Maigret in Kur - Georges Simenon - E-Book

Maigret in Kur E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Eigentlich wollte Maigret lieber jung sterben, als sich an einen Diätplan zu halten, doch nun ist er auf Kur in Vichy, trinkt Heilwasser, spaziert Arm in Arm mit Madame Maigret durch den Kurgarten. Aus reiner Langeweile beobachtet er die Menschen ringsum, Boulespieler, Patienten und die Dame in Lila – eine exzentrische Frau, die ihn fasziniert und über deren Leben er gerne mehr wüsste. Dann wird sie in ihrer Wohnung aufgefunden – erwürgt. Und Maigret stößt sehr bald auf zahlreiche Ungereimtheiten in ihrem Leben.

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Der 67. Fall

Georges Simenon

Maigret in Kur

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Bärbel Brands

Kampa

1

»Kennst du die beiden?«, fragte Madame Maigret leise, als ihr Mann sich nach einem Paar umdrehte, das gerade an ihnen vorbeigegangen war.

Der Mann hatte sich ebenfalls umgedreht und gelächelt. Einen Augenblick hatte es so ausgesehen, als wollte er auf den Kommissar zugehen und ihm die Hand geben.

»Nein … Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht.«

Der Mann war klein und von stattlichem Umfang, seine Frau kaum größer und ebenso füllig. Maigret hielt sie für eine Belgierin, nur wusste er nicht, warum. Wegen ihres hellen Teints, ihrer gelbblonden Haare oder der hervortretenden blauen Augen?

Sie waren sich mindestens zum fünften Mal begegnet. Beim ersten Mal war der Mann abrupt stehen geblieben, und sein Gesicht hatte vor Freude gestrahlt. Er schien etwas sagen zu wollen, während der Kommissar die Stirn runzelte und vergeblich in seinem Gedächtnis kramte.

Die Gestalt und das Gesicht kamen ihm bekannt vor, aber wer zum Teufel konnte das sein? Wo war er diesem kleinen, heiteren Mann und seiner farbenfrohen Marzipanfrau schon einmal begegnet?

»Wirklich, ich weiß es nicht.«

Es war nicht weiter wichtig. Die Leute waren hier sowieso nicht die gleichen wie im normalen Leben.

Jeden Augenblick würde die Blaskapelle losschmettern. In dem Pavillon mit den zierlichen Säulen und den verschnörkelten Ornamenten richteten die Musiker den Blick auf den Dirigenten und setzten ihre Blechinstrumente an. War es die Kapelle der städtischen Feuerwehr? Sie trugen Uniformen mit so vielen Litzen und Tressen wie südamerikanische Generäle, blutrote Epauletten, weiße Säbelgurte. Hunderte, man hätte meinen können, Tausende gelb lackierter schmiedeeiserner Stühle stünden in immer größeren Kreisen um den Musikpavillon herum, und fast alle waren von Männern und Frauen besetzt, die andächtig warteten.

In ein oder zwei Minuten, um Punkt neun, würde das Konzert im Park unter den großen Bäumen beginnen. Die Abendluft war beinahe frisch nach dem schwülen Tag, und das Laub raschelte leise im Wind, während die Milchglaskugeln helle Flecken ins dunkle Grün warfen.

»Willst du dich setzen?«

Es waren noch einige Stühle frei, aber sie setzten sich nie. Stattdessen schlenderten sie umher. Wie viele andere auch, die gemächlich hin und her spazierten und nur mit halbem Ohr der Musik lauschten: Paare, daneben zahlreiche Männer und Frauen, die allein gekommen waren und die Mitte ihres Lebens hinter sich gelassen hatten.

Alles wirkte ein wenig künstlich. Das mit Stuckverzierungen überfrachtete weiße Casino im Stil der Jahrhundertwende war hell erleuchtet. Manchmal schien es, als wäre die Zeit stehengeblieben, bis plötzlich ein lautes Hupen von der Rue Georges-Clemenceau herüberklang.

