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Auf Dienstreise in Brüssel folgt Maigret aus einer Laune heraus einem Mann, der ihm in einem Café aufgefallen ist. Er verfolgt ihn bis nach Bremen, wo er ihre Koffer vertauscht. Als der Mann die Verwechslung bemerkt, erschießt er sich. Maigret ist entsetzt über die Folgen seines Streiches.Wer ist der Mann, und was hat ihn zu seiner Tat bewogen? In seinem Koffer befinden sich nur ein gefälschter Ausweis und ein blutiger Anzug. Die Spurensuche führt den Kommissar schließlich nach Lüttich und zu einem Verbrechen, das fast verjährt, aber noch lange nicht vergessen ist.
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Seitenzahl: 159
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Der 3. Fall
Georges Simenon
Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
Roman
Aus dem Französischen von Gerhard Meier
Kampa
Niemand bemerkte etwas. Niemand ahnte etwas von dem Drama, das sich im Wartesaal des kleinen Bahnhofs abspielte, in dem nur sechs Reisende, umgeben von Kaffee-, Bier- und Limonadendunst, trübselig warteten.
Es war fünf Uhr nachmittags, draußen dunkelte es. Die Lampen waren angemacht worden, aber durch die Scheiben konnte man draußen im Grau der Bahnsteige noch erkennen, wie die deutschen und holländischen Bahn- und Zollbeamten sich die Füße vertraten.
Der Bahnhof von Neuschanz liegt nämlich im nördlichsten Zipfel Hollands, direkt an der deutschen Grenze.
Es ist ein unbedeutender Bahnhof, und Neuschanz kaum ein Dorf. Fernzüge verkehren dort keine, lediglich morgens und abends ein paar Bummelbahnen für die deutschen Arbeiter, die wegen der hohen Löhne in holländischen Fabriken angeheuert haben.
Es ist immer das gleiche Ritual. Der deutsche Zug hält am einen Ende des Bahnsteigs, der holländische wartet am anderen Ende.
Die Beamten mit den orangefarbenen Mützen und die in den grünlichen oder preußischblauen Uniformen treffen sich und verbringen zusammen das für die Zollformalitäten vorgesehene Stündchen.
Es kommen jeweils nur rund zwanzig Fahrgäste an, die die Zollbeamten beim Vornamen anreden, sodass die Formalitäten rasch erledigt sind.
Die Reisenden setzen sich ins Bahnhofsbuffet, das so beschaffen ist wie sämtliche Buffets an Grenzbahnhöfen. Die Preise sind in Cent und in Pfennigen angeschrieben. In einer Vitrine werden holländische Schokolade und deutsche Zigaretten feilgeboten. Ausgeschenkt werden Genever und Korn.
Es war stickig. Die Frau an der Kasse dämmerte vor sich hin. Aus der Kaffeemaschine zischte Dampf. Durch die offenstehende Küchentür hörte man das Pfeifen eines Röhrenempfängers, an dem ein Junge herumdrehte.
Familiär ging es zu, und doch genügten ein paar Details, um der Atmosphäre etwas Abenteuerliches, Geheimnisvolles zu verleihen.
Die Uniformen der beiden Länder zum Beispiel! Der Mischmasch an Plakaten, die für Wintersport in Deutschland und für die Messe in Utrecht warben …
In einer Ecke eine Gestalt, ein etwa dreißigjähriger Mann in abgewetzter Kleidung, mit fahlem Gesicht, schlecht rasiert, auf dem Kopf einen schlaffen Hut von undefinierbarem Grau, mit dem er vielleicht schon durch halb Europa gezogen war.
Er war mit dem Zug aus Holland gekommen. Der Schaffner, dem er seinen Fahrschein nach Bremen vorzeigte, hatte ihm auf Deutsch erklärt, er habe die ungünstigste Strecke gewählt, dort verkehrten keine Schnellzüge.
Der Mann gab durch Zeichen zu verstehen, dass er nicht begriff, und bestellte auf Französisch einen Kaffee. Neugierig wurde er von allen gemustert.
Er hatte fiebrige, zu tief in den Höhlen liegende Augen. Beim Rauchen ließ er die Zigarette an der Unterlippe kleben, allein das schon verriet Überdruss oder Herablassung.
