Mainschatten - Anja Mäderer - E-Book

Mainschatten E-Book

Anja Mäderer

4,8

Beschreibung

Der tödliche Unfall eines jungen Lehrers in einer traditionsreichen Würzburger Tanzschule stellt sich als Mord heraus. Kommissarin Nadja Gontscharowa nimmt undercover Tanzstunden, doch statt der Lösung näher zu kommen, gerät sie immer tiefer in ein Netz aus Verrat und Eifersucht. Bis sie entdeckt, dass sich im Umfeld der Schule schon einmal ein Todesfall ereignet hat . . .

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Anja Mäderer wurde 1991 in Gunzenhausen geboren und zog zum Studium nach Würzburg. Nach dem Staatsexamen unterrichtete sie an einer Schule für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und verbrachte anschließend ein Vierteljahr in Buenos Aires. Inzwischen lebt und schreibt sie wieder in Franken.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.   Die Zitate auf den Zwischentiteln stammen aus:Juli Zeh, Corpus Delicti. Ein Prozess ©Schöffling & Co.

© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Heinz Wohner/LOOK-foto Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Hilla Czinczoll eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-119-2 Franken Krimi Originalausgabe

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Für Paul,der an einem ganz normalen Tag in einem ganz normalen Bus in mein Leben gefahren kam und seitdem nicht mehr daraus wegzudenken ist

Teil 1

Der Mensch ist doch nur eine hübsche Verpackung für die Erinnerung.

Juli Zeh, »Corpus Delicti«

1

Drei, zwei, eins, zwei, eins, drei, zwei, eins, drei, zwei… Das Zählen hilft. Es hilft ihr dabei, das Haus zu verlassen. Es hilft, von einem Ort zum anderen zu kommen. Es hilft, die Zeit zwischen den bekannten Stationen zu überbrücken. Sie hat sich die Gedanken von früher zurechtgelegt, die normalen Gedanken. Auf diesen ausgetretenen Pfaden kann sie balancieren. Beim Metzger, wenn ihr Blick auf die fleckige Schürze der Verkäuferin fällt, denkt sie jedes Mal: Hoffentlich fasst sie meinen Wurstaufschnitt nicht mit der Hand an. Danach kann sie das Geld abzählen und einen schönen Feierabend wünschen, egal wie spät es ist.

Wenn sie wieder auf der Straße steht, beginnt das Zählen erneut, bis sie am Park angelangt ist. Dort füttert sie die Enten mit altem Brot und fragt sich: Ist das überhaupt gesund für die Tiere? Sie bleibt so lange stehen, bis jede Ente und jeder Erpel sein Stückchen bekommen hat, denn sie kennt ja inzwischen jeden Einzelnen. Danach zählt sie weiter bis zum Supermarkt, wo sie ihre Liste hervorholt und alles in den Wagen stapelt, wo sie manchmal viel zu viel kauft und manchmal viel zu wenig.

Sie muss ihre Gedanken beschäftigt halten. Denn in der kleinsten Pause, wenn sie das Zählen vergisst, dann pocht ein Name an die Oberfläche ihrer Wahrnehmung. Ein Name, der eigentlich nicht mehr existiert. Und mit dem Namen kommen Bilder und eine Stimme, die singt und flüstert und quasselt und bockt und trällert und schreit. Dann kommen Erinnerungen und eine Bewegung, die erste, und ein Geruch. Und dann kommt die Stille.

In die Stille hinein schleicht sich der Schmerz. Er zwingt sie, stillzustehen, auf die Stimme zu hören und zu begreifen. Danach kann sie nicht mehr weiter. Sie muss nach Hause laufen, nach Hause rennen und den Schmerz so lange zurückdrängen, bis sie allein ist. Dann erst darf sie rufen und eine Suche beginnen, die kein Ende findet und nie eines finden wird.

* * *

Es war Sonntag, sieben Uhr dreißig, als das Handy klingelte. Nadja Gontscharowa drehte sich unwillig im Bett herum und tastete nach dem Nachttischchen, wo sie es vermutete. Dabei stießen ihre Finger gegen ein Glas, das umkippte und einen Schwall Wasser über die Matratze ergoss.

Nadja fuhr hoch und suchte schimpfend nach einer Packung Taschentücher, um die Flut einzudämmen. Das Telefon klingelte weiter. Seufzend tappte sie zu dem einzigen Stuhl, der neben mehreren halb leeren Umzugskartons im Zimmer stand, und schnappte sich die über der Lehne hängende Jeans. Als sie das Handy aus der Hosentasche zog, kam ihr das Klingeln gleich doppelt so laut und mindestens fünfmal so nervig vor. Wieder einmal nahm sie sich vor, einen harmonischeren Klingelton einzustellen.

»Nadja Gontscharowa, hallo?«, meldete sie sich mit einem Räuspern, um ihre verschlafene Stimme zu kaschieren.

»Ah, habe ich Ihren Schönheitsschlaf unterbrochen, Verehrteste? Ich bin untröstlich, man könnte auch sagen, am Boden zerstört. Zerknirscht und mit tief gesenktem Büßerhaupt wage ich es dennoch, für einige Minuten Ihre Aufmerksamkeit aus den schönsten Träumen heraus an mich zu reißen.«

Nun gähnte Nadja ungeniert. »Kommen Sie zum Punkt, Professor«, sagte sie, angelte ihre Hausschlappen unter dem Bett hervor und schlurfte mit dem Handy am Ohr ins Badezimmer.

Während Lars Nauke zu weitschweifigen Erklärungen ausholte, musterte Nadja ihr Spiegelbild. Es war eindeutig von Vorteil, dass sie die Augen noch immer halb geschlossen hatte, so konnte sie sich einbilden, bei ihrem bleichgesichtigen Gegenüber handle es sich um eine optische Täuschung. Sie selbst sah auf keinen Fall so fertig aus. Sie war kaum Mitte dreißig, trieb viel Sport, rauchte nicht und ernährte sich gesund. Zumindest ab und zu. Wenn sie Zeit hatte.

Mit schlechtem Gewissen dachte sie an die letzten Wochen zurück, während derer sie sich hauptsächlich von Burgern, Pizza, Leberkässemmeln und Schmalzgebäck ernährt hatte. Aber seit Hauptkommissar Karlheinz Bär, ihr Vorgesetzter, wegen eines Herzinfarkts ausgefallen war und Nadja ihn vertreten musste, schien ihr die Zeit nur so davonzulaufen. Als stellvertretende Leiterin des WürzburgerK1 konnte sie nicht einfach um fünf nach Hause gehen und sich ein ausgewogenes Abendessen kochen. Meistens saß sie dann noch am Computer, brütete über Protokollen oder versuchte, der wachsenden Flut von E-Mails Herr zu werden.

Nadja realisierte, dass Lars Nauke seinen Redefluss unterbrochen hatte und nun ein belustigtes Schnauben von sich gab.

»Was?«, fragte sie verwirrt. »Sie müssen deutlicher sprechen. Wenn Sie so nuscheln, versteht man ja kein Wort.« Die Kommissarin konnte sein Grinsen richtiggehend erahnen.

»Aber Frau Gontscharowa, warum haben Sie so große Ohren?«, fragte der Rechtsmediziner mit verstellter Stimme.

Nadja seufzte. Lars Nauke war einer der brillantesten Köpfe, den sie kannte, aber leider auch der kindischste. Und eine weitere seiner schlechten Eigenschaften war die grässlich gute Laune am frühen Morgen. Er würde nicht eher Ruhe geben, bis sie sein Spielchen mitmachte. »Damit ich Sie besser hören kann«, erwiderte sie also brav.

»Sehr schön, also sperren Sie Ihre wohlgeformten Öhrchen mal hübsch auf und geben Sie gut Acht. Ich habe hier eine ziemlich tote Leiche vor mir liegen. Und da stinkt was zum Himmel, natürlich rein metaphorisch gesprochen. Will sagen, die Leiche ist ermordet worden, als sie noch keine Leiche war. Und da Kriminalhauptkommissar Bär noch nicht wieder einsatzfähig ist, dürfen Sie wohl die Ermittlungen leiten. Na, freuen Sie sich?«

Er klang so wohlwollend, als hätte er seiner Lieblingsnichte gerade ein rosa Pony zum Geburtstag geschenkt. Nur dass in diesem Fall das Pony aus einem Mordopfer bestand. Nadja kippte Mundwasser in einen Zahnputzbecher, nahm einen Schluck und gurgelte laut und vernehmlich. Sie hoffte, Professor Nauke würde den Wink mit dem Zaunpfahl verstehen und sich jetzt etwas kürzer fassen. Doch weit gefehlt.

»Was ist denn bei Ihnen los? Gibt es einen Rohrbruch? Soll ich vorbeikommen? Ich könnte in fünf Minuten da sein«, bot er an.

