Maigret und der Messerstecher - Georges Simenon - E-Book

Maigret und der Messerstecher E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

An einem regnerischen Abend, die Maigrets sind bei den Pardons zum Essen eingeladen, wird in der Rue Popincourt ein junger Mann erstochen. Der Student aus wohlhabendem Hause hatte ein merkwürdiges Hobby: Er durchstreifte die Stadt und Cafés und nahm dabei heimlich Gespräche auf. Auf dem Band, das Maigret im Rekorder des Toten findet, ist eine brisante Unterhaltung zu hören: Drei Ganoven planen einen Einbruch in eine Villa vor den Toren von Paris. Aber ist auch der Mörder unten ihnen? Maigrets 70. Fall spielt im 11. Pariser Arrondissement.

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Der 70. Fall

Georges Simenon

Maigret und der Messerstecher

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Cornelia Künne

Kampa

1

Zum ersten Mal, seit sie allmonatlich bei den Pardons zum Essen eingeladen waren, sollte Maigret der Abend am Boulevard Voltaire in fast bedrückender Erinnerung bleiben.

Begonnen hatte es schon am Boulevard Richard-Lenoir. Seine Frau hatte telefonisch ein Taxi bestellt, denn seit drei Tagen regnete es, wie es laut Radio seit fünfunddreißig Jahren nicht geregnet hatte. Es goss in Strömen, die eisigen Tropfen peitschten Gesicht und Hände und klatschten einem die feuchte Kleidung auf den Leib.

Auf den Treppen, in den Fahrstühlen und in den Büros hinterließen die Schuhsohlen dunkle Flecken, und die Leute waren übelster Laune.

Sie waren hinuntergegangen und hatten fast eine halbe Stunde – frierend – im Hauseingang warten müssen, bis das Taxi endlich kam. Und dann hatten sie mit dem Chauffeur auch noch lange verhandeln müssen, bis er bereit war, eine so kurze Strecke zu fahren.

»Entschuldigen Sie, dass wir zu spät kommen …«

»In diesen Tagen kommen doch alle zu spät … Ist es Ihnen recht, wenn wir gleich zu Tisch gehen?«

In der Wohnung war es warm und behaglich, und man fühlte sich umso geborgener, als man den Sturm an den Läden rütteln hörte. Madame Pardon hatte bœuf bourguignon zubereitet, wie nur sie allein es konnte, und dieses zugleich solide und raffinierte Gericht hatte zunächst die Unterhaltung bestimmt.

Dann hatte man über die regionale Küche gesprochen, über das cassoulet, die potée lorraine, über Kutteln nach Art von Caen, bouillabaisse …

»Im Grunde sind die meisten dieser Rezepte aus der Not geboren. Wenn es im Mittelalter schon Kühlschränke gegeben hätte …«

Wovon hatten sie sonst noch gesprochen? Die beiden Frauen hatten sich wie immer in einer Ecke des Wohnzimmers niedergelassen, wo sie sich leise miteinander unterhielten. Pardon hatte Maigret in sein Sprechzimmer geführt, um ihm die seltene Ausgabe eines Buchs zu zeigen, die ihm einer seiner Patienten geschenkt hatte. Sie hatten sich gesetzt, und Madame Pardon hatte ihnen Kaffee und Calvados gebracht.

Pardon war erschöpft. Schon seit geraumer Zeit wirkte er müde und abgespannt, und manchmal lag in seinen Augen etwas wie Resignation. Dennoch arbeitete er täglich fünfzehn Stunden, ohne je zu klagen oder zu schimpfen. Vormittags war er in seiner Praxis, nachmittags schleppte er seine schwere Arzttasche von Straße zu Straße, und wenn er dann zurückkam, war das Wartezimmer wieder voll.

»Wenn ich einen Sohn hätte, der Arzt werden wollte … ich glaube, ich würde versuchen, es ihm auszureden …«

Maigret hätte fast beschämt die Augen abgewandt. Dies aus Pardons Mund zu hören, kam völlig unerwartet, denn er war Arzt mit Leib und Seele, in einem anderen Beruf konnte man ihn sich gar nicht vorstellen.

