Maigret in Arizona - Georges Simenon - E-Book

Maigret in Arizona E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Maigret ist auf Studienreise in Amerika. Der Kommissar soll sich über die Methoden der amerikanischen Kollegen informieren. Über New York ist er bis nach Tuscon, Arizona gereist. Alles ist dort ungewohnt: die Hitze, die Drinks vor und das kalte Wasser zu den Mahlzeiten, die Sprache und die Tatsache, dass man ihn ständig beim Vornamen nennt – "Dschulius". Auch die Vernehmungstaktik des Coroners im Gerichtssaal ist ihm fremd. Fünf Air-Force-Sergeants sind mit der minderjährigen Bessy Mitchell zur mexikanischen Grenze gefahren, aber ohne sie zurückgekehrt. Doch Maigret wäre nicht Maigret, wenn er nicht seine eigenen Schlüsse ziehen würde.

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Der 32. Fall

Georges Simenon

Maigret in Arizona

Roman

Aus dem Französischen von Jean Raimond und Mirjam Madlung

Kampa

1Maigret, Deputy Sheriff

»He! Sie da!«

Maigret wandte sich um, wie in der Schule. Er wollte wissen, wem der Ruf galt.

»Ja, Sie.«

Der ausgezehrte Greis mit dem gewaltigen weißen Schnurrbart, offenbar unmittelbar der Bibel entsprungen, streckte einen zitternden Arm aus. Aber auf wen zeigte er? Maigret sah zu seinem Nachbarn, zu seiner Nachbarin. Schließlich bemerkte er verlegen, dass er selbst es war, auf den alle blickten. Sowohl der Coroner als auch der Sergeant der Air Force, der vernommen wurde, ebenso der Attorney, die Geschworenen und die Sheriffs.

»Ich?«, fragte er im Aufstehen, erstaunt, gebraucht zu werden.

Die Gesichter lächelten, als wüssten alle außer ihm Bescheid.

»Ja«, sagte der Greis, der sowohl Hesekiel als auch Clémenceau ähnelte. »Würden Sie bitte Ihre Pfeife ausmachen?«

Ihm war nicht einmal bewusst, dass er sie angesteckt hatte.

Betreten setzte er sich wieder, eine Entschuldigung murmelnd, während seine Nachbarn lachten, doch es war ein freundliches Lachen.

Es handelte sich nicht um einen Traum. Er war ganz wach. Er, Kommissar Maigret von der Pariser Kriminalpolizei, saß da, über zehntausend Kilometer von Paris entfernt, und wohnte einer Vernehmung bei, die ein Coroner leitete, der weder Jacke noch Weste trug und doch so seriös und gesittet aussah wie ein Bankangestellter.

Im Grunde war ihm völlig klar, dass sein Kollege Cole ihn nur auf freundliche Art hatte loswerden wollen, doch er konnte es dem FBI-Beamten nicht verübeln, denn er hätte es an dessen Stelle genauso gemacht. Hatte er nicht vor zwei Jahren ganz ähnlich gehandelt? Damals sollte er seinen Kollegen Pyke von Scotland Yard in Frankreich herumführen. Oft hatte er ihn auf die Terrasse irgendeines Cafés gesetzt, so wie man einen Regenschirm an der Garderobe abgibt, und lächelnd zu ihm gesagt:

»Bin gleich wieder da.«

Nur waren die Amerikaner sehr viel herzlicher. Ob in New York oder in den zehn oder elf Staaten, durch die er gereist war, alle hatten sie ihm auf die Schulter geklopft:

»Wie heißen Sie mit Vornamen?«

Er konnte schlecht sagen, er hätte keinen. Also blieb ihm nichts anderes übrig als zu gestehen, dass er Jules hieß. Worauf sein Gesprächspartner einen Moment stutzte und sagte:

»Oh, yes … Julius!«

Sie sprachen es Dschuljes aus, was ihm schon weniger peinlich war.

»Have a drink, Julius!«

So hatte er auf dem ganzen Weg in zahllosen Bars unermesslich viel Bier, Manhattans und Whisky getrunken.

Schon vor dem Mittagessen hatten er, der Bürgermeister von Tucson und der Sheriff des County, mit dem Harry Cole ihn bekannt gemacht hatte, zusammen getrunken.

