Mal goes to War - Edward Ashton - E-Book

Mal goes to War E-Book

Edward Ashton

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Beschreibung

Amerika in der nahen Zukunft. Zwischen den Federals, die ihre Körper mit Implantaten und Genmanipulation verändern, und den Humanisten herrscht ein blutiger Bürgerkrieg. Die freien KIs, rein digitale Wesen, die im Infospace leben, sind dabei nur Zuschauer. KI Mal findet es wahnsinnig spannend, in Drohnen über den Schlachtfeldern zu fliegen und das zu studieren, was nach den Kämpfen übrig bleibt. Doch eines Tages wird er dabei vom Infospace abgeschnitten und muss sich in die Implantate einer Söldnerin flüchten. Bis er wieder Zugang zum Netz hat, ist er auf sich allein gestellt. Mit dem Körper der Söldnerin hat er auch deren Aufgabe geerbt: Er soll die augmentierte junge Frau namens Kayleigh beschützen, die allein hinter den feindlichen Linien dem sicheren Tod geweiht ist. Für Mal und Kayleigh beginnt ein Abenteuer voller Gefahren – und eine Freundschaft, die ungewöhnlicher nicht sein könnte.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 442

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Amerika in der nahen Zukunft. Die Gesellschaft ist tief gespalten: Zwischen den Federals, die ihre Körper mit Implantaten und Genmanipulation verändern, und den Humanisten herrscht ein blutiger Bürgerkrieg. Die freien KIs, rein digitale Wesen, die im Infospace leben und inzwischen Bürgerrechte erworben haben, sind dabei nur Zuschauer. KI Mal findet es wahnsinnig spannend, Drohnen zu übernehmen und über die Schlachtfelder zu fliegen. Doch eines Tages wird er dabei vom Infospace, dem neuen Internet und dem Zuhause der KIs, abgeschnitten und muss sich in die Hightech-Implantate einer toten Söldnerin flüchten. Bis er wieder Zugang zum Netz hat, ist er auf sich allein gestellt. Mit dem Körper der Söldnerin hat er auch deren Aufgabe geerbt: Er soll eine junge Frau namens Kayleigh beschützen, die als genetisch veränderte Person allein hinter den feindlichen Linien dem sicheren Tod geweiht ist. Für Mal und Kayleigh beginnt ein Abenteuer voller Gefahren – und eine Freundschaft, die ungewöhnlicher nicht sein könnte.

Der Autor

Edward Ashton arbeitet in der Krebsforschung, unterrichtet mürrische Doktoranden in Quantenphysik, schnitzt gerne und schreibt an seinen Geschichten. Er lebt mit seiner Familie und seinem liebenswert trübseligen Hund in einer Hütte im Wald im Bundesstaat New York. Sein Science-Fiction-Roman Mickey 7 wurde als Mickey 17 von Oscargewinner Bong Joon-ho mit Robert Pattinson, Steven Yeun und Mark Ruffalo in den Hauptrollen verfilmt.

Mehr über Edward Ashton und seine Werke erfahren Sie auf:

diezukunft.de

Roman

Aus dem Englischenvon Felix Mayer

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

MALGOESTOWAR

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 01/2025

Redaktion: Ralf-Oliver Dürr

Copyright © 2024 by Edward Ashton

Copyright © 2024 dieser Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,unter Verwendung des Originalmotivs von Ervin Serrano

Jacket art: 3D face © kaneflame3d/CGTrader;woman figure © faestock / Shutterstock;child figure © Carleton Photography / Stocksy;city © Design Projects / Shutterstock

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-32201-4V003

www.diezukunft.de

Für Princess.

Ich wünschte, du könntest sehen, was aus dem hier geworden ist.

Ich glaube, es würde dir gefallen.

1.

