Maigret hat Angst - Georges Simenon - E-Book

Maigret hat Angst E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Eigentlich wollte Maigret nur seinen alten Studienfreund Chabot besuchen, doch schon auf der Zugfahrt nach Fontenay-le-Comte wird er von einem Mitreisenden erkannt, der glaubt, Untersuchungsrichter Chabot habe den Kommissar um Hilfe gebeten: Zwei Morde haben die Kleinstadt erschüttert. Maigret möchte seinen Besuch geheim halten, doch bald weiß die ganze Stadt Bescheid, die alle ihre Hoffnungen in den berühmten Kommissar aus Paris setzt. Und dann geschieht ein dritter Mord.

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Der 42. Fall

Georges Simenon

Maigret hat Angst

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Bärbel Brands

Kampa

1Der Bummelzug im Regen

Maigret befand sich zwischen zwei kleinen Bahnhöfen, deren Namen er nicht einmal hätte nennen können und von denen er im Dunkeln kaum etwas sah, außer dem Regen, der sich wie Bindfäden im Lichtschein einer großen Lampe abzeichnete, und einigen Schattengestalten mit ihren Karren, als er sich plötzlich fragte, was er hier eigentlich wollte. Vielleicht war er in dem überhitzten Abteil für einen Augenblick eingenickt. Es musste jedoch ein leichter Schlaf gewesen sein, denn er wusste, dass er sich in einem Zug befand. Er hörte das monotone Rattern und hätte schwören können, von Zeit zu Zeit in der dunklen Weite der Felder die erleuchteten Fenster eines einsamen Bauernhofs gesehen zu haben. All das war wirklich, auch der Rußgeruch, der sich mit dem seines feuchten Mantels mischte, und das Gemurmel, das unablässig aus einem Nebenabteil drang; aber dennoch erinnerte all das an einen Traum, als spielte es sich jenseits von Raum und Zeit ab.

Er hätte sich in irgendeinem Zug befinden können, der über Land fuhr. Genauso hätte er der fünfzehnjährige Maigret sein können, der an einem Samstag in genau solch einem Bummelzug mit uralten Waggons, deren Wände bei jeder Anstrengung der Lokomotive knarzten, vom Internat nach Hause fuhr. Die gleichen Stimmen in der Nacht, die bei jedem Halt zu vernehmen waren, die gleichen Männer, die sich am Postwaggon zu schaffen machten, das gleiche Pfeifen des Bahnhofsvorstehers.

Halb öffnete er die Augen, zog an seiner Pfeife, die erloschen war, und blickte zu dem Mann, der in der anderen Ecke des Abteils saß. Auch er hätte damals in dem Zug sitzen können, der Maigret heimgebracht hatte zu seinem Vater. Er hätte der Graf oder Schlossbesitzer sein können, der wichtigste Mann des Ortes oder irgendeiner Kleinstadt.

Er trug einen Golfanzug aus hellem Tweed und einen jener Regenmäntel, die man nur in ausgesuchten, sehr teuren Geschäften findet. Dazu einen grünen Jägerhut, an dessen Band eine winzige Fasanenfeder steckte. Trotz der Hitze hatte er seine gelbbraunen Lederhandschuhe nicht ausgezogen; solche Leute behalten ihre Handschuhe im Zug oder Auto für gewöhnlich an. Und trotz des Regens zeichnete sich auf seinen glanzpolierten Schuhen nicht ein Schmutzfleck ab.

Er musste etwa fünfundsechzig Jahre alt sein, war also schon ein älterer Herr. Es ist seltsam, wie sehr Menschen dieses Alters auf jedes Detail ihrer äußeren Erscheinung bedacht sind. Dass sie es immer noch darauf anlegen, sich von gewöhnlichen Sterblichen zu unterscheiden.

Sein rosiger Teint war typisch für Männer seines Schlags, und in dem kleinen silberweißen Schnurrbart zeichnete sich ein vom Zigarrerauchen gelber Kreis ab. Sein Blick jedoch hatte nicht die Selbstgewissheit, die man erwartet hätte. Aus seiner Ecke beobachtete er Maigret, der seinerseits zu ihm hinblinzelte und zwei- oder dreimal nahe daran war, ihn anzusprechen.