Maigret wunderte sich weniger über seine Umgebung oder die Leute als über sich selbst. Oder vielmehr darüber, dass er sich tatsächlich hier befand, in einer Stadt im Bundesstaat Arizona, und nun auf einer Bank in dem kleinen Raum eines Friedensgerichts saß.

Vor dem Essen trank man Alkoholisches, während der Mahlzeit hingegen wurde nur eiskaltes Wasser serviert. Der Bürgermeister war sehr nett gewesen. Und der Sheriff hatte ihm ein kleines Stück Papier und die schöne silberne Plakette eines Deputy Sheriffs überreicht, wie man sie aus Cowboyfilmen kennt.

Es war die achte oder neunte dieser Art, er war schon Deputy Sheriff von acht oder neun Countys in New Jersey, Maryland, Virginia, North oder South Carolina, das wusste er nicht mehr genau, von New Orleans und Texas.

In Paris war es oft vorgekommen, dass er Kollegen aus dem Ausland bei sich hatte, doch er selbst machte eine solche Reise zum ersten Mal, eine sogenannte Studienreise, »um die amerikanischen Methoden kennenzulernen«.

»Sie sollten ein paar Tage in Arizona verbringen, bevor Sie nach Kalifornien fahren. Es liegt auf Ihrem Weg.«

Es lag immer irgendetwas auf seinem Weg. So brachte man ihn dazu, Hunderte von Meilen zurückzulegen. Was die Leute hier einen kleinen Umweg nannten, nahm drei bis vier zusätzliche Tage in Anspruch.

»Es liegt gleich nebenan!«

Das bedeutete mindestens die einfache, wenn nicht die doppelte Entfernung zwischen Paris und Marseille. Es kam vor, dass er den ganzen Tag im Pullmanwagen saß, ohne eine Stadt wirklich zu sehen.

»Morgen«, hatte Cole, der Mann vom FBI, der ihn in Arizona betreute, zu ihm gesagt, »werden wir uns die mexikanische Grenze ansehen. Das ist ein Katzensprung.«

Es war ein Sprung von hundert Kilometern.

»Das wird Sie interessieren. Über die Stadt Nogales, durch die die Landesgrenze verläuft, kommt das meiste Marihuana zu uns herein.«

Er hatte erfahren, dass dieses Marihuana, eine mexikanische Pflanze, bei den Süchtigen Opium und Kokain allmählich verdrängte.

»Und die meisten Autos, die in Kalifornien gestohlen werden, gelangen über Nogales außer Landes.«

Fürs Erste war Harry Cole ihn los. Offenbar hatte er an diesem Nachmittag etwas zu erledigen.

»Vor dem Coroner findet eine Vernehmung statt. Würde es Ihnen Spaß machen, dabei zu sein?«

Er hatte Maigret begleitet und ihm einen Platz auf einer der drei Bänke in dem kleinen weiß gestrichenen Raum verschafft. Hinter dem Friedensrichter, der das Amt des Coroners übernahm, hing die amerikanische Fahne. Cole hatte nicht angekündigt, dass er seinen französischen Kollegen sich selbst überlassen würde. Er war im Raum herumgegangen, hatte einige Hände geschüttelt, auf Schultern geklopft und dann beiläufig gesagt:

»Ich hole Sie nachher wieder ab.«

Maigret wusste nicht, worum es ging. Im Raum hatte niemand eine Jacke an. Es war allerdings ungefähr fünfundvierzig Grad warm. Die sechs Geschworenen saßen auf derselben Bank wie er, am anderen Ende, in der Nähe der Tür. Unter ihnen waren ein Schwarzer, ein Indianer mit kräftigem Kiefer, ein Mexikaner, der von beiden etwas hatte, und eine ältere Frau. Sie trug ein geblümtes Kleid und einen Hut, der ihr komisch vorn auf dem Kopf saß.

Von Zeit zu Zeit stand Hesekiel auf und versuchte, den riesigen Ventilator zu regulieren, der unter der Decke kreiste und so laut brummte, dass man kaum ein Wort verstehen konnte.

Die Angelegenheit schien ungezwungen und – in Frankreich hätte Maigret gesagt – gemütlich zu verlaufen. Der Coroner saß auf einem Podest. Er trug ein blütenweißes Hemd und eine gemusterte Seidenkrawatte.

