Maigret und die Affäre Saint-Fiacre - Georges Simenon - E-Book

Maigret und die Affäre Saint-Fiacre E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Ein anonymer Brief ist bei der Stadtpolizei in Moulins eingegangen: An Allerseelen soll in der Kirche von Saint-Fiacre ein Verbrechen geschehen. Maigret, der in dem kleinen Dorf als Sohn des Schlossverwalters aufgewachsen ist, nimmt das zum Anlass, Moulins einen Besuch abzustatten. Die Schlossherrin war für den kleinen Jules Maigret der Inbegriff von Schönheit und Eleganz. Doch nun, zweiundvierzig Jahre später, bröckelt nicht nur der Putz des Schlosses, auch das Bild der Gräfin bekommt Risse. Als sie an Allerseelen tot in der Kirche zusammenbricht, nimmt Maigret die Ermittlungen auf und stellt fest, dass in Saint-Fiacre nichts mehr ist, wie es einmal war.

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Der 13. Fall

Georges Simenon

Maigret und die Affäre Saint-Fiacre

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Mirjam Madlung

Kampa

1Das schielende Mädchen

Ein zaghaftes Pochen an der Tür. Etwas wurde auf den Fußboden gestellt, eine Stimme sagte leise:

»Es ist halb sechs. Eben hat es zur Frühmesse geläutet.«

Die Sprungfedern quietschten, als Maigret sich im Bett aufsetzte. Verwundert blickte er auf die Luke in der Dachschräge, während die Stimme fortfuhr:

»Werden Sie zur Kommunion gehen?«

Der Kommissar stand nun mit nackten Füßen auf dem eisigen Boden. Er ging zur Tür. Sie war nur mit einer um zwei Nägel geschlungenen Schnur geschlossen. Schritte entfernten sich eilig. Als er in den Flur spähte, sah er gerade noch eine Frauengestalt in Unterjäckchen und weißem Unterrock.

Er nahm sich den Krug mit heißem Wasser, den Marie Tatin ihm hingestellt hatte, schloss die Tür und suchte einen kleinen Spiegel heraus, vor dem er sich rasieren konnte.

Die Kerze würde in wenigen Minuten heruntergebrannt sein. Hinter dem Dachfenster war der Himmel noch tiefschwarz, eine kalte Winternacht. An den Zweigen der Pappeln auf dem großen Platz hingen noch ein paar welke Blätter.

Da beide Wände schräg waren, konnte Maigret nur in der Mitte des Mansardenzimmers aufrecht stehen. Er fror. Die ganze Nacht hatte er einen kalten Luftzug im Nacken gespürt und nicht herausfinden können, woher er kam.

Aber gerade diese Kälte war aufwühlend. Er fühlte sich in eine Stimmung zurückversetzt, die er vergessen zu haben glaubte. Das erste Läuten … Die Glocken über dem schlafenden Dorf … Als kleiner Junge war Maigret nicht so früh aufgestanden. Er hatte damals das zweite Läuten abgewartet, um Viertel vor sechs, denn er brauchte sich ja nicht zu rasieren. Wusch er sich überhaupt?

Jedenfalls wurde ihm damals kein heißes Wasser gebracht. Es kam sogar vor, dass das Wasser im Krug gefroren war. Wenig später hallten seine Schritte über die frostharte Straße.

Während er sich jetzt anzog, hörte er Marie Tatin unten im Gastraum hin und her gehen. Sie stocherte im Ofen, klapperte mit Geschirr, mahlte Kaffee.

Er zog Jacke und Mantel an. Bevor er das Zimmer verließ, nahm er aus seiner Brieftasche ein Blatt Papier mit einer angehefteten Notiz:

Stadtpolizei Moulins

für alle Fälle an die Kriminalpolizei in Paris.

Auf dem karierten Blatt stand in sorgfältiger Schrift:

Ich kündige Folgendes an: Während der Frühmesse zu Allerseelen wird in der Kirche von Saint-Fiacre ein Verbrechen geschehen.