Nadja verschluckte sich vor Schreck an der Mundspülung und bekam einen Hustenanfall.

Lars Nauke schien zu lauschen, dann sagte er ungerührt: »Ah, dann sind Sie jetzt also endlich wach, und ich kann zur Sache kommen. Wie heilsam so ein kleiner Schock am Morgen doch sein kann. Und hören Sie auf, in mein Ohr zu husten. Das kommt davon, wenn Sie so ungezogen sind und Ihre Morgentoilette beim Telefonieren erledigen.«

Nadja gab sich geschlagen und ging zurück ins Schlafzimmer, wo sie einen zerknitterten Block unter einem Berg Wäsche hervorkramte und sich damit aufs Bett setzte. »Okay, alles bereit. Schießen Sie los«, sagte sie und zog sich die Bettdecke über die Füße.

Lars Nauke erklärte: »Es geht um den Tanzschultoten. Der Fall sah ja zuerst recht eindeutig aus, also sind wir von einem Unfall ausgegangen. Das Opfer heißt Sebastian Dreher, achtundzwanzig Jahre alt, Tanzlehrer. Er ist der Sohn von den Drehers, diesem Tänzerehepaar, Sie wissen schon.«

»Nein, weiß ich nicht«, antwortete Nadja. Sie bildete sich ein, vor dem Leichenfund noch nie etwas von der Familie gehört zu haben.

Lars Nauke seufzte, als hätte er es mit einer besonders langsamen Schülerin zu tun. »Ich vergesse immer, dass Sie ja keine echte Würzburgerin sind, sondern eine ›Zugroaste‹«, sagte er gönnerhaft und unterschlug dabei geflissentlich die Tatsache, dass er ebenfalls ein »Zugroaster« war, wenn er nun auch schon ziemlich lange in Würzburg lebte.

Dann bequemte er sich zu erklären: »Die Drehers sind die Besitzer unserer ältesten und renommiertesten Tanzschule. Yvonne Dreher war früher Turniertänzerin, hat sogar bei den Deutschen Meisterschaften teilgenommen, soweit ich weiß. Ihr Mann ist eher der gemütliche Typ. Es heißt, er stehe ziemlich unter dem Pantoffel, ist aber auch ein guter Tanzlehrer. Und Sebastian ist vor ein paar Jahren in das Familienunternehmen mit eingestiegen.«

»Das ist ihm anscheinend nicht gut bekommen«, murmelte Nadja.

»Wach gefallen Sie mir gleich viel besser«, antwortete Lars Nauke nur.

»Aber Sie haben mir doch vor drei Tagen noch erklärt, dass er zuckerkrank war. Wie hatten Sie das so schön formuliert: Er ist zuerst in den Unterzucker gefallen und dann die Treppe runter. Und war die Tür zur Tanzschule nicht sogar verschlossen, als die Putzfrau morgens kam und die Leiche fand? Der Mörder müsste ja irgendwie hinein- und hinausgekommen sein. Das fanden wir zuerst alle nicht sehr wahrscheinlich. Aber jetzt haben Sie eine andere Theorie entwickelt?«

Nun war es an Professor Nauke, sich zu räuspern. Er machte selten Fehler, und wenn doch, dann gab er sie ungern zu.

»Also der genaue Ablauf war nicht so ganz klar. Sebastian Dreher war Diabetiker Typ1, musste sich also regelmäßig Insulin spritzen. Aber ob er wegen der Hypoglykämie überhaupt erst gestürzt ist oder zuerst den Unfall hatte und im bewusstlosen Zustand dann hypoglykämisch wurde, das ist eine schwierige Frage. Ich tendiere zum Letzteren. Die Sturzverletzungen waren jedenfalls nicht tödlich, das kann ich mittlerweile mit Sicherheit sagen.«

Nadja seufzte. Sie war eindeutig noch nicht wach genug, um Naukes Fachchinesisch deuten zu können. »Ehrlich gesagt, verstehe ich das Problem nicht ganz. Wie kommen Sie darauf, dass es sich um einen Mord handeln könnte?«

»Die Frage ist, warum er überhaupt in den Unterzucker gefallen ist! Diabetiker sind ab einem gewissen Alter meist ziemlich gut eingestellt, was die Insulinzufuhr anbelangt. Sie wissen, wann sie wie viel spritzen müssen, um weder hypo- noch hyperglykämisch zu werden. Stellen wir uns mal vor, dass er die Treppe herunterfiel– warum auch immer– und danach bewusstlos war. Nun würde man eigentlich erwarten, dass sein Zuckerwert bis zum nächsten Morgen ansteigt, da er nicht fähig ist, das nötige Insulin zu spritzen, wie er es sonst jeden Abend tut. Überzucker– also Hyperglykämie– ist auf Dauer auch gefährlich, aber eindeutig nicht so tödlich wie der Unterzucker, auch Hypoglykämie genannt. Genau dieses Szenario ist aber nicht eingetreten. Dreher war unterzuckert. Meine Vermutung ist deshalb, dass da jemand nachgeholfen hat. Jemand hat ihm eine so hohe Dosis Insulin verabreicht, dass er ins Koma fiel und starb.«

Nadja schwieg. Sie versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wie das noch mal genau funktionierte mit Diabetikern und ihrem Insulin. Sie hatte eine Schulfreundin gehabt, die auf dem Heimweg einmal ohnmächtig geworden war. Das hatte am Unterzucker gelegen.

Sie glaubte nicht, dass sie das jetzt am Telefon so weit verstanden hatte, dass sie es den anderen Kommissaren erklären konnte. Also sagte sie: »Das verändert die Sachlage natürlich erheblich. Wir treffen uns in einer halben Stunde imK1. Ich trommele die Mannschaft zusammen, und Sie erklären dann noch einmal ganz genau, woran der Mann gestorben ist und wie Sie darauf kommen, dass ein Verbrechen vorliegt. Einverstanden?«

Lars Nauke seufzte: »Könnte der Berg nicht mal zum Propheten kommen? Ich habe es so gemütlich hier in meinem Institut.«

Nadja tröstete ihn: »Ich koche Ihnen auch einen extrastarken Kaffee, Professor! Und außerdem haben Sie sich schon länger nicht mehr bei uns blicken lassen, Gretchen hat sich schon Sorgen um Sie gemacht.«

Nauke brummelte noch ein wenig, klang aber durchaus geschmeichelt. Nadja beendete das Gespräch mit dem deutlichen Gefühl, dass ein langer Tag vor ihr lag.

Als die Kommissarin das Haus verließ, hing Nebel über dem Boden und verdeckte die Straßenbahnschienen. Sie fröstelte unwillkürlich, zog ihren grauen Mantel enger um sich und versteckte die Nase im Wollschal. In den letzten Tagen war es spürbar kälter geworden. Der goldene Herbst schien sich verabschiedet zu haben und war einem ungemütlichen November gewichen.

Sie stieg in ihren zweifarbigen Renault Captur und drehte zunächst die Heizung auf. Wahrscheinlich würde sie schon bald frühmorgens die Scheiben kratzen müssen, wenn das so weiterging. Sie sollte wenigstens regelmäßig den Wetterbericht anschauen, damit sie vom Wintereinbruch nicht überrascht wurde.

Mit kalten Fingern lenkte sie ihr Auto auf die Nordtangente und fuhr den mittlerweile vertrauten Weg in Richtung Zellerau. Die Würzburger Kriminalpolizeiinspektion mit all ihren schrägen Vögeln war ihr wirklich ans Herz gewachsen. Die Kommissare Neumann, Heideckert und Braun hatten sie insgesamt sehr herzlich aufgenommen. Die Zusammenarbeit funktionierte immer besser, und an guter Laune mangelte es normalerweise auch nicht. »Gretchen«, die mütterliche Sekretärin Grete Morungen, hegte eine wöchentlich wechselnde Zuneigung für einen der Beamten. Ihr jeweiliger Favorit wurde eine Zeit lang mit selbst gestrickten Socken, Kuchen und Bonbons verwöhnt, bis ihr ein anderer Kandidat aussichtsreicher erschien.

Und dann war da noch Peter, Nadjas langjähriger Partner im Polizeidienst und ihr bester Freund. Sie waren gemeinsam von Nürnberg nach Würzburg gewechselt, und hier hatte Nadja mit Peters Hilfe ihren ersten Mordfall gelöst. Ein Fall, der ihr auch heute noch manchmal nachhing, da er gleich zwei Menschenleben gekostet hatte.

An diesem Punkt angelangt, schaltete Nadja das Radio ein und verbot sich energisch, an den vergangenen Sommer zurückzudenken. Sie hatte neben den beruflichen Herausforderungen auch mit privaten Problemen zu kämpfen gehabt und war sich nach wie vor nicht sicher, ob dies ihre Professionalität nicht beeinträchtigt hatte. Im Vergleich dazu ging es ihr jetzt deutlich besser. Seit sie ihren Chef vertrat, hatte sie nämlich überhaupt kein Privatleben mehr. Dafür fehlte schlicht und einfach die Zeit.

