Maigret und der Verrückte von Bergerac - Georges Simenon - E-Book

Maigret und der Verrückte von Bergerac E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Der Frühling lockt Kommissar Maigret zu einem Erholungsurlaub ins ländlichen Ville- franche-en-Dordogne. Doch bei der Anreise hält ihn ein Mitreisender im Schlafabteil wach: Der Mann schluchzt ununterbrochen und springt dann plötzlich aus dem fahrenden Zug. Maigret folgt ihm - und wird niedergeschossen. Als er erwacht, liegt er im Krankenhaus von Bergerac, wo man ihn zunächst für einen Serienmörder, den »Verrückten von Bergerac« hält. Zwar lässt sich der Verdacht zerstreuen, doch für den Kommissar ist vor- erst Bettruhe angesagt. Der ermittelt daher kurzerhand vom Krankenlager aus - mit der Unterstützung von Madame Maigret.

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Der 16. Fall

Georges Simenon

Maigret und der Verrückte von Bergerac

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Svenja Tengs

Kampa

1Der Reisende, der nicht schlafen kann

Zufall auf ganzer Linie. Am Tag zuvor hatte Maigret noch nicht gewusst, dass er verreisen würde. Dabei war es die Jahreszeit, in der Paris ihn zu bedrücken begann: die grelle warme Märzsonne gab bereits einen Vorgeschmack auf den Frühling.

Madame Maigret war für zwei Wochen im Elsass bei ihrer Schwester, die ein Kind erwartete.

Am Mittwochmorgen erhielt der Kommissar einen Brief von einem Kollegen der Kriminalpolizei, der vor zwei Jahren pensioniert worden war und sich in der Dordogne niedergelassen hatte.

… und vor allem: Wenn dich je ein glücklicher Zufall in diese Gegend verschlägt, bist du herzlich willkommen, ein paar Tage bei mir zu verbringen. Ich habe eine ältere Hausangestellte, die nur zufrieden ist, wenn Gäste im Haus sind. Außerdem beginnt die Lachssaison …

Ein Detail brachte Maigret zum Träumen: Im Briefkopf war die Seitenansicht eines Landhauses abgebildet, das von zwei runden Türmen flankiert wurde. Darunter die Wörter:

La Ribaudière

bei Villefranche-en-Dordogne

Gegen Mittag rief Madame Maigret aus dem Elsass an und berichtete, dass ihre Schwester voraussichtlich in der nächsten Nacht entbinden werde. Sie fügte hinzu:

»Man könnte glauben, es sei Sommer. Einige Obstbäume blühen schon.«

Zufall … Zufall … Ein wenig später war Maigret im Büro des Chefs. Sie plauderten.

»Übrigens, Sie waren noch nicht in Bordeaux wegen der Nachforschungen, über die wir gesprochen haben, oder?«

Ein unbedeutender Fall. Es war nicht dringend. Maigret würde bei Gelegenheit nach Bordeaux fahren, um im Stadtarchiv zu stöbern.

Eine Gedankenkette: Bordeaux – die Dordogne …

Und in diesem Augenblick fiel ein Sonnenstrahl auf die Kristallkugel, die der Chef als Briefbeschwerer benutzte.

»Keine schlechte Idee! Ich hab im Augenblick nichts Wichtiges zu tun.«

 

Am späten Nachmittag stieg er an der Gare d’Orsay mit einer Fahrkarte erster Klasse in den Zug nach Villefranche. Der Schaffner wies ihn darauf hin, dass er in Libourne umsteigen müsse.

»Es sei denn, Sie sind im Schlafwagen, der an den Anschlusszug angehängt wird.«

Maigret hörte kaum hin, las ein paar Zeitungen und begab sich in den Speisewagen, wo er bis zehn Uhr abends blieb.

Als er in sein Abteil zurückkehrte, waren die Vorhänge zugezogen, die Lampe war abgedunkelt und ein altes Ehepaar hatte die beiden Bänke in Beschlag genommen.

Der Schaffner kam vorbei.