»Da ist sie«, flüsterte Madame Maigret und deutete mit dem Kinn auf eine Frau.

Es war ein Spiel geworden. Sie hatte sich angewöhnt, dem Blick ihres Mannes zu folgen, und spürte sofort, wenn etwas seine Aufmerksamkeit erregte.

Was sollten sie auch tun, den lieben langen Tag? Sie spazierten durch die Stadt, blieben hin und wieder stehen, nicht etwa, weil sie außer Atem waren, sondern um einen Baum, ein Haus, ein Lichtspiel oder ein Gesicht zu betrachten.

Sie hatten das Gefühl, seit einer Ewigkeit in Vichy zu sein, dabei waren es erst fünf Tage. Gleich zu Beginn hatten sie einen Tagesablauf festgelegt, dem sie so eisern folgten, als hinge ihr Leben davon ab, und der bestimmt war von gewissen Ritualen, denen sie sich mit größtem Eifer widmeten.

Nahm Maigret das wirklich ernst? Seine Frau wunderte sich, wenn sie ihn hin und wieder verstohlen anblickte. Er war nicht derselbe wie in Paris. Sein Schritt war weniger energisch, und seine Gesichtszüge wirkten entspannter. Meistens las sie Zufriedenheit aus seinem flüchtigen Lächeln, manchmal einen Anflug missmutiger Ironie.

»Sie trägt ihren weißen Schal …«

Ihr täglicher Spaziergang, immer zur gleichen Zeit, führte sie durch Alleen im Park oder zum Ufer des Allier. Sie schlenderten über platanengesäumte Boulevards oder Promenaden, auf denen es von Menschen wimmelte, und durch kleine verlassene Straßen. Dabei waren ihnen bestimmte Gesichter und Gestalten aufgefallen, die inzwischen zu ihrem kleinen Kosmos gehörten.

Es hatte den Anschein, als würde jeder zur selben Zeit dasselbe tun, auch jenseits des Rituals an den Heilquellen, wo man ein Glas von dem hochheiligen Wasser trank.

Maigrets Blick fiel auf eine Frau in der Menschenmenge. Der Blick seiner Frau folgte.

»Glaubst du, sie ist Witwe?«

Sie hätten sie »die Dame in Lila« nennen können, denn sie trug immer irgendetwas Lilafarbenes. An diesem Abend musste sie zu spät gekommen zu sein. Sie saß auf einem Stuhl in einer der hinteren Reihen.

Am Vorabend hatte sie einen rührenden Anblick geboten. Die Maigrets waren um acht Uhr, eine Stunde vor Konzertbeginn, am Musikpavillon vorbeigekommen. Die kleinen gelben Stühle bildeten so regelmäßige Kreise, als wären sie mit dem Zirkel gezogen.

Alle waren noch frei, bis auf einen in der ersten Reihe, auf dem die Dame in Lila saß. Weder las sie im Schein der Laterne ein Buch, noch strickte sie. Sie tat gar nichts, zeigte nicht den geringsten Anflug von Ungeduld. Aufrecht saß sie da, ihre Hände flach auf dem Schoß, und rührte sich nicht. Sie blickte einfach geradeaus, wie es sich für eine vornehme Dame gehört.

Sie war wie aus einem Bilderbuch. Sie trug einen weißen Hut – anders als die meisten Frauen hier. Auch der zarte Schal über ihrer Schulter war weiß und ihr Kleid von jenem Lila, das sie ganz offensichtlich schätzte.

Ihr Gesicht war sehr lang und schmal, ihre Lippen dünn.

»Sie ist sicher eine alte Jungfer, was meinst du?«

Maigret vermied es, sich dazu zu äußern. Er ermittelte nicht, verfolgte keine Spur. Nichts zwang ihn, die Leute zu beobachten und die Wahrheit über sie herauszubekommen.