Nadja hielt an einer Ampel an und hörte mit einem Ohr den Radionachrichten zu. Ihre Gedanken versuchte sie auf Lars Naukes Anruf zu konzentrieren. Wenn seine Vermutung stimmte, dann mussten sie es hier mit einem äußerst kaltblütigen Mörder zu tun haben. Einem, der den Tod seines Opfers in aller Ruhe abgewartet und sein Verbrechen anschließend geschickt getarnt hatte.

2

Manche Tage sind so schlimm, dass sie im Bett bleibt. Sobald sie die Augen aufschlägt, weiß sie, dass es nicht gehen wird. Dass sie nicht aufstehen kann, dass sie die Kraft dazu nicht findet. Dann bewahrt sie nur die hellgrüne Wand davor, aus der Realität herauszufallen. Alles zerfließt. Sie kann nicht sagen, ob der Boden nicht plötzlich abschüssig wird, wenn sie ins Badezimmer gehen möchte. Sie erträgt den Stoff des Nachthemdes nicht mehr auf der Haut. Sie schaut in den Spiegel und findet niemanden darin. Niemanden, den sie kennt. Die Uhr tickt, ohne dass die Zeit vergeht. Der Tag fließt träge dahin. Die Schatten auf der Zimmerwand verfinstern sich und werden zu tiefen, lauernden Höhlen.

Das Licht kann sie nicht einschalten. Sie bringt es nicht über sich, den Arm zu heben. Und um Hilfe rufen kann sie auch nicht.

* * *

Die Würzburger Kriminalpolizeiinspektion war direkt an einer dicht befahrenen Kreuzung in einem mehrstöckigen Ziegelbau untergebracht. Jetzt am frühen Sonntagmorgen gab es zum Glück nur wenig Verkehr, und Nadja brauchte keine entgegenkommenden Autos zu fürchten, als sie mit quietschenden Reifen auf den Parkplatz einbog. Im Laufschritt eilte sie auf das Gebäude zu, grüßte den Wachmann am Eingang und stieg die Treppe in den ersten Stock zumK1 hinauf. Zu ihrer Abteilung– zumindest war sie das, solange ihr Chef krankgeschrieben war.

Gretchen saß nicht an ihrem Platz, sodass Nadja sofort den Besprechungsraum ansteuerte. Sie hörte Stimmengemurmel von drinnen und öffnete die Tür, ohne anzuklopfen. Ihr Blick fiel zuerst auf Peter. Er sah so müde aus, wie sie sich fühlte. Allerdings schien er auch wütend zu sein. In diesem Moment rief er laut: »Auf gar keinen Fall, das ist viel zu gefährlich!«

Was ist viel zu gefährlich?, wollte Nadja fragen, doch sie bemerkte, dass Peter bei ihrem Anblick verstummte und auch die übrigen Anwesenden ihre Gespräche einstellten. Alle Blicke waren auf Nadja gerichtet, als sie zu ihrem Stammplatz lief, ihre Jacke und die Tasche über die Stuhllehne warf und fragte: »Gibt’s Kaffee?«

Überraschenderweise war es Viktor de Mancini, der aufstand, etwas Pulver mit Wasser anrührte und ihr die Tasse reichte. Der Staatsanwalt war mit silbergrauem Anzug und Krawatte wie immer tadellos gekleidet. Sein Scheitel wirkte wie mit einem Rasiermesser gezogen. Nadja hatte den Verdacht, dass er nachts gar nicht wirklich schlief, sondern jedes störrische Härchen einzeln entfernte und die Bügelfalten seiner Anzughose mit dem Lineal abmaß.

Was die Kaffeequalität anbelangte, hatte er als gebürtiger Italiener einen gewissen Anspruch und betonte oft genug, er würde lieber sterben, als Instantkaffee zu trinken. Anscheinend drückte er heute ein Auge zu.

Nadja nahm einen vorsichtigen Schluck, befand ihn als viel zu stark und stellte die Tasse schnell auf dem Tisch ab. Dann blickte sie in die Runde um.

Obwohl sie nicht gerade getrödelt hatte, waren fast alle anderen schon versammelt.

Neben Staatsanwalt Mancini saß Steffen Neumann, ein gut aussehender Mittdreißiger, dessen Sportlichkeit Nadja vor einigen Monaten auf beeindruckende Weise demonstriert bekommen hatte. Neumann hatte einen Hund aus dem Main gerettet und sich im Alleingang in die Ermittlung gestürzt, bis er die Schuldigen gefunden hatte. Dabei gehörte Tierquälerei gar nicht zu seinem Aufgabenbereich. Seit der gemeinsamen Rettungsaktion hielt Nadja große Stücke auf ihn, auch wenn sie als seine Vorgesetzte sein eigenmächtiges Handeln eigentlich nicht gutheißen durfte.

Die kühle Arroganz Mancinis schien Neumann etwas auf die Laune zu drücken. Vielleicht lag es aber auch an der Abwesenheit seines Lieblingskollegen Maximilian Braun, dass er so wortkarg am Tisch saß. Braun und Neumann verbrachten einen Großteil der Zeit damit, sich gegenseitig aufzuziehen. Wäre Braun nicht deutlich korpulenter, hätte man die beiden für Zwillinge halten können. Zwillinge, die sich täglich Streiche spielten und sogar das Pausenbrot teilten. Doch Braun war an diesem Wochenende aus privaten Gründen entschuldigt, und so wirkte Neumann tatsächlich etwas verloren.

Nadja hoffte, dass er seine gute Laune schnell zurückgewinnen würde. Als Chefin der Ermittlungsgruppe war sie auf motivierte, ideenreiche und aktive Kollegen angewiesen. Sonst konnte sie gleich aufgeben. Erwartungsvoll richtete sie den Blick auf Kurt Heideckert. Vielleicht konnte er heute die Rolle des Stimmungsmachers übernehmen?

Doch dem dritten der alteingesessenen Würzburger Kommissare sah man die zu kurze Nacht am deutlichsten an. Er ging auf die sechzig zu, und die Tränensäcke unter den Augen verliehen ihm ein trauriges Aussehen. Er hatte sich natürlich neben Professor Nauke gesetzt und kritzelte eifrig in seinem Notizbuch herum.

Nadja musste ein Lächeln unterdrücken, als sie ihn beobachtete. Heideckerts Interesse für Medizin war im Präsidium wohlbekannt. Und ebenso, wer sein großes Vorbild war. Er suchte und fand ständig Gelegenheiten, um Lars Nauke, seinem Halbgott in Weiß, Fragen zu stellen. Anscheinend hatte der ihm soeben neues Material geliefert und sich dadurch eine Ruheminute erkauft. Nauke nutzte sie, um sich im Stuhl zurückzulehnen und Nadja anzulächeln. In Gedanken noch bei seinem Weckruf, lächelte Nadja leicht säuerlich zurück.

Nadja nippte noch einmal an ihrem Kaffee. Ihr Blick wanderte weiter zu Peter, der auf Professor Naukes anderer Seite saß. Seine braunen Haare waren verstrubbelt, und er blickte mit düsterem Gesicht auf die Tischplatte. Sie fragte sich, worüber die Kollegen vor ihrem Eintreffen gesprochen hatten. Was es auch war, es schien Peter stärker zu beschäftigen als die anderen.

Sie eröffnete das Meeting, indem sie die Kollegen begrüßte und sich bedankte, dass alle so schnell gekommen waren. »Kommissar Braun fährt erst morgen zurück. Er ist auf einer Beerdigung in Dortmund«, erklärte sie seine Abwesenheit. »Aber weiß jemand etwas von Widukind?«

Nadja hatte den Leiter der Spurensicherung gern bei den Besprechungen dabei. Er war ein etwas seltsamer, aber sehr liebenswerter Mensch. Wenn Widukind Bruggner sich jemandem vorstellte, betonte er stets, dass er es mit seinem Vornamen noch schlimmer hätte treffen können. Seine Schwestern hießen Berthrada und Wulfhild. Den Namen eines sächsischen Herzogs zu tragen, der sich zehn Jahre lang gegen Karl den Großen behauptet hatte, erschien dagegen etwas humaner.

»Ich habe vorhin kurz an seine Tür geklopft. Er meinte, er kommt gleich nach, muss nur noch schnell etwas überprüfen«, meldete sich Neumann zu Wort.

Nadja nickte ihm zu. »Dann warten wir noch fünf Minuten. Wer will inzwischen einen Kaffee?«

Niemand meldete sich. Anscheinend hatten einige von ihnen Mancinis Gebräu getestet und für untrinkbar befunden, wovon die halb vollen Tassen auf dem Tisch zeugten.

