Maigret erlebt eine Niederlage - Georges Simenon - E-Book

Maigret erlebt eine Niederlage E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Am Quai des Orfèvres stellt sich ein Besucher ein und bittet um Polizeischutz. Es handelt sich um den "König der Metzger", Ferdinand Fumal, einen ehemaligen Mitschüler Maigrets. Schon der junge Jules Maigret konnte den fetten Ferdinand, genannt "Bum-Bum", nicht ausstehen. Der ist inzwischen zu Reichtum gekommen und hat großen Einfluss in höchsten gesellschaftlichen Kreisen. Seit einiger Zeit erhält er jedoch anonyme Drohbriefe. Maigret stellt eine Wache bei Fumals Haus ab, aber der macht weiter Ärger: Er lässt sich ermorden.

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Der 49. Fall

Georges Simenon

Maigret erlebt eine Niederlage

Roman

Aus dem Französischen von Thomas Bodmer

Kampa

1Die alte Dame aus der Kilburn Lane und der Metzger vom Parc Monceau

Das Scharren des Bürodieners Joseph war kaum lauter als das Trippeln einer Maus. Ohne Knarren öffnete sich die Tür, und so leise glitt er in Maigrets Büro, dass er mit seinem kahlen, von schütterem weißem Haar umflorten Schädel ein gutes Gespenst abgegeben hätte.

Der Kommissar, der, eine Pfeife zwischen die Zähne geklemmt, über irgendwelchen Akten brütete, blickte nicht auf, und Joseph verharrte bewegungslos.

Seit einer Woche war Maigret miserabler Laune, und seine Mitarbeiter wagten sich nur auf Zehenspitzen zu ihm ins Büro. Er war damit allerdings nicht allein, weder in Paris noch sonst wo in Frankreich: Nie zuvor hatte man einen so nassen, kalten und trübseligen März erlebt.

Um elf Uhr morgens war es noch so düster wie am Morgen einer Hinrichtung; selbst am Mittag brannten in den Büros alle Lampen, und um drei Uhr dämmerte bereits der Abend. Man konnte nicht mehr von Regen sprechen: Man lebte mitten in der Wolke, überall war es nass, Rinnsale schlängelten sich über die Fußböden, und niemand brachte mehr als drei Wörter heraus, ohne sich schnäuzen zu müssen.

Die Zeitungen veröffentlichten Fotos aus den Vororten, wo die Straßen zu Flüssen geworden waren und man in Booten nach Hause fuhr.

Als er morgens eingetroffen war, hatte der Kommissar gefragt:

»Ist Janvier da?«

»Der ist krank.«

»Und Lucas?«

»Seine Frau hat angerufen. Er sei …«

Die Inspektoren erwischte es einen nach dem anderen, manchmal auch mehrere zugleich, sodass nie mehr als ein Drittel der Mannschaft zur Verfügung stand.

Madame Maigret hatte keine Grippe. Dafür hatte sie Zahnschmerzen. Den Bemühungen des Zahnarztes zum Trotz überkam es sie Nacht für Nacht gegen zwei oder drei Uhr, und dann machte sie bis zum Morgengrauen kein Auge mehr zu.

Sie war tapfer, klagte nicht, verkniff sich noch das geringste Stöhnen.

Was die Sache verschlimmerte. Mitten im Schlaf wurde sich Maigret schlagartig bewusst, dass sie wach war. Er spürte, dass sie vor lauter Anstrengung, das Wimmern zu unterdrücken, kaum zu atmen wagte. Eine Zeit lang sagte er nichts und lauschte gleichsam ihrem Leiden, dann aber konnte er nicht umhin zu brummen:

»Warum nimmst du keine Tablette?«

»Ich dachte, du schläfst …«

»Nein. Nimm eine Tablette.«

»Du weißt doch, dass die bei mir nicht mehr wirken.«

»Nimm trotzdem eine.«

Er stand auf, ging barfuß die Schachtel holen und hielt ihr ein Glas Wasser hin, konnte allerdings seine Erschöpfung nicht verhehlen, die in Übellaunigkeit zu kippen drohte.

»Es tut mir leid.«

»Du kannst ja nichts dafür.«

»Ich könnte im Dienstmädchenzimmer schlafen.«

Sie hatten eines im sechsten Stock, das allerdings kaum je benutzt wurde.

»Lass mich oben schlafen.«

»Nein.«

»Sonst bist du morgen müde, und du hast doch so viel zu tun!«

Er hatte mehr Unannehmlichkeiten als wirkliche Arbeit. Eine alte Engländerin, Mrs Muriel Britt, hatte genau diesen Zeitpunkt gewählt, um zu verschwinden, und die Zeitungen waren voll davon.

