Maigrets Jugendfreund - Georges Simenon - E-Book

Maigrets Jugendfreund E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Maigret ist nicht gerade erfreut, als Léon Florentin unangekündigt in seinem Büro steht, ein ehemaliger Mitschüler, den er nie hat leiden können. In der Schule war Florentin der Klassenclown, nun hat er nichts mehr zu lachen: Seine Geliebte Joséphine wurde in ihrer Wohnung erschossen. Woher er das weiß? Florentin war ebenfalls da – versteckt in einem Wandschrank. Joséphine hatte noch vier weitere Liebhaber, die allesamt für ihren Unterhalt gesorgt haben, und nun gleichermaßen verdächtig sind. Der Hauptverdächtige aber ist Florentin ... Maigrets 69. Fall spielt im 9. Pariser Arrondissement.

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Georges Simenon

Maigret und sein Jugendfreund

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Cornelia Künne

Kampa

1

Die Fliege umschwirrte dreimal seinen Kopf und setzte sich dann auf die obere linke Ecke des Berichts, den er gerade mit Anmerkungen versah.

Maigret hielt die Hand still, in der er den Bleistift hatte, und betrachtete die Fliege mit amüsierter Neugier. So ging das schon fast eine halbe Stunde, und es war immer dieselbe Fliege. Er hätte schwören können, er kenne sie. Übrigens war nur diese eine im Büro.

Sie zog ein paar Kreise in dem Teil des Raums, der von der Sonne beschienen war, flog um den Kopf des Kommissars herum und landete schließlich auf dem Bericht. Dort rieb sie ihre Beine träge aneinander. Gut möglich, dass sie Maigret verspottete.

Sah sie ihn wirklich an? Und wenn ja, was hielt sie von diesem gewaltigen Fleischberg?

Er wollte sie nicht erschrecken. Er wartete, den Bleistift noch immer in der Schwebe, und plötzlich, als hätte die Fliege genug, flog sie davon, hinaus durch das offene Fenster, und verlor sich in der lauen Luft.

Es war Mitte Juni. Hin und wieder wehte ein Lüftchen in das Büro, in dem Maigret ohne Jacke saß und friedlich seine Pfeife rauchte. Er hatte beschlossen, am Nachmittag die Berichte seiner Inspektoren zu lesen und tat es nun mit der notwendigen Geduld.

Neunmal, zehnmal kam die Fliege wieder und setzte sich jedes Mal auf dieselbe Stelle, als wären sie Komplizen.

Es war ein seltsames Zusammenspiel. Die Sonne, das kühle Lüftchen, das hin und wieder hereinwehte, die Fliege, die ihn so faszinierte. All das erinnerte ihn an seine Schulzeit, als eine Fliege über dem Pult manchmal viel interessanter gewesen war als der Unterricht des Lehrers.

Joseph, der alte Bürodiener, klopfte diskret an die Tür, trat ein und reichte dem Kommissar eine Visitenkarte mit Prägedruck.

Léon Florentin

Antiquar

»Wie alt ist er?«

»Ungefähr so alt wie Sie.«

»Ist er groß und hager?«

»Sehr groß und sehr hager, ja, mit dichtem grauen Haar.«

Es war also wirklich sein Florentin, sein ehemaliger Mitschüler am Lycée Banville in Moulins, der Klassenclown.

»Bitten Sie ihn herein.«

Er hatte darüber die Fliege vergessen, die, wohl enttäuscht, erneut zum Fenster hinausgeflogen war.

Als Florentin hereinkam, waren sie beide einen Moment verlegen, denn sie hatten sich nur ein einziges Mal gesehen, seit sie die Schule in Moulins verlassen hatten. Das war etwa zwanzig Jahre her. Maigret war damals auf der Straße einem eleganten Paar begegnet. Die Frau war hübsch gewesen, eine richtige Pariserin.

»Darf ich dir einen alten Schulfreund vorstellen, der bei der Polizei arbeitet?«

Und dann zu Maigret: »Darf ich Ihnen … Darf ich dir Monique vorstellen, meine Frau?«

Auch an jenem Tag hatte die Sonne geschienen. Sie hatten nicht gewusst, was sie sich sagen sollten.