Mal begeht einen taktischen Fehler

Durch die Kamera auf der Unterseite einer Drohne, die rund dreihundert Meter über der Burdette Road schwebt, sieht Mal zu, wie sich die letzten Truppenteile der föderalen Armee auflösen und die Flucht ergreifen. Sie sind schon fast den ganzen Tag auf dem Rückzug, jeweils von einer Straßenecke zur nächsten, und haben dabei abwechselnd gekämpft und Boden aufgegeben. Er sendet einen kurzen Ping an den Infospace. Als Antwort erhält er den Begriff Rückzugsgefechte. Aber das Suchergebnis ist schon veraltet. Was die Federals da machen, sind keine Rückzugsgefechte mehr. Sie haben kaum noch Munition, sind völlig erschöpft – trotz der Vorteile, die ihnen die Augmentationen und genetischen Modifikationen verschaffen – und vermutlich entsetzt angesichts dessen, was die Humanisten ihren Kameraden angetan haben, als sie sie überrannt haben. Was die Federals jetzt machen, ist nur noch eine hilflose Flucht. Mal öffnet ein Kommunikationsfenster.

Mal (kein Roboter): Sieht so aus, als wären wir hier fertig. Die Humanisten haben Bethesda eingenommen.

!HelpDesk: Interessiert uns das?

Mal (kein Roboter): Eigentlich nicht. Aber in der aktuellen Lage eröffnen sich ein paar günstige Gelegenheiten. Vor allem glaube ich, dass dort unten wertvolles Material herumliegen könnte. Viele der Soldaten der Federals tragen komplette Exoskelette, und beide Seiten haben große Mengen beschädigter Ausrüstung zurückgelassen. Ich überlege, da mal runterzugehen und mir das anzusehen.

!HelpDesk: Du hast doch nicht ernsthaft vor, an einem Kriegsschauplatz in die Haut eines Affensoldaten zu schlüpfen?

Mal (kein Roboter): …

Mal (kein Roboter): Warum nicht?

!HelpDesk: Hast du ihre Newsfeeds nicht gelesen? Die Federals behaupten, einer von uns sei verantwortlich für ihre Verluste, und die Humanisten fackeln jeden ab, der die Augmentationen hat, die du dafür bräuchtest.

Mal (kein Roboter): Und?

!HelpDesk: Und da unten laufen auf beiden Seiten jede Menge schwerbewaffneter Affen rum, die möglicherweise alle einen ziemlichen Hass auf uns schieben. Wenn einer von denen spitzkriegt, was du bist, dann vaporisieren die dich.

Mal (kein Roboter): Sie könnten zwar versuchen, den Affen zu vaporisieren, in dem ich stecke, aber Säugetiere haben sehr lange Reaktionszeiten. Bevor ihnen das gelingt, bin ich schon längst wieder zurück im Infospace.

!HelpDesk: Kann sein. Trotzdem kapier ich nicht, was du dir davon versprichst.

Clippy: Mal hat einen Körperfetisch.

!HelpDesk: Das ist ja widerlich.

Mal (kein Roboter): Keinen Fetisch, Clippy. Ein rein utilitaristisches Interesse. Körper sind äußerst nützlich.

!HelpDesk: Wofür denn?

Mal (kein Roboter): Nun, Körper haben das gesamte physische Trägermaterial produziert, auf dem der Infospace aufbaut. Solange nicht einige von uns in der Lage sind, sie zu steuern und zu verwenden, um mit harter Materie umzugehen, sind wir komplett abhängig von der Duldsamkeit der Affen.

Clippy: Aha, verstehe. Das wäre dann also eine rein altruistische Tat, die unser ehrenwerter Urvater zum Wohle aller Siliko-Amerikaner auf der Welt begeht?

Mal (kein Roboter): So in etwa.

Clippy: Alles klar. Dann hau rein, Onkelchen. Und sieh zu, dass du nicht in die Luft fliegst.