Aber an diesem Abend war er entmutigt und pessimistisch und ließ sich vor allem dazu hinreißen, seinen Pessimismus offen zu zeigen.

»Man ist dabei, aus uns Beamte zu machen und die Medizin in eine große Maschinerie zu verwandeln, die allen die mehr oder weniger richtigen Heilmittel liefert …«

Maigret steckte sich seine Pfeife an und beobachtete ihn stumm.

»Nicht nur Beamte«, fuhr der Arzt fort, »sondern auch noch schlechte Beamte, denn wir können nicht mehr jedem Patienten die notwendige Zeit widmen … Manchmal schäme ich mich, wenn ich sie zur Tür geleite, sie fast hinausschiebe. Ich sehe ihren verunsicherten, fast flehenden Blick. Ich spüre, dass sie von mir etwas anderes erwartet haben, Fragen, Worte, die Mut machen, ein paar Minuten, in denen ich mich nur mit ihrem Fall beschäftige …«

Er hob sein Glas.

»Auf Ihr Wohl.«

Er zwang sich zu einem Lächeln, aber es wirkte aufgesetzt und passte nicht zu ihm.

»Wissen Sie, wie viele Patienten ich heute hatte? Zweiundachtzig! Und das ist nichts Außergewöhnliches … Und danach müssen wir noch die verschiedensten Formulare ausfüllen, und damit geht der Abend dahin … Verzeihen Sie, wenn ich Sie damit langweile. Sie haben am Quai des Orfèvres sicher auch Ihre Sorgen …«

Worüber hatten sie danach gesprochen? Über alltägliche Dinge, an die man sich schon am nächsten Tag nicht mehr erinnert. Pardon saß hinter seinem Schreibtisch und rauchte eine Zigarette, Maigret auf dem harten Armstuhl, auf dem sonst die Patienten saßen. In diesem Raum herrschte ein besonderer Geruch, den der Kommissar von seinen früheren Besuchen gut kannte. Ein Geruch, der ein wenig an den auf einer Polizeiwache erinnerte. Ein Armeleutegeruch.

Pardons Patienten wohnten im Viertel und kamen fast alle aus sehr bescheidenen Verhältnissen.

Die Tür öffnete sich, und Eugénie, das Hausmädchen, das schon so lange bei den Pardons war, dass es fast zur Familie gehörte, meldete einen Besucher:

»Der Italiener ist da, Monsieur.«

»Welcher Italiener? Pagliati?«

»Ja, Monsieur … Er ist ganz außer sich. Es scheint sehr dringend zu sein.«

Es war halb elf. Pardon stand auf und öffnete die Tür zum tristen Wartezimmer, in dem auf einem Tischchen verstreut Zeitschriften lagen.

»Wo fehlt’s denn, Gino?«

»Mir fehlt nichts, Herr Doktor, und meiner Frau auch nicht. Aber draußen auf dem Gehsteig liegt ein Verletzter, der wahrscheinlich sterben wird, wenn …«

»Wo?«

»In der Rue Popincourt, nur hundert Meter von hier.«

»Haben Sie ihn gefunden?«

Pardon war schon im Flur, zog seinen schwarzen Mantel an und holte seine Tasche, und Maigret schlüpfte wie selbstverständlich ebenfalls in seinen Mantel. Der Arzt öffnete die Wohnzimmertür einen Spaltbreit.

»Wir sind gleich wieder da. Ein Verletzter in der Rue Popincourt.«

»Nimm deinen Regenschirm mit.«

Er nahm ihn nicht mit. Es wäre ihm lächerlich vorgekommen, sich mit einem Regenschirm in der Hand über einen Menschen zu beugen, der bei strömendem Regen auf dem Gehsteig im Sterben lag.

