Maigret in Künstlerkreisen - Georges Simenon - E-Book

Maigret in Künstlerkreisen E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Im Bus wird Maigret die Brieftasche geklaut, Dienstmarke und Geld sind weg. Doch am nächsten Tag taucht nicht nur das Diebesgut wieder auf, auch der Täter meldet sich zu Wort, wenngleich es ihm um ein ganz anderes Verbrechen geht: François Ricain, der sich als Filmkritiker durchschlägt, hat einige Tage zuvor seine Frau erschossen in der gemeinsamen Wohnung gefunden. Mit dem gestohlenen Geld wollte er sich absetzen, doch er fasst Vertrauen zu dem Kommissar, will ihn von seiner Unschuld überzeugen. Maigret mischt sich unter die Künstler der Stadt.

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Der 66. Fall

Georges Simenon

Maigret in Künstlerkreisen

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Julia Becker

Kampa

1

»Pardon, Monsieur …«

»Macht nichts …«

Mindestens zum dritten Mal hatte die Dame seit dem Boulevard Richard-Lenoir das Gleichgewicht verloren, ihn mit ihrer mageren Schulter gerammt und ihr Einkaufsnetz gegen seinen Schenkel prallen lassen.

Sie entschuldigte sich verhalten, weder verlegen noch bedauernd, und blickte dann wieder mit ruhiger und zugleich entschlossener Miene geradeaus.

Maigret nahm es ihr nicht übel. Man hätte sogar glauben können, es amüsierte ihn, angerempelt zu werden. An diesem Morgen schien er alles auf die leichte Schulter zu nehmen.

Er hatte das Glück gehabt, einen Bus mit offener Plattform zu erwischen, was schon allein ein Grund zur Zufriedenheit war. Diese Busse wurden immer seltener, weil sie nach und nach aus dem Verkehr gezogen wurden, und bald würde er seine Pfeife ausklopfen müssen, ehe er in eins der riesigen modernen Fahrzeuge stieg, in denen man sich wie ein Gefangener vorkommt.

Die Busse mit offener Plattform gab es schon vor vierzig Jahren, als Maigret nach Paris gezogen war, und am Anfang konnte er gar nicht oft genug mit der Linie Bastille-Madeleine die großen Boulevards entlangfahren. Das war eine seiner ersten Entdeckungstouren gewesen. Und dann die Terrassen! Auch der Terrassen wurde er nicht überdrüssig, von denen aus man bei einem Bier das stets wechselnde Schauspiel auf den Pariser Straßen beobachten konnte.

Noch etwas anderes hatte ihn in seinem ersten Jahr entzückt: Schon Ende Februar konnte man auf einen Mantel verzichten. Nicht jeden Tag, aber immer wieder. Und in manchen Straßen, allen voran am Boulevard Saint-Germain, brachen bereits die Knospen auf.

An all das musste er jetzt denken, denn auch in diesem Jahr setzte der Frühling frühzeitig ein, und heute Morgen war er ohne Mantel aus dem Haus gegangen.

Er fühlte sich leicht wie die frische Frühlingsluft. Die Farben der Läden, der Lebensmittel, der Kleider der Frauen strahlten hell und fröhlich.

Er dachte an nichts Bestimmtes. Nur flüchtige Gedanken, die sich nicht zu einem Ganzen formten. Um zehn Uhr würde seine Frau ihre dritte Fahrstunde nehmen.

Das war komisch, fast überraschend. Er hätte nicht sagen können, wie sie zu diesem Entschluss gekommen waren. Als Maigret noch ein junger Beamter war, war nicht daran zu denken gewesen, sich ein Auto zu leisten. Damals war das unvorstellbar. Und später hatte er keines mehr gebraucht. Jetzt war es zu spät, um noch fahren zu lernen. Ihm ging immer so vieles durch den Kopf, dass er nicht auf die Verkehrsampeln achten oder die Bremse mit dem Gaspedal verwechseln würde.

Dennoch wäre es angenehm, sonntags mit dem Auto zu ihrem Häuschen nach Meung-sur-Loire zu fahren.