»Und, wie geht’s? Alles gut?«

»Alles gut«, hatte Maigret geantwortet. »Und bei dir?«

»Kann nicht klagen.«

»Wohnst du in Paris?«

»Ja. Boulevard Haussmann, Nummer zweiundsechzig. Aber ich bin geschäftlich viel auf Reisen. Komme gerade aus Istanbul. Du musst uns unbedingt besuchen. Natürlich mit deiner Frau, falls du verheiratet bist.«

Sie waren beide befangen gewesen. Dann war das Paar auf ein mandelgrünes Cabrio zugesteuert, und der Kommissar hatte seinen Weg fortgesetzt.

Der Florentin, der jetzt sein Büro betrat, war weniger forsch als der auf der Place de la Madeleine. Er trug einen ziemlich abgetragenen grauen Anzug und wirkte verunsichert.

»Wie freundlich, mich gleich zu empfangen. Wie geht es Ihnen … Wie geht es dir?«

Auch Maigret fiel es nicht leicht, ihn nach so langer Zeit zu duzen.

»Und dir? … Bitte, nimm Platz. Wie geht es deiner Frau?«

Florentins hellgraue Augen blickten einen Moment ins Leere, als versuchte er sich zu erinnern.

»Meinst du Monique, die kleine Rothaarige? Wir haben zwar eine Weile zusammengelebt, geheiratet habe ich sie aber nicht … Ein anständiges Mädchen …«

»Bist du nicht verheiratet?«

»Wozu?«

Und Florentin schnitt eine seiner Grimassen, die seine Schulkameraden so amüsiert und die Lehrer entwaffnet hatten. Sein Gesicht schien, trotz der markanten Züge, wie aus Gummi, so sehr konnte er es in alle Richtungen verziehen.

Maigret wagte nicht, nach dem Grund seines Besuchs zu fragen. Er musterte ihn und konnte kaum glauben, dass so viele Jahre vergangen waren.

»Du hast aber ein hübsches Büro. Ich wusste nicht, dass ihr bei der Kriminalpolizei so gut ausgestattet seid.«

»Du bist Antiquar geworden?«

»Wenn man’s so nennen will … Ich kaufe alte Möbel und frische sie etwas auf, in einer kleinen Werkstatt am Boulevard Rochechouart. Du weißt ja, heute nennt sich fast jeder Antiquar …«

»Zufrieden?«

»Ich würde mich nicht beklagen, wenn mir heute Nachmittag nicht dieses Malheur passiert wäre.«

Er war so daran gewöhnt, den Clown zu spielen, dass er ganz unwillkürlich Grimassen schnitt. Seine Gesichtsfarbe aber blieb grau, sein Blick unstet.

»Deswegen bin ich hier. Ich habe mir gesagt, du würdest mehr Verständnis haben als ein anderer.«

Er zog ein Päckchen Zigaretten aus seiner Tasche und steckte sich eine an. Seine langen knochigen Finger zitterten. Maigret glaubte, eine Alkoholfahne zu riechen.

»Um ehrlich zu sein, sitze ich ziemlich in der Patsche.«

»Erzähl.«

»Das ist es ja. Es ist schwer zu erklären. Seit vier Jahren habe ich eine Freundin.«

»Wieder eine, mit der du zusammenlebst?«

»Ja und nein … Nein, nicht wirklich. Sie wohnt in der Rue Notre-Dame-de-Lorette, in der Nähe der Place Saint-Georges.«

Maigret wunderte sich, dass Florentin beim Reden immer wieder stockte und zur Seite sah. Er war immer sehr selbstbewusst gewesen, nie um Worte verlegen. Auf dem Gymnasium hatte Maigret ihn darum beneidet, und ein wenig auch darum, dass sein Vater die beste Konditorei der Stadt besaß, gleich gegenüber der Kathedrale. Der nach ihm benannte Nusskuchen hatte es sogar zur lokalen Spezialität gebracht.

Florentin hatte nie leere Taschen gehabt. Er konnte Faxen in der Klasse machen, ohne dafür bestraft zu werden. Als wäre er unantastbar. Und wenn es dunkel wurde, ging er manchmal mit Mädchen aus.

»Erzähl.«

»Sie heißt Josée. Na ja, eigentlich heißt sie Joséphine Papet, aber Josée gefällt ihr besser, und mir auch. Sie ist vierunddreißig, sieht aber viel jünger aus.«

Florentins Gesicht war so beweglich, dass man meinen konnte, er habe einen Tick.

»Es ist schwer zu erklären, mein Lieber.«

Er stand auf und ging zum Fenster, wo sein langer Körper sich im Gegenlicht abzeichnete.