Trotzdem tat er es gelegentlich, denn es war ihm zur zweiten Natur geworden. Manchmal interessierte er sich ohne Grund für einen der Spaziergänger und versuchte dessen Beruf, Familienstand und Lebenswandel jenseits der Kur zu erraten.

Was nicht ganz leicht war, denn jeder der Kurgäste hatte sich nach einigen Tagen oder sogar Stunden dieser kleinen Welt angepasst. Die meisten Blicke zeugten von derselben etwas stumpfen Heiterkeit, außer denen der Schwerkranken, die man an ihren körperlichen Gebrechen, ihrem Gang, vor allem aber an ihrer Aura aus Angst und Hoffnung erkannte.

Die Dame in Lila gehörte gewissermaßen zum engeren Kreis, zu jenen, die Maigret von Anfang an aufgefallen waren und seine Neugier geweckt hatten.

Schwer zu sagen, wie alt sie war. Sie konnte ebenso gut fünfundvierzig wie fünfundfünfzig sein. Die Jahre hatten an ihr kaum Spuren hinterlassen.

Man spürte, dass sie, wie eine Nonne, an die Stille gewöhnt war und an die Einsamkeit, sie vielleicht sogar schätzte. Ob sie nun umherging oder, wie in diesem Augenblick, auf ihrem Platz saß, sie achtete weder auf die Menschen, die vorbeigingen, noch auf diejenigen, die neben ihr saßen. Es hätte sie wahrscheinlich überrascht zu erfahren, dass sich Kommissar Maigret bemühte, ohne das geringste berufliche Interesse ihre Persönlichkeit zu ergründen.

»Ich glaube nicht, dass sie jemals mit einem Mann zusammengelebt hat«, sagte er, als gerade die Kapelle im Pavillon zu spielen begann.

Auch nicht mit Kindern. Vielleicht mit einer betagten, pflegebedürftigen Person. Ihrer alten Mutter womöglich.

Dann hätte sie allerdings eine schlechte Krankenpflegerin abgegeben, denn es fehlte ihr das Einfühlsame, die Gabe, sich mitzuteilen. Nie blieb ihr Blick an jemandem haften, sondern glitt über die Leute hinweg, weil er nach innen gerichtet war. Sie sah nur sich selbst, und wahrscheinlich bereitete ihr das eine heimliche Genugtuung.

»Wollen wir unsere Runde gehen?«

Sie waren nicht hier, um Musik zu hören. Es gehörte zu ihrer Routine, um diese Zeit an dem Pavillon vorbeizugehen, wo übrigens nicht jeden Tag ein Konzert stattfand.

An manchen Abenden war dieser Teil des Parks beinahe verlassen. Sie durchquerten ihn, bogen nach rechts ab und gingen durch einen Laubengang, der an einer Straße voller Leuchtreklamen entlangführte. Dort gab es Hotels, Restaurants, Geschäfte und ein Kino, in dem sie noch nie gewesen waren. Das war in ihrem Zeitplan nicht vorgesehen.

Andere gingen dieselbe Runde wie sie, in ähnlich gemächlichem Tempo. Wieder andere spazierten in die entgegengesetzte Richtung. Ein paar nahmen die Abkürzung, um das Theater im Grand Casino zu besuchen, wo sie verspätet ankommen würden. Man erhaschte gerade noch einen Blick auf einen Smoking oder ein Abendkleid.

An einem anderen Ort, in den unterschiedlichen Pariser Stadtvierteln, in Provinzstädten, in Brüssel, Amsterdam, Rom oder Philadelphia, führte jeder dieser Menschen ein ganz anderes Leben.

Sie gehörten bestimmten Kreisen an, die ihre Regeln, ihre Tabus, ihre eigenen Ausdrucksweisen hatten. Manche waren reich, andere arm. Es gab Schwerkranke darunter, denen die Kur das Leben ein wenig verlängerte, und andere, denen sie erlaubte, während des übrigen Jahres nicht zu sehr auf ihre Gesundheit achten zu müssen. Hier mischten sich alle bunt durcheinander.

