem Reichsarzt-SS Prof. Dr. Karl Gebhardt, führenden Männern der Ämter III, VI, V des RSHA, des Amtes D des WVHA unter Richard Glücks sowie führenden SS-Generälen wie Curt von Gottberg, Hans-Adolf Prützmann und Wilhelm Koppe sowie einigen ehemaligen KZ-Kommandanten wie Rudolf Höß. Sie alle waren ihrem Reichsführer treu ergeben. Zum Teil wurden die Männer von ihren Frauen begleitet.
Während sich der größte Teil von Himmlers Gefolge in Lübeck verschanzte, wechselte Himmler aus Sicherheitsgründen fast täglich das Quartier. Am 1. Mai etwa hatte er zusammen mit seinem Intimus Otto Ohlendorf – einst Amtschef SD-Inland im RSHA – und seinem engsten Umfeld auf einem Hof in Neversfelde bei Malente, etwa acht Kilometer nordöstlich des Suhrer Sees, Unterschlupf gefunden. Hier traf er sich u. a. mit dem wallonischen Faschistenführer und hochdekorierten Offizier der Waffen-SS Léon Degrelle. Himmler wusste, dass ihm die Engländer auf den Fersen waren. Am 29. April hatten diese irrtümlicherweise das Bismarck-Schloss in Friedrichsruh bombardiert, da sie den Reichsführer SS dort vermuteten. Allgemein handelte man in diesen Tagen den mächtigen SS-Chef als möglichen Nachfolger Hitlers.
Zwischen Plön und Eutin bildete sich in den Tagen nach dem 23. April eine Art Arbeitsteilung heraus, die nicht ohne Kompetenzprobleme war und die Zersplitterung der Verantwortlichkeiten widerspiegelte. Während sich das militärische Hauptquartier für die sogenannte Nordfestung unter Dönitz im Barackenlager am Suhrer See bei Plön befand, residierte die »zivile« Reichsregierung unter Graf Schwerin von Krosigk bis zum 1. Mai 1945 im nahen Eutin. Von der Bevölkerung weitestgehend unbemerkt, fand hier am 24. April, ab 11 Uhr, im Sitzungssaal des Landratsamtes – einem Anfang des 20. Jahrhunderts im Stile des Neobarocks erweiterten ehemaligen Großherzoglichen Regierungs- und Amtsgerichtsgebäude – unter dem Porträt des noch lebenden Diktators die erste Kabinettssitzung seit 1941 statt. Geleitet wurde sie von Schwerin von Krosigk, dem dienstältesten Reichsminister.
Der Holsteiner Verbrecherbande gehörten mindestens 11 Reichsminister an: Ernährungsminister Herbert Backe, Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti, Verkehrsminister Julius Heinrich Dorpmüller, Finanz- und Außenminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk, Reichsminister Otto Meissner, Minister für die besetzten Ostgebiete Alfred Rosenberg, Erziehungsminister Bernhard Rust, Arbeitsminister Franz Seldte, Rüstungsminister Albert Speer sowie Justizminister Otto Thierack. Nicht mit von der Partie war Himmler, der am selben Tag in Lübeck erneut mit Graf Folke Bernadotte zusammentraf, um über sein Projekt eines Waffenstillstandes mit den Westalliierten zu verhandeln. Nicht mit von der Partei war auch Außenminister von Ribbentrop, dessen bisherige Funktion der Graf selbst übernahm. Die Tätigkeit des Eutiner Rumpfkabinetts bestand vorwiegend darin, sich ein Bild von der militärischen Lage zu machen, die Katastrophenmeldungen zu sortieren und zu bewerten. Relevante Entscheidungen wurden zunächst nicht getroffen, da man die Entwicklung in Berlin abwarten wollte. Dafür schmiedete man Pläne für die Zukunft. Wie Schwerin von Krosigk in seinem Tagebuch kundtat, habe man u. a. an ein nordwestdeutsches Reich unter Führung eines englischen Prinzen gedacht. Zeitweise musste der Sitzungssaal im Landratsamt geräumt werden, um aus Berlin geflohenen Angehörigen von Mitarbeitern des Reichsinnenministeriums Platz zu machen.