Frauen verschwinden jeden Tag, meist unbemerkt, man findet sie wieder oder auch nicht, und den Zeitungen ist das in der Regel nicht mehr als drei Zeilen wert.

Muriel Britt aber war mit Pauken und Trompeten verschwunden. Sie war in einem überfüllten Zug mit zweiundfünfzig anderen Menschen in Paris angekommen, als Teil einer jener Herden, die Reiseveranstalter in England, den USA, Kanada oder anderswo zusammentreiben und dann zum Spottpreis durch Paris schleusen.

An jenem Abend hatte die Gruppe »Paris bei Nacht« absolviert. Ein Bus hatte die meist schon etwas älteren Männer und Frauen zu den Markthallen, nach Pigalle, in die Rue Lappe und die Champs-Élysées gebracht. Mit dem entsprechenden Bon hatte man in den Lokalen Anrecht auf ein Getränk.

Gegen Ende der Rundfahrt waren alle stark angeheitert, röteten sich die Wangen und glänzten die Augen wie im Fieber. Ein kleiner Herr mit gewachstem Schnurrbart, Buchhalter in der Londoner City, war vor der letzten Station verloren gegangen, doch er wurde am nächsten Nachmittag in seinem Bett gefunden, das er diskret aufgesucht hatte.

Bei Mrs Britt sah die Sache anders aus. Die englischen Zeitungen betonten, sie habe keinerlei Grund gehabt zu verschwinden. Sie war achtundfünfzig, mager und vertrocknet, mit dem müden Gesicht und dem müden Körper einer Frau, die ihr Leben lang gearbeitet hat. Sie führte eine Familienpension in der Kilburn Lane im Westen Londons.

Wie es dort aussah, wusste Maigret nicht. Aufgrund der Zeitungsfotos stellte er sich ein trostloses Haus vor, das von Sekretärinnen und kleinen Angestellten bewohnt wurde, die sich zur Essenszeit an einem runden Tisch versammelten.

Mrs Britt war Witwe. Sie hatte einen Sohn in Südafrika und eine verheiratete Tochter irgendwo am Suezkanal.

Es wurde darauf hingewiesen, dass dies der erste echte Urlaub sei, den die arme Frau sich je geleistet habe.

Eine Reise nach Paris. Eine Gruppenreise. Zum Festpreis. Sie logierte zusammen mit den andern in einem Hotel nahe der Gare Saint-Lazare, das auf solche Rundreisen spezialisiert war.

Sie war gleichzeitig mit den anderen aus dem Bus gestiegen und auf ihr Zimmer gegangen. Drei Zeugen hatten sie die Tür schließen hören.

Am nächsten Morgen war sie nicht mehr da gewesen, und seither war sie spurlos verschwunden. Ein Sergeant von Scotland Yard war angereist, hatte etwas verlegen mit Maigret Kontakt aufgenommen und ermittelte nun parallel.

Weniger diskret als er waren die Berichte der englischen Zeitungen über die Unfähigkeit der französischen Polizei.

Doch es gab eben gewisse Details, die Maigret nicht der Presse preisgeben wollte. Zum Beispiel, dass man in Mrs Britts Zimmer Schnapsflaschen gefunden hatte, die an allen möglichen Orten versteckt waren: unter der Matratze, unter der Wäsche in einer Schublade und sogar oben auf dem Spiegelschrank.

Und dann, dass kurz nach der Veröffentlichung des Fotos in der Abendzeitung der Lebensmittelhändler, der ihr diese Flaschen verkauft hatte, am Quai des Orfèvres vorbeigekommen war.

»Ist Ihnen irgendetwas Besonderes an ihr aufgefallen?«

»Hm. Sie war weinselig. Wenn man von Wein reden kann. Nach dem, was sie bei mir gekauft hat, trank sie vor allem Gin.«

Hatte Mrs Britt schon in der Familienpension in der Kilburn Lane heimlich getrunken? Die englischen Zeitungen hielten sich in dieser Hinsicht ausgesprochen bedeckt.

Auch der Nachtportier des Hotels hatte ausgesagt.

»Ich sah, wie sie ganz leise die Treppe herunterkam. Sie hatte Schlagseite und hat mit mir geschäkert.«

»Ist sie hinausgegangen?«

»Ja.«

»In welche Richtung?«

»Das weiß ich nicht.«

Ein Polizist hatte gesehen, wie sie zögernd vor einer Bar in der Rue d’Amsterdam stehen blieb und dann hineinging.