Vor Kurzem hatten sie sich ganz plötzlich dazu entschlossen. Seine Frau hatte lachend abgewehrt:

»Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein … In meinem Alter noch fahren zu lernen …«

»Ich bin mir sicher, du wirst eine gute Fahrerin.«

Heute hatte sie ihre dritte Stunde und war so aufgeregt wie ein junges Mädchen, das sich aufs Abitur vorbereitet.

»Wie ist es denn gelaufen?«

»Der Fahrlehrer ist sehr geduldig.«

Die Frau neben ihm im Bus hatte bestimmt keinen Führerschein. Aber warum hatte sie ihre Besorgungen am Boulevard Voltaire gemacht, wenn sie in einem anderen Viertel wohnte? Das sind diese kleinen Rätsel, die man nicht aus dem Kopf bekommt. Sie trug einen Hut, was heutzutage, vor allem vormittags, ein seltener Anblick ist. In ihrem Einkaufsnetz befanden sich ein Huhn, Butter, Eier, Lauch und Sellerie.

Etwas Hartes lag ganz unten und stieß ihn bei jedem Rucken des Busses gegen die Schenkel. Wahrscheinlich waren es Kartoffeln.

Warum nahm sie den Bus, um ganz gewöhnliche Dinge zu kaufen, die man in jedem Viertel bekommt? Vielleicht hatte sie früher am Boulevard Voltaire gewohnt und war den Ladenbesitzern dort, die sie noch kannte, treu geblieben.

Der kleine junge Mann rechts von ihm rauchte eine Pfeife, die zu kurz und deren Kopf zu schwer war, sodass er sie mit den Zähnen halten musste. Junge Männer suchen sich fast immer zu kurze und zu dicke Pfeifen aus.

Die Plattform war überfüllt. Die Frau hätte sich einen Platz im Inneren des Busses suchen können. Aha! In einem Fischgeschäft in der Rue du Temple gab es sogar Merlane! Schon seit einer Ewigkeit hatte er keine Merlane mehr gegessen. Warum nur waren in seinem Kopf sogar die Merlane Frühlingsboten?

Alles war frühlingshaft und heiter wie seine Stimmung, auch wenn die Frau mit dem Huhn vor sich hin stierte und sich mit Problemen abquälte, von denen ein gewöhnlicher Sterblicher keine Ahnung hatte.

»Pardon …«

»Macht nichts …«

Er hatte nicht den Mut, ihr zu sagen:

»Anstatt hier alle zu belästigen, setzen Sie sich doch besser mit Ihrem Netz hinein.«

Er las den gleichen Gedanken in den blauen Augen eines dicken Mannes, der zwischen ihm und dem Kontrolleur eingezwängt war. Sie verstanden sich. Der Kontrolleur ebenfalls, der kaum merklich mit den Schultern zuckte. Eine Art Geheimbund unter Männern. Sehr unterhaltsam!

Die Auslagen, vor allem die der Gemüsehändler, nahmen die halben Gehsteige ein. Der grün-weiße Bus bahnte sich seinen Weg durch das Gedränge der Hausfrauen, Sekretärinnen und Angestellten, die zu ihren Büros eilten. Das Leben war schön.

Wieder ein Ruck. Wieder traf ihn das Netz und das Harte unten darin, Kartoffeln oder was immer es war, an den Beinen. Beim Zurückweichen stieß er gegen jemanden, der hinter ihm stand.

»Pardon …«

Jetzt murmelte er die Entschuldigung und versuchte sich umzudrehen. Er bemerkte nun einen ziemlich jungen Mann, dessen Miene er nicht zu deuten wusste.

Er war wahrscheinlich noch keine fünfundzwanzig, trug keinen Hut, sein braunes Haar war nicht gekämmt, die Wangen nicht rasiert. Er sah aus, als hätte er kein Auge zugetan, als hätte er schwere Stunden hinter sich.

Er schlängelte sich zum Trittbrett vor und sprang vom fahrenden Bus ab. Sie waren gerade an der Ecke Rue Rambuteau, unweit von Les Halles, deren starker Geruch einem in die Nase stieg. Der Mann rannte weg, drehte sich um, als ob er vor etwas Angst hätte, und verschwand dann in der Rue des Blancs-Manteaux.