Für Maigret hatte die Geschichte ihren Anfang genommen, als sie bei den Pardons zum Abendessen eingeladen waren. Madame Pardon hatte Canard au sang serviert, ein Gericht, auf das der Kommissar ganz versessen war.

»Ist die Ente nicht gut?«, hatte sie nervös gefragt, als sie sah, dass Maigret kaum etwas aß.

Monsieur Pardon hatte seinen Gast daraufhin eingehend betrachtet, mit ernstem Blick.

»Fühlen Sie sich nicht wohl?«

»Ach. Es ist weiter nichts.«

Aber der Arzt hatte bemerkt, dass alle Farbe aus dem Gesicht seines Freundes gewichen war und sich Schweißtropfen auf seiner Stirn gebildet hatten.

Während des Essens hatte Pardon nicht weiter nachgefragt. Der Kommissar hatte kaum an seinem Glas genippt, und als man ihm zum Kaffee einen alten Armagnac servieren wollte, winkte er ab.

»Verzeihen Sie. Heute Abend nicht.«

Erst später hatte Pardon gemurmelt:

»Sollen wir einen Augenblick in mein Sprechzimmer gehen?«

Maigret war ihm nur widerwillig gefolgt. Seit einiger Zeit ahnte er, dass es eines Tages so kommen würde, aber den Zeitpunkt hätte er gern noch ein wenig hinausgezögert. Das Sprechzimmer des Arztes war weder groß noch luxuriös. Auf dem Schreibtisch lag zwischen Flaschen, Salbentuben und allen möglichen Formularen das Stethoskop, und auf der Liege, so schien es, war noch der Abdruck des letzten Patienten zu sehen.

»Was ist mit Ihnen, Maigret?«

»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich das Alter.«

»Wie alt sind Sie? Zweiundfünfzig?«

»Dreiundfünfzig. Ich habe in letzter Zeit viel gearbeitet und mich mit Unannehmlichkeiten herumschlagen müssen. Keine spektakulären Ermittlungen, nichts Aufregendes, im Gegenteil. Zum einen der Papierkram – die ganze Verwaltung der Kriminalpolizei wird gerade neu organisiert –, zum anderen diese Serie von Überfällen auf junge Mädchen und alleinstehende Frauen, manchmal Vergewaltigungen, eine wahre Epidemie. Die Presse schlägt Alarm, aber ich habe nicht genug Leute, die ich auf Streife schicken kann, ohne die ganze Abteilung lahmzulegen.«

»Haben Sie Verdauungsprobleme?«

»Hin und wieder. Manchmal zieht sich mir der Magen zusammen, so wie heute Abend, oder ich habe Schmerzen, eher eine Art Druck in der Brust und im Bauch … Ich fühle mich schwer und müde.«

»Wäre es Ihnen recht, wenn ich Sie untersuchen würde?«

Seine Frau nebenan ahnte es bestimmt schon und Madame Pardon ebenso. Maigret genierte sich. Er verabscheute alles, was auch nur im Entferntesten mit Krankheit zu tun hat. Während er seine Krawatte löste, Jackett, Hemd und Unterhemd auszog, erinnerte er sich daran, was er in seiner Jugend gedacht hatte.

»Ich will nicht mit Pillen und Tees leben, Diäten einhalten und zur Untätigkeit gezwungen sein«, hatte er verkündet. »Lieber jung sterben, als den Krankenstand ertragen.«

»Krankenstand« nannte er jenen Lebensabschnitt, in dem man beginnt, auf seinen Herzschlag zu achten, auf den Magen, die Leber oder Nieren, und sich in regelmäßigen Abständen nackt und bloß dem Arzt stellt.

Er hatte keine Lust mehr, jung zu sterben, aber er wollte auch noch nichts von Krankheiten hören.