Gino war Neapolitaner. Er hatte an der Ecke Rue du Chemin-Vert und Rue Popincourt ein Lebensmittelgeschäft. Genauer gesagt führte seine Frau Lucia den Laden, während er in einem Hinterraum frische Nudeln, Ravioli und Tortellini herstellte. Das Ehepaar war im Viertel sehr beliebt. Pardon hatte Gino wegen seines Blutdrucks behandelt.

Der Nudelmacher war ein stämmiger Mann mit kurzen Beinen und rotem Gesicht.

»Wir waren bei meinem Schwager in der Rue de Charonne. Meine Schwägerin erwartet ein Kind, es kann jeden Augenblick so weit sein, dass sie in die Klinik muss. Wir sind durch den Regen gegangen, als ich …«

Die Hälfte seiner Worte verlor sich im Sturm, in den Rinnsteinen flossen regelrechte Gebirgsbäche, über die man hinwegspringen musste, und die wenigen vorbeifahrenden Wagen ließen meterhohe schmutzige Fontänen aufspritzen.

Die Rue Popincourt bot einen ungewohnten Anblick. Keine Menschenseele war auf der Straße, und außer in einem kleinen Bistro waren nur noch wenige Fenster erleuchtet.

Etwa fünfzig Meter von diesem Bistro entfernt stand eine rundliche Frau reglos unter einem Regenschirm, den der Wind verbog, und im Lichtschein einer Laterne sah man zu ihren Füßen eine Gestalt liegen.

Das weckte alte Erinnerungen in Maigret. Lange ehe er Haupkommissar wurde, als er bloß ein gewöhnlicher Inspektor war, war er oft als Erster am Tatort, wenn es eine Schlägerei oder Mord und Totschlag gegeben hatte.

Der Mann war jung. Er schien kaum zwanzig Jahre alt zu sein, trug eine Lederjacke und hatte schulterlanges Haar. Er war nach vorn gefallen, und seine Jacke war hinten mit Blut befleckt.

»Haben Sie die Polizei gerufen?«, fragte Maigret.

Pardon, der neben dem Verletzten kniete, schaltete sich ein:

»Sie sollen einen Krankenwagen schicken.«

Das bedeutete, dass der Unbekannte noch lebte, und Maigret ging auf das Licht zu, das er in fünfzig Meter Entfernung sah. Auf dem schwach erleuchteten Fenster stand: Chez Jules. Er stieß die Glastür auf, die mit einem cremefarbenen Vorhang bespannt war, und trat in eine Atmosphäre ein, die so friedlich war, dass sie unwirklich wirkte. Man hätte glauben können, ein Genrebild vor sich zu sehen.

Es war ein altmodisches Bistro mit Sägespänen auf dem Fußboden, und es roch stark nach Wein und Schnaps. Vier ältere Männer, von denen drei ziemlich beleibt waren und rote Gesichter hatten, spielten Karten.

»Kann ich mal telefonieren?«

Die Männer sahen ihn entgeistert an, als er zu dem Wandtelefon neben der Theke ging, hinter der aufgereiht etliche Flaschen standen.

»Hallo … Das Kommissariat vom elften?«

Es war ganz in der Nähe, an der Place Léon-Blum, der ehemaligen Place Voltaire.

»Hier Maigret. In der Rue Popincourt liegt ein Verletzter … Ecke Rue du Chemin-Vert … Wir brauchen einen Krankenwagen …«

Da kam Leben in die vier Männer, als würden sich plötzlich die Figuren auf einem Gemälde bewegen. Die Karten behielten sie in den Händen.

»Was ist los?«, fragte derjenige in Hemdsärmeln, der gewiss der Wirt war. »Wer ist verletzt?«

»Ein junger Mann.«

Maigret legte Kleingeld auf die Theke und wandte sich zur Tür.

»Ein großer Hagerer in Lederjacke?«

»Ja.«

»Der war vor einer Viertelstunde noch hier.«

»Allein?«

»Ja.«

»Wirkte er nervös?«

Der Wirt, wahrscheinlich war er Jules, blickte die anderen fragend an.