Das Blatt hatte mehrere Tage im Büro am Quai des Orfèvres herumgelegen. Maigret war zufällig darauf gestoßen und hatte überrascht gefragt:

»Ist es das Saint-Fiacre bei Matignon?«

»Wahrscheinlich. Die Meldung kam ja aus Moulins.«

Er hatte das Blatt eingesteckt. Saint-Fiacre! Matignon! Moulins! Namen, die ihm vertrauter waren als allen anderen.

Saint-Fiacre war sein Geburtsort. Sein Vater hatte dreißig Jahre lang das Schloss verwaltet. Das letzte Mal war Maigret dort gewesen, um den Vater auf dem kleinen Friedhof hinter der Kirche zu begraben.

Während der Frühmesse … ein Verbrechen geschehen …

Maigret war am Tag zuvor angekommen und in dem einzigen Gasthof, dem von Marie Tatin, abgestiegen.

Sie hatte ihn nicht wiedererkannt, er sie aber schon, an ihren Augen. »Das schielende Mädchen«, so hatte man sie früher genannt. Aus dem dünnen kleinen Mädchen war eine dürre alte Jungfer geworden, noch stärker schielend und ununterbrochen beschäftigt – im Gastraum, in der Küche oder auf dem Hof, wo sie Kaninchen und Hühner hielt.

Der Kommissar ging hinunter. Im Gastraum brannte eine Petroleumlampe, in einer Ecke war für ihn gedeckt. Grobes Graubrot, duftender Zichorienkaffee, heiße Milch.

»Es ist nicht richtig von Ihnen, an einem Tag wie heute nicht zu kommunizieren. Wo Sie doch sowieso in die Kirche gehen … Mein Gott! Schon der zweite Glockenschlag!«

Es war ein zarter Klang. Auf der Straße hörte man Schritte. Marie Tatin eilte in die Küche, zog ein schwarzes Kleid und Garnhandschuhe an und setzte einen kleinen Hut auf. Wegen ihres Haarknotens saß er schief auf dem Kopf.

»Frühstücken Sie ruhig weiter. Schließen Sie bitte ab, wenn Sie gehen?«

»Aber nein, ich bin schon fertig.«

Es machte sie verlegen, neben einem Mann zu gehen, einem Pariser noch dazu. Leicht vorgebeugt trippelte sie durch die Morgenkälte. Welke Blätter wehten über die Straße. Ihr trockenes Rascheln besagte, dass es in der Nacht gefroren hatte.

Weitere Gestalten liefen auf die schwach erleuchtete Kirchentür zu. Die Glocken läuteten immer noch. Die Fenster der niedrigen Häuser waren hier und dort erleuchtet: Leute, die sich eilig anzogen, um zur Frühmesse zu gehen.

In Maigret lebten Empfindungen von früher wieder auf: die beißende Kälte in den Augen, eiskalte Fingerspitzen, der Nachgeschmack von Kaffee. Dann die Wärme, die einem beim Betreten der Kirche entgegenschlug, das sanfte Licht, der Duft von Kerzen und Weihrauch.

»Sie entschuldigen mich, ich habe einen Betstuhl«, sagte sie.

Maigret erkannte ihn wieder, den schwarzen Stuhl mit Armlehnen, die mit rotem Samt bezogen waren. Auf ihm hatte schon die alte Tatin gesessen, die Mutter des schielenden Mädchens.

Das Glockenseil, vom Glöckner losgelassen, schwang in der Tiefe des Raums noch leise nach. Der Küster hatte eben das Anzünden der Kerzen beendet.

Wie viele waren sie in dieser gespenstischen Versammlung unausgeschlafener Leute? Höchstens fünfzehn. Und darunter nur drei Männer: der Küster, der Glöckner und Maigret.

Ein Verbrechen wird geschehen …

Die Polizei in Moulins hatte das Schreiben für einen schlechten Scherz gehalten und sich nicht weiter gekümmert. In Paris waren sie verwundert, dass Maigret sich auf den Weg machte.