»Die Hose auch?«

»Lassen Sie sie etwas herunter.«

Pardon maß seinen Blutdruck, horchte ihn ab, tastete Magen und Bauch ab und drückte an einigen Stellen kräftiger.

»Tut das weh?«

»Nein … Ein ganz klein bisschen vielleicht … Etwas tiefer.«

Nun war er also wie alle anderen, hatte Angst, schämte sich dafür und wagte nicht, seinem Freund ins Gesicht zu blicken. Unbeholfen zog er sich wieder an.

»Wann waren Sie das letzte Mal im Urlaub?«, fragte Pardon in unverändertem Ton.

»Letztes Jahr habe ich mich für eine Woche davonstehlen können, aber dann musste ich zurück, weil …«

»Und vorletztes Jahr?«

»Bin ich in Paris geblieben.«

»Bei dem Leben, das Sie führen, müssten Ihre Organe in einem sehr viel schlechteren Zustand sein …«

»Die Leber?«

»Sie hat trotz allem, was Sie ihr zumuten, tapfer weitergearbeitet. Sie ist ein wenig vergrößert, aber nicht übermäßig, und verhärtet ist sie anscheinend auch nicht.«

»Und was ist dann nicht in Ordnung?«

»Nichts Bestimmtes … Alles ein bisschen. Sie sind erschöpft. Das steht fest, und eine Woche Urlaub wird daran nichts ändern. Wie fühlen Sie sich beim Aufwachen?«

»Schlecht gelaunt.«

Pardon musste lachen.

»Schlafen Sie gut?«

»Meine Frau behauptet, ich würde mich herumwälzen und manchmal im Schlaf sprechen.«

»Wollen Sie sich nicht Ihre Pfeife stopfen?«

»Ich versuche, weniger zu rauchen.«

»Warum?«

»Ich weiß nicht … Ich versuche auch, weniger zu trinken.«

»Setzen Sie sich.«

Auch Pardon setzte sich, und hinter seinem Schreibtisch wirkte er eher wie ein Arzt als im Ess- oder Wohnzimmer.

»Hören Sie mir gut zu. Sie sind nicht krank. Sie erfreuen sich sogar angesichts Ihres Alters und Ihrer anstrengenden Tätigkeit einer außergewöhnlich guten Gesundheit. Prägen Sie sich das ein für alle Mal ein. Achten Sie nicht darauf, wenn es hier oder dort mal zwickt oder sticht, und fangen Sie erst gar nicht damit an, vorsichtig die Treppen zu steigen …«

»Woher wissen Sie das?«

»Wenn Sie einen Verdächtigen verhören, woher wissen Sie dann …«

Beide lächelten.

»Es ist Ende Juni. In Paris ist es brütend heiß. Sie werden jetzt brav in den Urlaub fahren – wenn möglich, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Auf jeden Fall aber werden Sie es vermeiden, jeden Tag am Quai des Orfèvres anzurufen.«

»Das ließe sich einrichten«, murmelte Maigret.

»Unser kleines Haus in Meung-sur-Loire …«

»Wenn Sie erst einmal pensioniert sind, haben Sie Zeit genug für Ihr Häuschen. In diesem Sommer habe ich etwas anderes mit Ihnen vor. Kennen Sie Vichy?«

»Nein, ich bin noch nie dort gewesen, obwohl ich kaum fünfzig Kilometer entfernt geboren bin, in der Nähe von Moulins. Aber damals hatte noch nicht jeder ein Auto.«

»Ach, übrigens, hat Ihre Frau inzwischen den Führerschein gemacht?«

»Wir haben uns sogar einen 4CV gekauft.«

»Ich glaube, eine Kur in Vichy würde Ihnen guttun. Eine gründliche Entschlackung des gesamten Organismus.«

Pardon wäre bei dem Anblick von Maigrets Gesichtsausdruck beinahe in schallendes Gelächter ausgebrochen.