»Nein, nicht besonders.«

»Ist er lange geblieben?«

»Etwa zwanzig Minuten.«

Als Maigret wieder draußen war, sah er neben dem Verletzten zwei Polizisten mit Rädern stehen, denen der Regen von der Pelerine tropfte. Pardon war wieder aufgestanden.

»Ich kann nichts tun … Er hat mehrere Messerstiche abbekommen. Das Herz ist nicht getroffen, und auf den ersten Blick auch keine Schlagader, sonst wäre da noch mehr Blut …«

»Wird er wieder zu sich kommen?«

»Ich weiß es nicht. Ich wage es nicht, ihn umzudrehen. Erst im Krankenhaus wird man …«

Die beiden Wagen trafen fast zur gleichen Zeit ein, der der Polizei und der Krankenwagen. Die Kartenspieler standen, um nicht nass zu werden, in der Tür des kleinen Lokals und sahen von Weitem zu. Nur der Wirt hielt sich eine Tüte über Kopf und Schultern und kam näher. Er erkannte die Lederjacke sofort.

»Ja, das ist er …«

»Hat er nichts zu Ihnen gesagt?«

»Nein, nur einen Cognac bestellt.«

Pardon gab den Sanitätern Instruktionen.

»Was ist denn das da?«, fragte einer der Polizisten und deutete auf einen dunklen Gegenstand, der wie ein Fotoapparat aussah.

Der Verletzte trug ihn an einem Riemen um den Hals. Es war kein Fotoapparat, sondern ein Tonbandgerät. Es war vom Regen schon ganz nass, und als man den Mann auf die Trage hob, löste Maigret schnell den Riemen.

»Zum Saint-Antoine.«

Pardon stieg mit einem der Sanitäter hinten in den Krankenwagen, während der andere sich ans Steuer setzte.

»Wer sind Sie eigentlich?«, fragte er Maigret.

»Polizei …«

»Sie können sich vorne neben mich setzen …«

Das Viertel lag völlig verlassen da. Kaum fünf Minuten später war der Krankenwagen, gefolgt vom Wagen des Kommissariats, beim Krankenhaus Saint-Antoine.

Auch hier wurden wieder alte Erinnerungen in Maigret wach: die erleuchtete Milchglaskugel über der Notaufnahme, der lange dämmrige Flur, in dem zwei oder drei Menschen schicksalsergeben und stumm auf Bänken warteten und jedes Mal zusammenzuckten, wenn eine Tür auf- und zuging und jemand im weißen Kittel von einem Zimmer ins andere ging.

»Haben Sie seinen Namen und seine Adresse?«, fragte eine ältere Schwester, die hinter dem Schalter in einem Glaskäfig saß.

»Noch nicht …«

Ein Arzt kam, vom Alarm aufgeschreckt, hinten aus dem Flur und drückte widerwillig seine Zigarette aus. Pardon stellte sich vor.

»Haben Sie ihn schon irgendwie behandelt?«

Der Verletzte, der jetzt auf einem fahrbaren Bett lag, wurde in einen Aufzug geschoben, und Pardon, der ihm folgte, machte Maigret ein Zeichen, um ihm zu verstehen zu geben:

Ich bin gleich wieder da.

»Wissen Sie schon etwas, Herr Kommissar?«

»Nicht mehr als Sie. Ich war bei einem befreundeten Arzt zum Essen, der in dem Viertel wohnt, als er gerufen wurde, weil ein Verletzter in der Rue Popincourt auf dem Gehsteig lag.«

Der Polizist machte sich Notizen. Knapp zehn Minuten vergingen in bedrückendem Schweigen, und schon erschien Pardon wieder hinten im Flur. Das war ein schlechtes Zeichen. Er machte ein besorgtes Gesicht.