Zu seinen Füßen stand ein kleiner gelber Koffer aus Vulkanfiber, wie man ihn in jedem Hausratsgeschäft bekommt. Der Koffer war neu.
Als er seinen Kaffee bekam, holte er aus der Tasche eine Handvoll Münzen: französische, belgische und ein paar silberne aus Holland. Die Kellnerin musste sich das Passende heraussuchen.
Weniger auffallend war ein anderer Reisender, der sich an den Nachbartisch gesetzt hatte, ein großer, korpulenter, breitschultriger Mann. Er trug einen dicken schwarzen Mantel mit Samtkragen, und sein Krawattenknoten war an einem Zelluloidkragen befestigt.
Der erste Mann blickte immer wieder nervös durch die Glastür zu den Bahnbeamten, als fürchtete er, seinen Zug zu verpassen.
Der andere beobachtete ihn ungerührt und zog dabei an seiner Pfeife.
Der Nervöse entfernte sich zwei Minuten von seinem Platz, um die Toilette aufzusuchen. Da zog der andere, ohne sich zu bücken, mit dem Fuß den kleinen Koffer zu sich heran und schob an dessen Stelle einen anderen, der genau gleich aussah.
Eine halbe Stunde später fuhr der Zug los. Die beiden Männer setzten sich in dasselbe Abteil der dritten Klasse, sprachen einander aber nicht an.
In Leer verließen alle Reisenden den Zug, bis auf die zwei.
Um zehn Uhr hielt der Zug unter der riesigen Glaskuppel des Bremer Hauptbahnhofs, dessen Bogenlampen jedes Gesicht fahl wirken ließen.
Der erste Mann sprach anscheinend kein Wort Deutsch, denn er verlief sich mehrmals, betrat zuerst das Restaurant der ersten Klasse und fand erst nach einigem Hin und Her das Buffet der dritten, wo er allerdings nicht Platz nahm.
Er deutete auf Wurstbrötchen in der Auslage und gab zu verstehen, dass er sie mitnehmen wolle, und wieder bezahlte er, indem er eine Handvoll Münzen hinhielt.
Länger als eine halbe Stunde irrte er mit dem kleinen Koffer in der Hand durch die breiten Straßen des Bahnhofsviertels, als suchte er etwas.
Der Mann mit dem Samtkragen, der ihm geduldig folgte, begriff schließlich, als er den anderen links auf ein ärmlicheres Viertel zuhalten sah.
Jener war schlicht und einfach auf der Suche nach einem billigen Hotel. Mit immer müderem Gang begutachtete er misstrauisch mehrere Absteigen, bis er sich endlich für eine der niedrigsten Kategorie entschied, über deren Eingangstür eine große Milchglaskugel hing.
Noch immer hatte er in der einen Hand seinen Koffer, in der anderen die in Pergamentpapier eingewickelten Brötchen.
Es war eine belebte Straße. Der Nebel senkte sich herab und trübte das Licht der Schaufenster.
Der Mann im dicken Mantel bekam nur mit Mühe das Zimmer neben dem seines Mitreisenden.
Ein armseliges Zimmer, gleich allen armseligen Zimmern dieser Welt, mit dem Unterschied vielleicht, dass nirgends die Armut so düster ist wie in Norddeutschland.
Es gab aber zwischen den beiden Zimmern eine Verbindungstür, und an dieser wiederum ein Schloss.
So konnte der Mann beobachten, wie drüben der Koffer geöffnet wurde, der nichts weiter enthielt als alte Zeitungen.
Er sah, wie der Reisende bleich wurde, so bleich, dass es geradezu wehtat. Mit zitternden Händen drehte und wendete er den Koffer und ließ dabei die Zeitungen im Zimmer umherfliegen.
Die Brötchen lagen auf dem Tisch, noch immer eingewickelt, doch der junge Mann, der seit vier Uhr nachmittags nichts gegessen hatte, schenkte ihnen keine Beachtung.
Er rannte auf die Straße hinaus, irrte umher und rief immer wieder dasselbe Wort, mit einem Akzent allerdings, durch den es fast unverständlich wurde:
»Bahnhof!«
Um sich begreiflich zu machen, imitierte er in seiner Panik sogar das Geräusch eines fahrenden Zuges!