Maigret fasste sich unwillkürlich an die Gesäßtasche, in die er immer seine Brieftasche steckte.

Fast wäre er ebenfalls vom Bus gesprungen, denn die Brieftasche war verschwunden.

Er war rot geworden, aber es gelang ihm, Ruhe zu bewahren. Nur der dicke Mann mit den blauen Augen schien zu merken, dass etwas nicht stimmte.

Maigret lächelte gequält, nicht so sehr, weil er einem Taschendieb zum Opfer gefallen war, sondern weil es keine Möglichkeit gab, ihn zu verfolgen.

Es musste am Frühling liegen, an dieser prickelnden Luft, die man seit gestern wieder in der Nase hatte.

Noch eine Tradition, eine Marotte fast, seit Kindertagen: die Schuhe. Alljährlich kaufte er sich in den ersten schönen Tagen Schuhe, die so leicht sein mussten wie möglich. Gestern hatte er das wieder getan.

Und heute Morgen trug er sie zum ersten Mal. Sie drückten. Schon der Weg über den Boulevard Richard-Lenoir war eine Tortur gewesen, und er war erleichtert, als er die Bushaltestelle am Boulevard Voltaire erreichte.

Er hätte seinem Dieb nicht hinterherlaufen können. Und der hatte auch schon genug Zeit gehabt, um sich in den engen Gassen des Marais zu verstecken.

»Pardon, Monsieur …«

Schon wieder! Immer die mit ihrem Einkaufsnetz. Er war drauf und dran, sie anzufahren:

»Lassen Sie uns doch endlich mit Ihren elenden Kartoffeln in Frieden!«

Aber er nickte nur und lächelte.

 

Auch sein Büro war von diesem Licht der ersten schönen Tage erhellt, und über der Seine schwebte ein flimmernder Dunstschleier, weniger dicht als Nebel, in dem Milliarden Lichter glitzerten, wie es sie nur in Paris gibt.

»Wie geht’s, Chef? Gibt’s was Neues?«

Janvier trug einen hellen Anzug, den Maigret noch nie an ihm gesehen hatte. Auch er feierte den frühzeitigen Frühling, es war erst der 15. März.

»Nichts. Oder doch. Ich bin gerade bestohlen worden.«

»Hat man Ihnen die Uhr geklaut?«

»Nein, meine Brieftasche.«

»Auf der Straße?«

»Auf der Plattform des Busses.«

»War viel Geld darin?«

»Fünfzig Franc. Ich habe selten mehr bei mir.«

»Und Ihre Papiere?«

»Nicht nur meine Papiere, sondern auch meine Marke.«

Die berühmte Dienstmarke der Kriminalpolizei, der Albtraum der Kommissare. Eigentlich müssen sie sie immer bei sich tragen, um sich als Beamte der Kriminalpolizei ausweisen zu können.

Eine schöne silberne Marke, genauer gesagt, aus versilberter Bronze, denn die dünne Silberschicht lässt, wenn man die Marke eine Zeit lang benutzt hat, bald ein rötlichbraunes Metall durchschimmern.

Auf der einen Seite ist eine Marianne mit phrygischer Mütze zu sehen, die Buchstaben R.F. und das Wort Police von roter Emaille umrahmt.

Auf der Kehrseite ist das Pariser Stadtwappen, eine Nummer und in kleinen Buchstaben der Name des Besitzers eingraviert.

Maigrets Dienstmarke hatte die Nummer 0004. Die Nummer 1 war dem Präfekten vorbehalten, die 2 dem Direktor der Kriminalpolizei und die 3 aus unerfindlichen Gründen dem Chef des Nachrichtendienstes.

Trotz der Vorschrift trug niemand die Marke gern bei sich, denn diese Vorschrift sah ebenfalls vor, dass bei Verlust ein Monatsgehalt einbehalten wurde.