»Es ist heiß bei dir«, seufzte er und wischte sich die Stirn.

Die Fliege blieb verschwunden, die obere linke Ecke des Berichts leer. Man hörte Autos und Busse über die Pont Saint-Michel fahren und manchmal das Horn eines Schleppers, wenn er mit eingezogenem Schornstein unter einer Brücke hindurchfuhr.

Die Uhr aus schwarzem Marmor, die gleiche wie in allen Büros der Kriminalpolizei und sicherlich noch in Hunderten weiteren Amtsbüros, zeigte zwanzig nach fünf.

»Ich bin nicht der Einzige«, sagte Florentin schließlich.

»Der einzige was?«

»Der einzige Freund von Josée. Das ist es, was so schwierig zu erklären ist. Sie ist das beste Mädchen der Welt, und ich war ihr Geliebter, ihr Freund und ihr Vertrauter.«

Maigret zündete seine Pfeife wieder an und übte sich in Geduld. Sein ehemaliger Schulkamerad nahm wieder ihm gegenüber Platz.

»Hat sie viele andere Freunde?«, fragte der Kommissar schließlich, als das Schweigen zu lange anhielt.

»Moment … Ich muss sie zählen. Da ist Paré, eins. Dann kommt Courcel, zwei. Dann Victor, drei. Schließlich ist da noch ein Bürschchen, das ich nie gesehen habe. Ich nenne ihn den Roten … vier.«

»Vier Liebhaber, die sie regelmäßig besuchen?«

»Einige einmal, die anderen zweimal die Woche.«

»Wissen sie voneinander?«

»Natürlich nicht.«

»Also glaubt jeder, er allein halte sie aus?«

Offenbar gefiel Florentin diese Formulierung nicht, denn er begann eine Zigarette über dem Teppich zu zerbröseln.

»Wie ich dir schon sagte, es ist schwer zu erklären.«

»Und was ist deine Rolle?«

»Ich bin ihr Freund … Sobald sie allein ist, gehe ich zu ihr.«

»Schläfst du bei ihr in der Rue Notre-Dame-de-Lorette?«

»Außer von Donnerstag auf Freitag.«

»Weil dein Platz dann besetzt ist?«, fragte Maigret ganz sachlich.

»Ja, von Courcel. Sie kennt ihn seit zehn Jahren. Er wohnt in Rouen und hat ein Büro am Boulevard Voltaire. Es würde zu lange dauern, das zu erklären … Verachtest du mich?«

»Ich habe noch nie jemanden verachtet.«

»Ich weiß, all das mag pikant erscheinen, und die meisten Leute würden mich aufs Schärfste verurteilen. Aber ich schwöre dir, wir lieben uns, Josée und ich.« Rasch fügte er hinzu: »Oder vielmehr, wir haben uns geliebt.«

Das ließ den Kommissar nicht unberührt. Sein Blick verhärtete sich.

»Habt ihr miteinander gebrochen?«

»Nein.«

»Ist sie tot?«

»Ja.«

»Seit wann?«

»Seit heute Nachmittag.«

Florentin blickte ihn mit tragischer Miene an und sagte ziemlich theatralisch:

»Ich schwöre dir, ich war es nicht. Du kennst mich. Und weil du mich kennst und ich dich kenne, bin ich zu dir gekommen.«

Sie hatten sich wirklich gekannt, mit zwölf, fünfzehn, siebzehn Jahren, aber seitdem war jeder seiner Wege gegangen.

»Woran ist sie gestorben?«

»Sie ist erschossen worden.«

»Von wem?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wo ist es passiert?«

»Bei ihr zu Hause, in ihrem Schlafzimmer.«

»Wo warst du zu dieser Zeit?«

Das Duzen wurde immer schwieriger.