Der Zeuge – oder Angeklagte, das wusste Maigret nicht genau – saß neben ihm auf einem Stuhl. Es war ein Sergeant der Air Force in Kakiuniform. Es gab noch vier weitere wie ihn. Sie saßen den Geschworenen aufgereiht gegenüber und wirkten wie übereifrige Schüler.

»Erzählen Sie uns, was sich am Abend des 27. Juli zugetragen hat.«

Der Mann hieß Sergeant Ward, den Namen hatte Maigret verstanden. Er war mindestens ein Meter fünfundachtzig groß, hatte blaue Augen und buschige schwarze Brauen, die an der Nasenwurzel zusammenwuchsen.

»Ich habe Bessy gegen halb acht in ihrer Wohnung abgeholt.«

»Lauter. Wenden Sie sich zu den Geschworenen. Können die Geschworenen verstehen?«

Die Männer schüttelten den Kopf. Sergeant Ward räusperte sich.

»Ich habe Bessy gegen halb acht in ihrer Wohnung abgeholt.«

Maigret musste sich doppelt anstrengen, denn er hatte seit seiner Schulzeit kaum mit der englischen Sprache zu tun gehabt. Ihm entging einiges, manche Redewendungen verwirrten ihn.

»Sie sind verheiratet und haben zwei Kinder?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Wie lange kennen Sie Bessy Mitchell?«

Der Sergeant dachte nach wie ein braver Schüler, bevor er die Frage des Lehrers beantwortet. Er sah kurz zu einem Mann neben Maigret, den dieser noch nicht kannte.

»Seit sechs Wochen.«

»Wo haben Sie sie kennengelernt?«

»In einem Drive-in. Sie bediente dort.«

Maigret wusste inzwischen, was ein Drive-in war. Die Kollegen, die sich um ihn kümmern mussten, hielten oft vor einem kleinen Lokal am Straßenrand, vor allem abends. Man stieg nicht aus dem Wagen. Eine junge Frau kam herbei, nahm die Bestellung entgegen und brachte dann Sandwiches, Hotdogs oder Spaghetti auf einem Tablett, das an die Wagentür gehängt wurde.

»Haben Sie mit ihr geschlafen?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Am selben Abend?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Wo?«

»Im Auto. Wir haben in der Wüste gehalten.«

Die Wüste – Sand und Kakteen – begann vor der Stadt. Auch zwischen manchen Stadtvierteln gab es vereinzelt größere Wüstenstreifen.

»Haben Sie sie danach oft wiedergesehen?«

»Ungefähr dreimal die Woche.«

»Und Sie schliefen jedes Mal mit ihr?«

»Nein, Euer Ehren.«

Maigret erwartete, dass der kleine, pingelige Richter fragen würde: Warum nicht?

Doch er fragte:

»Wie oft?«

»Einmal die Woche.«

Nur der Kommissar zeigte ein leises Lächeln.

»Immer in der Wüste?«

»In der Wüste oder bei ihr zu Hause.«

»Lebte sie allein?«

Sergeant Ward musterte die Gesichter auf den Bänken der Reihe nach und wies auf eine junge Frau links von Maigret.

»Sie lebte mit Erna Bolton zusammen.«

»Was taten Sie am 27. Juli, nachdem Sie Bessy Mitchell in ihrer Wohnung abgeholt hatten?«

»Ich habe sie in die Penguin Bar geführt. Dort warteten meine Freunde auf mich.«

»Welche Freunde?«

Diesmal deutete er auf die vier anderen Soldaten in Luftwaffenuniform und nannte nacheinander ihre Namen.

»Dan Mullins, Jimmy van Fleet, O’Neil und Wo Lee.«

Letzterer war ein Chinese. Er schien höchstens sechzehn zu sein.

»Waren andere Menschen mit Ihnen dort in der Penguin Bar?«

»Nein, nicht an unserem Tisch.«

»Saßen Leute an einem anderen Tisch?«

»Der Bruder von Bessy, Harold Mitchell.«

Das war Maigrets Nachbar zur Rechten. Maigret hatte ein großes Furunkel unter seinem Ohr bemerkt.