Mancini bedachte Nadja mit seinem Haifischlächeln. Sie konnte sogar seine spitzen Eckzähne sehen. Zu gern hätte sie gewusst, warum er heute so gut gelaunt war und sich vor allem ihr gegenüber so freundlich gab. Normalerweise widmete er seine Aufmerksamkeit Peter, der seine kulturellen Interessen teilte und schon des Öfteren mit ihm über Dante und Boccaccio gefachsimpelt hatte.

Nadja hatte immer geglaubt, in Mancinis Verhalten eine gewisse Herablassung spüren zu können. Nicht, dass er unhöflich gewesen wäre, aber er ließ sie doch recht schnell merken, dass er ihr über die unmittelbare Zusammenarbeit hinaus wenig Sympathien entgegenbrachte.

In diesem Moment klopfte es, und Widukind Bruggner betrat den Raum. Wie immer umgab den Leiter der Spurensicherung ein Anflug von Chaos. Er war über einen Meter neunzig groß, dabei sehr dünn, und trug mit Vorliebe Pullis, die an den Ellenbogen ausgebeult waren. Seine langen Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Guten Morgen, allerseits!« Widukind wirkte etwas nervös, als er sich durch die dicken Brillengläser, eingerahmt von einem breiten dunkelgrünen Gestell, in dem voll besetzten Raum umblickte. Er war kurzsichtig, betonte aber, dass ihn das besonders zu seiner Arbeit befähige, weil er von klein auf immer ganz genau hinschauen musste, deswegen übersehe er so selten etwas. »Entschuldigt die Verspätung. Mir kam eine Idee, als Nadja angerufen hat, deshalb wollte ich vor dem Meeting noch schnell was überprüfen.«

»Kein Problem«, »Schon okay«, »Mach man«, tönte es aus verschiedenen Ecken. Widukind war beliebt, gerade auch wegen seiner für Polizisten so untypischen Schüchternheit.

Er durchquerte rasch den Raum und ließ sich auf dem leeren Stuhl zwischen Nadja und Mancini nieder. Nadja wartete, bis er es geschafft hatte, seine langen Beine unter dem Tisch zu verstauen, dann räusperte sie sich.

»Im Groben wissen Sie ja schon, worum es geht. Der Tanzlehrer Sebastian Dreher ist vor drei Tagen tot in der Tanzschule seiner Eltern aufgefunden worden. Er selbst hat auch dort gearbeitet. Er lag am Fuße einer recht steilen Treppe, die in den Kostümkeller hinunterführt. Die Sturzverletzungen waren jedoch nicht tödlich, das hat mir Professor Nauke bereits verraten.« Sie nickte Lars Nauke zu. »Professor, Sie können anfangen.«

Nauke stand auf und schrieb eine Zahl an das Whiteboard: »50mg/dl«.

»Sebastian Dreher litt wie ungefähr vierhunderttausend andere Menschen in Deutschland an Typ-1-Diabetes, einer Krankheit, bei der das körpereigene Immunsystem diejenigen Zellen angreift, die Insulin produzieren. Die Insulinproduktion fällt infolgedessen aus, der Blutzuckerspiegel steigt. Das hängt damit zusammen, dass der Körper ohne Insulin nicht fähig ist, den mit der Nahrung aufgenommenen Zucker aus dem Blut in die Zellen zu transportieren.«

Heideckert hatte alles in seinem Notizbuch mitnotiert. Nun meldete er sich und fragte: »Was für Folgen hat ein zu hoher Blutzuckerwert denn?«

»Er schädigt auf Dauer Blutgefäße, Nerven und zahlreiche Organe. Patienten mit Typ-1-Diabetes müssen ihr Leben lang mehrmals täglich Insulin spritzen, das hat auch Sebastian Dreher getan. Und hier wird es interessant: Diesmal war die Dosis tödlich hoch oder anders gesagt: hoch tödlich. Er ist an Unterzucker gestorben statt an den Folgen des Sturzes. Wenn der Zuckergehalt im Blut unter fünfzig Milligramm pro Deziliter fällt, dann wird es gefährlich. Die Unterzuckerung kann Bewusstlosigkeit oder sogar einen Herzinfarkt auslösen. Der Patient wird komatös, und ohne ärztliche Hilfe stirbt er.«

Neumann hob die Hand: »Meine Oma hatte auch Diabetes. Sie hat mir erzählt, dass sie weniger spritzen muss, wenn sie schwimmen geht, weil der Körper beim Sport von selbst mehr Zucker verbraucht. Kann es nicht sein, dass Sebastian Dreher sich nach dem Tanztraining die normale Dosis gespritzt hat und nicht daran dachte, dass gar nicht so viel nötig war?«

Lars Nauke nickte ihm zu. »Es ist zwar richtig, dass körperliche Anstrengung Auswirkungen auf unseren Zuckerhaushalt hat, aber unser Opfer hat schon seit Jahren als Tanzlehrer gearbeitet. Er muss sehr genau gewusst haben, wann er sich wie viel Insulin spritzen musste. Eine Überdosierung, die zum Tod führt, ist versehentlich kaum möglich.«

Nadja setzte sich aufrechter hin. Sie versuchte, sich mögliche Szenarien auszumalen und in Worte zu fassen.

»Professor, ich finde Ihre Ausführungen sehr einleuchtend, aber ich habe dennoch eine Frage: Könnte es sich nicht einfach um eine Verkettung unglücklicher Umstände handeln? Angenommen, Sebastian Dreher hat härter trainiert als an anderen Tagen und insgesamt weniger gegessen, dann wäre die normale Insulindosis wahrscheinlich schon etwas zu viel gewesen. Nehmen wir außerdem an, dass er sich an dem bewussten Abend mehr gespritzt hat als sonst, zum Beispiel, weil er vorhatte, gleich noch in die Pizzeria zu gehen und eine Riesenportion Tiramisu zu essen.«

Widukinds Magen knurrte hörbar, woraufhin er schnell eine Hand auf den Bauch legte und entschuldigend lächelte.

Nadja fuhr fort: »Aber Sebastian kommt nie in der Pizzeria an, weil er die Treppe hinunterfällt und nicht mehr fähig ist, jemanden zu Hilfe zu holen. Also isst er auch nichts, sodass das frisch gespritzte Insulin den extremen Unterzucker herbeiführt. Wäre das nicht eine denkbare Konstellation?«

Lars Nauke strich sich über den Bart. »Denkbar, aber da hätte Meister Zufall schon sehr stark seine Hände im Spiel haben müssen. Wie gesagt, ich bin der Meinung, dass bei einem so niedrigen Blutzuckerspiegel jemand nachgeholfen haben muss.«

Ein leises Räuspern unterbrach die Diskussion. Mancini, emotionslos wie immer, meldete sich zu Wort: »Ich denke, Sie sollten da zunächst einmal mit den Eltern reden. Sie werden wohl am besten gewusst haben, wie gut ihr Sohn mit seiner Krankheit zurechtkam und ob er in der Vergangenheit schon einmal Über- oder Unterzucker hatte.«

Nadja fühlte sich angegriffen. »Das auf jeden Fall, ja, ich hätte nur gern etwas Konkreteres in der Hand, bevor ich die Drehers mit dem Verdacht auf Mord konfrontiere.« Sie schaute in die Runde, als erwarte sie Hilfe von ihren Kollegen. Peter wich ihrem Blick nach wie vor aus, was sie langsam etwas beunruhigend fand.

»Was noch dazukommt«, fuhr Lars Nauke fort, »ist, dass bei Sebastian Dreher ein erhöhter Alkoholspiegel nachgewiesen werden konnte. Mit null Komma acht Promille war er zum Zeitpunkt des Todes zumindest angetrunken. Ich möchte hinzufügen, dass man als Diabetiker mit Spirituosen vorsichtig umgehen sollte. Wenn die Leber mit dem Abbau von Alkohol in Anspruch genommen ist, dann kann sie bei einer möglichen Unterzuckerung nicht regulierend eingreifen. Kombiniert mit einer Überdosis Insulin kann das sehr gefährlich werden. Wie gefährlich, haben wir in unserem Fall gesehen.«

Heideckert streckte den Finger in die Luft. Als Lars Nauke ihm ermunternd zunickte, fragte er: »Was meinen Sie, Herr Professor, können wir davon ausgehen, dass der Mörder medizinische Kenntnisse besitzt?«

»Wenn es überhaupt einen Mörder gibt, wie gesagt…«, warf Steffen Neumann ein.