»In der Ankleide.«

»Soll das heißen, du warst in der Wohnung?«

»Ja. Das kam häufiger vor. Wenn jemand geklingelt hat, dann bin ich … Widere ich dich an? Ich schwöre dir, es ist nicht, was du glaubst. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt … Ich arbeite …«

»Versuche mir genau zu berichten, was geschehen ist.«

»Ab wann?«

»Sagen wir ab heute Mittag.«

»Wir haben zusammen gegessen. Sie kocht sehr gut. Wir saßen am Fenster. Wie jeden Mittwoch hat sie erst gegen halb sechs oder sechs jemanden erwartet.«

»Wen?«

»Er heißt François Paré, etwa fünfzig, Abteilungsleiter beim Tiefbauamt. Er ist für die Schifffahrt zuständig. Er wohnt in Versailles.«

»Kommt er nie früher?«

»Nein.«

»Was war nach dem Mittagessen?«

»Wir haben geplaudert.«

»Wie war sie gekleidet?«

»Sie trug einen Morgenrock. Wenn sie nicht ausgeht, trägt sie immer einen Morgenrock. Gegen halb vier hat es geklingelt, und ich bin in die Ankleide gestürzt. Da gibt es keinen direkten Zugang zum Schlafzimmer, nur zum Bad.«

Maigret wurde ungeduldig.

»Und dann?«

»Etwa eine Viertelstunde später habe ich ein Geräusch gehört. Es klang wie ein Schuss.«

»Also um Viertel vor vier?«

»Vermutlich.«

»Bist du gleich hingegangen?«

»Nein … Eigentlich hätte ich ja gar nicht da sein dürfen. Außerdem konnte das, was ich für einen Schuss gehalten hatte, auch vom Auspuff eines Autos oder Busses kommen.«

Maigret betrachtete ihn mit gespannter Aufmerksamkeit. Er erinnerte sich an Geschichten, die Florentin ihnen früher erzählt hatte, alle mehr oder weniger erfunden. Es schien, als könnte er Wahrheit und Lüge nicht voneinander unterscheiden.

»Worauf haben Sie gewartet?«

»Du siezt mich? Du siehst doch, dass …«

Er machte einen gekränkten, enttäuschten Eindruck.

»Nun gut. Worauf hast du im Schrank gewartet?«

»Es ist nicht bloß ein Schrank, sondern eine recht geräumige Kabine. Ich habe darauf gewartet, dass der Mann geht.«

»Woher weißt du, dass es ein Mann war, wenn du ihn nicht gesehen hast?«

Der andere sah ihn verblüfft an.

»Daran habe ich nicht gedacht …«

»Hatte diese Josée keine Freundinnen?«

»Nein.«

»Keine Angehörigen?«

»Sie stammt aus Concarneau, und ich kenne niemanden aus ihrer Familie.«

»Woran hast du gemerkt, dass die Person gegangen war?«

»Ich habe Schritte im Wohnzimmer gehört, dann ging die Tür auf und wieder zu.«

»Wie spät war es da?«

»Etwa vier.«

»Der Mörder ist also eine Viertelstunde bei seinem Opfer geblieben?«

»Das ist anzunehmen.«

»Als du dann ins Schlafzimmer kamst, wo hast du deine Geliebte gefunden?«

»Auf dem Boden, neben dem Bett.«

»Was hatte sie an?«

»Immer noch ihren gelben Morgenrock.«

»Wo ist sie getroffen worden?«

»Am Hals.«

»Bist du sicher, dass sie tot war?«

»Das war nicht schwer zu erkennen.«

»War im Zimmer ein Durcheinander?«

»Mir ist nichts aufgefallen.«

»Keine offenen Schubladen, keine verstreuten Papiere?«

»Nein … Ich glaube nicht.«

»Du bist dir nicht sicher?«

»Ich war zu aufgeregt.«

»Hast du einen Arzt gerufen?«

»Nein … Da sie schon tot war …«

»Hast du die Polizei gerufen?«

»Auch nicht.«

»Um fünf nach fünf warst du hier. Was hast du bis dahin gemacht?«

»Erst einmal bin ich völlig erschlagen in einen Sessel gesunken. Ich habe es nicht begriffen … Ich begreife es noch immer nicht. Dann ist mir klar geworden, dass man mich beschuldigen wird, zumal diese Giftschlange von Concierge mich hasst.«

»Du bist fast eine Stunde lang in dem Sessel sitzen geblieben?«

»Nein … Ich weiß nicht, wie viel später ich rausgegangen bin, ins Bistro Grand-Saint-Georges. Dort habe ich drei Cognac gekippt.«

»Und dann?«

»Dann ist mir eingefallen, dass du ein großes Tier bei der Kriminalpolizei geworden bist.«

»Wie bist du hergekommen?«

»Mit dem Taxi.«

Maigret war wütend. Aber das zeigte sich nur in der Reglosigkeit seiner Miene. Er öffnete die Tür zum Büro der Inspektoren, schwankte zwischen Janvier und Lapointe und entschied sich schließlich für Janvier.