»Ist zufällig noch ein Bett im Schlafwagen frei?«

»Nicht in der ersten Klasse. Aber ich glaube, in der zweiten. Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Natürlich nicht.«

Maigret ging mit seiner Reisetasche durch die Gänge. Der Schaffner öffnete mehrere Türen und fand schließlich das Abteil, in dem nur die obere Liege belegt war.

Auch hier war die Lampe abgedunkelt, und die Vorhänge waren zugezogen.

»Möchten Sie es heller haben?«

»Nein danke.«

Es herrschte eine feuchte Hitze. Irgendwo war ein leises Pfeifen zu hören, als wären die Heizungsrohre undicht. Im oberen Bett bewegte sich jemand und atmete schwer.

Geräuschlos zog der Kommissar Schuhe, Jacke und Weste aus. Er legte sich aufs Bett und griff nach seinem Hut, um ihn sich aufs Gesicht zu legen, denn von irgendwoher kam ein schwacher Luftzug.

Schlief er ein? Jedenfalls döste er. Vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei, vielleicht noch länger. Aber er schlief nur halb.

Und dieser Halbschlaf wurde von einem Gefühl des Unbehagens beherrscht. Lag es an der Hitze, gegen die der Luftzug kaum etwas auszurichten vermochte?

Eher an dem Mann da oben, der nicht einen Augenblick ruhig lag!

Wie oft in der Minute warf er sich hin und her? Und das genau über Maigrets Kopf! Jede Bewegung verursachte ein lautes Knarren.

Er atmete unregelmäßig, als hätte er Fieber.

Bis Maigret genervt aufstand, auf den Gang hinaustrat und auf und ab ging. Aber dort war es zu kalt.

Also wieder das Abteil, der Dämmerzustand, der seltsame Empfindungen und Gedanken auslöst.

Er war vom Rest der Welt abgeschnitten. Eine Atmosphäre wie in einem Albtraum. Hatte sich der Mann oben nicht gerade auf die Ellbogen gestützt und sich hinuntergebeugt, um einen Blick auf seinen Reisegefährten zu werfen?

Maigret dagegen konnte sich nicht dazu durchringen, sich zu rühren. Die halbe Flasche Bordeaux und die beiden Cognac, die er im Speisewagen getrunken hatte, lagen ihm schwer im Magen.

Die Nacht zog sich hin. Wenn der Zug hielt, hörte man undeutlich Stimmen, Schritte im Gang, Türenschlagen. Man fragte sich, ob es je weitergehen würde.

Man hätte meinen können, der Mann weinte. Manchmal hörte er auf zu atmen. Dann schniefte er plötzlich. Er drehte sich um. Er schnäuzte sich.

Maigret bereute es, nicht bei dem alten Ehepaar in seinem Erste-Klasse-Abteil geblieben zu sein.

Er döste ein. Er wachte auf. Er schlief von Neuem ein. Schließlich hatte er genug. Er räusperte sich.

»Entschuldigen Sie, Monsieur, versuchen Sie doch bitte still zu liegen!«

Es war ihm unangenehm, weil seine Stimme viel unfreundlicher klang als beabsichtigt. Und wenn der Mann krank war?

Der andere antwortete nicht, rührte sich nicht. Wahrscheinlich bemühte er sich, jedes Geräusch zu vermeiden. Plötzlich fragte sich Maigret, ob es überhaupt ein Mann war. Es könnte auch eine Frau sein! Er hatte die Person nicht gesehen. Sie war unsichtbar, eingekeilt zwischen Matratze und Decke.

Die Hitze dort oben musste erdrückend sein. Maigret versuchte, die Heizung zu regulieren. Das Gerät war kaputt!

Mein Gott! Drei Uhr morgens!

›Ich muss jetzt endlich schlafen!‹

Aber an Schlaf war nicht zu denken. Er war inzwischen fast ebenso nervös wie sein Begleiter. Er horchte.

›Jetzt geht das schon wieder los …‹

Maigret zwang sich, gleichmäßig zu atmen, und zählte bis fünfhundert, in der Hoffnung, endlich einzuschlafen.

Tatsächlich, der Mann weinte! Vielleicht war er wegen einer Beerdigung nach Paris gekommen. Oder es war genau andersherum. Er war ein armer Teufel, der in Paris arbeitete und schlechte Nachrichten aus der Heimat erhalten hatte. Die Mutter – oder die Frau – krank oder tot. Maigret bereute es, ihn so angefahren zu haben. Wer weiß, manchmal wurde ein Leichenwagen an den Zug angehängt.