»Haben Sie den Dieb gesehen?«

»Ja, sehr genau. Ein magerer junger Kerl mit müden Augen und so blass, als hätte er kein Auge zugemacht.«

»Haben Sie ihn nicht erkannt?«

Zu der Zeit, als Maigret noch im Streifendienst eingesetzt war, kannte er nicht nur alle Pariser Taschendiebe, sondern auch die, die aus Spanien oder London angereist kamen, wenn Messen oder große Kundgebungen stattfanden.

Es handelt sich um ein recht exklusives Spezialgebiet, das eine eigene Hierarchie hat. Die wahren Meister bemühen sich nur zu Anlässen, bei denen es sich lohnt, und scheuen zum Beispiel bei einer Weltausstellung oder den Olympischen Spielen selbst die Reise über den Atlantik nicht.

Maigret hatte sie ein wenig aus den Augen verloren. Er kramte in seinem Gedächtnis. Er nahm die Angelegenheit aber nicht allzu tragisch. Der Frühlingsmorgen beeinflusste immer noch seine Stimmung, und paradoxerweise richtete sich all sein Ärger gegen die Frau mit dem Einkaufsnetz.

»Wenn sie mich nicht ständig angerempelt hätte … Frauen müsste der Aufenthalt auf der Plattform verboten sein … Sie hat ja noch nicht mal geraucht …«

Er war mehr beleidigt als wütend.

»Wollen Sie nicht mal in der Kartei nachsehen?«

»Genau das habe ich vor.«

Er verbrachte fast eine Stunde im Archiv, betrachtete die Fotos, die die Taschendiebe von vorne und im Profil zeigten. Manche von ihnen hatte er vor fünfundzwanzig Jahren zum ersten Mal verhaftet. Seitdem haben sie zehn- oder sogar fünfzehnmal in seinem Büro gesessen, und allmählich waren sie fast Freunde geworden.

»Du schon wieder?«

»Von irgendwas muss man ja leben. Und Sie, Sie sind doch auch noch da, Chef. Jetzt kennen wir uns schon eine ganze Weile, nicht wahr?«

Manche waren gut gekleidet, und andere, die kleinen Fische, beschränkten sich mit ihren Diebstählen auf den Eisenmarkt, auf die Märkte von Saint-Ouen und die Metrobahnsteige. Keiner ähnelte dem jungen Mann aus dem Bus, und Maigret wusste von vornherein, dass seine Nachforschungen zu nichts führten.

Ein professioneller Dieb wirkt nicht so müde und verängstigt. Er macht sich nur an die Arbeit, wenn er sicher ist, dass seine Hände nicht zu zittern anfangen. Außerdem kannten alle Maigrets Gesicht und Gestalt, und sei es aus der Zeitung.

Er kehrte in sein Büro zurück, und als Janvier wieder hereinkam, zuckte Maigret nur mit den Schultern.

»Haben Sie ihn nicht gefunden?«

»Ich könnte schwören, dass er ein Amateur ist. Ich frage mich sogar, ob er eine Minute vor dem Diebstahl schon wusste, dass er ihn begehen wird. Er hat gewiss meine Brieftasche herausragen sehen. Meine Frau sagt mir andauernd, ich dürfe sie nicht in der Gesäßtasche tragen. Bei diesem heftigen Ruck, als mich die verfluchten Kartoffeln fast umgeworfen hätten, ist ihm wohl der Gedanke gekommen …«

Er sprach in anderem Ton weiter.

»Was gibt’s heute Morgen Neues?«

»Lucas hat Grippe. Der Senegalese ist in einem Bistro an der Porte d’Italie umgebracht worden.«

»Erstochen?«

»Natürlich. Niemand kann den Täter beschreiben. Er ist gegen ein Uhr morgens hereingekommen, als der Wirt gerade schließen wollte, ist auf den Senegalesen zugegangen, der ein letztes Glas trank, und hat so schnell zugestochen, dass …«

Das Übliche. Irgendwann würde ihn jemand verpfeifen, vielleicht in einem Monat, vielleicht in zwei Jahren. Maigret begab sich ins Büro des Leiters der Kriminalpolizei zur täglichen Besprechung, hütete sich aber, dort von seinem Erlebnis zu berichten.