»Eine Kur?«

»Ein paar Gläser Wasser am Tag. Ich glaube nicht, dass der Arzt in Vichy Ihnen Moor- oder Mineralbäder oder Heilgymnastik und den ganzen Klimbim verordnen wird. Sie sind nicht ernsthaft krank. Einundzwanzig Tage ein regelmäßiges, sorgloses Leben …«

»Ohne Bier, ohne Wein, ohne deftiges Essen, ohne …«

»Wie viele Jahre haben Sie das alles ungeniert genossen?«

»Ich habe ganz gut gelebt …«, gestand er.

»Und das werden Sie wieder tun, wenn auch in Maßen. Also, was meinen Sie?«

Als sich Maigret erhob, hörte er sich zu seinem eigenen Erstaunen sagen:

»Einverstanden.«

Ganz der brave Patient.

»Wann?«

»In ein paar Tagen, spätestens einer Woche. Ich muss nur vorher noch meine Akten in Ordnung bringen.«

»Ich werde Sie in Vichy zu einem meiner Kollegen schicken, der sich in diesen Dingen besser auskennt als ich. Ich kenne ein halbes Dutzend Ärzte dort. Lassen Sie mich mal überlegen … Also, da wäre Rian. Er ist noch jung und bodenständig. Ich gebe Ihnen seine Adresse und seine Telefonnummer und werde ihm morgen schreiben.«

»Danke, Pardon.«

»Ich habe Ihnen doch nicht wehgetan?«

»Nein, Sie sind sehr sanft mit mir umgegangen.«

Im Wohnzimmer lächelte er seiner Frau beruhigend zu, aber solange sie bei den Pardons waren, sprach man nicht über Krankheiten.

Erst als sie Arm in Arm durch die Rue Popincourt gingen, murmelte Maigret beiläufig:

»Wir werden unseren Urlaub in Vichy verbringen.«

»Du machst eine Kur?«

»Wenn ich schon mal dort bin«, sagte er spöttisch. »Krank bin ich nicht, angeblich sogar ausgesprochen gesund. Und darum werde ich zum Wassertrinken geschickt.«

 

Nicht erst seit dem Besuch bei den Pardons hatte er das seltsame Gefühl, alle wären jünger als er, ob es sich nun um den Polizeipräsidenten handelte, den Untersuchungsrichter, Beschuldigte, die er verhörte, oder um diesen blonden, liebenswürdigen Doktor Rian, der noch keine vierzig war.

Eigentlich noch ein Junge, höchstens ein Jüngling, aber doch ernst und selbstsicher! Und dieses Bürschchen würde nun in gewisser Weise über Maigrets Schicksal entscheiden.

Dieser Gedanke ärgerte und beunruhigte ihn zugleich, denn er fühlte sich noch nicht wie ein alter, ja nicht einmal wie ein alternder Mann.

Trotz seines jugendlichen Alters bewohnte Doktor Rian eine hübsche Stadtvilla aus rosa Backstein am Boulevard des États-Unis. Die Einrichtung ließ zwar an die Jahrhundertwende denken, aber trotzdem wirkte das Ganze recht luxuriös mit der Marmortreppe, den edlen Teppichen, den polierten Möbeln und dem Dienstmädchen, dessen Häubchen mit englischer Stickerei verziert war.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihre Eltern nicht mehr leben? Woran ist Ihr Vater gestorben?«

In der peniblen Handschrift eines Schreibstubenbeamten notierte der Arzt die Antworten sorgfältig auf einer Karteikarte.

»Und Ihre Mutter? Haben Sie Geschwister? Welche Kinderkrankheiten hatten Sie? Masern? Scharlach?«

Keinen Scharlach, aber Masern als kleiner Junge. Damals lebte seine Mutter noch. Und es war sogar seine wärmste und innigste Erinnerung an sie, denn er sollte sie kurz danach verlieren.