»Hast du einen Moment? Ruf bitte Moers im Labor an, er soll uns in der Rue Notre-Dame-de-Lorette treffen. Wie ist die Hausnummer?«

»Siebzehn.«

Jeder Blick, mit dem er seinen alten Schulkameraden bedachte, war schroff und undurchdringlich zugleich. Während Janvier telefonierte, sah Maigret zur Marmoruhr. Es war halb sechs.

»Wer war doch gleich der Mittwochskunde?«

»Paré. Der vom Tiefbauamt.«

»Normalerweise müsste er jetzt dort auftauchen.«

»Das stimmt.«

»Hat er einen Schlüssel?«

»Keiner von ihnen hat einen.«

»Auch du nicht?«

»Bei mir ist das etwas anderes. Du verstehst, mein Lieber …«

»Kannst du dieses ›mein Lieber‹ bitte sein lassen?«

»Da siehst du’s! Selbst du … du …«

»Gehen wir.«

Maigret griff im Vorbeigehen nach seinem Hut, und noch während sie die breite graue Treppe hinunterstiegen, stopfte er sich eine Pfeife.

»Ich frage mich, warum du so lange gewartet hast, bis du hergekommen bist … War sie vermögend?«

»Vermutlich. Vor drei oder vier Jahren hat sie sich als Geldanlage ein Haus in der Rue du Mont-Cenis gekauft, ganz oben in Montmartre.«

»Hatte sie Bargeld in der Wohnung?«

»Gut möglich, beschwören kann ich es aber nicht. Ich weiß nur, dass sie Banken misstraut hat.«

Sie nahmen einen der kleinen schwarzen Wagen, die im Hof geparkt waren. Janvier setzte sich ans Steuer.

»Du willst mir weismachen, dass du nicht weißt, wo sie ihre Ersparnisse aufbewahrte, obwohl du mit ihr zusammengelebt hast?«

»Es ist die Wahrheit.«

Hör auf, den Clown zu spielen, hätte er ihm am liebsten entgegengeschleudert. Hatte er Mitleid mit ihm?

»Wie viele Zimmer hat die Wohnung?«

»Ein Wohnzimmer, ein Esszimmer, ein Schlafzimmer mit Bad und eine kleine Küche.«

»Die Ankleide nicht mitgezählt?«

»Die Ankleide nicht mitgezählt.«

Während Janvier sich zwischen den Wagen hindurchschlängelte, versuchte er aus den wenigen Sätzen zu schließen, worum es ging.

»Ich schwöre dir, Maigret …«

Ein Glück wenigstens, dass er ihn nicht Jules nannte. Schon im Gymnasium hatten sie die Gewohnheit gehabt, sich mit dem Nachnamen anzusprechen.

Als die drei Männer an der Loge vorbeigingen, sah Maigret, wie sich der Tüllvorhang hinter der Glastür bewegte und dass dahinter eine massige Concierge stand. Ihr Gesicht passte zu ihrem Körperbau. Sie starrte sie an, reglos, wie ein lebensgroßes Bildnis oder eine Statue.

Der Fahrstuhl war eng, Maigret konnte den Blicken seines einstigen Mitschülers nicht ausweichen. Es war ihm unangenehm. Woran dachte der Konditorsohn aus Moulins in diesem Augenblick? Schnitt er, obschon um einen natürlichen Ausdruck, ja um ein Lächeln bemüht, aus Angst unaufhörlich Grimassen?

War er der Mörder von Joséphine Papet? Was hatte er in der Stunde getan, bevor er zum Quai des Orfèvres gekommen war?

Als sie im dritten Stock über den Flur gingen, zog Florentin ganz selbstverständlich einen Schlüsselbund aus seiner Tasche. Durch eine winzige Diele gelangte man in das Wohnzimmer. Maigret fühlte sich fünfzig Jahre, wenn nicht gar noch weiter in der Zeit zurückversetzt.

Die altrosa Seidenvorhänge waren wie ehedem drapiert und wurden von dicken Seidenkordeln zusammengehalten. Auf dem Parkett lag ein verblasster Teppich.

Samt und Seide überall und natürlich Zierdeckchen, geklöppelte oder gehäkelte Spitzenschoner auf den falschen Louis-XVI-Sesseln.