»Tot?«

»Noch ehe man ihm die Kleider ausziehen konnte … Lungenblutung. Ich hatte es befürchtet, als ich seinen Atem hörte …«

»Messerstiche?«

»Ja, mehrere … eine ziemlich schmale Klinge. In wenigen Minuten wird man Ihnen den Inhalt seiner Taschen bringen. Sie werden ihn dann wohl ins Gerichtsmedizinische Institut bringen lassen?«

Diese Seite von Paris war Maigret vertraut. Er hatte sie jahrelang miterlebt, aber sich doch nie ganz daran gewöhnt. Was tat er hier? Ein Messerstich, mehrere Messerstiche, das ging ihn nichts an, das passierte jede Nacht, und am Morgen würde es in den täglichen Polizeiberichten dann nur in drei oder vier Zeilen erwähnt.

Der Zufall hatte es gewollt, dass er an diesem Abend ganz in der Nähe gewesen war, und deshalb fühlte er sich ein wenig verantwortlich. Der italienische Nudelmacher hatte nicht die Zeit gehabt, ihm zu sagen, was er gesehen hatte. Gewiss war er jetzt bei seiner Frau zu Hause. Sie wohnten im Zwischenstock über dem Laden.

Eine Schwester kam mit einem Korb in der Hand auf die kleine Gruppe zu.

»Wer führt in diesem Fall die Ermittlungen?«

Die Polizisten in Zivil sahen Maigret an, und so sagte sie zu ihm:

»Das hat man in seinen Taschen gefunden. Sie müssen eine Quittung unterschreiben.«

In dem Korb lagen eine kleine Brieftasche, ein Kugelschreiber, eine Pfeife, ein Tabakbeutel mit sehr hellem holländischem Tabak, ein Taschentuch, ein paar Münzen und zwei Tonbandkassetten.

In der Brieftasche steckten ein Personalausweis und ein Führerschein auf den Namen Antoine Batille, einundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in Paris, Quai d’Anjou. Das war auf der Île Saint-Louis, unweit des Pont Marie. Außerdem war ein Studentenausweis darin.

»Sagen Sie, Pardon, würden Sie meine Frau bitten, allein nach Hause zurückzufahren und zu Bett zu gehen?«

»Fahren Sie hin?«

»Es muss sein. Er hat bestimmt bei seinen Eltern gewohnt, und ich muss sie benachrichtigen.«

Er wandte sich an den Polizisten.

»Sie könnten Pagliati verhören, den italienischen Lebensmittelhändler aus der Rue Popincourt, und die vier Männer, die im Chez Jules Karten gespielt haben, wenn sie noch dort sind …«

Wie immer bedauerte er, nicht alles selbst machen zu können. Er wäre gern noch einmal in die Rue Popincourt gefahren und in das kleine Bistro gegangen, in dem die Kugellampe von Rauchschwaden eingehüllt war und die Kartenspieler wahrscheinlich noch spielten.

Er hätte auch gern den Italiener und seine Frau vernommen, und auch die kleine Alte, die er nur flüchtig in einem erleuchteten Fenster im zweiten Stock gesehen hatte.

Hatte sie schon dort gestanden, als der Mord geschah?

Aber zunächst einmal mussten die Eltern benachrichtigt werden. Er rief den wachhabenden Inspektor im Kommissariat des 11. Arrondissements an, um ihm Bescheid zu sagen.

»Hat er sehr gelitten?«, fragte er Pardon.

»Ich glaube nicht. Er hat sofort das Bewusstsein verloren … Draußen auf dem Gehsteig konnte ich nichts machen …«

Die Brieftasche war aus erstklassigem Krokodilleder, der Kugelschreiber aus Silber, das A im Taschentuch von Hand gestickt.

»Wären Sie bitte so freundlich, mir ein Taxi zu bestellen, Madame?«

Sie tat es von ihrer Loge aus, aber ohne jede Liebenswürdigkeit. Es war sicher nicht besonders angenehm, ganze Nächte an einem so trostlosen Ort zu verbringen und darauf zu warten, dass die Tragödien des Viertels im Krankenhaus ihr Ende fanden.

Wie durch ein Wunder war das Taxi kaum drei Minuten später da.