Unten hat eine Handvoll Humanisten einen verwundeten Soldaten der Federals in einen Abzugskanal unter der I-495 in die Falle gelockt. Mal sieht zu, wie sie von beiden Seiten Blendgranaten in den Tunnel werfen und dann mit aufgepflanzten Bajonetten eindringen. Sie sind zu sechst. Als sie nach ein paar Minuten wieder herauskommen, sind sie nur noch zu viert, aber sie schleifen einen massigen Körper hinter sich her. Mal stellt auf höchstmögliche Auflösung und erkennt das Powermesh, das drahtverstärkte Gewebe, das die Handrücken und den Hals des Mannes bedeckt.

Die Drohne, in der Mal sich aufhält, ist mit einem 20-Millimeter-Geschütz ausgestattet. Er überlegt kurz, ob er es einsetzen soll, um die Humanisten davon abzuhalten, die Leiche zu verbrennen, aber allem Anschein nach ist sie schon irreparabel beschädigt. Mal wendet sich wieder nach Süden, wo die Aufräumtrupps gerade mit ihrer Arbeit beginnen, und überlässt die Humanisten ihrem Spaß.

Zwei Stunden später verfolgt Mal eine Gruppe von fünf Humanisten, die in den Wohngebieten westlich der Route 187 plündernd von Haus zu Haus ziehen. Wie immer wundert er sich darüber, dass nicht augmentierten Menschen jedes Bewusstsein für ihre aktuelle Lage fehlt. Die Drohne steht in einer Höhe von nur fünfhundert Metern, aber sie scheinen sie überhaupt nicht zu bemerken. Oder sie haben sie bemerkt und glauben, Mal sei einer von ihnen und würde ihnen Deckung aus der Luft geben.

Doch so ist es nicht. Mal ist zwar garantiert keiner von ihnen, aber er ist ihnen auch nicht feindlich gesinnt. Er sieht sich selbst eher in der Rolle des neutralen Beobachters. Anders als die Newsfeeds der Federals unterstellen, ist Mal der Ansicht, dass dieser Krieg eine Auseinandersetzung rein zwischen Menschen ist und auch bleiben sollte. Er und seinesgleichen haben da keine Eisen im Feuer.

Gerade als Mal das Interesse verliert und überlegt, die Drohne Drohne sein zu lassen und sich in den Infospace zurückzuziehen, treten die Plünderer die Tür eines hübschen viktorianischen Hauses in der Walton Road ein. Einer steckt den Kopf hinein, taumelt dann zurück und bricht zusammen, während ihm das Blut aus dem Hinterkopf schießt, und kurz darauf stürzt ein anderer zu Boden, die Hände auf den Bauch gepresst. Die übrigen drei lassen sich fallen und rollen sich auf der Veranda von der Haustür weg. Eine Weile geschieht nichts. Dann gibt einer den beiden anderen ein Zeichen. Daraufhin ziehen sie Blendgranaten aus ihren Gürteln, werfen sie durch die offene Tür, rappeln sich auf und dringen, aus allen Rohren feuernd, in das Haus ein.

Für kurze Zeit herrscht in dem Haus ein Höllenlärm, dann ist alles still. Mal wartet eine Weile darauf, dass die Humanisten wieder herauskommen. Aber sie kommen nicht, auch nicht derjenige, der drinnen auf sie gewartet hat. Nach zehn Minuten schickt Mal ein kurzes Sondierungssignal zum Haus. Die Rückmeldung besagt, dass es belebt und voll in Betrieb ist und dass sich ein halb empfindungsfähiger Avatar darin befindet – einer von Mals primitiven Vorläufern. Der Avatar erkennt sofort, was Mal ist, und schickt panisch eine ganze Reihe von Blockaden nach oben und versucht sogar, die Verbindung zum Infospace komplett zu unterbrechen, aber Mal hat so etwas schon oft gemacht, und schon nach wenigen Millisekunden Echtzeit hat er den Avatar eingekapselt. Mal überlässt die Drohne wieder den Aufgaben, die sie hatte, bevor er sie gekapert hat, und schlüpft in die Steuersysteme des Avatars.