Hinter der Tür rechts neben dem Altar hörte er Geräusche, und er hatte genau vor Augen, was dort geschah: die Sakristei, der kleine, verspätete Ministrant, der Pfarrer, der stumm sein Messgewand anlegte, die Hände faltete und zum Altar schritt, während der Chorjunge hinter ihm herstolperte.

Der Junge war rothaarig. Er schwang sein Glöckchen. Das Murmeln der liturgischen Gebete begann.

Während der Frühmesse …

Maigret hatte sich die Gestalten eine nach der anderen genau angesehen. Fünf alte Frauen, von denen drei ihren festen Betstuhl hatten. Eine dicke Bäuerin. Einige jüngere Bauersfrauen, ein Kind.

Draußen das Geräusch eines Autos. Eine Wagentür wurde zugeschlagen. Leise, leichte Schritte, und eine Dame in Trauerkleidung durchquerte die Kirche.

Im Chorgestühl war eine Reihe für die Schlossherrschaft reserviert. Harte Stühle aus altem, glänzendem Holz. Dort ließ sich die Frau lautlos nieder, verfolgt von den Blicken der Bäuerinnen.

Requiem aeternam dona eis, Domine …

Maigret hätte dem Priester vielleicht noch die Antworten geben können. Er lächelte bei dem Gedanken, dass ihm früher die Totenmessen die liebsten waren, weil sie die kürzeren Gebete hatten. Manche Messen waren in nur einer Viertelstunde zelebriert worden.

Aber nun achtete er nur noch auf die Dame in dem gotischen Stuhl. Ihr Profil konnte er kaum sehen. War es wirklich die Gräfin von Saint-Fiacre?

Dies irae, dies illa …

Ja, sie war es. Als er sie zuletzt gesehen hatte, war sie fünf- oder sechsundzwanzig Jahre alt gewesen. Eine große, schlanke und melancholische Frau, die man aus der Ferne im Park wandeln sah.

Jetzt musste sie mindestens sechzig sein. Sie betete voller Hingabe. Ihr Gesicht war ausgemergelt, die langen, schmalen Hände umklammerten ein Messbuch.

Maigret hatte sich in die letzte Reihe der Binsenstühle gesetzt. Beim Hochamt kostete ein Platz dort fünf Centime, bei stillen Messen nichts.

Ein Verbrechen wird geschehen …

Wie die anderen erhob er sich beim ersten Evangelium. Überall bemerkte er Einzelheiten, Erinnerungen drängten sich auf. Zum Beispiel dachte er plötzlich:

›An Allerseelen muss derselbe Priester drei Messen lesen!‹

Zu seiner Zeit, damals, gab es zwischen der zweiten und dritten Messe ein Frühstück beim Pfarrer. Ein gekochtes Ei und Ziegenkäse.

Die Polizei von Moulins hatte recht: Hier konnte kein Verbrechen geschehen! Der Küster hatte sich auf einen Chorstuhl gesetzt, vier Plätze von der Gräfin entfernt. Der Glöckner war schweren Schrittes hinausgegangen, wie ein Theaterdirektor, dem es nicht wichtig ist, der Aufführung beizuwohnen.

Nun waren Maigret, der Küster und der Priester die einzigen Männer in der Kirche. Der Priester war ein junger Mann mit dem glühenden Blick des Mystikers. Er legte keine Hast an den Tag wie der alte Pfarrer, den der Kommissar gekannt hatte, dieser hier verschluckte nicht die Hälfte der Verse.

Die Kirchenfenster wurden fahl. Draußen brach der Tag an. Auf einem Bauernhof brüllte eine Kuh.

Und dann beugten alle die Köpfe zur Wandlung. Dünn klang das Glöckchen des Messdieners.

Maigret war der Einzige, der nicht die heilige Kommunion empfing. Die Frauen gingen mit gefalteten Händen und in sich gekehrten Gesichtern zur Kommunionbank. In der Hand des Priesters schimmerten für einen Moment die Hostien, so bleich, als wären sie unwirklich.