Und die Schwägerin im Elsass, die kurz vor der Entbindung stand. Drei Kinder in vier Jahren!

Maigret schlief. Der Zug hielt an und fuhr weiter. Mit einem Höllenlärm überquerte er eine Eisenbrücke. Maigret riss die Augen auf.

Dann betrachtete er reglos die beiden Beine, die vor ihm herunterbaumelten.

Der Mann von oben hatte sich in seinem Bett aufgesetzt. Äußerst behutsam schnürte er sich die Schuhe zu. Sie waren das Erste, was der Kommissar von ihm sah. Trotz der abgedunkelten Lampe bemerkte er, dass es Lackschuhe waren. Die Strümpfe dagegen waren aus grauer Wolle und schienen handgestrickt zu sein.

Der Mann hielt inne und lauschte. Vielleicht merkte er, dass sich der Rhythmus von Maigrets Atem verändert hatte? Der Kommissar begann wieder zu zählen.

Aber es fiel ihm schwer, weil er sich für die Hände interessierte, die die Schuhbänder knoteten und so sehr zitterten, dass sie denselben Knoten viermal von vorn beginnen mussten.

Der Zug fuhr durch einen kleinen Bahnhof, ohne anzuhalten. Man sah nur Lichter, die durch den Stoff der Vorhänge schimmerten.

Der Mann stieg herunter. Das Ganze glich immer mehr einem Albtraum. Er hätte ganz normal herunterkommen können. Hatte er Angst vor einer erneuten Zurechtweisung?

Lange tastete er mit dem Fuß nach der Leiter. Dabei wäre er fast gestürzt. Er kehrte Maigret den Rücken zu.

Und gleich darauf ging er hinaus, vergaß, die Tür wieder zu schließen, und verschwand im Gang.

Wäre die Tür nicht offen geblieben, wäre Maigret vielleicht wieder eingeschlafen. Aber er musste aufstehen, um sie zu schließen, und warf dabei einen Blick hinaus.

Er hatte gerade noch Zeit, seine Jacke anzuziehen, vergaß aber die Weste.

Denn der Unbekannte hatte am Ende des Gangs die Wagentür geöffnet. Das war kein Zufall! Im selben Augenblick wurde der Zug langsamer. Entlang der Gleise war schemenhaft ein Wald zu erkennen. Ein unsichtbarer Mond beleuchtete ein paar Wolken.

Die Bremsen quietschten. Von achtzig Stundenkilometern musste man die Geschwindigkeit auf dreißig, vielleicht noch weniger, gedrosselt haben.

Und der Mann sprang hinaus, verschwand hinter der Böschung, die er wahrscheinlich hinunterrollte.

Ohne lange nachzudenken, stürzte Maigret ihm hinterher. Er riskierte dabei nichts, denn der Zug fuhr jetzt noch langsamer.

Er fiel ins Leere. Er schlug mit der Seite auf, drehte sich dreimal um sich selbst und blieb dann vor einem Stacheldrahtzaun liegen.

Ein rotes Licht entfernte sich mit dem Rattern des Zugs.

Der Kommissar hatte sich nichts gebrochen. Er stand auf. Sein Begleiter musste heftiger gestürzt sein, denn fünfzig Meter weiter begann er gerade erst, sich langsam und schwerfällig aufzurichten.

Es war eine lächerliche Situation. Maigret fragte sich, was ihn geritten hatte, als er auf die Böschung gesprungen war, während sein Gepäck nach Villefranche-en-Dordogne weiterreiste. Er wusste nicht einmal, wo er war!

Er sah nur Bäume: wahrscheinlich ein großer Wald. Irgendwo war der helle Streifen einer Straße, die zwischen den hohen Stämmen verschwand.

Warum rührte sich der Mann nicht mehr? Man sah nur einen kauernden Schatten. Hatte er seinen Verfolger gesehen? War er verletzt?

»He, Sie da«, rief Maigret ihm zu und tastete dabei nach seinem Revolver in der Tasche.