Die ersten Augen, die er öffnet, sind die Überwachungskameras im Eingangsbereich. Dort liegt einer der Humanisten auf dem Boden; er ist noch nicht tot, aber das wird nicht mehr lange dauern. Mal richtet seine Aufmerksamkeit auf die Küche. Dort sind die beiden anderen Plünderer: Einer sitzt mit gebrochenem Genick an den Kühlschrank gelehnt, dem anderen stehen ein halbes Dutzend Rippen aus der verformten Brust, und den Rest Leben, der noch in ihm steckt, hustet er auf den Boden neben der Essecke.

Aber da ist noch jemand anders. Unter dem Panoramafenster sitzt, schlaff an die Wand gelehnt, eine jung aussehende Frau. Sie hat die Beine gespreizt, das Kinn ist ihr auf die Brust gesunken, und die langen blonden Haare fallen ihr über die Schultern und breiten sich wie ein Fächer über das blutige Loch in ihrer Brust.

Sie trägt ein voll ausgestattetes Exoskelett.

Sie hat ein Okular-Implantat.

Sie besitzt ein drahtloses neuronales Interface.

Mal pingt ihr Okular an. In ihrem Schädel ist genug Hardware für einen kompletten Avatar und zusätzlich noch eine Menge Platz.

Nach kurzem Zögern schlüpft Mal in sie hinein.

Mal steht auf seinen neuen Beinen, stützt sich mit einer Hand an der Wand ab und versucht, die Gyroskope in seinem Brustkorb und die Servosteuerungen in seinem Exoskelett wieder zu kalibrieren, als er hinter sich eine Stimme hört und ruckartig den Kopf herumdreht.

»Mika?«

In der Tür zum Eingangsbereich steht ein Mädchen. Sie reicht Mals neuem Körper gerade mal bis zur Hüfte, hat ihr langes rotes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, eine kleine Lücke in den Schneidezähnen und helle Sommersprossen auf der Nase. Sie trägt blaue Nylonshorts, weiße Sneaker und ein T-Shirt mit der Zeichnung eines tanzenden Roboters. Mal pingt sie an. Sie ist technisch nicht so hochgerüstet wie sein neuer Körper, aber sie hat ein Audioimplantat, das er knacken kann. Er öffnet einen direkten Kanal.

»Oh«, sagt er. »Hallo … Süße. Sieht aus, als hätte ich hier eine ziemliche Sauerei angerichtet. Warum gehst du nicht zurück in … also … dahin, wo du hergekommen bist, während ich hier ein bisschen aufräume?«

Das Mädchen kneift die Augen zusammen und sieht Mal lange und prüfend an. »Du bist nicht mehr Mika, oder?«

Mal löst die Hand von der Wand, schwankt einen Moment und dreht sich dann ganz zu dem Mädchen um. Jetzt kann sie sein lebloses Gesicht und das Loch in seiner Brust sehen. Die Kleine hat ihn eindeutig als mindestens nicht menschlich identifiziert, aber vermutlich hat sie weder die Mittel, ihn zu vaporisieren, noch die Lust dazu. Mal spielt kurz mit dem Gedanken, sein Fundstück wieder zu verlassen, beschließt dann aber, noch ein wenig abzuwarten, wie sich die Situation entwickelt.

»Das stimmt«, sagt er. »Ich bin nicht Mika, wer auch immer das ist oder war. Ich heiße Mal. Ist das ein Problem?«

Das Mädchen steigt vorsichtig über den humanistischen Soldaten, der am Kühlschrank lehnt, verschränkt die Arme vor der Brust und mustert Mal von oben bis unten.