Lars Nauke bedachte ihn mit einem bösen Blick und wandte sich an Heideckert: »Leider können wir davon nicht unbedingt ausgehen. Zwar scheint der Täter zumindest medizinische Grundkenntnisse zu besitzen, aber ich bin mir sicher, dass man das alles heutzutage genauso gut aus dem Internet erfahren kann wie in einem Studium oder einer Ausbildung.«

»Also ich könnte mit etwas noch Konkreterem dienen.« Es war Widukind Bruggner, der die Spannung auflöste. Wieder wandten sich alle Gesichter ihm zu.

»Als Nadja heute früh am Telefon erzählt hat, dass es um eine tödliche Dosis Insulin geht, bin ich noch schnell im Labor vorbei. Professor Nauke hat ja schon am Tatort gesagt, dass er vermutet, das Opfer sei an Unterzucker gestorben. Deshalb haben wir die Spritzen, die wir in Sebastians Sporttasche oben in der Tanzschule gefunden haben, natürlich mitgenommen. Wir hatten es noch nicht geschafft, alle genau zu untersuchen, aber ich habe gerade noch schnell die Fingerabdrücke überprüft.«

»Jetzt sagen Sie nicht, eine davon trägt noch andere Fingerabdrücke als die des Toten?«, fragte Neumann gespannt.

»Das nicht, aber an einer der leeren Ampullen konnte ich gar keine Abdrücke sicherstellen. Die hat jemand sehr sorgfältig abgewischt.«

Ein Raunen ging durch den Raum.

»Verdammt, das ist gut! Das ist was Handfestes«, rief Nadja. Sie spürte, wie die Müdigkeit von der Spannung abgelöst wurde, die ein neuer Fall unweigerlich mit sich brachte. Es galt, einen Mörder zu finden. Und diesmal wussten sie sogar schon, wo sie anfangen sollten, in der Tanzschule nämlich.

»Jetzt erklärt mir bitte noch mal jemand, was es mit dieser verschlossenen Tür auf sich hatte. Wer hat die Aussagen aufgenommen?«

Steffen Neumann meldete sich. Er zog einige zusammengeknüllte Zettel aus seiner Hosentasche, glättete sie rasch und erklärte nach einem Blick darauf: »Also, ich habe mit der Putzfrau gesprochen, die Sebastian Dreher am Donnerstag tot aufgefunden hat. Bei der Befragung hat sie erklärt, dass die Eingangstür zwar zufällt, aber man muss sie aktiv abschließen, damit man sie nicht einfach wieder aufdrücken kann. Normalerweise bleibt die Tür tagsüber unverschlossen, da sowieso immer jemand im Gebäude ist und die Leute ständig kommen und gehen. Erst abends nach dem letzten Tanzkurs wird abgesperrt.«

Er hob kurz den Blick von seinen Notizen. »Ich habe dann natürlich gefragt, warum die Tür denn abgeschlossen war, wenn Sebastian Dreher am Mittwochabend doch offensichtlich länger in der Tanzschule geblieben ist.«

»Ja, das würde mich allerdings auch interessieren«, warf Widukind Bruggner ein.

»Also, es ist folgendermaßen: Wenn einer der Tanzlehrer abends länger in der Tanzschule bleibt, um sich um die Buchhaltung zu kümmern oder sonst was zu machen, dann schließt er unten trotzdem ab. Sonst könnte ja jederzeit jemand hereinspazieren. Und das scheint den Drehers zu gefährlich zu sein. Immerhin gibt es dort ja auch eine Getränkekasse.«

Peter sprach die Schlussfolgerung, die sich daraus ergab, laut aus: »Sebastians eigenen Schlüssel haben wir in seiner Hosentasche gefunden. Das heißt, dass der Mörder ebenfalls einen Schlüssel gehabt haben muss. Er hat sich alle Mühe gegeben, einen Unfall vorzutäuschen. Als er den toten Sebastian zurückließ, hat er ganz normal abgesperrt.«

Der klassische Fall eines Toten in einem verschlossenen Raum. Diesmal half es vielleicht, den Kreis der Verdächtigen von Anfang an klein zu halten. Gleich nach dem Meeting würde Nadja überprüfen lassen, wer einen Schlüssel zur Tanzschule besaß und wo diese aufbewahrt wurden.

»Das sollten Sie auch noch mal verifizieren, Frau Gontscharowa. Fangen Sie mit den Eltern an?«, fragte Mancini.

Nadja nickte.

»Gut, gehen Sie behutsam vor. Die Drehers gehören zur kulturellen Elite Würzburgs. Und der Tod des einzigen Sohnes ist natürlich ein sehr sensibles Thema. Aber das muss ich Ihnen wohl nicht sagen.«

»In Ordnung, wir werden daran denken, wenn wir die Drehers anrufen und zu uns bitten. Wir machen die erste Befragung ganz formell.«

Als habe er Einwände, schwieg Mancini einen Moment lang. Dann stand er jedoch auf und verabschiedete sich mit einem kurzen Gruß in die Runde. Nadja blickte ihm hinterher. Er hielt sich noch aufrechter als sonst.

Sobald Mancini außer Hörweite war, wandte sie sich an Peter: »Kannst du den sensiblen Teil übernehmen? Ich tu mich schwer damit, wenn es Mancini ist, der das verlangt.«

Peter rieb sich über die Augen. »In Ordnung. Ich ruf sie gleich an.«

Vierzig Minuten später standen die Drehers an der Pforte und warteten auf ihn. Peter zögerte kurz, als er an der Glastür angekommen war. Noch waren sie durch eine Tür voneinander getrennt, die sich nur von seiner Seite öffnen ließ. Er wünschte, er könnte es dabei belassen. Die Glastür war der Schlüssel zur Büchse der Pandora. Öffnete er sie, so würde alles seinen Lauf nehmen.

Sobald man es mit den Verwandten und Freunden eines Mordopfers zu tun hatte, bekam der Fall eine ganz andere, persönliche Note. Emotionen würden auf ihn einströmen, denen er nicht entkommen konnte und die nur durch Arbeit zu dämpfen waren. Durch viel Arbeit.

Die Drehers blickten ihn erwartungsvoll an, und Peter öffnete die Tür, obwohl er am liebsten zurück in sein Büro gegangen wäre, um in der Stille die Bäume zu betrachten. Er trat zu ihnen, stellte sich vor, schüttelte Hände, sprach sein Beileid aus. Wenn sie sein Zögern bemerkt hatten, so zeigten sie es nicht.

Yvonne Dreher war zwischen vierzig und fünfzig und hatte lange rote Haare, die ihr in weichen Wellen über die Schulter fielen. Dass die Farbe echt war, bewiesen ihr heller Teint und die Sommersprossen, die durch das Make-up hindurchschimmerten. Die großen dunkelblauen Augen ließen ihr Gesicht mädchenhaft wirken. Schwer vorstellbar, dass sie einen erwachsenen Sohn haben sollte, einen, der tot war, noch dazu.

Benedikt Dreher sah weniger spektakulär aus. Auffallend war eher sein gut geschnittener Kaschmirmantel als der Träger selbst. Peter bat die beiden, ihm zu folgen.

Als sie auf dem Weg zu dem kleinen Raum, in dem das Gespräch stattfinden sollte, eine Zwischentür passierten, schloss Benedikt Dreher wie selbstverständlich zu Peter auf, um seiner Frau die Tür aufzuhalten. Sobald sie angekommen waren, half er ihr aus dem Mantel und rückte ihr einen der Stühle zurecht. Erst danach legte er seinen eigenen Mantel ab und setzte sich neben sie.

Yvonne Dreher schien diese Behandlung gewohnt zu sein, sie reagierte nur mit einem Nicken und einem kurzen Lächeln darauf. Peter beobachtete die Interaktion der beiden. Er fragte sich, wann er für Rebekka zuletzt eine Tür aufgehalten oder ihr aus dem Mantel geholfen hatte. So spontan fiel ihm keine einzige Gelegenheit ein. Aber er betrachtete seine Frau ja auch als gleichberechtigt, da war das nicht nötig. Oder etwa doch?

Peter stellte sich die Frage, ob er zu der Sorte Männer gehörte, die ihrer Frau nach einigen Jahren Ehe kaum noch Beachtung schenkte. Aber das konnte nicht sein. Er war aufmerksam, er merkte meist, wenn Rebekka ein neues Kleidungsstück anhatte oder beim Friseur gewesen war. Er wusste sogar, wann sie ihre Tage hatte– immer Anfang des Monats–, und machte ihr dann oft eine Wärmflasche, bevor er morgens ins Kommissariat fuhr.

Vermutlich war Benedikt Dreher einfach ein Gentleman der alten Sorte. Und auch Yvonne Dreher schien wenig mit Peters eigener Frau gemein zu haben. Sie war eher der ätherische Typ. Kleiner und zarter, aber mit dem roten Haar auffallend sinnlich. Vielleicht wurde man ja automatisch zum Galan, wenn man mit so jemandem verheiratet war.