Ihm blieb keine Zeit, ihn zu ziehen. Er sah etwas Rotes. Plötzlich spürte er einen Schlag gegen die Schulter, noch bevor er den Knall des Schusses hörte.

Das hatte nur eine Zehntelsekunde gedauert, doch schon war der Mann aufgestanden, rannte durchs Unterholz, überquerte die Landstraße und verschwand in vollkommener Dunkelheit.

Maigret stieß einen Fluch aus. Tränen stiegen ihm in die Augen, nicht vor Schmerz, sondern aus Verblüffung, Wut und Verwirrung. Das war alles so schnell gegangen! Er befand sich in einer erbärmlichen Lage.

Der Revolver fiel ihm aus der Hand. Er bückte sich, um ihn wieder aufzuheben, und verzog das Gesicht. Seine Schulter schmerzte.

Genauer gesagt, war es etwas anderes: das Gefühl, dass eine Menge Blut herausfloss, dass bei jedem Herzschlag die warme Flüssigkeit aus der verletzten Ader spritzte.

Er wagte weder zu laufen noch sich zu rühren. Er hob nicht einmal seine Waffe auf.

Seine Schläfen waren feucht, seine Kehle wie zugeschnürt. Wie erwartet fühlte er mit der Hand eine klebrige Flüssigkeit im Schulterbereich. Er presste die Wunde zu und tastete nach der Ader, damit nicht noch mehr Blut herausfloss.

In seiner Benommenheit kam es ihm so vor, als würde der Zug kaum einen Kilometer von ihm entfernt halten und lange, lange stehen bleiben, während er angstvoll die Ohren spitzte.

Was kümmerte es ihn, ob der Zug gehalten hatte? Es war nur ein Impuls. Das fehlende Rattern des Zugs erschreckte ihn wie eine plötzliche Leere.

Endlich! Weiter hinten ertönte das Geräusch wieder. Etwas Rotes bewegte sich hinter den Bäumen am Himmel.

Dann nichts mehr.

Maigret stand auf und hielt sich die Schulter mit der rechten Hand. Es hatte die linke Schulter erwischt. Er versuchte, den linken Arm zu bewegen, konnte ihn ein wenig heben, doch er war zu schwer, und er ließ ihn wieder fallen.

Totenstille im Wald. Man könnte meinen, der Mann hätte seine Flucht aufgegeben und sich irgendwo im Gebüsch versteckt. Und wenn Maigret zur Straße ging, würde er dann nicht erneut schießen, um ihm den Rest zu geben?

»Idiot! Idiot! Idiot!«, brummte Maigret, der sich hundeelend fühlte.

Warum hatte er auch aus dem Zug springen müssen? In der Morgendämmerung würde sein Freund Leduc ihn an der Gare de Villefranche erwarten. Die Haushälterin würde Lachs zubereitet haben.

Maigret schleppte sich voran. Nach drei Metern blieb er stehen, taumelte weiter, blieb erneut stehen.

In der Dunkelheit war nur der schwache Lichtschein der Straße zu sehen, eine weiße Straße, staubig wie im Hochsommer. Das Blut floss immer noch, wenn auch weniger stark. Maigrets Hand verhinderte, dass allzu viel herausquoll. Die Hand war jedenfalls völlig verklebt.

Auch wenn man etwas anderes hätte vermuten können, war er erst dreimal in seinem Leben verletzt worden. Ihm war so unheimlich zumute, als läge er auf einem Operationstisch. Ein heftiger Schmerz wäre ihm lieber gewesen als dieser langsame Blutverlust.

Es wäre zu dumm, hier ganz allein in der Nacht zu sterben, ohne auch nur zu wissen, wo er war. Während sein Gepäck ohne ihn weiterfuhr.

Sollte der Mann doch schießen! Er ging, so schnell er konnte, nach vorn gebeugt, halb ohnmächtig. Er gelangte zu einem Wegweiser. Aber nur die rechte Seite wurde vom Mondschein erhellt: 3,5 Kilometer.

Was lag da in 3,5 Kilometern Entfernung? Welche Stadt? Welches Dorf?

Das Muhen einer Kuh drang von dort herüber. Der Himmel war ein wenig heller. Vermutlich Osten. Bald würde es dämmern.