Das war alles. Man hatte keine Leiche aus der Seine gefischt. Man hatte keine zerstückelte Frau auf einer Brache gefunden.

Superintendent Pike von Scotland Yard, den Maigret gut kannte, rief jeden Morgen aus London an.

»Sorry, Maigret. Immer noch keine Spur?«

Das, der Regen, die feuchten Kleider, die tropfenden Regenschirme in allen Winkeln und dazu noch die Zähne von Madame Maigret bildeten zusammen ein unangenehmes Ganzes, und man spürte, dass der Kommissar kurz vor dem Explodieren war.

»Was ist, Joseph?«

»Der Chef möchte mit Ihnen reden, Herr Kommissar.«

»Ich geh gleich hin.«

Es war nicht Zeit für den Rapport. Wenn der Direktor der Kriminalpolizei Maigret mitten am Tag in sein Büro beorderte, bedeutete das in der Regel etwas Wichtiges.

Maigret las trotzdem noch einen Bericht zu Ende und stopfte sich eine Pfeife, bevor er rüberging.

»Immer noch nichts, Maigret?«

Er zuckte nur mit den Schultern.

»Eben habe ich durch einen Boten einen Brief des Ministers erhalten.«

Wenn man vom »Minister« sprach, war immer der Innenminister gemeint, der für die Kriminalpolizei zuständig war.

»Worum geht’s?«

»Um halb zwölf kommt jemand vorbei …«

Es war Viertel nach elf.

»Ein gewisser Fumal, der offenbar in seinen Kreisen ein hohes Tier ist. Bei den letzten Wahlen hat er der Partei ich weiß nicht wie viele Millionen gespendet.«

»Was hat seine Tochter angestellt?«

»Er hat keine Tochter.«

»Sein Sohn also?«

»Hat er auch nicht. Der Minister hat mir nicht gesagt, worum es geht. Aber offenbar will dieser Herr Sie persönlich sehen. Wir sollen alles unternehmen, um ihn zufriedenzustellen.«

Maigret bewegte lautlos die Lippen, und das Wort, das er nicht aussprach, begann unverkennbar mit »Sch«.

»Tut mir leid, mein Lieber. Das ist bestimmt lästig für Sie. Aber tun Sie bitte Ihr Bestes. Wir haben in letzter Zeit schon genug Ärger gehabt.«

Im Vorzimmer bei Joseph hielt Maigret inne.

»Wenn dieser Fumal kommt, bringst du ihn direkt zu mir.«

»Dieser was?«

»Fumal. Er heißt nun mal so.«

Der Name erinnerte Maigret an etwas. Seltsam, er hätte schwören können, dass es etwas Unangenehmes war, nicht nur weil der Name ähnlich wie das französische Wort für »Misthaufen« klang. Doch hatte er schon genug Unannehmlichkeiten, weshalb er sein Gedächtnis nicht auch noch nach unangenehmen Erinnerungen durchforsten mochte.

»Ist Aillevard da?«, fragte er in der Tür des Inspektorenbüros.

»Der ist heute Morgen nicht gekommen.«

»Krank?«

»Er hat nicht angerufen.«

Janvier saß wieder an seinem Platz, seine Nase war rot, der Rest seines Gesichts bleich wie ein Radiergummi.

»Und die Kinder?«

»Haben natürlich alle die Grippe.«

Fünf Minuten später scharrte es wieder vor seiner Bürotür, und in einem Ton, als sagte er ein anrüchiges Wort, verkündete Joseph:

»Monsieur Fumal.«

Ohne seinen Besucher anzuschauen, brummte Maigret:

»Setzen Sie sich.«

Dann, als er aufblickte, sah er einen riesigen, aufgedunsenen Menschen, der auf dem Sessel kaum Platz hatte. Fumal betrachtete ihn mit einem boshaften Blick, als erwartete er eine ganz bestimmte Reaktion.

»Worum geht’s? Man hat mir gesagt, Sie wollen mich persönlich sprechen.«

Auf dem Mantel des Besuchers waren nur vereinzelte Regentropfen zu sehen. Er musste also mit dem Wagen gekommen sein.