Am Fenster ein samtbezogener Diwan mit zerknitterten Kissen, als hätte eben noch jemand hier gesessen. Daneben ein Tischchen, eine Lampe mit rosa Schirm auf vergoldetem Fuß.

Dies war wohl Josées Lieblingsplatz gewesen: ein Plattenspieler, Pralinen, Zeitschriften und mehrere Liebesromane in Reichweite, der Fernseher gegenüber, auf der anderen Seite des Zimmers.

An den Wänden mit der kleingeblümten Tapete hingen akkurat gemalte Landschaftsbilder.

Florentin, der Maigrets Blick gefolgt war, bestätigte:

»Hier hielt sie sich meistens auf.«

»Und du?«

Der Antiquar deutete auf einen alten Ledersessel, der sich nicht ins Bild fügte.

»Den habe ich beigesteuert.«

Das Esszimmer war ebenso altmodisch, ebenso gewöhnlich, ebenso bedrückend. Auch hier waren die schweren Samtvorhänge drapiert, und auf den beiden Fensterbänken standen Zimmerpflanzen.

Die Tür zum Schlafzimmer stand einen Spaltbreit offen. Florentin zögerte. Maigret trat als Erster ein. Keine zwei Meter von ihm entfernt, ausgestreckt auf dem Teppich, lag die Leiche.

Wie so oft wirkte das Loch im Hals unverhältnismäßig groß für das Kaliber einer Kugel. Sie hatte stark geblutet. Ihre Miene verriet Erstaunen.

Soweit man es beurteilen konnte, war die kleine, rundliche Frau eines dieser sanftmütigen Wesen, die einen an wohlschmeckende Eintöpfe und liebevoll eingekochte Marmelade denken ließen.

Maigret blickte sich suchend um.

»Ich habe keine Waffe gesehen«, erklärte Florentin, der Maigrets Gedanken erneut erraten hatte. »Wenn sie nicht auf den Revolver gefallen ist, was ich für unwahrscheinlich halte …«

Das Telefon befand sich im Wohnzimmer. Maigret wollte die notwendigen Formalitäten hinter sich bringen.

»Janvier, ruf zuerst die Bezirkswache an. Bitte den Wachtmeister, mit einem Arzt herzukommen, und dann benachrichtige die Staatsanwaltschaft.«

Moers und seine Leute vom Erkennungsdienst würden jeden Augenblick da sein. Vorher wollte Maigret sich in aller Ruhe umschauen. Er ging ins Badezimmer. Die Handtücher waren rosa. Es gab viel Rosa in der Wohnung. Als er die Tür zur Ankleide öffnete, eine Art Flur, der nirgendwohin führte, sah er noch mehr Rosa. Das Bonbonrosa eines Morgenrocks und das kräftigere Rosa eines Sommerkleids. Die anderen Kleider waren ebenfalls in Pastelltönen gehalten. Mandelgrün, hellblau.

»Hast du keine Anzüge hier?«

»Das wäre schwierig«, murmelte Florentin ein wenig verlegen. »Die anderen sollten denken, sie lebe allein …«

Natürlich! Auch das war altmodisch: diese reifen Herren, die, ohne voneinander zu wissen, ein- oder zweimal wöchentlich kamen und sich der Illusion hingaben, eine Geliebte auszuhalten.

Aber wussten sie wirklich nichts voneinander?

Zurück im Schlafzimmer zog er Schubladen auf und fand Rechnungen, Wäsche, ein Kästchen mit wertlosem Schmuck.

Es war sechs Uhr.

»Der Mittwochsherr müsste jetzt da sein«, bemerkte er.

»Vielleicht war er da und ist wieder gegangen, als niemand auf das Klingeln geantwortet hat?«

Janvier meldete:

»Der Kommissar ist unterwegs. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft kommt sofort und mit ihm der Untersuchungsrichter.«

Es war der Augenblick, den Maigret bei seinen Ermittlungen am meisten hasste. Fünf oder sechs Männer musterten sich gegenseitig und dann die Leiche, neben der der Arzt kniete. Eine reine Formalität. Der Arzt konnte nur noch den Tod feststellen. Alles Nähere würde man erst nach der Autopsie erfahren. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft bestätigte den Tod im Namen der Regierung.

Der Untersuchungsrichter sah den Kommissar an, als wollte er ihn fragen, was er darüber denke. Aber Maigret dachte noch gar nichts. Der Wachtmeister hatte es eilig, wieder in sein Büro zu kommen.