Der Fremde schien nicht mehr da zu sein. Oder er war von seinem Vorhaben abgerückt, den Verletzten zur Strecke zu bringen. Maigret schätzte, dass seine Kraft noch drei oder vier Minuten reichen würde. Er wollte versuchen, sie zu nutzen. Er marschierte wie in der Kaserne mit regelmäßigen Schritten, die er zählte, um nicht nachzudenken.

Die Kuh, die gemuht hatte, musste zu einem Bauernhof gehören. Bauern standen früh auf. Also …

Es floss an seiner linken Seite herunter, unter dem Hemd, unter dem Hosenbund. War das ein Licht, das er sah? Oder phantasierte er bereits?

›Wenn ich mehr als einen Liter Blut verliere‹, dachte er.

Es war ein Licht. Aber um dorthin zu gelangen, musste er über einen gepflügten Acker gehen, was noch mühsamer war. Seine Füße versanken im Boden. Er stieß gegen einen Traktor, der dort stand.

»Ist dort jemand? … Hallo! … Ist dort jemand? Schnell!«

Dieses verzweifelte »Schnell« war ihm herausgerutscht. Er lehnte sich an den Traktor. Er glitt zu Boden, setzte sich auf die Erde und hörte, wie sich eine Tür öffnete. Er sah eine Laterne schwanken, an einem Arm.

»Schnell!«

Dass der Mann, der auf ihn zukam, bloß daran dachte, die Blutung zu stoppen! Maigrets Hand löste sich und fiel schlaff an seiner Seite herunter.

»Eins, zwei … Eins, zwei.«

Jedes Mal strömte neues Blut heraus.

 

Verworrene Bilder, dazwischen immer wieder diese Leere, an deren Rändern der Schrecken lauert, wie man ihn aus Albträumen kennt.

Ein Rhythmus. Die Schritte eines Pferdes. Stroh unter dem Kopf und Bäume, die rechts vorbeigleiten.

Jetzt begriff Maigret. Er lag in einem Karren. Es war hell. Sie fuhren langsam eine von Platanen gesäumte Straße entlang.

Er schlug die Augen auf, ohne sich zu bewegen. Schließlich sah er in seinem Blickfeld einen Mann, der lässig neben dem Wagen schritt und in einer Hand eine Peitsche schwang.

Ein Albtraum? Maigret hatte das Gesicht des Mannes im Zug nicht gesehen, nur seine vagen Umrisse, seine Lackschuhe und grauen Wollstrümpfe.

Warum dachte er dann, dass dieser Bauer, der den Wagen lenkte, der Mann aus dem Zug war?

Er sah ein verwittertes Gesicht mit dickem grauen Schnurrbart, dichten Augenbrauen und hellen Augen, die starr geradeaus blickten, ohne sich um den Verwundeten zu kümmern.

Wo war er? Wohin fuhr er?

Der Kommissar bewegte die Hand und fühlte etwas Ungewöhnliches an seiner Brust, etwas wie einen dicken Verband.

Doch im selben Augenblick, in dem ein greller Sonnenstrahl ihn blendete, gerieten seine Gedanken durcheinander.

Schließlich tauchten Häuser mit weißen Fassaden auf. Eine breite sonnenbeschienene Straße. Geräusche hinter dem Karren, die wie die Schritte einer Menschenmenge klangen. Und Stimmen. Aber er konnte die Worte nicht verstehen. Das Holpern des Wagens bereitete ihm Schmerzen.

Endlich hörte es auf. Dann ein Schwanken und Schlingern, wie er es noch nie erlebt hatte.

Er lag auf einer Tragbahre. Vor ihm ging ein Mann in weißem Kittel. Man schloss ein großes Tor, hinter dem sich die Menge drängte. Jemand kam angelaufen.

»Bringen Sie ihn sofort in den Operationssaal.«

Er drehte nicht den Kopf und dachte auch nicht nach, und doch sah er alles.

Man trug ihn durch einen Park mit kleinen, sehr sauberen weißen Backsteinhäusern. Auf Bänken saßen Leute in grauen Hemden. Manche hatten den Kopf oder das Bein verbunden. Krankenschwestern eilten geschäftig hin und her.