Am Bahnhof angelangt, lief er durch die riesige Halle. Irgendwo erblickte er einen Gepäckhaufen und schlich sich heran wie ein Dieb, um zu sehen, ob nicht sein Koffer dabei war.
Jedes Mal, wenn jemand mit einem ähnlichen Koffer vorbeiging, zuckte er zusammen.
Der andere Mann folgte ihm noch immer, ohne seinen bleiernen Blick von ihm abzuwenden.
Erst gegen Mitternacht kehrten sie, einer nach dem anderen, ins Hotel zurück.
Durchs Schlüsselloch war zu sehen, wie der junge Mann, den Kopf zwischen den Händen, zusammengesackt auf einem Stuhl saß. Plötzlich stand er auf und schnippte mit den Fingern, wütend und resigniert zugleich.
Das war auch schon das Ende. Er zog einen Revolver aus der Tasche, riss den Mund auf und drückte ab.
Gleich darauf waren zehn Menschen in dem Zimmer, obwohl Kommissar Maigret, immer noch in seinem Mantel mit dem Samtkragen, sie zurückzudrängen versuchte. Immer wieder hörte man die Wörter »Polizei« und »Mörder«.
Tot wirkte der junge Mann noch erbärmlicher als lebendig. Man sah seine zerlöcherten Schuhsohlen, und das hochgerutschte Hosenbein offenbarte eine unmögliche rote Socke und eine bleiche, haarige Wade.
Als ein Polizist eintraf und ein paar markige Worte sprach, traten alle auf den Flur hinaus, bis auf Maigret, der seine Dienstmarke vorwies.
Der Polizist sprach kein Französisch, und Maigret stammelte ein paar Worte auf Deutsch.
Keine zehn Minuten später hielt vor dem Hotel ein Auto, und Zivilbeamte stürmten herein.
Im Flur war nun statt »Polizei« das Wort »Franzose« zu hören, und Maigret wurde neugierig gemustert. Ein paar Befehle machten dem Treiben ein Ende und kappten alle Gerüchte so gründlich, wie man eine Stromleitung kappt.
Die Hotelgäste gingen wieder auf ihre Zimmer. Unten auf der Straße hielt sich ein schweigendes Grüppchen in respektvoller Entfernung.
Kommissar Maigret hatte noch immer seine Pfeife zwischen den Zähnen, nur war sie inzwischen erloschen. Sein fleischiges Gesicht, wie mit energischem Daumen in zähen Ton modelliert, hatte etwas Banges, Verstörtes an sich.
»Gestatten Sie, dass ich zugleich meine eigenen Ermittlungen durchführe!«, sagte er. »Eins ist gewiss: Dieser Mann hat Selbstmord begangen. Er ist Franzose.«
»Haben Sie ihn beschattet?«
»Es würde zu lange dauern, Ihnen das zu erklären. Der Erkennungsdienst soll Fotos von ihm machen, so scharf wie möglich und von allen Seiten.«
Nach all der Aufregung war es nun ganz ruhig im Zimmer. Sie waren nur noch zu dritt.
Der eine Polizeibeamte war ein junger Mann mit rosigen Wangen und kahl rasiertem Schädel. Er trug einen Cut und eine gestreifte Hose und wischte immer wieder seine goldgefasste Brille sauber. Er trug einen Titel in der Art von »Doktor in Kriminaltechnik«.
Der andere, ebenso rotwangig, aber weniger fein gekleidet, stöberte überall herum und bemühte sich, Französisch zu sprechen.
Gefunden wurde nichts weiter als ein Reisepass auf den Namen Louis Jeunet, geboren in Aubervilliers, Maschinenschlosser.
Der Revolver war ein Fabrikat der belgischen Firma Herstal.
Bei der Kriminalpolizei am Quai des Orfèvres wäre niemand auf den Gedanken gekommen, dass Maigret in jener Nacht stumm und wie vom Schicksal erschlagen seinen deutschen Kollegen zuschaute, zur Seite trat, um den Fotografen und Gerichtsmedizinern Platz zu machen, und schließlich, mit noch immer erloschener Pfeife, stur ausharrte, bis er gegen drei Uhr morgens die armselige Beute ausgehändigt bekam: die Kleider des Toten, seinen Reisepass und ein Dutzend Fotos, die durch den Magnesiumblitz erst recht gespenstisch wirkten.