»Erkennen Sie mich nicht?«

»Nein.«

»Denken Sie nach.«

»Dafür hab ich keine Zeit.«

»Ferdinand.«

»Ferdinand wer oder was?«

»Der dicke Ferdinand. Bumbum!«

Plötzlich fiel es Maigret ein. Er hatte recht gehabt. Es war eine unangenehme Erinnerung. Sie reichte weit zurück, in die Zeit, als er in seinem Heimatdorf Saint-Fiacre im Allier bei Mademoiselle Chaigné zur Schule gegangen war.

Maigrets Vater war Verwalter des Schlosses von Saint-Fiacre. Ferdinand wiederum war der Sohn des Metzgers in Quatre-Vents, einem zwei Kilometer entfernten Weiler.

In jeder Klasse gibt es einen Jungen wie ihn, größer und dicker als die anderen, und zwar dick auf eine ungesunde Weise.

»Na, ist der Groschen gefallen?«

»Ja.«

»Was ist das für ein Gefühl, mich wiederzusehen? Ich habe gewusst, dass Sie bei den Bullen gelandet sind, ich hab Ihr Foto ja in der Zeitung gesehen. Überhaupt, Alter, haben wir uns damals doch geduzt.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte der Kommissar und klopfte seine Pfeife aus.

»Wie Sie wollen. Haben Sie den Brief des Ministers gelesen?«

»Nein.«

»Hat man Ihnen nichts gesagt?«

»Doch.«

»Na ja, wir haben beide unseren Weg gemacht. Wenn auch nicht den gleichen. Mein Vater war kein Schlossverwalter, sondern bloß der Dorfmetzger. Aus dem Gymnasium von Moulin haben sie mich in der Fünften rausgeschmissen …«

Er hatte etwas Aggressives, und das galt nicht nur Maigret. Er war der Typ, der sich gegen alles hart und bösartig verhielt, auch gegen das Leben, gegen den Himmel.

»Wie dem auch sei, heute hat mir Oscar gesagt …«

Oscar war der Innenminister.

»Geh zu Maigret, da du ja mit ihm sprechen willst, er wird ganz zu deiner Verfügung stehen, dafür sorge ich.«

Der Kommissar verzog keine Miene und blickte seinem Besucher träg ins Gesicht.

»Ich erinnere mich sehr gut an Ihren Vater«, fuhr Fumal fort. »Er hatte einen rotblonden Schnurrbart, nicht? Mager war er. Eher schwach auf der Brust … Die beiden müssen zusammen das eine oder andere Ding gedreht haben, mein Vater und er …«

Diesmal hatte Maigret Mühe, ruhig zu bleiben, denn es ging um einen heiklen Punkt, eine der unangenehmsten Erinnerungen seiner Kindheit.

Wie viele Metzger auf dem Land war auch Fumals Vater Louis eine Art Viehhändler. Er hatte zunächst ein paar tiefer gelegene Weiden gepachtet, um darauf Vieh zu mästen, und dann sein Betätigungsfeld immer weiter ausgedehnt. Seine Frau, Ferdinands Mutter, wurde »die schöne Fernande« genannt. Es hieß, sie trage keine Unterhosen und habe dazu nur gesagt:

»Was kann einem alles durch die Lappen gehen, wenn man die erst ausziehen muss.«

Gibt es eigentlich in allen Kindheitserinnerungen so dunkle Flecken?

Als Verwalter hatte Évariste Maigret die Aufgabe, das Vieh des Schlosses zu verkaufen. Er hatte sich lange geweigert, mit Louis Fumal geschäftlich zu verkehren. Eines Tages aber ließ er sich doch darauf ein. Fumal war zu ihm ins Büro gekommen mit seiner abgeschabten, wie immer mit Banknoten vollgestopften Brieftasche.

Maigret war damals sieben oder acht Jahre alt und an diesem Tag nicht in der Schule. Er hatte keine Grippe wie Janviers Kinder, sondern Mumps. Seine Mutter lebte noch. Es war sehr heiß in der Küche, alles war grau, und die Fenster waren so beschlagen, dass das Wasser in klaren Bächen herunterrieselte.

Plötzlich war sein Vater hereingestürmt, ohne Hut, was sonst gar nicht seine Art war, mit feuchtem Schnurrbart und ganz außer sich.

»Dieses Schwein von Fumal …«, hatte er gebrummt.

»Was hat er getan?«

»Ich hab’s nicht gleich gemerkt. Als er rausging, habe ich das Geld in den Tresor getan, dann habe ich jemand angerufen, und erst danach hab ich gemerkt, dass er zwei Banknoten unter meinen Tabaktopf geklemmt hatte.«

Wie groß war die Summe gewesen? Nach so vielen Jahren hatte Maigret nicht die geringste Ahnung, aber er erinnerte sich, wie wütend sein Vater gewesen war, wie gedemütigt er sich gefühlt hatte.