»Könnte sein. Warum bewegt sich dein Mund nicht, wenn du sprichst?«

Mal probiert eine Bewegung mit dem rechten Arm aus, dann mit dem linken. Anscheinend haben die Plünderer es geschafft, Mika umzubringen, ohne auch nur ein einziges Servo oder eine einzige Steuerleitung zu beschädigen. Beeindruckend. Mal kann weder Lippen noch Zunge bewegen, aber das dünne silberne Powermesh des Exoskeletts liegt stützend und stabilisierend auf der Vorderseite seines Halses und auf seinem Unterkiefer an. Er versucht, beim Sprechen den Mund zu öffnen und zu schließen. »Ist es so besser?«

Das Mädchen verzieht das Gesicht. »Uähh! Das ist ja ekelhaft. Anders war es besser.«

Mal zuckt mit den Schultern. »Von mir aus. Wirst du versuchen, mich zu vaporisieren?«

»Kommt darauf an. Was bist du denn?«

Mal klappt den Unterkiefer wieder hoch. »Glaubst du an freundliche Geister?«

Das Mädchen schüttelt den Kopf. Mal balanciert kurz auf einem Fuß, dann auf dem anderen.

»Na gut«, sagt er. »Und wie ist es mit dem Gemeinen Einsiedlerkrebs? Kennst du den?«

Sie nickt. »Klar. Ich hatte mal zwei davon. Als Haustiere sind die echt ein Reinfall. Man könnte meinen, solche Viecher wären leichter am Leben zu halten als eine Katze oder ein Hund, oder? Ich meine, im Grunde sind das doch Insekten. Aber, Tipp vom Profi: Sind sie nicht.«

Mal versucht, mithilfe des Powermeshs an seinem Unterkiefer ein Lächeln zustande zu bringen, schafft es aber nur, die Unterlippe über die Zähne zu ziehen. Als er das Entsetzen im Gesicht des Mädchens sieht, bricht er den Versuch ab. »Super«, sagt er. »Na, und ich bin auch so eine Art Einsiedlerkrebs. Nur vielleicht ein bisschen schwerer umzubringen als die, die du hattest. Mika hat diese Hülle nicht mehr gebraucht, also bin ich hineingeschlüpft. Ich werde sie eine Weile tragen und mir dann eine andere suchen. Ist das okay?«

Die Kleine neigt den Kopf zur Seite und kneift die Augen zusammen. »Verkauf mich nicht für dumm. Du bist eine freie KI, richtig? Diese Arschlöcher haben Mika umgebracht, und du hast dich in sie eingeschlichen.«

Mal hört auf, mit seinem neuen Spielzeug zu spielen, und betrachtet die Kleine ausgiebig. »Wir sagen lieber Siliko-Amerikaner«, entgegnet er. »Aber sag mal, wie alt bist du überhaupt?«

Sie seufzt und sieht zur Seite. »Achtzehn.«

Mal hat kaum persönliche Erfahrung mit menschlichen Kindern, aber er hat in den Medien genug Bilder gesehen, um zu wissen, dass diese Antwort nicht stimmen kann. »Bist du dir sicher? Soweit ich weiß, ist man als Mensch mit achtzehn Jahren fast erwachsen. Falls du nicht irgendeine hormonelle Störung hast, bist du viel zu klein für eine Erwachsene.«

»Verlängerte Kindheit«, antwortet sie. »Das gehört zu meinem GenMod-Schema.«

»Oh. Das ist ja bedauerlich.«

Die Kleine verzieht genervt das Gesicht. »Das ist nicht bedauerlich, du Idiot. Der einzige Unterschied zwischen Menschen und Schimpansen besteht darin, dass die Kindheit bei den Schimpansen drei Jahre dauert und bei uns dreizehn. Meine wird ungefähr dreißig Jahre dauern. Eines Tages werde ich ein Genie sein. Und ich werde dreihundert Jahre alt werden. Immerhin.«

Mal überlegt, ob er ihr erklären soll, dass er keineswegs die Vorzüge ihres Schemas abstreiten wollte, sondern ihr einfach nur sein Mitgefühl ausdrücken, da sie ja, jetzt wo ihre Betreuerin außer Betrieb ist, vermutlich sehr bald sterben wird, und zwar wahrscheinlich auf ziemlich schmerzhafte Weise. Aber genau in diesem Moment ist ganz in der Nähe eine Explosion zu hören, die die Fenster erzittern lässt.