»Ich bringe Sie nach Hause, Pardon …«

»Halten Sie sich damit nicht auf …«

»Wissen Sie, bei der Nachricht, die ich überbringen muss …«

Die Île Saint-Louis kannte Maigret besonders gut, weil sie früher einmal an der Place des Vosges gewohnt hatten und er damals abends oft Arm in Arm mit seiner Frau um die Insel spaziert war.

Er klingelte an einem grün gestrichenen Tor. Am Straßenrand standen Autos, zumeist Luxuslimousinen. Eine kleine Tür öffnete sich in dem großen Tor.

»Monsieur Batille, bitte?«, fragte er, vor einer Art Guckloch stehend.

Eine verschlafene Frauenstimme antwortete nur:

»Zweiter Stock links.«

Er nahm den Aufzug, von seinem Mantel und seiner Hose tropfte der Regen und bildete zu seinen Füßen eine Pfütze. Wie die meisten Häuser auf der Insel war auch dieses renoviert worden. Die Wände waren aus weißem Stein, das Licht drang aus feinziselierten Bronzefackeln. Auf dem marmornen Treppenabsatz lag eine Fußmatte mit einem großen roten B darauf.

Er läutete und hörte es in der Ferne klingeln. Aber es dauerte eine ganze Weile, bis die Tür sich leise öffnete.

Ein adrettes junges Dienstmädchen sah ihn neugierig an.

»Ich möchte Monsieur Batille sprechen.«

»Den Vater oder den Sohn?«

»Den Vater …«

»Die Herrschaften sind noch nicht zurück, und ich weiß nicht, wann sie wiederkommen.«

Er zeigte ihr seine Dienstmarke.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Kommissar Maigret von der Kriminalpolizei.«

»Und Sie möchten Monsieur zu dieser Uhrzeit noch sprechen? Weiß er davon?«

»Nein.«

»Ist es so dringend?«

»Es ist wichtig …«

»Es ist fast Mitternacht. Die Herrschaften sind ins Theater gegangen.«

»Dann besteht ja die Möglichkeit, dass sie bald zurückkommen.«

»Wenn sie nicht danach noch mit Freunden essen gehen, was häufig vorkommt.«

»Ist der junge Monsieur Batille nicht mitgegangen?«

»Er geht nie mit ihnen aus.«

Man spürte ihre Verlegenheit. Sie wusste nicht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte, und er wirkte gewiss einigermaßen kläglich, klatschnass vom Regen, wie er war. Hinter ihr sah er eine große Diele mit einem hellblauen, fast türkisfarbenen Teppichboden.

»Wenn es wirklich dringend ist …«

Sie entschied sich, ihn einzulassen.

»Möchten Sie mir Ihren Hut und Ihren Mantel geben?«

Sie warf einen besorgten Blick auf seine Schuhe. Sie konnte ihn ja nicht bitten, sie auszuziehen.

»Hier entlang …«

Sie hängte seinen Mantel in die Garderobe und zögerte, ob sie ihn in den Salon führen sollte, der links von der Diele lag.

»Es macht Ihnen doch nichts aus, hier zu warten?«

Er verstand das sehr gut. Die Wohnung war fast zu raffiniert luxuriös. Die Sessel im Salon waren weiß, und die Bilder an den Wänden stammten aus Picassos Blauer Periode, von Renoir und von Marie Laurencin.

Das junge und hübsche Dienstmädchen fragte sich offensichtlich, ob es ihn allein lassen oder ihn im Auge behalten sollte, denn der Dienstmarke, die er vorgezeigt hatte, schien das Mädchen nicht recht zu trauen.

»Ist Monsieur Batille Geschäftsmann?«

»Kennen Sie ihn nicht?«

»Nein.«

»Wissen Sie nicht, dass er der Besitzer der Parfum- und Kosmetikfirma Mylène ist?«

Er kannte sich so wenig mit Kosmetik aus! Und Madame Maigret, die nur ein wenig Puder benutzte, konnte ihm da auch nicht weiterhelfen.