»Haben Sie Sport getrieben? Welchen? Irgendwelche Unfälle? Leiden Sie oft an Angina? Starker Raucher, nicht wahr?«

Der junge Arzt lächelte maliziös, um Maigret zu zeigen, dass er bereits über ihn im Bilde war.

»Ruhig ist Ihr Leben wohl nicht gerade, was?«

»Das kommt darauf an. Manchmal verbringe ich drei Wochen oder einen Monat im Büro, und dann bin ich wieder mehrere Tage unterwegs.«

»Essen Sie regelmäßig?«

»Nein.«

»Halten Sie Diät?«

Hätte er jetzt gestehen müssen, dass er Geschmortes und Gebratenes besonders liebte, Ragouts und Saucen, die nach sämtlichen Gartenkräutern dufteten?

»Sie sind nicht nur ein Gourmet, sondern langen auch ordentlich zu, wie?«

»Ja, ziemlich …«

»Und wie ist es mit Wein? Ein halber Liter, ein Liter am Tag?«

»Ja … Nein. Mehr … Bei Tisch trinke ich gewöhnlich nur zwei, drei Glas und im Büro ab und an ein Bier, das ich mir aus einer Brasserie bringen lasse.«

»Aperitif?«

»Ziemlich häufig, mit dem einen oder anderen Mitarbeiter.«

Und zwar in der Brasserie Dauphine. Nicht um sich zu betrinken, sondern wegen der Atmosphäre, des vertraulichen Nebeneinanders, des Geruchs nach Küche, Anis und Calvados, der sich in den Wänden festgesetzt hatte. Warum schämte er sich plötzlich vor diesem rechtschaffenen, wohlhabenden jungen Mann?

»Kurz, keine Ausschweifungen?«

Er wollte ehrlich sein.

»Es kommt darauf an, was Sie unter Ausschweifungen verstehen. Abends genehmige ich mir gern ein oder zwei Gläschen Pflaumenschnaps, den uns meine Schwägerin aus dem Elsass schickt … Meine Ermittlungen zwingen mich oft, längere Zeit in einem Café oder einem Bistro zu sitzen. Es ist schwer zu erklären. Wenn ich zum Beispiel eine dieser Ermittlungen mit einem Glas Vouvray beginne, weil es nun mal die Spezialität des Lokals ist, in dem ich gerade sitze, dann bleibe ich gern bei der ganzen Untersuchung dabei …«

»Wie viele Gläser täglich?«

Er fühlte sich an seine Kindheit erinnert, an den Beichtstuhl in der Dorfkirche, der nach altem modrigem Holz roch und nach dem Pfarrer mit seinem Schnupftabak.

»Viel?«

»Sie würden wahrscheinlich sagen, es sei viel …«

»Wie lange kann das dauern?«

»Mal drei, mal acht oder zehn Tage, wenn nicht noch länger. Es hängt ein bisschen vom Glück ab …«

Man machte ihm keine Vorwürfe. Er musste keinen Rosenkranz beten. Aber er ahnte, was der blonde Arzt über ihn dachte, der sich im lichtdurchfluteten Zimmer über seinen schönen Mahagonischreibtisch beugte.

»Keine nennenswerten Verdauungsstörungen? Kein Sodbrennen? Kein Schwindel?«

Schwindel ja, aber kein gravierender. Und doch kam es ihm seit ein paar Wochen so vor, als befände er sich in einer zunehmend schwankenden Welt, die ihre Wirklichkeit eingebüßt hat. Auch er selbst schwankte, stand nicht mehr sicher auf den Beinen.

Es war nicht so, dass es ihn wirklich beunruhigte, aber es war unangenehm. Zum Glück dauerte es immer nur ein paar Sekunden. Einmal war ihm schwindelig geworden, als er den Boulevard du Palais überqueren wollte, und er hatte einen Augenblick warten müssen, ehe er sich auf die Straße wagte.