In seinem trägen Geist versuchte er vergeblich das Wort »Krankenhaus« zu bilden.

Wo war der Bauer, der dem Mann im Zug ähnelte?

Au! Es ging eine Treppe hinauf. Das tat weh.

Als Maigret wieder erwachte, sah er einen Mann, der sich die Hände wusch und ihn ernst anblickte.

Er fühlte einen Stich in der Brust. Dieser Mann hatte einen Spitzbart und dichte Augenbrauen!

Ähnelte er dem Bauern? Jedenfalls dem Mann aus dem Zug.

Maigret konnte nicht sprechen. Er öffnete den Mund. Der Mann mit dem Spitzbart sagte ruhig:

»Legen Sie ihn auf Zimmer drei. Es ist besser, wenn er allein ist, wegen der Polizei.«

Wieso wegen der Polizei? Was sollte das heißen?

Wieder trugen ihn Menschen in weißen Kitteln durch den Park. Die Sonne schien so strahlend, wie der Kommissar es noch nie erlebt hatte: so hell und heiter, dass sie die hintersten Ecken auszuleuchten schien.

Man legte ihn in ein Bett. Die Wände waren weiß. Hier war es fast genauso heiß wie im Zug.

Irgendwo sagte eine Stimme:

»Der Kommissar fragt, wann er …«

Der Kommissar, war das nicht er? Aber er hatte nichts gefragt! Das Ganze war lächerlich.

Vor allem die Geschichte mit dem Bauern, der dem Arzt und dem Mann aus dem Zug ähnelte!

Hatte der Mann im Zug überhaupt einen grauen Spitzbart gehabt? Einen Schnurrbart? Dichte Augenbrauen?

»Machen Sie den Mund auf. Gut, das reicht.«

Es war der Arzt, der ihm etwas in den Mund einflößte. Um ihn zu vergiften und ihm endgültig den Rest zu geben!

 

Als Maigret gegen Abend wieder zu Bewusstsein kam, ging die Schwester, die bei ihm wachte, in den Flur des Krankenhauses, wo fünf Männer warteten: der Untersuchungsrichter von Bergerac, der Staatsanwalt, der Polizeikommissar, ein Schreiber und der Gerichtsmediziner.

»Sie können eintreten. Aber der Professor bittet Sie, den Patienten nicht zu sehr zu ermüden. Übrigens guckt er so merkwürdig, dass es mich nicht wundern würde, wenn er verrückt wäre.«

Und die fünf Männer blickten einander mit einem verständnisvollen Lächeln an.

2Fünf enttäuschte Männer

Es ähnelte einer von schlechten Schauspielern gespielten Szene in einem Melodram: Die Schwester zog sich lächelnd zurück und warf einen letzten Blick auf Maigret.

Einen Blick, der besagte: ›Ich überlasse ihn jetzt Ihnen.‹

Und die fünf Herren nahmen mit ihrem heiteren und zugleich drohenden Lächeln Besitz von dem Raum. Es fühlte sich unecht an, als ob sie es absichtlich täten und Maigret einen Streich spielen wollten!

»Legen Sie los, Herr Staatsanwalt.«

Ein winziger Mann mit Bürstenschnitt und einem finsteren Blick, den er gewiss für seinen Beruf einstudiert hatte. Was für eine aufgesetzte Kälte und Bosheit!

Er ging nur an Maigrets Bett vorbei, um ihn kurz anzublicken, und stellte sich dann wie bei einer Zeremonie an die Wand, den Hut in der Hand.

Der Untersuchungsrichter tat es ihm nach, wobei er den Verletzten grinsend ansah, und stellte sich dann neben seinem Vorgesetzten auf.

Anschließend der Schreiber.

Jetzt waren es schon drei, die wie Verschwörer an der Wand standen! Nun gesellte sich auch noch der Gerichtsmediziner zu ihnen.

Blieb nur noch der Polizeikommissar, ein dicker Mann mit hervorquellenden Augen, der die Rolle des Scharfrichters spielen sollte.

Ein Blick zu den anderen. Dann legte er langsam seine Hand auf Maigrets Schulter.

»Reingefallen, was?«