In gewisser Weise – sogar sehr gewisser Weise – hatte er das Gefühl, soeben einen Menschen getötet zu haben.
Den er nicht einmal kannte! Er wusste nichts über ihn! Es gab keinerlei Beweis dafür, dass dieser Mann sich etwas hatte zuschulden kommen lassen!
Begonnen hatte alles am Vortag in Brüssel, und zwar völlig überraschend. Maigret war dort auf Dienstreise. Er hatte mit der belgischen Sûreté über von Frankreich ausgewiesene italienische Flüchtlinge konferiert, deren Umtriebe Anlass zur Sorge gaben.
Eigentlich war es mehr eine Vergnügungsreise! Die Besprechungen waren kürzer ausgefallen als erwartet, und dem Kommissar blieben ein paar Stunden zur freien Verfügung.
Aus einer Laune heraus betrat er ein kleines Café in der Rue Montagne aux Herbes Potagères.
Es war zehn Uhr morgens und das Café so gut wie leer. Während der joviale Wirt munter auf ihn einredete, fiel Maigret ganz hinten im Halbdunkel ein Gast auf, der sich einer seltsamen Tätigkeit widmete.
Der Mann war heruntergekommen, ganz von der Art der »Berufsarbeitslosen« auf der Suche nach einem Gelegenheitsverdienst, wie man sie in jeder Großstadt antrifft.
Doch dann zog er aus der Jackentasche ein Bündel Tausend-Franc-Scheine, zählte sie, wickelte sie in Packpapier, schnürte daraus ein Päckchen und schrieb eine Adresse darauf.
Mindestens dreißig Scheine! Dreißigtausend belgische Franc! Maigret stutzte, und als der Unbekannte seinen Kaffee bezahlte und das Lokal verließ, ging er ihm nach bis zum nächsten Postamt.
Dort konnte er über die Schulter des Mannes hinweg die Adresse lesen, in einer Schrift geschrieben, die alles andere als unbeholfen wirkte:
Monsieur Louis Jeunet
18, rue de la Roquette
Paris
Noch frappierender aber war der Vermerk: Drucksache.
Da wurden dreißigtausend Franc verschickt, als handelte es sich um Zeitungspapier, gewöhnliche Prospekte! Und nicht einmal als Einschreiben! Der Postbeamte wog die Sendung und sagte:
»Siebzig Centime.«
Der Absender zahlte und ging hinaus. Maigret notierte sich den Namen und die Adresse und folgte dem Mann. Ihn amüsierte der Gedanke, er könnte der belgischen Polizei eventuell ein Geschenk machen. Nachher würde er zum Chef der Brüsseler Sûreté gehen und beiläufig sagen:
»Übrigens, vorhin, bei einem Glas Gueuze-Lambic, habe ich einen Gauner erwischt. Sie brauchen ihn nur noch da und da hopszunehmen.«
Maigret war bester Dinge. Sanft schien die Herbstsonne auf die Stadt herab, und immer wieder wehte einem ein Schwall warmer Luft ins Gesicht.
Gegen elf Uhr kaufte der Unbekannte in einem Laden in der Rue Neuve für zweiunddreißig Franc einen Koffer aus Lederimitat – oder gar Vulkanfiber-Imitat! Aus Jux kaufte Maigret einen ebensolchen, ohne zu überlegen, worauf das hinauslaufen sollte.
In einer Gasse, deren Namen der Kommissar nicht sah, betrat der Mann um halb elf ein Hotel. Kurz darauf kam er wieder heraus und stieg am Nordbahnhof in den Zug nach Amsterdam.
Diesmal zögerte der Kommissar. Ihm war, als hätte er das Gesicht schon mal gesehen. Das beeinflusste wohl seine Entscheidung.
»An der Sache ist bestimmt nichts weiter dran! Falls aber doch …«
Nichts rief ihn dringend nach Paris. An der holländischen Grenze verdutzte ihn, mit welchem Geschick der Mann seinen Koffer auf das Waggondach hievte, bevor der Zug beim Zoll anhielt.
»Hm, mal sehen, wo er hinwill!«
In Amsterdam blieb er aber nicht, sondern erstand dort lediglich ein Billett dritter Klasse nach Bremen. So ging es also durch die holländische Tiefebene mit ihren Kanälen. Die Segelboote schienen mitten durch die Felder zu gleiten.