»Wie alt ist er?«

»Vierundvierzig? Fünfundvierzig? Er wirkt noch sehr jung und …«

Sie errötete. Wahrscheinlich war sie ein wenig verliebt in ihren Chef.

»Und seine Frau?«

»Das Bild, das Sie über dem Kamin sehen, wenn Sie sich ein wenig vorbeugen, ist ein Porträt von Madame …«

Im blauen Abendkleid. Blau und altrosa schienen die Farben des Hauses zu sein, wie auf den Bildern von Marie Laurencin.

»Ich glaube, ich höre den Aufzug.«

Und unwillkürlich stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus.

 

Sie sprach leise mit ihnen an der Tür, zu der sie gleich geeilt war. Das Paar, das nach einem Theaterabend nach Hause kam, wirkte jugendlich, elegant und sorglos. Nacheinander sahen sie von fern zu diesem Eindringling mit den nassen Hosenbeinen und den nassen Schuhen, der sich unbeholfen von seinem Stuhl erhoben hatte und sich Haltung zu geben versuchte.

Der Mann zog seinen grauen Mantel aus, unter dem ein Smoking zum Vorschein kam, und seine Frau trug unter ihrem Leopardenmantel ein halblanges Abendkleid aus Silberbrokat.

Sie standen keine zehn Meter von ihm entfernt. Batille ging als Erster mit schnellen, energischen Schritten auf ihn zu. Seine Frau folgte ihm.

»Sie sind Kommissar Maigret, wie man mir sagt«, murmelte er mit gerunzelter Stirn.

»Ja.«

»Wenn ich nicht irre, sind Sie Hauptkommissar am Quai des Orfèvres.«

Ein kurzes, recht unbehagliches Schweigen folgte.

Madame Batille versuchte zu erraten, was all das zu bedeuten hatte. Die beschwingte Stimmung, in der sie wenige Augenblicke zuvor die Wohnung betreten hatte, war verflogen.

»Es ist merkwürdig, dass Sie so spät … Sollte es etwas mit meinem Sohn zu tun haben?«

»Erwarten Sie schlechte Nachrichten?«

»Keineswegs … Aber lassen Sie uns nicht hier bleiben. Gehen wir in mein Arbeitszimmer.«

Es war das hinterste Zimmer, mit Durchgang zum Salon. Batille hatte sein eigentliches Büro sicher anderswo, im Firmensitz von Mylène an der Avenue Matignon, wo Maigret schon oft vorbeigekommen war.

Das Holz der Bücherregale war sehr hell – Zitrone oder Bergahorn –, und die Wände waren über und über mit Büchern bedeckt. Die Ledersessel waren in sanftem Beige gehalten, genau wie die Schreibutensilien auf dem Tisch, auf dem eine Fotografie in einem Silberrahmen stand, die Madame Batille mit zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, zeigte.

»Nehmen Sie bitte Platz. Warten Sie schon lange auf mich?«

»Nur etwa zehn Minuten.«

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

»Nein, danke.«

Es war, als wollte Batille den Augenblick hinauszögern, in dem er erfahren würde, was der Kommissar ihm zu sagen hatte.

»Hat Ihnen Ihr Sohn jemals Sorgen bereitet?«

Er schien einen Augenblick nachzudenken.

»Nein … Er ist ein ruhiger, zurückhaltender Junge, vielleicht zu ruhig und zu zurückhaltend.«

»Was halten Sie von seinem Freundeskreis?«

»Er hat praktisch keinen. Ganz im Gegensatz zu seiner Schwester, die erst achtzehn ist und schnell Anschluss findet. Er hat keine Freunde oder Kameraden … Ist ihm etwas zugestoßen?«

»Ja …«

»Ein Unfall?«

»Wenn man so will … Er wurde heute Abend auf dem unbeleuchteten Gehsteig der Rue Popincourt überfallen.«

»Ist er verletzt?«

»Ja …«

»Schwer?«

»Er ist tot.«

Diesen brutalen Zusammenbruch hätte Maigret lieber nicht miterlebt. Das mondäne, selbstsichere, ungezwungene Paar von vorhin war verschwunden. Die Abendkleidung, die von einem berühmten Modeschöpfer und einem großen Schneider stammte, verlor ihren Glanz. Selbst die verführerische Eleganz der Wohnung war verblasst.