Der schmutzige, regennasse Zug fuhr weiter durch eine dunkle Welt, in der nur selten ein Licht aufblitzte. Manchmal tauchte eine Bahnschranke auf und dahinter die verschwommene Gestalt eines Fahrradfahrers, der wartete, bis der Zug vorbeigefahren war.

War Maigret traurig? Nein, das war es nicht. Er fühlte sich nicht ganz wohl. Vor allem hatte er in den letzten Tagen zu viel getrunken; aus Pflichtgefühl und ohne Vergnügen.

Er war zum internationalen Polizeikongress gefahren, der in diesem Jahr in Bordeaux stattgefunden hatte. Es war April. Als er Paris verlassen hatte, wo der Winter lang und zäh gewesen war, schien der Frühling schon vor der Tür zu stehen. Aber in Bordeaux hatte es drei Tage lang geregnet, und der kalte Wind hatte einem die Kleider an den Leib gedrückt.

Zufällig waren die wenigen Freunde, die er sonst auf diesen Kongressen traf, wie Mister Pyke, diesmal nicht anwesend. Jedes Land schien in diesem Jahr darauf bedacht gewesen zu sein, nur Männer von dreißig bis vierzig Jahren zu schicken, die er allesamt noch nie gesehen hatte. Sie waren sehr höflich zu ihm gewesen, geradezu ehrerbietig, wie man sich eben einem Älteren gegenüber zeigt, den man respektiert, aber zugleich als ein wenig gestrig empfindet.

Bildete er sich das nur ein, oder hatte ihn der unaufhörliche Regen in schlechte Stimmung versetzt? Und dazu all der Wein, den sie in den Kellereien hatten trinken müssen, zu deren Besichtigung die chambre de commerce sie eingeladen hatte.

»Amüsierst du dich?«, hatte ihn seine Frau am Telefon gefragt.

Er hatte mit einem Brummen darauf geantwortet.

»Versuch dich ein bisschen zu erholen. Beim Wegfahren kamst du mir recht abgespannt vor. Jedenfalls wirst du auf andere Gedanken kommen. Aber erkälte dich nur nicht!«

Vielleicht hatte er sich plötzlich alt gefühlt. Selbst die Diskussionen, die beinahe ausschließlich um neue wissenschaftliche Verfahren kreisten, hatten ihn nicht interessiert. Am Abend hatte das Bankett stattgefunden und am nächsten Morgen noch ein letzter Empfang – diesmal im Rathaus –, danach ein Mittagessen, bei dem es wieder reichlich zu trinken gab. Da er erst am Montagmorgen wieder in Paris sein musste, hatte er Chabot versprochen, ihn übers Wochenende in Fontenay-le-Comte zu besuchen.

Chabot wurde schließlich auch nicht jünger. Zu der Zeit, da Maigret zwei Jahre lang an der Universität in Nantes Medizin studiert hatte, waren sie Freunde gewesen. Chabot hatte Jura studiert und in derselben Pension gewohnt. Zwei- oder dreimal hatte Maigret seinen Freund an einem Sonntag zu dessen Mutter nach Fontenay begleitet.

Im Laufe der vielen Jahre, die seitdem vergangen waren, hatten sie sich vielleicht zehn Mal gesehen.

»Wann besuchst du mich einmal in der Vendée?«

Auch Madame Maigret hatte versucht, ihn dazu zu bewegen.

»Warum fährst du nicht auf der Rückreise von Bordeaux bei deinem Freund Chabot vorbei?«

Er hätte schon vor zwei Stunden in Fontenay eintreffen müssen, aber er hatte den falschen Zug genommen. In Niort, wo er einen längeren Aufenthalt gehabt und im Wartesaal ein paar Gläschen getrunken hatte, war ihm kurz der Gedanke gekommen, Chabot anzurufen, damit er ihn mit dem Wagen abholte. Aber er hatte es schließlich doch nicht getan. Julien hätte darauf bestanden, Maigret bei sich aufzunehmen, und der Kommissar verabscheute es, bei anderen Leuten zu übernachten.

Er würde im Hotel absteigen und ihn von dort anrufen.