Der Arbeitstag begann ruhig. Papierkram, und etliche amtliche Schreiben waren zu unterzeichnen. Reine Routine.

Zum Mittagessen fuhr er nach Hause und bemerkte, dass seine Frau von sich aus die Fahrstunde mit keinem Wort erwähnte. In ihrem Alter war es für sie fast so, als ginge sie wieder zur Schule. Es machte ihr Spaß, ja, sie spürte sogar einen gewissen Stolz, aber zugleich war es ihr ein wenig peinlich.

»Hast du auch nicht den Bürgersteig gestreift?«

»Warum fragst du das? Ich kriege ja noch Komplexe …«

»Aber nein, du wirst eine ausgezeichnete Fahrerin, und ich kann es kaum erwarten, dass du mich ans Ufer der Loire fährst.«

»Bis dahin wird noch ein guter Monat vergehen.«

»Hat dir das der Fahrlehrer gesagt?«

»Die Prüfer verlangen immer mehr, und es ist besser, beim ersten Mal nicht durchzufallen. Heute sind wir auf den Grands Boulevards gefahren. Ich hätte nie geglaubt, dass dort so viel Verkehr ist und dass die Leute so schnell fahren. Man hat den Eindruck …«

Nanu! Es gab Huhn, wie wohl auch bei der Frau aus dem Bus.

»Woran denkst du?«

»An meinen Dieb.«

»Hast du einen Dieb verhaftet?«

»Ich habe ihn nicht verhaftet, aber er hat mich um meine Brieftasche erleichtert.«

»Mit der Dienstmarke darin?«

Auch sie dachte als Erstes daran. Es würde ein großes Loch in die Haushaltskasse reißen. Immerhin würde er eine neue Marke bekommen, an der die Bronze noch nicht durchschimmerte.

»Hast du ihn gesehen?«

»Wie ich dich sehe.«

»Ein alter Mann?«

»Ein junger, ein Amateur. Er wirkte …«

Unwillkürlich dachte Maigret immer mehr über den jungen Mann nach. Statt zu verblassen, trat das Gesicht in seiner Erinnerung deutlicher hervor. Einzelheiten fielen ihm ein, auf die er zuvor kaum geachtet hatte, zum Beispiel, dass der Unbekannte dichte Augenbrauen hatte, die über seinen Augen einen wahrhaftigen Balken bildeten.

»Würdest du ihn wiedererkennen?«

Auch im Lauf des Nachmittags musste er immer wieder an ihn denken, dann hob er den Kopf und sein Blick wanderte zum Fenster, als beschäftigte ihn ein Problem. An dieser Geschichte, an diesem Gesicht, an dieser Flucht stimmte irgendetwas nicht. Aber was?

Jedes Mal schien es ihm, als fiele ihm gleich ein neues Detail ein, das alles erklärte. Doch dann machte er sich wieder an seine Arbeit.

»Schönen Abend, Kinder …«

Er verließ sein Büro um fünf vor sechs, während im Büro nebenan ein halbes Dutzend Inspektoren zurückblieb.

»Auf Wiedersehen, Chef.«

Seine Frau und er gingen ins Kino. In einem Schubfach hatte er die alte braune Brieftasche gefunden, die für die Gesäßtasche zu groß war, sodass er sie in die Innentasche seiner Jacke stecken musste.

»Wenn du sie in der Tasche gehabt hättest …«

Wie gewöhnlich spazierten sie Arm in Arm zurück, und die Luft war noch immer mild. Nicht einmal der Benzingeruch war an diesem Abend unangenehm. Auch er gehörte zu dem sich ankündigenden Frühling, genau wie der Geruch von weich gewordenem Asphalt zum Sommer gehört.

Am nächsten Morgen schien wieder die Sonne, und Maigret frühstückte am offenen Fenster.

»Es ist schon komisch«, sagte er, »es gibt Frauen, die fahren mit dem Bus durch halb Paris, um ihre Besorgungen zu machen.«

»Vielleicht wegen der Marktberichte.«

Er blickte seine Frau an und runzelte die Stirn.