»Ich verstehe.«

Was verstand er? Dass er krank war? Dass er zu viel rauchte und trank? Dass es in seinem Alter höchste Zeit war, Diät zu halten?

Maigret war keineswegs niedergeschlagen. Er lächelte. Jenes Lächeln, das seine Frau, seit sie in Vichy waren, immer wieder an ihm bemerkte. Er schien sich über sich selbst lustig zu machen, war aber trotzdem ein bisschen griesgrämig.

»Lassen Sie uns nach nebenan gehen.«

Diesmal musste er eine gründliche Untersuchung über sich ergehen lassen. Er musste sogar drei Minuten lang die Sprossen einer Trittleiter auf und ab steigen. Im Liegen, Sitzen, Stehen wurde ihm der Blutdruck gemessen, und dann wurde er geröntgt.

»Atmen Sie … Tiefer … Nicht mehr atmen … Einatmen … Luft anhalten … Ausatmen …«

Es war komisch und grässlich, dramatisch und verrückt. Er hatte vielleicht noch dreißig Jahre zu leben, aber ebenso gut konnte man ihm in wenigen Minuten schonend beibringen, dass sein Leben als gesunder, normaler Mensch zu Ende war und er nie wieder seinen Beruf ausüben würde.

All jene, denen man im Park begegnete, an den Heilquellen, unter den prächtigen Bäumen, hatten diese Prozedur durchstehen müssen, sogar jene, die sich am Flussufer in die Sonne legten, die Boulespieler und die Tennisspieler, die man am anderen Ufer des Allier auf dem schattigen Gelände des Sportclubs sah.

»Mademoiselle Jeanne …«

»Sofort, Herr Doktor.«

Die Schwester wusste, was sie bringen musste. All das gehörte zu einer Routine wie jener, der die Maigrets nun folgen würden.

Zuerst die kleine Apparatur, mit der man ihm in die Fingerspitze stach, um Blutstropfen zu entnehmen, die man dann auf verschiedene Reagenzgläser verteilte.

»Entspannen Sie sich. Ballen Sie einen Augenblick die Faust.«

Eine Nadel bohrte sich in die Vene seiner Armbeuge.

»Öffnen Sie die Hand wieder.«

Es war nicht das erste Mal, dass man ihm Blut abnahm, aber diesmal schien es ihm ein besonders feierlicher Akt zu sein.

»Danke. Sie können sich wieder anziehen.«

Kurz darauf waren sie wieder im Sprechzimmer, die Wände voller Regale, in denen viele Bücher und gebundene Jahrgänge medizinischer Fachzeitschriften standen.

»Ich glaube nicht, dass in Ihrem Fall eine strenge Kur notwendig ist. Kommen Sie bitte übermorgen zur gleichen Zeit wieder. Dann liegen mir die Laborergebnisse vor. Ich verschreibe Ihnen bis dahin eine Diät. Sie wohnen im Hotel, nicht wahr? Sie müssen nur diesen Zettel dort abgeben. Man wird sich dann danach richten.«

Eine gedruckte Karteikarte – in einer Spalte die erlaubten, in einer anderen die verbotenen Gerichte. Auf der Rückseite sogar Menüempfehlungen.

»Ich weiß nicht, ob Sie über die Heilwirkung der verschiedenen Quellen Bescheid wissen. Es gibt dazu ein sehr gutes kleines Handbuch, das zwei meiner Kollegen verfasst haben, aber ich glaube, es ist vergriffen … Sie werden zunächst einmal abwechselnd das Wasser aus zwei Quellen trinken, Chomel und Grande Grille. Sie befinden sich im Park.«

Beide waren sie vollkommen ernst. Maigret hatte weder Lust, mit den Schultern zu zucken, noch zu lächeln, während der Arzt etwas auf seinen Notizblock schrieb.

»Stehen Sie früh auf? Und frühstücken Sie gleich? … Ich verstehe. Ihre Frau begleitet Sie?