Es war töricht gewesen, diesen Abstecher zu machen, anstatt die beiden freien Tage zu Hause am Boulevard Richard-Lenoir zu verbringen. Wer weiß, in Paris regnete es vielleicht schon nicht mehr, und der Frühling war endlich da.

»Man hat Sie also kommen lassen …«

Maigret fuhr zusammen. Ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein, musste er seinen Reisegefährten weiterhin angeblinzelt haben, und dieser hatte sich nun entschlossen, ihn anzusprechen. Es schien ihm selbst etwas peinlich zu sein. Offenbar glaubte er, deshalb einen gewissen ironischen Unterton mitschwingen lassen zu müssen.

»Pardon?«

»Ich sagte, ich habe schon geahnt, dass sie jemanden wie Sie rufen würden.«

Und als Maigret noch immer nicht zu verstehen schien, setzte er nach: »Sie sind doch Kommissar Maigret?«

Der Reisende, wieder ganz der Mann von Welt, erhob sich und stellte sich vor: »Vernoux de Courçon.«

»Sehr erfreut.«

»Ich habe Sie sofort erkannt. Ich habe Ihr Foto schon oft in der Zeitung gesehen.«

Es klang, als ob er sich dafür entschuldigen wollte, Zeitung zu lesen.

»Sie erleben das sicher oft.«

»Was?«

»Dass man Sie erkennt.«

Maigret wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er stand noch nicht wieder mit beiden Beinen in der Wirklichkeit. Seinem Gegenüber traten Schweißperlen auf die Stirn, ganz so, als hätte er Mühe, sich mit Anstand aus der Situation, in die er sich gebracht hatte, wieder herauszulavieren.

»Hat mein Freund Julien Sie angerufen?«

»Sie meinen Julien Chabot?«

»Ja, den Untersuchungsrichter. Es wundert mich, dass er mir heute Morgen nichts davon gesagt hat.«

»Ich begreife immer noch nicht.«

Vernoux de Courçon runzelte die Stirn und betrachtete ihn aufmerksam.

»Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie zufällig nach Fontenay-le-Comte kommen?«

»Doch.«

»Und Sie statten Julien Chabot keinen Besuch ab?«

»Doch, aber …«

Plötzlich errötete Maigret. Er ärgerte sich über seine folgsame Art zu antworten. Ebenso hatte er sich einst gegenüber den feinen Herrschaften verhalten, zu denen auch jener Reisegefährte gehörte: »den Leuten vom Schloss«.

»Merkwürdig, nicht wahr?«, stichelte der andere.

»Was ist daran merkwürdig?«

»Dass Kommissar Maigret, der wahrscheinlich noch nie in Fontenay gewesen ist …«

»Hat man Ihnen das erzählt?«

»Ich nehme es an. Jedenfalls hat man Sie dort nicht oft gesehen, und ich habe auch nie jemanden davon reden hören. Es ist merkwürdig, denke ich, dass Sie genau in dem Augenblick eintreffen, da die Polizeibehörde alarmiert und ratlos vor dem rätselhaftesten Geheimnis steht, das …«

Maigret zündete ein Streichholz an und zog ein paarmal kurz an seiner Pfeife.

»Ich habe mit Julien Chabot eine Zeit lang zusammen studiert«, sagte er ruhig. »Damals bin ich mehrmals in seinem Haus in der Rue Clémenceau zu Gast gewesen.«

»Tatsächlich?«

Kühl erwiderte er:

»Tatsächlich.«

»Dann werden wir uns bestimmt morgen Abend bei mir in der Rue Rabelais sehen. Samstags kommt Chabot immer zum Bridge zu uns.«

Der Zug hielt an der letzten Station vor Fontenay. Vernoux de Courçon hatte kein Gepäck bei sich, nur eine Aktentasche aus braunem Leder, die neben ihm auf der Bank lag.

»Ich bin gespannt, ob Sie das Geheimnis lüften werden. Zufall hin oder her, es ist ein Glück für Chabot, dass Sie hier sind.«

»Lebt seine Mutter noch?«

»Gesund und kräftig wie eh und je.«

Der Mann erhob sich, knöpfte seinen Regenmantel zu, zog an seinen Handschuhen und rückte den Hut gerade. Der Zug fuhr langsamer. Immer mehr Lichter glitten vorüber, Leute eilten über den Bahnsteig.

»Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen. Sagen Sie Chabot, ich hoffe, Sie beide morgen Abend bei mir begrüßen zu dürfen.«

Maigret nickte nur, öffnete die Tür des Abteils, ergriff seinen schweren Koffer und ging, ohne jemanden zu beachten, schnurstracks zum Ausstieg.

Chabot konnte ihn nicht mit diesem Zug erwarten, den er rein zufällig genommen hatte. Als Maigret den Bahnhof verlassen hatte, blickte er auf die Rue de la République. Es regnete in Strömen.

»Taxi, Monsieur?«

Er nickte.

»Hôtel de France?«

Er nickte noch einmal und ließ sich schlecht gelaunt in das Polster fallen. Es war erst neun Uhr abends, aber in der Stadt, in der nur noch zwei oder drei Cafés erleuchtet waren, herrschte schon nächtliche Stille. Der Eingang zum Hôtel de France war flankiert von zwei Palmen in grün gestrichenen Kübeln.

»Haben Sie ein Zimmer?«

»Ein Einzelzimmer?«

»Ja. Wenn möglich möchte ich gern noch eine Kleinigkeit essen.«

Das Hotel war bereits in Dämmerlicht getaucht wie eine Kirche nach der Abendmesse. Man musste sich erst in der Küche erkundigen und im Speisesaal zwei, drei Lampen einschalten.

Um nicht in sein Zimmer hinaufsteigen zu müssen, wusch Maigret sich die Hände in dem Porzellanbecken eines Springbrunnens.

»Weißwein?«

Ihm war noch übel von all dem Weißwein, den er in Bordeaux hatte trinken müssen.

»Haben Sie kein Bier?«

»Nur in Flaschen.«

»Dann bringen Sie mir einen Rotwein.«

Man hatte für ihn Suppe aufgewärmt und Schinken aufgeschnitten. Von seinem Platz aus sah er, wie jemand völlig durchnässt die Hotelhalle betrat. Da der Fremde dort niemanden vorfand, an den er sich wenden konnte, warf er einen Blick in den Speisesaal und schien erleichtert zu sein, als er den Kommissar bemerkte. Es war ein rothaariger Mann von etwa vierzig Jahren mit dicken geröteten Backen. Er trug einen beigefarbenen Regenmantel, und an den Riemen über seiner Schulter hingen Fotoapparate. Er schüttelte den Regen von seinem Hut und kam näher.

»Erlauben Sie, dass ich zunächst einmal ein Foto von Ihnen mache? Ich bin Journalist des Ouest-Eclair für diese Region. Ich habe Sie schon am Bahnhof gesehen, aber plötzlich waren sie weg. Man hat Sie also kommen lassen, um den Fall Courçon aufzuklären.«

Blitzlicht. Klicken.

»Kommissar Féron hatte nichts davon gesagt, dass Sie kommen würden. Der Untersuchungsrichter ebenfalls nicht.«

»Ich bin nicht wegen des Falls Courçon hier.«

Der Rothaarige lächelte; es war das Lächeln eines Profis, dem man nichts vormacht.

»Natürlich!«

»Was, natürlich?«

»Sie sind nicht offiziell hier. Ich verstehe. Trotzdem …«

»Nichts trotzdem!«

»Der Beweis ist, dass Féron mir gesagt hat, er kommt gleich her.«

»Wer ist Féron?«

»Der Polizeikommissar von Fontenay. Als ich Sie am Bahnhof gesehen habe, bin ich sofort in die Telefonzelle gestürzt und habe ihn angerufen. Er hat mir gesagt, er werde mich hier treffen.«

»Hier?«

»Natürlich. Wo denn sonst?«

Maigret trank sein Glas aus, wischte sich den Mund ab und murmelte:

»Wer ist dieser Vernoux de Courçon, mit dem ich von Niort an zusammen gereist bin?«

»Er war im Zug, in der Tat. Das ist der Schwager.«

»Der Schwager von wem?«

»Von dem Courçon, der ermordet worden ist.«

Ein kleiner braunhaariger Mann kam jetzt ins Hotel, und sofort entdeckte er die beiden im Speisesaal.

»Salut, Féron!«, rief der Journalist.