Die Messe wurde fortgesetzt. Die Gräfin hatte das Gesicht in die Hände gelegt.

Pater noster …

Et ne nos inducas in tentationem …

Die alte Dame löste die Hände von ihrem Gesicht, das gequält wirkte. Sie schlug das Messbuch auf.

Noch vier Minuten! Die Gebete. Das Schluss-Evangelium. Dann würden die Gläubigen die Kirche verlassen, und es wäre kein Verbrechen geschehen!

Denn die Ankündigung lautete klar:

Während der Frühmesse …

Zum Zeichen, dass der Gottesdienst beendet war, erhob sich der Küster und betrat die Sakristei.

Die Gräfin von Saint-Fiacre hatte erneut den Kopf in die Hände gelegt. Sie bewegte sich nicht. Die meisten anderen alten Frauen saßen ebenso regungslos da.

Ite missa est … Gehet hin in Frieden …

In diesem Augenblick erst spürte Maigret, welche Beklemmung ihn ergriffen hatte. Er war sich dessen nicht bewusst gewesen. Unwillkürlich seufzte er auf. Mit Ungeduld erwartete er das Ende der Messe und freute sich auf die frische Luft draußen, auf das Gewimmel der Leute, die von diesem und jenem sprachen.

Die alten Frauen erwachten alle gleichzeitig. Füße schlurften über die blauen Fliesen. Eine Bäuerin wandte sich dem Ausgang zu. Dann eine andere. Der Küster erschien mit einem Löschhut, und gleich darauf ersetzten dünne blaue Rauchfäden die Kerzenflammen.

Es war Tag geworden. Graues Licht drang in das Kirchenschiff, und mit ihm kalte Luft. Jetzt waren noch drei Menschen in der Kirche. Zwei … Ein Stuhl bewegte sich. Nur die Gräfin saß noch da, und Maigrets Nerven spannten sich vor Ungeduld.

Der Küster, der seine Aufgabe beendet hatte, sah hinüber zur Gräfin. Sein Gesicht zeigte Unschlüssigkeit. Dann gingen er und Maigret gleichzeitig auf sie zu.

Sie standen beide dicht vor ihr, erstaunt über ihre Reglosigkeit, und versuchten, etwas von ihrem Gesicht zu erkennen, das sich hinter den gefalteten Händen verbarg.

Beunruhigt berührte Maigret ihre Schulter, und der Körper schwankte, als hätte sein Gleichgewicht an einem seidenen Faden gehangen, glitt zu Boden und blieb leblos liegen.

Die Gräfin von Saint-Fiacre war tot.

 

Sie hatten den Leichnam in die Sakristei gebracht und auf drei nebeneinanderstehende Stühle gelegt. Der Küster war gegangen, um den Dorfarzt zu holen.

Maigret vergaß über alldem ganz, dass seine Anwesenheit hier Verwunderung erregen musste. Er brauchte eine Weile, bis er den Argwohn in dem glühenden Blick des Priesters verstand.

»Wer sind Sie?«, fragte dieser schließlich. »Wie kommt es, dass …«

»Kommissar Maigret, Kriminalpolizei Paris.«

Er blickte den Pfarrer fest an. Es war ein Mann von fünfunddreißig Jahren mit regelmäßigen Zügen. Der düstere Ernst in seinem Gesicht erinnerte an die fanatische Gläubigkeit mancher Mönche aus früheren Zeiten.

Er war aufgewühlt. Mit schwacher Stimme flüsterte er: »Sie wollen doch nicht sagen, dass …«

Man hatte noch nicht gewagt, die Gräfin zu entkleiden. Vergeblich hatte man ihr einen Spiegel vor die Lippen gehalten. Man hatte ihr Herz abgehört, das nicht mehr schlug.

»Ich sehe keine Verletzung«, erwiderte Maigret nur.