Neuschanz … Bremen …
Den Koffertausch hatte Maigret auf gut Glück vorgenommen. Stundenlang hatte er vergeblich versucht, den Mann in eine der polizeiüblichen Kategorien einzuordnen.
»Für einen Ganoven internationalen Kalibers ist er zu nervös! Ist er etwa nur ein Handlanger, der seinen Hintermännern zum Verhängnis wird? Ein Verschwörer? Ein Anarchist? Er spricht nur Französisch, und in Frankreich gibt es kaum noch Verschwörer, und militante Anarchisten auch nicht. Also ein kleiner Betrüger, ein Einzelgänger?«
Hätte aber ein kleiner Betrüger so armselig gelebt, nachdem er dreißigtausend Franc in Packpapier verschickt hatte?
Der Mann trank keinen Alkohol. An Bahnhöfen, an denen sie länger hielten, begnügte er sich mit Kaffee und mal einem Brötchen oder einer Brioche.
Der Streckenverlauf war ihm nicht klar, denn immer wieder fragte er unruhig nach, ob er auch wirklich in der richtigen Richtung unterwegs sei.
Sehr kräftig war er nicht, seine Hände aber waren von körperlicher Arbeit gezeichnet. Er hatte schwarze, zu lange Fingernägel, was wohl darauf verwies, dass er längere Zeit nicht gearbeitet hatte.
Sein Teint ließ auf Anämie schließen, vielleicht aber auch bloß auf bittere Armut.
Allmählich vergaß Maigret, was für ein Schnippchen er der belgischen Polizei schlagen wollte, indem er ihr einen Übeltäter frei Haus lieferte.
Die Sache faszinierte ihn. Er suchte nach Rechtfertigungen:
»Amsterdam ist nicht so weit weg von Paris!«
Später dann:
»Was soll’s, von Bremen bin ich mit dem Schnellzug in dreizehn Stunden zurück!«
Der Mann war tot. Er trug keinerlei kompromittierende Papiere bei sich, nichts, was über sein Tun Aufschluss gegeben hätte, mit Ausnahme eines gewöhnlichen Revolvers von der gängigsten Marke Europas.
Er schien sich nur umgebracht zu haben, weil man ihm seinen Koffer gestohlen hatte! Warum hätte er sich am Bahnhofsbuffet Brötchen gekauft, wenn er sie nicht hätte essen wollen?
Und wozu diese lange Fahrt von Brüssel, wo er sich doch genauso gut hätte erschießen können wie in einem deutschen Hotel?
Es blieb nur sein Koffer, durch den sich das Rätsel vielleicht lösen ließ. Als der Tote, nackt in ein Leichentuch gewickelt, in einem Dienstfahrzeug davongeschafft wurde, nachdem er untersucht, fotografiert und von Kopf bis Fuß inspiziert worden war, sperrte sich der Kommissar daher in sein Zimmer ein.
Mitgenommen sah er aus. Er stopfte sich eine Pfeife, mit kurzen Daumenstößen, wie es seine Art war, aber das tat er nur, um sich den Anschein von Ruhe zu geben.
Das leidende Gesicht des Toten ging ihm nicht aus dem Kopf. Immer wieder sah er ihn vor sich, wie er mit den Fingern schnippte und dann plötzlich den Mund aufriss, um sich die Kugel zu geben.
Dieses Gefühl der Beklemmung, ja beinahe der Schuld war so stark, dass es ihn Überwindung kostete, den Koffer auch nur zu berühren.
Dabei enthielt dieser doch wohl die Rechtfertigung für sein Tun! Er würde darin den Beweis finden, dass der Mann, mit dem er aus einer Schwäche heraus Mitleid hatte, ein Betrüger war, ein gefährlicher Verbrecher, womöglich ein Mörder?
Die Schlüssel waren immer noch mit einer Schnur an den Griff gebunden, wie in dem Geschäft in der Rue Neuve. Maigret hob den Deckel und nahm zuerst einen dunkelgrauen Anzug heraus, der weniger abgetragen war als der, den der Mann zuletzt getragen hatte.
Darunter lagen, zusammengeknüllt, zwei schmutzige Hemden, an Kragen und Handgelenken abgewetzt.