»Jeden Abend wird im Fernsehen berichtet, wo man das ein oder andere zu besonders günstigen Preisen erhält.«

Daran hatte er gar nicht gedacht. So einfach war das. Er hatte lange über ein kleines Problem nachgedacht, das seine Frau im Handumdrehen gelöst hatte.

»Ich danke dir.«

»Hilft dir das weiter?«

»Ich muss jetzt nicht mehr weiter darüber nachdenken.«

Während er nach seinem Hut griff, fügte er mit philosophischer Miene hinzu:

»Man denkt nicht immer an das, woran man denken möchte …«

Auf seinem Schreibtisch stapelte sich die Post, ganz oben lag ein großer brauner Umschlag, auf dem sein Name, sein Dienstgrad und die Adresse am Quai des Orfèvres in Druckbuchstaben standen.

Noch ehe er ihn aufmachte, wusste er, was er enthielt. Jemand schickte ihm seine Brieftasche zurück. Einen Augenblick später stellte er fest, dass nichts fehlte, weder die Dienstmarke noch die Papiere noch die fünfzig Franc.

Weiter befand sich nichts darin. Kein Brief. Keine Erklärung.

Das ärgerte ihn.

 

Kurz nach elf klingelte das Telefon.

»Jemand möchte Sie unbedingt persönlich sprechen, will aber seinen Namen nicht nennen, Kommissar. Er behauptet, Sie erwarten seinen Anruf und wären sehr verärgert, wenn ich ihn nicht zu Ihnen durchstelle.«

»Nun, dann verbinden Sie mich.«

Mit einer Hand zündete er ein Streichholz an, um seine kalte Pfeife wieder anzustecken:

»Hallo! Hier Maigret.«

Ein ziemlich langes Schweigen folgte, und man hätte meinen können, die Verbindung sei unterbrochen, hätte Maigret nicht am anderen Ende der Leitung jemanden atmen hören.

»Hier Maigret«, wiederholte er.

Wieder Schweigen, und dann endlich:

»Ich bin’s …«

Eine tiefe Männerstimme, aber dem Klang nach hätte es auch die eines Kindes sein können, das zögert zu gestehen, dass es etwas ausgefressen hat.

»Meine Brieftasche?«

»Ja.«

»Wussten Sie nicht, wer ich bin?«

»Natürlich nicht. Sonst …«

»Warum rufen Sie mich an?«

»Weil ich Sie sprechen muss.«

»Kommen Sie doch in mein Büro.«

»Nein, zum Quai des Orfèvres gehe ich nicht.«

»Kennt man Sie hier?«

»Ich bin noch nie dort gewesen.«

»Wovor haben Sie Angst?«

Man spürte die Furcht in der Stimme des Unbekannten.

»Es ist privat.«

»Was ist privat?«

»Ich möchte Sie privat sprechen. Auf diesen Gedanken bin ich gekommen, als ich Ihren Namen auf der Marke gelesen habe.«

»Warum haben Sie meine Brieftasche gestohlen?«

»Weil ich sofort Geld brauchte.«

»Und jetzt?«

»Ich hab’s mir anders überlegt. Aber ich bin mir noch nicht ganz sicher. Es wäre besser, wenn Sie so schnell wie möglich kommen könnten, ehe ich es mir noch mal anders überlege …«

Das Gespräch hatte etwas Unwirkliches, wie die Stimme, trotzdem nahm Maigret die Sache ernst.

»Wo sind Sie?«

»Werden Sie kommen?«

»Ja.«

»Allein.«

»Soll ich denn allein kommen?«

»Unsere Unterhaltung muss unter uns bleiben. Können Sie mir das zusichern?«

»Das kommt darauf an.«

»Worauf?«

»Auf das, was Sie mir sagen werden.«

Wieder Schweigen, aber jetzt wirkte es bedrückt.

»Ich möchte, dass Sie mir eine Chance geben. Ich rufe Sie ja immerhin an. Sie kennen mich nicht. Sie haben keine Möglichkeit, mich aufzuspüren. Wenn Sie nicht kommen, werden Sie nie erfahren, wer ich bin. Deshalb könnten Sie mir doch …«

Er fand das passende Wort nicht.