»War er allein?«

»Nein. Erna Bolton, der Musiker und Maggie waren dabei.«

»Wie alt war Bessy Mitchell?«

»Zu mir hat sie gesagt, dreiundzwanzig.«

»Wussten Sie, dass sie in Wirklichkeit erst siebzehn war und also in einer Bar gar nichts trinken durfte?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Sind Sie sicher, dass der Bruder es Ihnen nicht gesagt hat?«

»Später erst. Als sie bei dem Musiker zu Hause anfing, Whisky aus der Flasche zu trinken. Da hat er mir gesagt, er will nicht, dass seine Schwester trinkt, weil sie noch nicht volljährig ist und er die Verantwortung hat.«

»Sie wussten nicht, dass Bessy bereits verheiratet und wieder geschieden war?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Hatten Sie ihr versprochen, sie zu heiraten?«

Sergeant Ward zögerte sichtlich.

»Ja, Euer Ehren.«

»Sie wollten sich scheiden lassen, um sie zu heiraten?«

»Ich hatte ihr gesagt, dass ich es tun würde.«

Im Türrahmen stand ein dicker Deputy Sheriff – ein Kollege! – mit gelblicher Leinenhose und aufgeknöpftem Hemd. Sein Ledergürtel steckte voller Patronen, und ein gewaltiger Revolver mit Hornkolben hing über dem Gesäß.

»Haben Sie alle miteinander getrunken?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Viel? Wie viele Gläser ungefähr?«

Ward schloss die Augen, während er im Kopf rechnete.

»Ich habe sie nicht gezählt. Den Runden nach müssen es fünfzehn bis zwanzig Bier gewesen sein.«

»Für jeden?«

Und er ganz schlicht:

»Ja, Euer Ehren. Und auch ein paar Whisky.«

Merkwürdig, niemand schien sich darüber zu wundern.

»Hatten Sie in der Penguin Bar einen Streit mit Bessys Bruder?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Stimmt es, dass er Ihnen vorwarf, mit seiner Schwester zu verkehren, obwohl Sie verheiratet sind?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Hat er Ihnen das nie vorgeworfen? Hat er Sie nie gebeten, seine Schwester in Ruhe zu lassen?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Aus welchem Grund haben Sie gestritten?«

»Ich wollte das Geld, das er mir schuldete.«

»War es ein großer Betrag?«

»Etwa zwei Dollar.«

Kaum der Preis einer der zahlreichen Runden in der Penguin Bar.

»Hat es eine Schlägerei gegeben?«

»Nein, Euer Ehren. Wir sind vor die Tür gegangen, haben uns ausgesprochen und sind wieder hereingekommen, um zusammen zu trinken.«

»Waren Sie betrunken?«

»Noch nicht sehr.«

»Sonst ist nichts passiert in der Bar?«

»Nein.«

»Sie haben also nur getrunken, und zwar bis ein Uhr früh, wenn die Bar schließt.«

»Ja, Euer Ehren.«

»Hat nicht einer Ihrer Kameraden Bessy den Hof gemacht?«

Sergeant Ward brauchte eine Weile, bis er zugab:

»Sergeant Mullins.«

»Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?«

»Nein. Ich habe darauf geachtet, dass er nicht neben ihr saß.«

Sein Kamerad Mullins war ebenso groß wie er und dunkelhaarig. Er galt unter den Mädchen bestimmt als schöner Mann. Irgendwie erinnerte er an einen Filmstar, aber man hätte nicht sagen können, an welchen.

»Was ist um ein Uhr früh passiert?«

»Wir sind zu dem Musiker Tony Lacour gegangen.«

Der befand sich wohl in dem Raum, aber Maigret kannte ihn nicht.

»Wer hat die beiden Flaschen Whisky bezahlt, die Sie mitgenommen haben?«

»Ich glaube, Wo Lee hat eine davon bezahlt.«

»Hat er während des ganzen Abends mit Ihnen getrunken?«

»Nein, Euer Ehren. Corporal Wo Lee raucht nicht und trinkt nicht. Er hat aber darauf bestanden, etwas zu bezahlen.«

»Wie viele Zimmer hat die Wohnung des Musikers?«

»Ein Schlafzimmer, ein kleines Wohnzimmer, ein Bad und eine Küche.«

»In welchem Raum haben Sie sich aufgehalten?«

»In allen.«

»Wo haben Sie sich mit Bessy gestritten?«

»In der Küche. Wir haben uns nicht gestritten, ich habe Bessy dabei erwischt, wie sie Whisky aus der Flasche trank. Es war nicht das erste Mal.«

»Sie meinen: nicht zum ersten Mal an diesem Abend?«

»Ich meinte: Es war schon vor dem 27. Juli öfter vorgekommen. Ich wollte nicht, dass sie so viel trank, denn ihr wurde schlecht davon.«

»War Bessy allein in der Küche?«

»Sie war mit ihm zusammen.«

Er deutete mit dem Kopf auf Sergeant Mullins.