»Dem lauf ich nach.«

»Ist er mit dem Karren da gewesen?«

»Ja. Aber mit dem Fahrrad kann ich ihn einholen.«

Der Rest war verschwommen. Doch seither hatte der Name Fumal im Haus einen Beigeschmack. Die beiden Männer grüßten einander nicht mehr. Es hatte noch etwas gegeben, worüber Maigret aber noch weniger wusste. Offenbar hatte Fumal versucht, den Grafen von Saint-Fiacre (das war noch der alte Graf gewesen) gegen seinen Verwalter aufzuwiegeln, der sich gegen die Anwürfe hatte verteidigen müssen.

»Worum geht’s?«

»Haben Sie schon mal was von mir gehört seit der Schule?«

Ferdinand Fumals Stimme hatte einen bedrohlichen Unterton angenommen.

»Nein.«

»Kennen Sie die Boucheries Réunies«?

»Dem Namen nach.«

Das war eine ganze Kette von Metzgereien – eine gab es am Boulevard Voltaire, unweit von Maigrets Wohnung –, gegen welche die kleinen Metzger erfolglos angekämpft hatten.

»Das bin ich. Haben Sie schon von den Boucheries Économiques gehört«?

Nichts Genaueres. Auch das war eine Kette, die eher auf die ärmeren Viertel und die Vororte ausgerichtet war.

»Auch das bin ich«, sagte Fumal und blickte ihn herausfordernd an. »Wissen Sie, wie viele Millionen diese beiden Unternehmen wert sind?«

»Das interessiert mich nicht.«

»Ich stehe auch hinter den Boucheries du Nord, mit Sitz in Lille, und hinter den Bouchers Associés, deren Büros in der Rue Rambuteau sind.«

Mit Blick auf den Umfang des Mannes im Sessel gegenüber hätte Maigret beinahe gesagt:

»Ganz schön viel Fleisch!«

Doch er ließ es bleiben. Ihm schwante, dass da noch eine viel lästigere Sache auf ihn zukam als das Verschwinden von Mrs Britt. Er konnte Fumal nicht ausstehen, und das hatte nicht nur mit der Erinnerung an seinen Vater zu tun. Der Mann war zu selbstsicher, von einem geradezu unverschämten Selbstbewusstsein, das Normalsterblichen nicht gut zu Gesicht stand.

Doch unter der Oberfläche war auch Unruhe zu ahnen, ja vielleicht sogar Panik.

»Fragen Sie sich nicht, was ich hier will?«

»Nein.«

So brachte man solche Leute am besten aus der Fassung: indem man ihnen vollkommen ruhig begegnete, ihnen die Macht der Trägheit entgegensetzte. Im Blick des Kommissars waren weder Neugier noch Interesse zu erkennen, und der andere begann sich aufzuregen.

»Hören Sie, mein Arm reicht weit genug, dass ich auch hohe Beamte ihres Amtes entheben kann.«

»Ach ja?«

»Sogar Beamte, die sich für wichtig halten …«

»Kommen Sie bitte zur Sache, Monsieur Fumal.«

»Sie dürften bemerkt haben, dass ich als Freund gekommen bin …«

»Und?«

»Sie dagegen haben sofort eine Haltung eingenommen, die man als …«

»… höflich bezeichnen würde, Monsieur Fumal.«

»Wie Sie wollen. Ich bin hier, weil ich dachte, aufgrund unserer alten Freundschaft …«

Sie waren nie Freunde gewesen, hatten nie miteinander gespielt. Ferdinand Fumal hatte überhaupt mit niemandem gespielt und sich auf dem Schulhof immer in eine Ecke verkrochen.

»Erlauben Sie mir, Sie darauf hinzuweisen, dass ich eine Menge Arbeit zu erledigen habe.«

»Ich habe mehr zu tun als Sie und habe mich dennoch herbemüht. Ich hätte Sie auch in eines meiner Büros bestellen können …«

Dem zu widersprechen, hätte nichts gebracht. Fumal kannte den Minister, hatte ihm irgendwelche Dienste erwiesen wie zweifellos auch anderen Politikern, und das konnte Schwierigkeiten nach sich ziehen.