»… etwas versprechen?«, schlug Maigret vor.

»Warten Sie. Wenn ich Ihnen nachher alles erzählt habe, könnten Sie mir doch fünf Minuten Zeit lassen, um zu verschwinden, wenn ich Sie darum bitte?«

»Ich kann nichts versprechen, ehe ich nicht mehr weiß. Ich bin schließlich Kriminalbeamter.«

»Wenn Sie mir glauben, erklärt sich alles von selbst. Wenn Sie mir nicht glauben oder Zweifel haben, dann schauen Sie einfach in die andere Richtung, bis ich mich aus dem Staub gemacht habe, und dann können Sie ja Ihre Männer alarmieren …«

»Wo sind Sie?«

»Also, abgemacht?«

»Ich bin bereit, Sie zu treffen.«

»Zu meinen Bedingungen?«

»Ich werde alleine kommen.«

»Aber Sie versprechen nichts?«

»Nein.«

Er konnte unmöglich anders handeln. Mit einer gewissen Beklommenheit erwartete er die Reaktion des anderen. Der junge Mann befand sich in einer Telefonzelle oder in einem Café, denn im Hintergrund war Lärm zu hören.

»Also ja oder nein«, sagte Maigret ein wenig ungeduldig.

»Was bleibt mir anderes übrig? Was in den Zeitungen über Sie steht, macht mir Mut, Ihnen zu vertrauen. Sind diese Geschichten denn wahr?«

»Was für Geschichten?«

»Dass Sie vieles verstehen können, was Polizei und Gericht im Allgemeinen nicht verstehen, und dass Sie in manchen Fällen sogar …«

»Was?«

»Ich fürchte, ich sage zu viel. Ich weiß auch nicht mehr … Haben Sie hin und wieder mal ein Auge zugedrückt?«

Darauf antwortete Maigret lieber nicht.

»Wo sind Sie?«

»Weit vom Präsidium der Kriminalpolizei entfernt. Wenn ich es Ihnen jetzt schon sage, haben Sie Zeit, um mich von einem Inspektor aus dem Arrondissement verhaften zu lassen. Ein Anruf ist schnell gemacht, und Sie haben ja meine Personenbeschreibung.«

»Woher wissen Sie, dass ich Sie gesehen habe?«

»Ich habe mich umgedreht. Unsere Blicke sind sich begegnet, das wissen Sie genau. Ich hatte große Angst.«

»Wegen der Brieftasche?«

»Nicht nur. Hören Sie. Lassen Sie sich zu der Bar Le Métro an der Ecke Boulevard de Grenelle und Avenue de La Motte-Picquet fahren. Sie brauchen dafür etwa eine halbe Stunde. Ich werde Sie dort anrufen. Ich werde ganz in der Nähe sein und dann schnellstens zu Ihnen kommen.«

Maigret wollte etwas erwidern, aber der andere hatte schon aufgelegt. Er war neugierig geworden, aber zugleich ärgerte er sich, denn noch nie hatte ein Unbekannter so dreist, um nicht zu sagen unverschämt, über ihn verfügt.

Dennoch konnte er ihm nicht böse sein. Während dieses ganzen stockenden Gesprächs hatte er gespürt, dass der Mann Angst hatte, aber auch, dass er nach einer befriedigenden Lösung für alle Parteien suchte und den dringenden Wunsch hatte, den Kommissar persönlich zu treffen, der in den Augen des Unbekannten der einzig mögliche Retter war.

Und zwar nur, weil er ihm seine Brieftasche gestohlen hatte, ohne zu wissen, wer er war!

»Janvier, hast du unten einen Wagen stehen? Du musst mich nach Grenelle fahren.«

Janvier reagierte überrascht, denn in diesem Viertel fanden gerade keine laufenden Ermittlungen statt.