Maigret, der eben noch schwerfällig und schläfrig gewesen war und keine Ahnung von dem Fall gehabt hatte, öffnete nun schon manchmal den Mund, als hätte er eine dringende Frage.

»Wer hat vorgeschlagen, für den Rest der Nacht mit dem Wagen nach Nogales zu fahren?«

»Bessy.«

»Wie spät war es?«

»Etwa drei Uhr morgens. Vielleicht halb drei.«

Nogales war jene Grenzstadt, in die Harry Cole mit dem Kommissar fahren wollte. Während in Tucson die Bars um ein Uhr früh schlossen, konnte man auf der anderen Seite der Grenze die ganze Nacht hindurch trinken.

»Wer ist bei Ihnen in den Wagen eingestiegen?«

»Bessy und meine vier Kameraden.«

»War Bessys Bruder nicht dabei? Auch der Musiker, Erna Bolton, Maggie Wallach nicht?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Wissen Sie, was die vier gemacht haben?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Wie waren Sie am Anfang im Wagen platziert?«

»Ich saß am Steuer. Bessy vorn zwischen mir und Sergeant Mullins. Die drei anderen hinten.«

»Haben Sie kurz angehalten, bevor Sie die Stadt verließen?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Und Sie haben Bessy gebeten, den Platz zu wechseln. Weshalb?«

»Damit sie nicht mehr neben Dan Mullins saß.«

»Sie haben ihr gesagt, sie soll sich nach hinten setzen, und Corporal van Fleet ist stattdessen nach vorn gekommen. War es Ihnen gleichgültig, dass sie nun hinter Ihrem Rücken mit zwei anderen im Dunkeln saß?«

»Ja, Euer Ehren.«

Plötzlich rief der Coroner, völlig unerwartet:

»Unterbrechung!«

Er stand auf und ging in den Nebenraum, auf dessen Glastür das Wort Privat stand. Hesekiel nahm eine riesengroße Pfeife aus der Tasche und zündete sie an, wobei er Maigret merkwürdig anblickte.

Alle verließen den Raum, die Geschworenen, die Soldaten, die Frauen, die paar Neugierigen.

Man befand sich im Erdgeschoss eines großen, im spanischen Stil gebauten Hauses, mit Säulengängen rings um einen Patio. Der eine Flügel des Gebäudes beherbergte das Gefängnis, während die verschiedenen Dienststellen der County-Verwaltung im anderen untergebracht waren.

Die fünf Männer von der Air Force setzten sich an den Rand des Säulenganges, und Maigret bemerkte, dass sie nicht miteinander sprachen. Es war außerordentlich heiß. In einer Ecke stand ein roter Automat, in den die Leute fünf Cent steckten und dafür eine Flasche Coca-Cola bekamen.

Fast alle gingen dorthin, auch der Herr mit dem grauen Haar, vermutlich der Attorney des Countys. Jeder trank ungeniert aus der Flasche und stellte die leere dann in einen Ständer.

Maigret kam sich ein wenig vor wie ein Schüler während der ersten Pause in einer neuen Schule. Aber er wünschte sich nicht mehr, dass Harry Cole ihn schon jetzt abholte.

Es war noch nie vorgekommen, dass er ohne Jacke einen Gerichtssaal betreten hatte. Die Kleiderfrage hatte sich zu einem richtigen Problem entwickelt. Als er eine gewisse Linie überschritten hatte, nah bei Virginia, war ihm klar geworden, dass er seine Tage nicht länger in Jacke und angeknöpftem Kragen verbringen konnte.

Nun hatte er aber sein Leben lang Hosenträger getragen. Und seine in Frankreich geschneiderte Hose reichte ihm bis zur Brust.