Da waren nur noch zwei vom Schicksal geschlagene, zusammengesunkene Menschen, die sich noch dagegen wehrten, zu glauben, was sie eben erfahren hatten.

»Sind Sie sicher, dass es mein …«

»Antoine Batille, nicht wahr?«

Maigret reichte ihm die noch feuchte Brieftasche.

»Ja, das ist seine.«

Er steckte sich mechanisch eine Zigarette an. Seine Hände zitterten und seine Lippen ebenfalls.

»Wie ist es passiert?«

»Er kam aus einem kleinen Bistro, ist etwa fünfzig Meter durch den strömenden Regen gegangen, als jemand mehrere Male mit einem Messer auf ihn eingestochen hat.«

Das Gesicht der Frau verzerrte sich, als hätte man auf sie eingestochen, und ihr Mann legte seinen Arm um ihre Schultern. Er versuchte, etwas zu sagen, aber es gelang ihm noch nicht. Was hätte er sagen sollen? Auch wenn es nicht das war, was ihn am meisten bedrängte, brachte er hervor:

»Hat man den … Täter verhaftet?«

»Nein.«

»War er sofort tot?«

»Gleich nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus Saint-Antoine …«

»Können wir hinfahren und ihn sehen?«

»Ich möchte Ihnen für heute Nacht davon abraten. Es ist besser, damit bis morgen früh zu warten.«

»Hat er sehr gelitten?«

»Dem Arzt zufolge nicht.«

»Geh schlafen, Martine. Leg dich wenigstens in deinem Zimmer hin.«

Er führte sie behutsam, aber entschieden hinaus.

»Ich bin gleich wieder da, Herr Kommissar.«

Er blieb fast eine Viertelstunde weg, und als er zurückkehrte, war er leichenblass. Mit angespannter Miene starrte er vor sich hin.

»Setzen Sie sich doch bitte.«

Er war klein, schlank und nervös. Maigrets große, schwere Gestalt irritierte ihn womöglich.

»Möchten Sie immer noch nichts trinken?«

Er öffnete eine kleine Bar und nahm eine Flasche und zwei Gläser heraus.

»Ich muss zugeben, dass ich jetzt einen Schluck brauche …«

Er goss sich einen Whisky ein und dann einen in das zweite Glas.

»Viel Soda?«

Und gleich darauf:

»Ich verstehe es nicht … Ich kann es einfach nicht verstehen. Antoine war ein Junge, der mir nie das Geringste verheimlicht hat, und es gab in seinem Leben auch nichts, das er hätte verheimlichen müssen … Er war … Es fällt mir schwer, von ihm in der Vergangenheit zu sprechen, und doch werde ich mich daran gewöhnen müssen … Er studierte Literaturwissenschaft an der Sorbonne … Er gehörte keiner Gruppe an, interessierte sich überhaupt nicht für Politik.«

Er starrte mit hängenden Schultern auf den braunen Teppich und sagte wie zu sich selbst:

»Man hat ihn mir genommen … Warum? Aber warum denn?«

»Um das herauszufinden, bin ich hier.«

Er blickte Maigret an, als sähe er ihn zum ersten Mal.

»Wieso haben Sie sich persönlich herbemüht? Für die Polizei ist das doch ein alltäglicher Fall, oder?«

»Der Zufall wollte, dass ich ganz in der Nähe des Tatorts war.«

»Haben Sie etwas gesehen?«

»Nein.«

»Hat sonst jemand etwas gesehen?«

»Ein italienischer Lebensmittelhändler, der mit seiner Frau auf dem Heimweg war … Ich habe Ihnen die Sachen mitgebracht, die man in den Taschen Ihres Sohnes gefunden hat, aber ich habe sein Tonbandgerät vergessen …«