Er ließ seine Augen durch den Raum schweifen. Nichts hatte sich verändert in den vergangenen dreißig Jahren. Die Messkännchen befanden sich am gleichen Platz wie früher, ebenso die zur nächsten Messe bereitliegenden Gewänder des Priesters und des Ministranten.

Das trübe Licht, das durch ein Spitzbogenfenster hereinfiel, dämpfte die Leuchtkraft einer Öllampe.

Es war warm und kalt zugleich. Der Priester wurde von schrecklichen Gedanken gemartert.

»Aber man kann doch trotzdem nicht sagen …«

Eine Tragödie! Maigret erfasste es nicht gleich. Doch wie Luftblasen stiegen Erinnerungen aus seiner Kindheit in ihm auf.

Eine Kirche, in der ein Verbrechen begangen wurde, muss vom Bischof neu geweiht werden …

Konnte es denn ein Verbrechen gewesen sein? Es war kein Schuss gefallen, niemand hatte sich der Gräfin genähert. Maigret hatte sie während der ganzen Messe nicht aus den Augen gelassen.

Es war kein Blut vergossen worden. Keine sichtbare Wunde.

»Die zweite Messe ist um sieben Uhr, nicht wahr?«

Es war erleichternd, die schweren Schritte des Arztes zu hören. Ein Mann mit gerötetem Gesicht, den die Atmosphäre sichtlich ein wenig beklommen machte. Nacheinander blickte er den Kommissar und den Pfarrer an.

»Tot?«, fragte er.

Ohne zu zögern, knöpfte er die Bluse der Toten auf. Der Priester wandte den Kopf ab. Erneut schwere Schritte in der Kirche. Kurz darauf die Glocke, die der Küster ins Schwingen gebracht hatte.

Das erste Läuten zur Sieben-Uhr-Messe.

»Für mich kommt nur eine Embolie infrage. Ich war nicht ihr Hausarzt. Die Gräfin ließ sich von einem Kollegen in Moulins behandeln. Aber ich wurde zwei- oder dreimal ins Schloss gerufen. Sie hatte ein schweres Herzleiden.«

In der winzigen Sakristei war kaum Platz für die drei Männer und die Leiche. Zwei Messdiener kamen herein, denn die Sieben-Uhr-Messe war ein Hochamt.

»Ihr Wagen steht sicherlich draußen«, sagte Maigret. »Sie muss ins Schloss gebracht werden.«

Immer noch spürte er den angstvollen Blick des Priesters auf sich ruhen. Ahnte er etwas? Während der Küster mit dem Chauffeur die Tote zu ihrem Wagen trug, trat der Pfarrer auf Maigret zu.

»Sind Sie sicher, dass … Ich muss noch zwei Messen lesen … Heute ist Allerseelen … Die Gläubigen sind …«

Da die Gräfin an einer Embolie gestorben war, durfte Maigret den Pfarrer doch beruhigen?

»Sie haben ja gehört, was der Arzt gesagt hat.«

»Aber ausgerechnet zu dieser Messe sind Sie hergekommen.«

Maigret gab sich Mühe, nicht verlegen zu werden.

»Ein Zufall, Herr Pfarrer. Mein Vater liegt auf Ihrem Friedhof begraben.«

Und er eilte hinaus zu dem Auto, einem altmodischen Coupé, das der Chauffeur mit der Hand ankurbelte. Der Arzt wusste nicht, was er tun sollte. Auf dem Platz standen ein paar Leute, die nicht begriffen, was hier vor sich ging.

»Kommen Sie mit uns.«

Aber die Leiche nahm fast den ganzen Platz im Auto ein.

Maigret und der Arzt zwängten sich an den Rand.