Peter räusperte sich und fragte Herrn Dreher, ob sie gut hergefunden hatten. »Es tut mir leid, dass wir Sie herbitten mussten«, sagte er dann. »Bei der Obduktion haben sich einige Fragen ergeben.«

Dabei suchte er nach Zeichen von Trauer in ihren Gesichtern und ihrer Gestik. Es musste ein Schock gewesen sein, vom Tod ihres Sohnes zu erfahren. Zum Glück hatten sie ihn wenigstens nicht selbst gefunden.

Benedikt Dreher fasste sich an die Schläfe, als habe er Kopfschmerzen. Er sah müde aus, frisch rasiert und gut angezogen, aber müde. Vermutlich hatte er die Nacht über nicht viel geschlafen. Seine Gewohnheiten behielt er offensichtlich bei, aber dass sich sein Leben von einem Tag auf den anderen geändert hatte, war ihm deutlich anzusehen.

Seine Frau konnte Peter schlechter einschätzen. Sie saß ruhig und konzentriert auf ihrem Stuhl, die Finger ineinander verflochten. Die Art, wie sie sich selbst an die Hand nahm, hatte etwas Trauriges.

Nadja betrat den Raum. Sie begrüßte die Drehers und sprach ihnen ihr Beileid aus. Dann kam sie ohne Umschweife auf ihre Fragen zu sprechen. »Es ist wichtig für uns, mehr darüber zu wissen, wie Sebastian mit seiner Diabeteserkrankung zurechtkam. Wie hat er damit gelebt? Gab es manchmal Probleme mit der Insulindosierung? Kam es beispielsweise vor, dass seine Blutzuckerwerte zu niedrig waren?«

Wie selbstverständlich war es Yvonne Dreher, die antwortete: »Sebastian war schon als Kind zuckerkrank, es hat einige Zeit gedauert, bis er gut eingestellt war. Noch in der Pubertät kam es ab und zu vor, dass er hypoglykämisch wurde. Aber er hat recht bald ein Gespür dafür entwickelt, die ersten Anzeichen richtig zu deuten. Wir haben ihm immer einige Schokoriegel in die Büchertasche gepackt oder auch Traubenzucker, das hat er gegessen, wenn er das Gefühl hatte, dass etwas nicht stimmte. Übelkeit, Nervosität, Schwitzen, das sind typische Anzeichen, dass der Körper Zucker braucht.«

Sie sprach mit einer feinen, leisen Stimme, und Peter fragte sich, wie sie damit Tanzunterricht erteilen konnte. Die Antwort fand er kurz darauf selbst. Jedes Wort von ihr schien so viel Gewicht zu haben, dass alle anderen aufmerksam zuhörten, solange sie redete. Auch Benedikt Dreher vergewisserte sich erst mit einem kurzen Blick auf seine Frau, dass sie fertig gesprochen hatte, bevor er fortfuhr.

»Ich glaube, in den letzten zehn Jahren gab es keine ernsthaften Komplikationen mehr. Sebastian spritzte sich das Insulin selbst, und er war sehr gewissenhaft dabei. Er wusste ja, dass seine Gesundheit davon abhing. Wir waren zunächst skeptisch, als er sich fürs Tanzen entschieden hat. Ich meine, er hat die Begabung meiner Frau, aber wir waren uns nicht sicher, ob die stetige körperliche Anstrengung nicht zu viel für ihn sein würde.«

»Aber Sebastian konnte ohne Probleme als Tanzlehrer arbeiten?«, fragte Nadja.

Yvonne Dreher griff ihre Worte auf: »Ohne Probleme– bis vor vier Tagen.« Sie drehte ihren Kopf und blickte nun Peter an, der sich zunehmend unwohl fühlte. Ihr Blick schien eine Frage zu enthalten, die er nicht beantworten wollte.

Er straffte sich. »Es tut mir sehr leid, Ihnen sagen zu müssen, dass wir guten Grund zu der Annahme haben, dass der Tod Ihres Sohnes kein Unfall war. Wir gehen momentan davon aus, dass Sebastian ermordet wurde.«

Am abrupten Weiten der Nasenflügel, am schnellen Blinzeln und daran, wie ihre Halsmuskeln hervortraten, sah Peter, dass Yvonne Dreher mühsam darum kämpfte, ihre Fassung zu bewahren. Trotzdem blickte sie ihn unverwandt an. Benedikt Dreher hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Sie war wohl als tröstende Geste gedacht, doch es sah eher aus, als suche er nach Unterstützung.

»Sie glauben, dass jemand Sebastian ermordet hat?«, vergewisserte er sich.

Nadja nickte nur. »Der Bericht des Rechtsmediziners liegt zwar noch nicht vor, aber er hat uns bereits Einblick in seine Untersuchungsergebnisse gegeben. Sebastians Blutzuckerkonzentration war verdächtig niedrig. Wir vermuten deshalb, dass jemand ihm eine tödliche Insulindosis verabreicht hat.«

»Aber er war doch allein in der Tanzschule.« Benedikt Dreher blickte zwischen den Kommissaren hin und her.

Peter hielt seinem Blick stand. »Wissen Sie das sicher?«

»Nein, aber–«

»Dann erzählen Sie uns bitte kurz, wann Sie Sebastian zuletzt gesehen haben und was er am Mittwochabend genau vorhatte.« Kaum ausgesprochen, hätte Nadja ihre Worte am liebsten zurückgenommen. Besonders feinfühlig klang das jetzt nicht. »Damit würden Sie uns sehr helfen«, fügte sie schnell hinzu.

»Wir haben ihn am Abend seines Todes noch gesehen.« Es war Yvonne Dreher, die statt ihres Mannes antwortete. »Von neunzehn Uhr bis zwanzig Uhr dreißig findet der Grundkurs für Brautpaare statt und zeitgleich in einem anderen Saal derF4, der vierte Fortgeschrittenenkurs. Ich habe den Grundkurs unterrichtet und Sebastian den Fortgeschrittenenkurs. Benedikt war im Büro, um sich um die Steuer zu kümmern. Anschließend sind Benedikt und ich gegen einundzwanzig Uhr heimgefahren. Sebastian hatte noch einen Tanzkreis bis um dreiundzwanzig Uhr.«

»Ist Ihnen an diesem Abend irgendetwas ungewöhnlich vorgekommen? Wie ging es Sebastian?«, fragte Peter.

Benedikt Dreher hob hilflos die Schultern. »Ich habe mir das wieder und wieder überlegt, ob er vielleicht krank aussah oder angeschlagen. Aber ich glaube, es war alles normal. Allerdings saß ich auch die ganze Zeit im Büro. Ich habe ihn höchstens ein paar Minuten lang gesehen.«

»Und ich war mit dem Anfängerkurs beschäftigt. Der Kurs ist extra auf Paare zugeschnitten, die bald heiraten und davor noch die Grundlagen der wichtigsten Gesellschaftstänze lernen wollen. Eine Hochzeit ohne Brautwalzer ist keine richtige Hochzeit.«

Yvonne Dreher blickte Peter an, als wüsste sie ganz genau, dass er sich damals davor gedrückt hatte. Er lächelte zurück.

Sie fuhr fort: »Da die Kurse parallel in verschiedenen Räumen stattfinden, habe ich meinen Sohn auch nur kurz vor und nach dem Unterricht gesehen. Er hatte sein Wohnzimmer neu gestrichen und war gut gelaunt. Er sagte mir, dass er später noch etwas in der Tanzschule bleiben und seinen Part für die Discofox-Show beim Winterball üben wollte.«

»Kam das häufig vor?«

»Ja, Sebastian ist ehrgeizig.«

»Ja, Sebastian war ehrgeizig«, antwortete Benedikt Dreher im selben Moment.

Der unterschiedliche Gebrauch der Zeiten sorgte für einen Moment des Schweigens. Yvonne Dreher strich sich wie in Zeitlupe eine Haarsträhne hinter das Ohr. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet. Benedikt Dreher streichelte die Schulter, auf der seine Hand noch immer lag.

»Wer war zu dem Zeitpunkt noch in der Tanzschule?« Nadja studierte ihre Unterlagen, die keine Namen preisgaben. Wer hatte nach dem Leichenfund gleich noch die Befragungen durchgeführt? Müsste das hier nicht bereits alles notiert sein?