In irgendeiner Stadt, er wusste nicht, welche es gewesen war, hatte ein Kollege ihn entschlossen in ein Warenhaus geführt und veranlasst, eine jener leichten Hosen zu kaufen, die hier alle Männer trugen. Dazu gehörte ein Ledergürtel, dessen breite silberne Schnalle die Abbildung eines Ochsenkopfes zierte.

Andere, die aus dem Osten kamen, waren weniger bescheiden als er. Sie stürzten gleich in Geschäfte und kamen von Kopf bis Fuß wie Cowboys gekleidet wieder heraus.

Er bemerkte, dass zwei der Geschworenen, die doch ganz gesetzt wirkten, unter der Hose Stiefel mit hohen Absätzen und bunten Verzierungen trugen.

Die Trommelrevolver an den Gürteln der Sheriffs faszinierten ihn. Es waren genau die gleichen, die er schon als Jugendlicher im Kino in den Wildwestfilmen gesehen hatte.

»Hello, Geschworene!«, rief Hesekiel plötzlich, wie ein Lehrer, der seine Schülerbande zusammentrommelt.

Er klatschte in die Hände, klopfte seine Pfeife am Absatz aus und blickte dabei aus dem Augenwinkel auf Maigrets Pfeife.

Er fühlte sich nicht mehr wie der Neue. Er nahm seinen Platz wieder ein. Allerdings saßen Harold Mitchell, der Bruder mit dem Furunkel unter dem Ohr, und Erna Bolton, die er unabsichtlich voneinander getrennt hatte, nun nebeneinander und unterhielten sich leise.

Er wusste noch immer nicht genau, ob in dieser Geschichte von Bier, Whisky und wöchentlichem Liebesakt jemand zu Tode gekommen war. Nur der Ablauf einer solchen Vernehmung vor dem Coroner war ihm einigermaßen bekannt, weil er sie in England miterlebt hatte.

Artig, fast schüchtern hatte Sergeant Ward auf dem Stuhl Platz genommen. Hesekiel war wieder mit dem Ventilator beschäftigt, und der Coroner fuhr mit gleichgültiger Miene fort:

»Sie haben den Wagen etwa acht Meilen von der Stadt entfernt angehalten, kurz hinter dem Flugplatz. Wozu?«

Maigret begriff nicht gleich. Zum Glück sprach Ward so leise, dass er seine Antwort wiederholen musste, und das Erröten des langen Kerls half dem Kommissar, den Sinn seiner Antwort zu erraten.

»Latrinengang, Euer Ehren.«

Vielleicht fiel ihm kein anderes anständiges Wort ein, um auszudrücken, dass sie pinkeln mussten.

»Sind alle ausgestiegen?«

»Ja, Euer Ehren. Ich habe mich etwa zehn Meter entfernt.«

»Allein?«

»Nein, mit ihm.«

Er deutete wieder auf Mullins, gegen den er etwas zu haben schien.

»Sie wissen nicht, wohin Bessy während der Zeit gegangen ist?«

»Ich nehme an, sie hat sich auch entfernt.«

Man musste unwillkürlich an die zwanzig Flaschen Bier denken, die sich jeder eingetrichtert hatte.

»Wie spät war es?«

»Zwischen drei und halb vier morgens, nehme ich an. Ich weiß es nicht genau.«

»Haben Sie Bessy gesehen, als Sie zum Wagen zurückkamen?«

»Nein.«

»Und Mullins?«

»Der kam wenig später zurück.«

»Woher?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was haben Sie zu Ihren Kameraden gesagt?«

»Ich habe gesagt: ›Zum Teufel mit der Kleinen! Das wird ihr eine Lehre sein.‹«

»Weshalb?«

»Weil das schon mehrmals vorgekommen war.«

»Was war schon mehrmals vorgekommen?«

»Dass sie, ohne mir Bescheid zu sagen, weggelaufen war.«

»Sind Sie umgekehrt?«

»Ja, ich bin etwa hundert Meter in Richtung Tucson gefahren und dann ausgestiegen.«

»Weshalb?«

»Ich dachte, sie würde versuchen, zum Wagen zurückzukommen, und wollte ihr eine Chance geben.«