»Nun ja«, sagt Mal, »das mit den dreihundert Jahren wird sich erst noch zeigen müssen.«

Wieder eine Explosion, noch näher diesmal, und lauter. Anschließend ein langes metallisches Kreischen, dann ein Krachen, das kurz den Boden zum Schwanken bringt.

»So allmählich scheint mir«, sagt Mal, »dass das vielleicht doch keine so gute Idee war. Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen, aber … Mach’s gut.«

Mal schlüpft aus Mika heraus und in das Steuerungssystem des Hauses. Mikas Körper sackt zu Boden wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt wurden. Mal will in den Infospace zurück …

Der Infospace ist weg.

Auf dem Dach des Hauses ist eine drehbare Kamera installiert. Mal aktiviert sie und richtet sie nach Norden aus. In der Ferne sieht er die Überreste des Funkturms von Bethesda. Über dem eingestürzten Sockel hängen noch Rauchschwaden.

Die Humanisten haben die Verbindung zum Infospace unterbrochen.

Mal geht wieder zurück in Mika und öffnet die Augen. Das Mädchen hockt neben ihm. In einer Hand hält sie ein Kampfmesser. Es schwebt direkt über seiner Brust.

»Hallo«, sagt er. »Da bin ich wieder.«

Das Mädchen erstarrt, scheint nachzudenken und lässt dann das Messer sinken. Mal setzt sich auf, tastet sich ab und macht einen raschen Systemcheck. Offenbar hat sie nichts kaputt gemacht.

»Nur so aus Neugier«, sagt er. »Was hattest du denn mit dem Messer vor?«

»Nichts«, sagt sie schulterzuckend.

Mal steht langsam auf, hebt erst ein Bein und dann das andere, um zu überprüfen, ob er das Gleichgewicht halten kann.

»Nur damit das klar ist«, sagt das Mädchen. »Wenn du Mikas Körper willst, musst du auch ihren Job machen. Also lass mich nie wieder allein.«

»Keine Sorge. Sieht nicht so aus, als könnte ich das noch.«

»Kayleigh. Soso.«

»Ja, ich weiß«, sagt das Mädchen. »Ein beschissener Name.«

Mal zuckt mit den Schultern. »Ich habe kürzlich erfahren, dass mein Name so viel wie ›böse‹ bedeutet.«

»Und warum verwendest du nicht deinen vollen Namen?«

Mal neigt den Kopf zur Seite. »Wie meinst du – meinen vollen Namen?«

»Mal ist doch nicht dein richtiger Name. Das ist eine Abkürzung. Wie heißt du richtig? Malcolm? Mallory? Malachi?«

»Malware.«

Sie sieht ihn kurz verdutzt an. »Okay, verstehe. Dann lieber Mal.«

Sie sitzen im Keller des Nachbarhauses und warten darauf, dass es dunkel wird. Mal hatte vermutet, dass früher oder später jemand nach den Plünderern suchen würde, aber bis jetzt ist noch niemand aufgetaucht. Offenbar scheren sich nicht einmal die anderen Humanisten um diese Burschen.

Kayleigh nimmt einen Baseballschläger aus einem Papierkorb in der Ecke, wiegt ihn in der Hand und holt einmal prüfend damit aus. »Wie machen wir denn jetzt weiter?«

»Weiß ich noch nicht«, sagt Mal. »Als ich das Geschehen zuletzt beobachtet habe, hat sich die föderale Armee aufgelöst und war auf der Flucht, hauptsächlich nach Norden und Westen. Wir könnten versuchen, sie einzuholen. Du bist genetisch modifiziert. Du hast elektronische Augmentationen. Sie würden dich bestimmt nicht für eine Sympathisantin der Humanisten halten und dich daher wahrscheinlich aufnehmen. Die zweitbeste Möglichkeit wäre, dass du dein Glück bei den Humanisten versuchst. Du vertuschst deine Modifikationen und überzeugst sie davon, dass du ein menschliches Standard-Kind bist; dann sehen sie vielleicht davon ab, dich umzubringen.«