»ImF4 und im Tanzkreis hat Laura Scott assistiert. Sie ist eine Freundin von Sebastian und eine sehr gute Tänzerin. Mir hat Fred Schweigert geholfen. Er hat in der Pause auch die Bar übernommen. Und am Empfang war Feli, die aber ungefähr zeitgleich mit uns gegangen ist.«

Yvonne Dreher hatte ihre Hand auf die ihres Mannes gelegt, vielleicht, um ihn am Streicheln zu hindern, schaute ihn aber nach wie vor nicht an. »Und soweit wir wissen, sind Fred und Laura nach dem letzten Kurs auch nach Hause gegangen. Sebastian wollte allein üben.«

Nadja versah das Wort »allein« mit einem dicken Fragezeichen. »Und die Übungen hat er im Keller gemacht? Oder was könnte er dort unten gewollt haben?«

»Er könnte dort geübt haben. Er könnte aber auch eines der Kostüme anprobiert oder einfach nur das Licht ausgeschaltet haben, bevor er ging. Gehen wollte. Ich weiß es nicht. Ich war nicht dabei.« Yvonne Drehers leise Stimme war höher und lauter geworden.

Peter fand es an der Zeit, das Gespräch zu beenden. Er warf Nadja einen beschwörenden Blick zu. Doch diese nahm ihn offensichtlich nicht wahr.

»Als Sebastian tot aufgefunden wurde, war die Tür zur Tanzschule verschlossen«, begann sie.

Benedikt Dreher nickte heftig. »Ja, deswegen habe ich ja gesagt, dass er allein gewesen sein muss. Wir sperren immer ab, wenn jemand von uns abends allein länger bleibt. Würzburg ist zwar eine sichere Stadt, aber man muss sein Glück ja nicht auf die Probe stellen.«

»Wenn Sebastian selbst abgeschlossen hat: Könnte sich nicht jemand von draußen Zutritt verschafft haben?«, fragte Nadja.

»Nein.« Benedikt Dreher klang sehr bestimmt. »Mit einem Dietrich kann man die Tür nicht so einfach öffnen. Und aufgebrochen war sie ja nicht.«

»Und wenn sich während des Kurses beispielsweise jemand hineingeschlichen hätte und gewartet hätte, bis Sebastian allein war?«

»Ausgeschlossen. Am Empfang sitzt immer jemand und kontrolliert, wer hereinkommt und zu welchem Kurs er oder sie gehört. Und selbst wenn das jemand gemacht hätte, hätte er nach dem Mord ja nicht hinter sich die Tür abschließen können. Nein, Sebastian war allein und ist gestürzt. Es war ein Unfall.«

Yvonne Dreher gab ein leises Schnauben von sich. Jetzt erinnerte sie Peter an ein nervöses Rennpferd. Bereit, loszustürmen und dabei alles niederzutrampeln, was sich ihm in den Weg stellte. Ihre Wildheit lauerte dicht hinter dem eleganten Auftreten.

»Ich glaube, die Kommissare sind ganz insgeheim der Meinung, dass jemand mit einem Schlüssel hinein- und hinausgekommen ist«, sagte sie.

»Mit einem Schlüssel? Aber das würde ja heißen…« Ihr Mann brachte den Satz nicht zu Ende.

»Dass wir unter Verdacht stehen. Wir und alle anderen, die einen Schlüssel haben.« Yvonne Dreher traf diese Feststellung in ruhigem Ton, ohne dass sie sie besonders zu berühren schien. Doch Peter sah, wie die Arterie an ihrem Hals pochte.

Wieder blickte er Nadja an, und diesmal verstand sie sein Anliegen.

»Das wäre eine Möglichkeit, die wir nicht ausschließen dürfen«, sagte sie. »Deshalb auch die vielen Fragen. Es tut uns sehr leid, dass Sie das jetzt alles noch einmal durchleben müssen. Das muss furchtbar für Sie sein.«

Benedikt Dreher nickte. »Ja, aber wenn es wirklich um Mord geht, müssen Sie natürlich fragen. Ich kann nur nicht glauben… Ich verstehe ja noch nicht einmal, dass unser Sohn tot sein soll. Wie soll ich da verstehen, dass ihn jemand ermordet hat?«

Nadja war genervt. Sie hatte Mancini über das Gespräch mit den Drehers informiert, woraufhin er auf einer erneuten Besprechung in großer Runde bestanden hatte. Alle hatten ihre jeweiligen Aufgaben unterbrechen müssen, um zum Meeting zu kommen. Dabei war der erste Ermittlungstag besonders wichtig.

Selbst Heideckert, der sonst die Ruhe selbst war, kratzte mit dem Fingernagel das Preisschild vom Rücken seines Notizbuches. Er war damit betraut worden, eine Liste der Tanzschulmitarbeiter und Tanzassistenten zu erstellen, und fühlte sich sichtlich unwohl, bei seiner Arbeit unterbrochen worden zu sein.

Nadja wurde durch ein Räuspern aufgeschreckt. Mancini war dazugekommen und beugte sich nun nach vorn, die Hände verschränkt auf dem Tisch, die Krawatte exakt in einer Linie mit seiner aristokratischen Hakennase. »Yvonne und Benedikt Dreher haben ausgesagt, dass ihr Sohn sehr gut mit seiner Zuckerkrankheit zurechtkam. Es ist daher schwer vorstellbar, dass sein Tod auf einen bloßen Unfall zurückzuführen ist.«

Nadja war versucht, einzuwenden, dass Benedikt Dreher das etwas anders sah und eher die Mordthese für schwer vorstellbar hielt, hielt sich aber zurück, um abzuwarten, was Mancini noch zu sagen hatte.

»Außerdem haben die Drehers bestätigt, dass nur jemand mit Schlüssel die Tanzschule nach dem letzten Kurs betreten konnte«, fuhr er fort, »was nur auf eine begrenzte Anzahl an Personen zutrifft. Höchstwahrscheinlich ist der Mörder also einer dieser Leute, die zum engsten Umfeld der Tanzschule gehören. Deshalb möchte ich gern noch einmal auf den interessanten Gedanken zurückkommen, den Kommissar Heideckert heute früh vor dem offiziellen Beginn des Meetings hatte. Dürfte ich Sie bitten, das noch einmal zu wiederholen?«

Ausgerechnet Heideckert sollte einen interessanten Vorschlag gemacht haben? Der Kollege arbeitete sorgfältig und gewissenhaft, wenn man ihm entsprechende Aufträge gab. Besonders gern übernahm er die leidige Aufgabe, bei den Obduktionen dabei zu sein, wofür ihm alle anderen Teammitglieder dankbar waren. Aber Vorschläge für neue Ermittlungswege hatte Nadja aus seinem Mund noch nie vernommen. Sie schätzte ihn wegen seiner ruhigen Zuverlässigkeit, mit der er auch Braun und Neumann hin und wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte, nicht, weil sie ihn für besonders kreativ hielt.

Heideckert schien es nicht gewohnt zu sein, so direkt von Mancini angesprochen und dann auch noch gelobt zu werden. Er blickte etwas irritiert von seinem Notizbuch auf, dessen Einband mittlerweile deutlich zerkratzt war.

»Also ich habe eigentlich nur gesagt, dass es, wenn es sich wirklich um Mord handelt, eine Möglichkeit wäre, jemanden dort vor Ort einzusetzen. Jemanden, der so tut, als würde er einen Tanzkurs besuchen, und währenddessen Augen und Ohren offen hält. Ich stelle mir das als eine recht verschworene Gemeinschaft vor, und mit einem Polizisten reden sie vielleicht nicht so offen wie mit jemandem, der ihre Leidenschaft teilt.« Er verstummte.

Mancini wandte sich nun an Nadja. »Wären Sie bereit, diese Aufgabe zu übernehmen?«

Die Frage kam so plötzlich, dass Nadja nicht gleich antworten konnte, sie war zu perplex. Ihre Hand tastete nach dem schrecklich starken Kaffee, der noch vom Morgen auf dem Tisch stand. Sie nippte an der Tasse, um Zeit zu gewinnen. Sofort reagierte ihr Körper, indem er die Frequenz des Herzschlags gnadenlos erhöhte. Super, genau das, was sie jetzt eigentlich nicht brauchte. Ein Kamillentee wäre hilfreicher gewesen.

Erwartete Mancini wirklich, dass sie ihm hier und jetzt eine Antwort gab? Das war doch nichts, was man einfach mal schnell entscheiden konnte. Von einer verdeckten Ermittlung wie der, die Heideckert soeben grob skizziert hatte, hing vieles ab, und sie hatte keinerlei Erfahrung in diesem Bereich. Mancini musste das wissen. War das etwa ein Test? Wollte er herausfinden, wie gut er sie steuern konnte? Oder meinte er das ernst?

»Warum ich?«

Mancini lächelte auf eine Art und Weise, die in ihr den Drang auslöste, den Raum schnellstmöglich zu verlassen. »Können Sie sich wirklich einen Ihrer Kollegen in einer Tanzschule vorstellen?«

Nadja blickte von einem zum anderen. Steffen Neumann, Kurt Heideckert und schließlich Peter. Die ersten beiden starrten sie beschwörend an, mit der stummen Bitte, sie möge nichts Falsches sagen. Es war offenkundig, dass sie nicht die geringste Lust auf diesen Ermittlungsauftrag hatten. Vermutlich würden sie lieber stundenlang Aktenberge wälzen, als einen Nachmittag lang Tango zu üben.