»War sie betrunken?«

»Ja, Euer Ehren. Auch das nicht zum ersten Mal. Aber sie wusste noch, was sie tat.«

»Wohin sind Sie gegangen, nachdem Sie ausgestiegen waren?«

»Ich bin zu den Bahngleisen gegangen, die etwa fünfzig Meter entfernt parallel zur Straße durch die Wüste führen.«

»Sind Sie auf den Bahndamm hinaufgeklettert?«

»Ja, Euer Ehren. Und dann vielleicht hundert Meter weit gegangen, ungefähr bis zu der Stelle, wo Bessy uns verlassen hatte. Ich habe ihren Namen gerufen.«

»Sehr laut?«

»Ja. Ich habe sie nicht gesehen. Sie hat nicht geantwortet. Ich dachte, sie will mich ärgern.«

»Und dann sind Sie zum Wagen zurückgekehrt. Haben Ihre Kameraden nichts gesagt, als Sie den Motor wieder anließen, ohne sich weiter um sie zu kümmern, und nach Tucson zurückfuhren?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Finden Sie, Sie haben sich wie ein Gentleman benommen, als Sie die Frau mitten in der Nacht allein in der Wüste zurückließen?«

Ward gab keine Antwort. Er hatte eine niedrige Stirn, und Maigret fand, je länger er ihn betrachtete, dass seine dicken Brauen ihm einen bockigen Gesichtsausdruck gaben.

»Sind Sie direkt zu Ihrem Stützpunkt zurückgefahren?«

Davis-Monthan, einer der Hauptstützpunkte für die Boeing B-29, lag etwa zehn Meilen von Tucson entfernt, aber in entgegengesetzter Richtung.

»Nein, Euer Ehren. Ich habe drei meiner Kameraden in der Stadt in der Nähe vom Busbahnhof abgesetzt.«

»Und wer ist bei Ihnen geblieben?«

»Sergeant Mullins.«

»Warum?«

»Ich wollte Bessy suchen.«

»Sind Sie auf der Straße nach Nogales zurückgefahren?«

»Ja, Euer Ehren. Ich habe ungefähr an der Stelle gehalten, wo wir beim ersten Mal stehen geblieben waren.«

»Waren Sie wieder auf dem Bahndamm?«

Dieses Mal dauerte sein Schweigen ziemlich lang.

»Nein. Ich glaube nicht. Ich kann mich nicht erinnern, ausgestiegen zu sein.«

»Was haben Sie getan?«

»Ich weiß es nicht. Ich bin am Steuer wach geworden. Der Wagen stand in Richtung Tucson, und vor mir war ein Telegrafenmast. Ich erinnere mich an den Telegrafenmast und einen Kaktus dicht daneben.«

»War Mullins immer noch bei Ihnen?«

»Er schlief neben mir, das Kinn auf der Brust.«

»Wenn ich es richtig verstehe, können Sie sich nicht erinnern, was geschehen ist, bevor Sie am Telegrafenmast wieder wach wurden.«

Maigret merkte an den zitternden Lippen Wards, dass dieser etwas Wichtiges zu sagen hatte.

»Nein. Ich stand unter Rauschgifteinfluss.«

»Meinen Sie damit, Sie waren nicht betrunken?«

»Es ist oft vorgekommen, dass ich so viel und noch mehr getrunken habe. Ich habe noch nie das Bewusstsein verloren. Niemand hat mich je zur Bewusstlosigkeit gebracht. Ich weiß, wie viel ich vertrage.

In der Nacht hat jemand mir Drogen verabreicht.«

»Sie glauben, man hatte Ihnen etwas in Ihr Glas geschüttet?«

»Es kann auch in einer Zigarette gewesen sein. Als ich wach wurde, habe ich mechanisch nach den Zigaretten in meiner Tasche gegriffen. Es waren Camel. Ich rauche aber nur Chesterfield. Ich habe mir eine Zigarette aus diesem Päckchen angezündet und wurde zum zweiten Mal bewusstlos.«

»In Mullins’ Gegenwart?«

»Ja.«

»Sie verdächtigen Mullins, vergiftete Zigaretten in Ihre Tasche geschoben zu haben?«

»Vielleicht.«

»Haben Sie es ihm gesagt, als Sie aufwachten?«

»Nein.«

»Haben Sie mit ihm gesprochen?«