Dann noch ein falscher Kragen mit dünnen rosafarbenen Streifen, der mindestens zwei Wochen lang getragen worden war, denn wo er den Hals seines Besitzers berührt hatte, war er ganz schwarz. Schwarz und ausgefranst.
Das war alles! Der Koffer zeigte sein grünes Einlegepapier und die zwei Riemen, die nicht benutzt worden waren, mit nagelneuen Schnallen.
Maigret schüttelte die Kleider, wühlte in den Taschen. Sie waren leer!
Eine undefinierbare Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er wollte, nein, er musste irgendetwas finden.
Der Mann hatte doch Selbstmord begangen, weil man ihm seinen Koffer gestohlen hatte. Und der enthielt nichts weiter als einen alten Anzug und schmutzige Wäsche!
Keinerlei Papiere! Nichts, was man als Dokument hätte bezeichnen können! Kein einziger Hinweis auf die Vergangenheit des Toten!
Das Zimmer war frisch tapeziert, mit einer billigen Tapete, auf der in grellen Farben Blumen prangten. Die Möbel dagegen waren abgestoßen, schief, ramponiert, und der Tisch mit einem Kattuntuch bedeckt, das man nur widerwillig berührt hätte.
Die Straße war leer. Die Geschäfte hatten ihre Läden geschlossen. An der hundert Meter entfernten Kreuzung rauschte in beruhigendem Gleichmaß der Verkehr vorbei.
Maigret sah zur Verbindungstür, zum Schlüsselloch, durch das er nicht mehr zu schauen wagte. Er erinnerte sich, dass die Experten auf den Boden nebenan vorsorglich den Umriss der Leiche gezeichnet hatten.
Den zerknitterten Anzug über dem Arm, ging er hinüber, auf Zehenspitzen, um die anderen Hotelgäste nicht zu wecken, vielleicht aber auch, weil das Geheimnis so sehr auf ihm lastete.
Die Silhouette auf dem Boden war zwar unförmig, doch die Maße stimmten.
Als er versuchte, Jacke, Hose und Weste darauf auszulegen, blitzten seine Augen auf, und unwillkürlich biss er auf seine Pfeife.
Die Kleidungsstücke waren mindestens drei Nummern zu groß! Sie gehörten nicht dem Toten!
Was der Vagabund so eifersüchtig in seinem Koffer hütete und was ihm so teuer war, dass er sich umbrachte, als es verloren schien, war der Anzug eines anderen!
In der Bremer Lokalpresse stand lediglich, ein Franzose namens Louis Jeunet, seines Zeichens Mechaniker, habe in einem Hotel der Stadt Selbstmord begangen, vermutlich aus bitterer Armut heraus.
Als diese Meldung erschien, war sie allerdings schon nicht mehr ganz zutreffend. Maigret hatte nämlich den Pass des Toten durchgeblättert, und dabei war ihm etwas aufgefallen.
Auf der sechsten, der Personenbeschreibung vorbehaltenen Seite mit den Kategorien Alter, Größe, Haare, Stirn, Augenbrauen etc. stand Stirn vor Haare anstatt danach.
Ein halbes Jahr zuvor hatte die Sûreté in Saint-Ouen eine wahre Fälscherwerkstatt ausgehoben, die Pässe, Soldbücher, Fremdenausweise und andere offizielle Dokumente produzierte. Ein Teil davon war beschlagnahmt worden, doch Hunderte waren im Umlauf, zum Teil seit Jahren, und mangels Buchführung waren die Fälscher nicht imstande, eine Liste ihrer Kunden aufzustellen.
Einer davon aber war Louis Jeunet gewesen, das ging aus seinem Pass hervor, und somit war erwiesen, dass er nicht Louis Jeunet hieß.
Das einzig Handfeste an den Ermittlungen löste sich damit in Luft auf. Der Mann, der sich in jener Nacht umgebracht hatte, war nun nichts anderes als ein Unbekannter!
Gegen neun Uhr traf der Kommissar, ausgestattet mit sämtlichen Vollmachten, im öffentlich zugänglichen Leichenschauhaus ein.
Vergeblich suchte er nach einem dunklen Eckchen für seine Beobachtungen, von denen er sich ohnehin nicht viel versprach. Das Leichenschauhaus war modern, wie der größte Teil der Stadt und alle öffentlichen Gebäude.