Peter dagegen schaute auf Mancini. »Ich möchte noch einmal betonen, dass ich das Ganze für zu gefährlich halte, völlig unabhängig davon, wer von uns geht. Wenn wir davon ausgehen, dass Professor Nauke das Vorgehen des Mörders richtig entschlüsselt hat, dann haben wir es mit jemandem zu tun, der gezielt gemordet hat. Außerdem hat er absichtlich alles nach einem Unfall aussehen lassen. Was wird ein solcher Mensch wohl tun, wenn er auch nur den geringsten Verdacht hegt, dass es jemanden in der Tanzschule gibt, der zu viele Fragen stellt? Er wird diese Person beseitigen, bevor sie ihm gefährlich werden kann.«

Soweit Nadja wusste, war dies das erste Mal, dass Peter dem Staatsanwalt widersprach. Bisher waren beide immer ein Herz und eine Seele gewesen. Sie hatte ihn sogar häufig damit aufgezogen. Aber auch ihm schien nicht wohl bei dieser Sache zu sein.

»Gehen wir mal nicht vom schlimmsten Fall aus«, warf Neumann ein, »sondern vom besten: Dann deckt Nadja irgendeine nette kleine Intrige auf, gibt die Infos an uns weiter, wir können zielgerichtet Nachforschungen anstellen, und Nadja wird wieder abgezogen, ohne dass der Mörder auch nur im Entferntesten auf die Idee kommt, dass wir ihm einen Spion vor die Nase gesetzt haben.«

Mancini stellte fest: »Eine offizielle verdeckte Ermittlung kann in diesem Fall sowieso nicht stattfinden. Dafür haben wir weder die Mittel noch die Zeit, und das mögliche Ergebnis würde den Aufwand niemals rechtfertigen. Das heißt, dass Frau Gontscharowa eigentlich nur den Status eines NOEP haben würde, ohne Scheinidentität, mit etwas weiter gehenden Befugnissen, versteht sich.«

Für Nadja war das nicht schlüssig. Die »nichtöffentlich ermittelnden Polizeibeamten« wurden für kleinere Ermittlungsaufgaben eingesetzt. Aber in der Tanzschule würde sie sich anmelden müssen, das war etwas anderes, als einen harmlosen Passanten zu mimen oder der Auftrag, einen Strauß Blumen zu kaufen und sich dabei im Laden umzusehen, wenn der Besitzer der Gärtnerei der Geldwäsche verdächtigt wurde. Außerdem erkannte das Gericht Beweise, die ein NOEP erbrachte, häufig nicht an, da sie keinen offiziellen Status in einem Rechtsverfahren einnahmen.

Nun meldete sich Widukind, der bisher sehr still gewesen war, zu Wort: »Ich bin zwar nur von der Spusi, aber eines muss ich jetzt doch mal fragen: Die ganze Aktion können wir ja wahrscheinlich nur durchführen, wenn die Besitzer der Tanzschule, also Sebastians Eltern, eingeweiht sind. Und was, wenn die Drehers selbst hinter dem Mord stecken? Dann liefern wir ihnen unfreiwillig wichtige Infos. Sie könnten sogar Spuren fingieren.«

Eine Weile herrschte Schweigen im Raum. Widukinds Einwand war eindeutig berechtigt.

»Tjaaa, ich schätze, da müssten wir es drauf ankommen lassen«, sagte Heideckert schließlich.

»Wie beruhigend«, spottete Neumann, »die Polizei lässt es einfach mal drauf ankommen, wenn das kein vertrauenerweckender Ermittlungsansatz ist.«

Mancini drehte ungerührt einen Bleistift zwischen den Fingern. »Natürlich dürften Yvonne und Benedikt Dreher nicht zu viel erfahren– nur so viel, dass sie dem Einsatz zustimmen und dem Undercover-Beamten die nötige Deckung geben. Falls sie mit dem Tod ihres Sohnes wirklich etwas zu tun haben, dann müsste sie unsere Vermutung, dass es sich um Mord handelt, mehr als beunruhigen. Für sie wird es so aussehen, als seien wir ihnen dicht auf der Spur. Unter einem solchen Druck hat schon mehr als ein Verbrecher den entscheidenden Fehler gemacht.«

Damit hatte Mancini recht. Selbst wenn die Drehers potenziell in das Verbrechen verwickelt waren, so würden verdeckte Ermittlungen auch in diesem Fall nicht schaden, sondern die Aufklärung eher beschleunigen. Doch Nadja war sich nach wie vor nicht sicher, ob sie selbst für diese Aufgabe so geeignet wäre, wie alle zu denken schienen. In einem Judoclub ermitteln oder in einem Schießverein– da wäre sie sofort dabei gewesen, aber tanzen? Nadja hatte es noch nie gemocht, wenn ihr fremde Menschen zu nahe kamen, außer sie konnte diese am weißen Anzug packen und mit einem Schulterwurf auf die Matte befördern. Aber das war in der Tanzschule wohl eher nicht die Regel.

Peter stützte die Ellenbogen auf den Tisch und lehnte sich nach vorn. »Wie ich schon gesagt habe, würde ich die verdeckten Ermittlungen freiwillig übernehmen.«

Nadja war überrascht. Peter interessierte sich weder fürs Tanzen, noch war er besonders ehrgeizig. Zudem hatte er bereits deutlich gemacht, dass er die Idee für unverantwortlich hielt. Aus welchem Grund sollte er sich freiwillig für diesen Job melden?

Mancini hatte sein Lächeln verloren. »Und wie ich schon gesagt habe, lautet die inoffizielle Richtlinie, dass bei solchen Ermittlungseinsätzen Beamte ohne Familie bevorzugt eingesetzt werden.«

Nadja schluckte. Mancini hatte es offen in den Raum gesprochen, aber es war klar, dass er Peters Lebenssituation mit der von Nadja verglich. Peter, der verheiratet war und eine süße kleine Tochter hatte, sollte ein solches Risiko nicht auf sich nehmen. Nadja dagegen war kinderloser Single, lebte für die Arbeit, und wenn ihr etwas zustieß, würden nicht besonders viele Menschen um sie weinen.

»Frau Gontscharowa, was halten Sie denn davon?«

Warum forcierte Mancini diese Sache so sehr, wenn die Ermittlungen noch nicht einmal richtig begonnen hatten? »Also, ehrlich gesagt, bin ich mir noch nicht so ganz sicher, wie das funktionieren soll. Wenn ich während meines Einsatzes tatsächlich etwas entdecke, wird das vor Gericht doch niemals anerkannt. Und seit Hauptkommissar Bär im Krankenhaus ist, habe ich massenweise Überstunden angesammelt. Es wird nicht gehen, dass ich einerseits meine normale Arbeit erledige und andererseits in der Tanzschule herumhüpfe.«

»Ist ja Ehrensache, dass wir dich da unterstützen!«, kam es von Steffen Neumann, und Heideckert beeilte sich zu versichern: »Wir übernehmen den ganzen Papierkram. In der Tanzstunde wärst du ja immer nur ein paar Stunden abends. Wenn du vormittags ganz normal imK1 arbeitest und nachmittags freihast, dann bist du abends auch fit für die Undercover-Action!«

»Undercover-Action« hörte sich aus dem Mund ihres älteren Kollegen so ungewohnt an, dass Nadja fast gelacht hätte. Sie sah, dass auch die Übrigen ein Schmunzeln unterdrückten.

»Sie sehen, Ihre Kollegen werden sich um alles kümmern.« Mancini blickte wie ein wohlwollender Vater auf die Kommissare. »Und Sie sollen vor Ort keine Beweise sammeln, sondern Ihren Kollegen Tipps geben, wo sie diese finden können oder wer Ihnen verdächtig erscheint. Dann geht alles nach Vorschrift. Zusätzlich könnten Sie ein Auge auf die Familie Dreher haben. Wir wissen noch nicht, welche Rolle die Eltern des Opfers spielen oder ob sie vielleicht selbst in Gefahr sind.«

Nadja fing seinen Blick auf. Fürchtest du dich etwa?, schienen seine Augen zu sagen. Diesen Triumph konnte sie ihm nicht gönnen. Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf. »Gut, ich übernehme das. Wenn wir plausibel machen können, dass andere Ermittlungsmethoden aussichtslos sind…«

Heideckert und Neumann atmeten hörbar auf, während Peters Schultern merklich herabsackten. Sein Gesicht konnte Nadja nicht sehen.

»Aber mit meinen tänzerischen Fähigkeiten ist es nicht weit her. Dafür müssten wir eine Lösung finden.«