»Halten Sie mich auf dem Laufenden«, murmelte der Richter, der um die vierzig war und wohl noch nicht lange in Paris lebte.

Er hieß Page. Er war auf der Karriereleiter hinaufgeklettert, indem er nach seinen Anfängen in einer Unterpräfektur in immer größere Städte berufen worden war.

Moers und seine Männer warteten im Wohnzimmer, wo einer der Spezialisten nach Fingerabdrücken suchte.

»Jetzt seid ihr dran, Kinder. Zuerst Aufnahmen vom Opfer, ehe der Leichenwagen eintrifft«, sagte Maigret, als die Amtspersonen gegangen waren. Als er zur Tür ging, wollte Florentin ihm folgen.

»Nein, du bleibst hier. Du, Janvier, befragst die Flurnachbarn und falls nötig die im Stock darüber. Erkundige dich bei ihnen, ob sie etwas gehört haben.«

Der Kommissar nahm die Treppe. Das Haus war altmodisch, aber noch sehr präsentabel. Der rote Läufer war auf jeder Stufe mit einer Messingstange befestigt. Die meisten Türklinken waren blank poliert, genauso ein Schild mit der Aufschrift:

Mademoiselle Vial

Korsetts und Hüfthalter nach Maß

An ihrer Tür, hinter dem Vorhang, den sie mit ihren Wurstfingern beiseiteschob, stand noch immer die monumentale Concierge. Als er Anstalten machte einzutreten, wich sie fast unmerklich einen Schritt zurück, und er stieß die Tür auf.

Sie blickte ihn so gleichgültig an, als wäre er irgendein beliebiger Gegenstand, und zuckte nicht mit der Wimper, als er ihr seine Dienstmarke zeigte.

»Ich nehme an, Sie sind nicht auf dem Laufenden?«

Sie machte den Mund nicht auf, aber ihre Augen schienen zu sagen:

Worüber?

Die Loge war sauber. In der Mitte stand ein runder Tisch, darauf ein Käfig mit zwei Kanarienvögeln. Im Hintergrund sah man eine Küche.

»Mademoiselle Papet ist tot.«

Endlich sprach sie. Ihre Stimme war dumpf und offenbarte dieselbe Gleichgültigkeit wie ihr Blick. War es nicht eher Feindseligkeit als Gleichgültigkeit? Sie sah die Welt durch ihre Tür und hasste sie, und zwar alles daran.

»Darum der Krach auf der Treppe? Es sind bestimmt zehn Mann oben, nicht wahr?«

»Wie heißen Sie?«

»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.«

»Da ich Ihnen mehrere Fragen zu stellen habe, muss ich Ihren Namen in meinem Bericht erwähnen.«

»Madame Blanc.«

»Witwe?«

»Nein.«

»Lebt Ihr Mann hier?«

»Nein.«

»Hat er Sie verlassen?«

»Vor neunzehn Jahren.«

Sie setzte sich in einen Sessel, der ihrer Leibesfülle angemessen war, und Maigret nahm ebenfalls Platz.

»Ist zwischen halb sechs und sechs jemand zu Mademoiselle Papet hinaufgegangen?«

»Ja, um zwanzig vor sechs.«

»Wer?«

»Der Mittwochsherr natürlich. Ich habe sie nie nach ihren Namen gefragt. Ein Großer mit spärlichem Haar, immer dunkel gekleidet.«

»Ist er lange oben geblieben?«

»Nein.«

»Hat er nicht mit Ihnen gesprochen, als er herunterkam?«

»Er hat mich gefragt, ob die Papet ausgegangen sei.«

Jedes Wort musste man ihr einzeln aus der Nase ziehen.

»Was haben Sie geantwortet?«

»Dass ich sie nicht gesehen habe.«

»Schien er überrascht?«

»Ja.«

Es war zermürbend, zumal ihr Blick so starr blieb wie ihr Körper dick.

»Vorher haben Sie niemanden gesehen?«

»Nein.«

»Haben Sie nicht zum Beispiel gegen halb vier jemanden hinaufgehen sehen? Waren Sie da hier?«

»Ich war hier, und es ist niemand hinaufgegangen.«

»Und heruntergekommen? Gegen vier?«

»Erst um zwanzig nach vier.«

»Wer?«

»Der Kerl.«