»Sie wirkten erstaunt über das, was ich gesagt habe«, murmelte der Arzt, der sich noch nicht ganz gefasst hatte. »Würden Sie die Situation kennen, könnten Sie es verstehen. Die Gräfin …«

Er verstummte und blickte auf den Chauffeur in schwarzer Livree, der den Wagen mit abwesender Miene steuerte. Man fuhr über den leicht abfallenden großen Platz. Er wurde auf der einen Seite von der höher gelegenen Kirche und auf der anderen vom an diesem Morgen giftgrau daliegenden Notre-Dame-Teich begrenzt.

Rechts lag Marie Tatins Gasthof, das erste Haus im Ort. Linker Hand führte eine Eichenallee zu dem in der Ferne aufragenden dunklen Schloss.

Der Himmel monoton, kalt wie eine Eisbahn.

»Wissen Sie, das wird allerlei Dramatisches ergeben. Deshalb hat der Pfarrer ein so düsteres Gesicht gemacht.«

Doktor Bouchardon stammte aus einer Bauernfamilie. Er trug einen braunen Jagdanzug und hohe Gummistiefel.

»Ich wollte gerade zu den Teichen gehen und Enten jagen.«

»Gehen Sie nicht zur Messe?«

Der Arzt zwinkerte ihm zu.

»Mit dem alten Pfarrer war ich gut befreundet. Aber der jetzige …«

Der Wagen bog in den Park hinein. Man erkannte jetzt die Einzelheiten des Schlosses, die Fenster im Erdgeschoss mit den geschlossenen Läden. Die beiden Ecktürme waren die einzigen alten Teile des Gebäudes.

Als der Wagen vor der Freitreppe hielt, warf Maigret einen Blick durch die vergitterten Fenster im Souterrain. In der von Dünsten erfüllten Küche meinte er eine dicke Frau, die Rebhühner rupfte, zu erkennen.

Der Chauffeur wusste nicht, was er tun sollte. Er wagte nicht, die Tür des Wagens zu öffnen.

»Monsieur Jean ist bestimmt noch nicht aufgestanden.«

»Rufen Sie irgendjemanden. Gibt es nicht mehr Dienstboten im Haus?«

Maigret lief die Nase. Es war wirklich kalt. Er stand mit dem Arzt, der sich eine Pfeife zu stopfen begann, auf dem Hof.

»Wer ist dieser Monsieur Jean?«

Bouchardon zuckte mit den Schultern und lächelte seltsam.

»Sie werden ihn kennenlernen.«

»Aber wer ist er?«

»Ein junger Mann … Ein charmanter junger Mann.«

»Ein Verwandter?«

»Wenn Sie so wollen … nun ja, auf seine Weise. Aber warum soll ich es Ihnen nicht gleich sagen. Er ist der Geliebte der Gräfin. Offiziell ihr Sekretär.«

Maigret sah den Doktor an und wusste plötzlich, dass er mit ihm auf der Schule gewesen war. Aber ihn selbst erkannte niemand hier wieder. Er war inzwischen zweiundvierzig Jahre alt. Und er war füllig geworden.

Das Schloss war ihm so vertraut wie niemandem sonst! Vor allem die Nebengebäude. Er brauchte nur ein paar Schritte zu tun, um das Haus des Verwalters zu sehen. Dort war er geboren.

Vielleicht waren es die vielen Erinnerungen, die ihn so sehr verwirrten. Besonders jene an die Gräfin von Saint-Fiacre: Damals war die junge Frau für ihn, den einfachen Jungen, der Inbegriff von Weiblichkeit, Anmut und Vornehmheit gewesen.

Sie war tot! Wie ein Ding hatte man sie in den Wagen geschoben, hatte sogar ihre Beine einknicken müssen. Und nicht einmal ihre Bluse wieder zugeknöpft, sodass die weiße Unterwäsche aus dem schwarzen Trauerkleid herausquoll.

Ein Verbrechen wird geschehen …

Aber der Arzt versicherte doch, sie sei an einer Embolie gestorben. Welcher Prophet hatte das voraussehen können? Und warum hatte er sich an die Polizei gewandt?