»Eine persönliche Verabredung mit dem Kerl, der mir meine Brieftasche geklaut hat.«

»Haben Sie sie denn zurückbekommen?«

»Ja, ich habe die Brieftasche in der Morgenpost gefunden.«

»Ihre Dienstmarke auch? Das würde mich wundern, denn das Ding behält sicher jeder gern als Souvenir.«

»Meine Marke war darin, meine Papiere und das Geld.«

»Sollte es sich um einen Scherz gehandelt haben?«

»Nein. Im Gegenteil, ich glaube, es ist eine sehr ernste Angelegenheit. Mein Dieb hat mich soeben angerufen, um mir zu sagen, dass er mich erwartet.«

»Soll ich mitkommen?«

»Bis zum Boulevard de Grenelle. Dann verschwindest du, er will mich allein sprechen.«

Sie fuhren die Quais bis zum Pont Bir-Hakeim entlang, Maigret blickte schweigend auf die Seine. Überall gab es Bauzäune und Baustellen wie in dem Jahr, als er nach Paris gekommen war. Offenbar begann das alle zehn bis fünfzehn Jahre wieder, jedes Mal, wenn Paris das Gefühl hatte, aus allen Nähten zu platzen.

»Wo soll ich Sie absetzen?«

»Hier.«

Sie waren an der Ecke Boulevard de Grenelle und Rue Saint-Charles.

»Soll ich auf Sie warten?«

»Warte eine halbe Stunde. Wenn ich dann noch nicht zurück bin, fahr zum Büro zurück oder geh Mittag essen.«

Auch Janvier machte die Sache neugierig, und er sah dem Kommissar mit einem verwunderten Blick hinterher, als dieser sich langsam entfernte.

Die Sonne brannte auf den Gehsteig, auf dem abwechselnd eine heiße und eine kühlere Brise wehte, als hätte die Luft noch keine Zeit gehabt, ihre Frühlingstemperatur zu erreichen.

Ein kleines Mädchen verkaufte vor einem Restaurant Veilchen. Maigret sah schon von Weitem die Eckkneipe, über der die Worte Le Métro prangten, die gewiss am Abend erleuchtet waren. Es war ein ganz und gar unauffälliges Lokal, ein Café, in dem man sich schnell Zigaretten kauft, etwas an der Theke trinkt oder sich kurz setzt, um auf seine Verabredung zu warten.

Er ließ den Blick durch den Raum schweifen. Zu beiden Seiten der Theke standen etwa zwanzig kleine Tische, die meisten waren nicht besetzt.

Natürlich war sein Dieb noch nicht da, und der Kommissar setzte sich ganz hinten ans Fenster und bestellte ein Bier vom Fass.

Er spähte immer wieder zur Tür, zu den Leuten, die auf sie zugingen, sie aufstießen, an die Kasse traten, hinter der die Zigaretten in kleinen Fächern gestapelt waren.

Er fragte sich gerade schon, ob er zu naiv gewesen war, als er die Gestalt und das Gesicht draußen auf dem Gehsteig erkannte. Der Mann blickte nicht in seine Richtung, sondern ging zur Theke, stützte sich auf und bestellte:

»Einen Rum.«

Er war unruhig. Seine Hände waren unaufhörlich in Bewegung. Er wagte nicht, sich umzudrehen, und wartete ungeduldig auf seine Bestellung, als ob er dringend Alkohol bräuchte.

Als er sein Glas ergriff, machte er dem Kellner ein Zeichen, die Flasche nicht gleich wegzustellen.

»Noch einen …«

Diesmal drehte er sich zu Maigret um. Schon vor dem Eintreten hatte er gewusst, wo der Kommissar saß. Gewiss hatte er ihn von draußen oder vom Fenster eines Nachbarhauses aus belauert.

Er sah ihn an, als wollte er sich entschuldigen, als wollte er sagen, er könne nicht anders, er werde gleich kommen. Mit zittrigen Händen zählte er das Kleingeld ab, das er auf die Theke legte.

Schließlich trat er an Maigrets Tisch, holte sich einen Stuhl und ließ sich darauf fallen.

»Haben Sie Zigaretten?«

»Nein. Ich rauche nur …«

»… Pfeife, ich weiß. Ich habe keine Zigaretten mehr und kein Geld, mir welche zu kaufen.«