»Bonsoir. Entschuldigen Sie, Monsieur Maigret. Niemand hat mir gesagt, dass Sie kommen, sonst wäre ich natürlich am Bahnhof gewesen. Es war ein aufreibender Tag, und ich war gerade dabei, einen Happen zu essen, als …«

Er deutete auf den Rothaarigen.

»Ich bin daraufhin sofort hierhergeeilt und …«

»Ich habe dem jungen Mann bereits gesagt«, erwiderte Maigret, wobei er seinen Teller zurückschob und nach seiner Pfeife griff, »dass ich mit Ihrem Fall Courçon nichts zu tun habe. Ich bin ganz zufällig in Fontenay-le-Comte, um meinen alten Freund Chabot einmal wiederzusehen und …«

»Weiß er, dass Sie hier sind?«

»Er hat mich sicher mit dem Vier-Uhr-Zug erwartet. Als er mich nicht gefunden hat, nahm er wahrscheinlich an, ich käme erst morgen oder gar nicht.«

Maigret erhob sich.

»Und jetzt werde ich, wenn Sie erlauben, ihn noch kurz begrüßen gehen und mich dann schlafen legen.«

Alle beide, sowohl der Polizeikommissar als auch der Reporter, wirkten vollkommen durcheinander.

»Wissen Sie tatsächlich nichts?«

»Absolut nichts.«

»Haben Sie die Zeitungen nicht gelesen?«

»In den letzten drei Tagen haben uns die Veranstalter des Kongresses und die chambre de commerce in Bordeaux keine freie Minute gelassen.«

Sie wechselten einen misstrauischen Blick.

»Wissen Sie, wo der Richter wohnt?«

»Aber natürlich. Es sei denn, die Stadt hat sich seit meinem letzten Besuch gravierend verändert.«

Sie konnten sich noch nicht dazu entschließen, ihn aus ihren Fängen zu lassen. Auch auf der Straße wichen sie nicht von seiner Seite.

»Messieurs, ich habe die Ehre, mich von Ihnen zu verabschieden.«

Der Reporter blieb hartnäckig:

»Können Sie denn keine Erklärung abgeben für den Ouest-Eclair?«

»Nein. Guten Abend, Messieurs.«

Er erreichte die Rue de la République, überquerte die Brücke und begegnete auf seinem Weg zu Chabots Haus kaum einem Menschen. Chabot wohnte in einem alten Haus, das Maigret einst sehr bewundert hatte. Es war unverändert: ein graues Steinhaus, zu dem vier Stufen hinaufführten und das hohe Fenster hatte, deren Scheiben aus kleinen Vierecken bestanden. Ein schwacher Lichtschein drang durch die Vorhänge.

Maigret läutete und hörte leise Schritte auf den vermutlich immer noch blauen Fliesen des Flurs. Ein kleines Fenster in der Tür öffnete sich.

»Ist Monsieur Chabot zu Hause?«, fragte er.

»Wer ist da?«

»Kommissar Maigret.«

»Ach, Sie sind es, Monsieur Maigret.«

Er hatte die Stimme von Rose wiedererkannt, dem Dienstmädchen, das schon seit dreißig Jahren bei den Chabots angestellt war.

»Ich mache Ihnen gleich auf. Ich muss nur die Kette abnehmen.«

Zugleich rief sie ins Haus hinein:

»Monsieur Julien! Ihr Freund, Monsieur Maigret, ist da. Treten Sie ein, Monsieur Maigret … Monsieur Julien war heute Nachmittag am Bahnhof. Er war enttäuscht, Sie dort nicht anzutreffen. Wie sind Sie denn hergekommen?«

»Mit dem Zug.«

»Sie meinen mit dem Abendzug?«

Eine Tür öffnete sich, und im gelben Lichtschein stand ein großer, magerer, leicht gebeugter Mann in einer braunen Samtjacke.

»Da bist du ja!«, sagte er.

»Ja. Ich habe meinen Zug verpasst und eine schlechtere Verbindung nehmen müssen.«

»Und wo ist dein Gepäck?«

»Im Hotel.«

»Was fällt dir ein? Nun gut, dann werde ich es von dort holen lassen. Es versteht sich natürlich, dass du hier wohnst.«

»Hör mal, Julien …«

Seltsam. Es kostete ihn Mühe, seinen alten Freund beim Vornamen zu nennen. Es klang sonderbar. Selbst das Du kam ihm nicht leicht über die Lippen.