Im Schloss herrschte eine große Unruhe. Türen wurden geöffnet und wieder geschlossen. Ein Diener, der seine Livree erst halb angezogen hatte, öffnete das Hauptportal einen Spaltbreit und blieb zögernd stehen. Hinter ihm erschien ein Mann im Pyjama mit wirrem Haar und verschlafenen Augen.

»Was ist los?«, rief er.

»Der Gigolo«, flüsterte der Arzt Maigret sarkastisch ins Ohr.

Auch die Köchin war benachrichtigt worden und blickte stumm aus ihrem Küchenfenster im Souterrain. Unter dem Dach öffneten sich die Luken in den Zimmern der Dienstboten.

»Worauf wartet man noch? Die Gräfin soll in ihr Bett gebracht werden«, wetterte Maigret empört.

Dies alles kam ihm wie ein Sakrileg vor, denn es stimmte nicht mit seinen Kindheitserinnerungen überein. Es verursachte ihm nicht nur moralisches, sondern auch körperliches Unbehagen.

Ein Verbrechen wird geschehen …

Es läutete zum zweiten Mal. Die Leute mussten sich beeilen. Manche der Bauern kamen in ihren Karren von weit her. Und sie hatten Blumen dabei, die sie auf ein Grab legen wollten.

Jean wagte nicht näher heranzutreten.

Der Diener, der die Tür geöffnet hatte, stand noch immer wie angewurzelt da.

»Frau Gräfin … Frau Gräfin …«, stammelte er.

»Und? Wollen Sie sie im Auto lassen?«

Warum, zum Teufel, hatte der Arzt dieses ironische Lächeln?

Maigret setzte seine Autorität ein.

»Los! Zwei Männer … Sie!« Er deutete auf den Chauffeur. »… und Sie!« Er deutete auf den Diener. »Bringen Sie sie in ihr Schlafzimmer.«

Während sich die beiden über die Tote beugten, klingelte es in der Halle.

»Das Telefon. Seltsam, dass gerade jetzt jemand anruft«, murmelte Bouchardon.

Jean scheute sich, an den Apparat zu gehen. Er wirkte völlig verstört. Maigret stürzte hinein und nahm den Hörer ab.

»Hallo! … Ja, das Schloss.«

Und eine Stimme, die ganz nahe klang:

»Geben Sie mir bitte meine Mutter. Sie müsste von der Messe zurück sein.«

»Wer ist am Apparat?«

»Graf von Saint-Fiacre. Übrigens geht Sie das nichts an. Geben Sie mir meine Mutter!«

»Einen Augenblick. Von wo rufen Sie an?«

»Aus Moulins. Aber verdammt noch mal, ich sage Ihnen doch …«

»Sie kommen am besten sofort her!«, antwortete Maigret nur und hängte wieder ein.

Er musste sich dicht an die Wand stellen, um Platz für den Leichnam zu machen, den der Chauffeur und der Diener trugen.

2Das Messbuch

»Kommen Sie herein?«, fragte der Arzt, nachdem man die Tote auf ihr Bett gelegt hatte. »Jemand muss mir helfen, sie auszuziehen.«

»Es wird sich ein Hausmädchen finden«, erwiderte Maigret.

Jean eilte in das obere Stockwerk und kam kurz darauf mit einer Frau um die dreißig wieder, die sich verängstigt umsah.

»Gehen Sie!«, brummte der Kommissar in Richtung Chauffeur und Diener, die seiner Aufforderung gerne folgten.

Er hielt Jean am Ärmel fest, musterte ihn von Kopf bis Fuß und führte ihn in eine Fensternische.

»Wie stehen Sie zum Sohn der Gräfin?«

»Aber … ich …«

Der junge Mann war mager, und sein schmuddeliger gestreifter Pyjama ließ ihn nicht vorteilhafter erscheinen. Er wich Maigrets Blick aus und zog zwanghaft an seinen Fingern, als wollte er sie verlängern.

»Hören Sie«, sagte der Kommissar. »Lassen Sie uns klar und deutlich sprechen und keine Zeit verlieren.«