»Brauchen Sie die Polizei?«

»Inoffiziell.«

»Erzählen Sie.«

»Es versteht sich von selbst, dass alles, was ich Ihnen sagen werde, unter uns bleibt …«

»Es sei denn, Sie haben ein Verbrechen begangen.«

»Ich mag keine Scherze.«

Maigret hatte die Nase voll, er stand auf, lehnte sich an den Kamin und musste sich zusammenreißen, um seinen Besucher nicht hinauszuschmeißen.

»Man trachtet mir nach dem Leben.«

Maigret verkniff sich die Bemerkung:

»Das kann ich verstehen.«

Und zwang sich, die Fassung zu bewahren.

»Seit etwa einer Woche bekomme ich anonyme Briefe. Zunächst habe ich dem kaum Beachtung geschenkt. Menschen von meiner Bedeutung müssen sich damit abfinden, dass sie Neid und manchmal auch Hass hervorrufen.«

»Haben Sie die Briefe dabei?«

Fumal zog aus seiner Tasche eine Brieftasche, die ebenso prall gefüllt war wie einst diejenige seines Vaters.

»Das ist der erste. Den Umschlag habe ich weggeworfen, ich wusste ja nicht, was drin war.«

Maigret nahm ihn und las die mit Bleistift geschriebenen Worte:

Du wirst verrecken.

Ohne zu lächeln, legte er das Blatt auf den Schreibtisch.

»Was steht in den anderen?«

»Das ist der zweite. Der kam am Tag danach. Den Umschlag habe ich behalten. Wie Sie sehen, ist der Stempel einer Poststelle bei der Oper darauf.«

Auf dem Zettel stand, ebenfalls mit Bleistift geschrieben, in Blockbuchstaben:

Dich krieg ich.

Fumal hatte noch andere Briefe in der Hand, die er jetzt einen nach dem anderen aus den Umschlägen zog.

»Bei diesem hier kann ich den Poststempel nicht entziffern.«

Deine Tage sind gezählt, Schweinehund.

»Ich nehme an, Sie haben keine Ahnung, wer die geschickt haben könnte.«

»Warten Sie. Es sind im Ganzen sieben. Der letzte ist heute Morgen gekommen. Einer wurde am Boulevard Beaumarchais aufgegeben, einer in der Hauptpost in der Rue du Louvre und einer schließlich in der Avenue des Ternes.«

Die Texte ähnelten einander.

Bald ist es so weit.

Mach dein Testament.

Schwein.

Und der letzte Brief war mit dem ersten identisch:

Du wirst verrecken.

»Vertrauen Sie mir diese Korrespondenz an?«

Das Wort »Korrespondenz« wählte Maigret bewusst und nicht ohne Ironie.

»Wenn es hilft, den Absender ausfindig zu machen.«

»Könnte es sich auch um einen Scherz handeln?«

»Die Leute, mit denen ich zu tun habe, machen in der Regel keine Scherze. Egal was Sie denken, Maigret, ich bin keiner, der sich so leicht Angst einjagen lässt. Meine Position erreicht man nicht, ohne sich einige Feinde zu machen, und für die habe ich immer nur Verachtung gehabt.«

»Warum sind Sie gekommen?«

»Weil ich als Bürger ein Recht darauf habe, beschützt zu werden. Ich habe keine Lust, mich abmurksen zu lassen, ohne zu wissen, von wem. Ich habe das gegenüber dem Minister erwähnt, und er meinte …«

»Ich weiß. Sie möchten also, dass man Sie diskret beschützt?«

»Das scheint mir angebracht.«

»Und wir sollen natürlich auch den Verfasser dieser anonymen Briefe ausfindig machen?«

»Wenn möglich.«

»Haben Sie einen bestimmten Verdacht?«

»Nein. Das heißt …«

»Sagen Sie schon.«

»Also, ich will den aber nicht beschuldigt haben. Das ist ein Schwächling. Er mag vielleicht zu Drohungen fähig sein, aber sie in die Tat umzusetzen, das wird er nicht wagen.«

»Um wen geht es?«

»Einen gewissen Gaillardin, Roger Gaillardin, von den Comptoirs Économiques.«

»Hat er Grund, Sie zu hassen?«

»Ich habe ihn ruiniert.«

»Mit Absicht?«

»Ja. Und nachdem ich ihm angekündigt hatte, dass ich es tun werde.«

»Warum?«

»Weil er sich mir in den Weg gestellt hat. Jetzt wird er zwangsliquidiert, und ich hoffe, er kommt ins Gefängnis, denn zum Bankrott ist auch noch eine Schecksache hinzugekommen.«

»Haben Sie seine Adresse?«

»Rue François-Ier26.«

»Ist er Metzger?«