»Komm herein! Du hast hoffentlich noch nicht zu Abend gegessen?«

»Doch. Im Hôtel de France.«

»Soll ich Madame Bescheid sagen?«, fragte Rose.

»Sie hat sich sicherlich schon schlafen gelegt«, mischte sich Maigret ein.

»Sie ist eben erst hinaufgegangen. Sie geht nie vor elf oder zwölf schlafen. Ich …«

»Auf keinen Fall! Ich will nicht, dass sie gestört wird. Ich sehe deine Mutter morgen früh.«

»Das wird ihr aber gar nicht recht sein.«

Maigret rechnete nach: Madame Chabot musste mindestens achtundsiebzig Jahre alt sein. Schon bereute er, noch hergekommen zu sein. Trotzdem hängte er seinen vom Regen schweren Mantel an den alten Garderobenständer und folgte Julien in dessen Arbeitszimmer, während Rose, die auch schon über sechzig war, auf Anweisungen wartete.

»Was nimmst du? Einen guten Cognac?«

»Gern.«

Rose verstand die stumme Anweisung des Richters und zog sich zurück. Der Geruch des Hauses war noch immer derselbe, und auch das war etwas, das in Maigret einst leise Neidgefühle hervorgerufen hatte: der Geruch eines gepflegten Hauses mit blank gebohnertem Parkett, in dem gut gekocht wurde.

Er hätte schwören mögen, dass jedes Möbelstück noch an seinem alten Platz stand.

»Setz dich. Ich freue mich, dass du da bist.«

Er war fast versucht zu behaupten, Chabot selbst habe sich auch nicht verändert. Seine Züge, sein Gesichtsausdruck waren ihm vertraut. Da er selbst wie jeder um ihn herum gealtert war, bemerkte Maigret die Spuren kaum, die die Jahre im Gesicht des Freundes hinterlassen hatten. Dennoch erschreckte es ihn, seinen Freund so matt und zögerlich, beinahe verzagt zu erleben.

War er schon immer so gewesen? Hatte Maigret es nur nicht wahrgenommen?

»Zigarre?«

Auf dem Kamin lag ein ganzer Stapel Zigarrenkisten.

»Ich rauche immer noch Pfeife.«

»Ach, ich hatte es ganz vergessen. Ich rauche schon seit zwölf Jahren überhaupt nicht mehr.«

»Ärztliche Verordnung?«

»Nein. Eines schönen Tages habe ich mir gesagt, die Pafferei ist Unsinn und …«

Rose kam mit einem Tablett herein, auf dem eine mit feinem Kellerstaub bedeckte Flasche und ein Kristallglas standen.

»Trinkst du auch nicht mehr?«

»Ich habe es zur selben Zeit aufgegeben. Nur zum Essen trinke ich noch ein wenig mit Wasser verdünnten Wein. Du hast dich übrigens gar nicht verändert.«

»Findest du?«

»Du scheinst dich einer ausgezeichneten Gesundheit zu erfreuen. Ich bin wirklich froh, dass du gekommen bist.«

Warum wirkte er nicht ganz aufrichtig?

»Du hast mir so oft versprochen, einmal vorbeizukommen, und dann im letzten Augenblick wieder abgesagt, dass ich, offen gestanden, nicht mehr mit dir gerechnet habe.«

»Alles ist möglich, wie du siehst.«

»Wie geht es deiner Frau?«

»Gut.«

»Hat sie dich nicht begleitet?«

»Sie macht sich nichts aus Kongressen.«

»Wie war es denn?«

»Es wurde viel getrunken, viel geredet, viel gegessen.«

»Ich reise immer weniger.«

Er senkte die Stimme, denn man hörte Schritte im oberen Stock.

»Mit meiner Mutter ist das schwierig. Andererseits kann ich sie nicht mehr allein lassen.«

»Ist sie immer noch so rüstig?«

»Ja, sie ist noch die Alte. Nur die Augen wollen nicht mehr so recht. Es bereitet ihr Kummer, dass sie keinen Faden mehr einfädeln kann, aber sie weigert sich, eine Brille zu tragen.«