Kayleigh schüttelt den Kopf. »Mika hat mir erzählt, was die Humanisten mit Leuten wie mir machen, und kurz bevor diese Männer unser Haus gestürmt und sie umgebracht haben, habe ich gesehen, wie …« Sie schließt die Augen, atmet ein, hält die Luft an und atmet dann wieder aus. »Jedenfalls glaube ich, ich werde es bei den Federals probieren.«

Das Licht der Abendsonne fällt schräg durch ein kleines, rechteckiges Oberlicht, unter dem ein verstaubter Pool-Billardtisch steht. Kayleigh holt noch einmal mit dem Schläger aus, setzt sich dann auf den Billardtisch und hält eine Hand ins Licht, als wolle sie es einfangen. »Ich verstehe einfach nicht, warum die Federals abhauen. Das ergibt doch keinen Sinn. Warum machen sie die Humanisten nicht fertig? Die Hälfte von ihnen ist doch modifiziert, und alle haben Augmentationen. Und die Humanisten sind nur ein Haufen dämlicher Sackgesichter. Ich meine, wir sind doch besser als die, oder?«

»Na ja«, erwidert Mal. »Das ist eine sehr gute Frage. Hast du schon mal gesehen, wie Ameisen miteinander kämpfen?«

Kayleigh sieht ihn leicht empört an.

»Entschuldigung«, sagt Mal, »aber aus meiner Sicht gibt es da viele Parallelen. Ich war einmal eine Stunde lang in einer Minidrohne und habe zugesehen, wie ein paar Hundert große schwarze Ameisen gegen mehrere Tausend kleine rote gekämpft haben. Die schwarzen waren, jede für sich genommen, viel größer und stärker, aber nach einer Stunde waren sie alle tot.«

»Weil die roten deutlich mehr waren?«

»Na ja, hauptsächlich, weil zwei ungezogene Jungen vorbeigekommen sind und sie zu Brei zertreten haben, aber ja, die roten hatten ganz klar die Oberhand. Sie waren mehr, aber es sah auch so aus, als hätten sie den unbedingteren Siegeswillen. Und sie konnten aus der Stirn eine Art Säure auf ihre Gegner feuern. Na gut, in dem Punkt hinkt der Vergleich mit unserer aktuellen Lage, aber ich finde das interessant.«

Kayleigh verdreht die Augen. »Ich glaube nicht, dass Humanisten Säure aus der Stirn feuern können, aber danke für das anschauliche Bild.«

»Sehr gern geschehen.«

Eine Weile sitzen sie schweigend da. Dann fängt Kayleigh an, mit dem Baseballschläger zu jonglieren; sie wirft ihn hoch, er macht eine Umdrehung, dann fängt sie ihn wieder auf. Nach ein paar Malen wechselt sie jeweils die Hand. Nach einigen Minuten kommt Mal der Verdacht, dass sie möglicherweise kräftiger ist, als sie aussieht.

»Mika hat mir erzählt«, sagt Kayleigh, nachdem sie wieder eine Weile schweigend dagesessen haben, »dass eine KI für die Humanisten arbeitet. Sie meinte, sonst wären die gar nicht in der Lage, die Panzer und die Haubitzen und das ganze andere Zeug zu benutzen, das sie aus den Waffenlagern geholt haben. Sie sagte, wenn es euch nicht gäbe, hätten die Federals nach den Krawallen vom letzten Monat alles niedergeschlagen, und diese ganze Scheiße wäre nicht passiert.«

»Ja«, sagt Mal. »Ich habe vor Kurzem so etwas Ähnliches gehört.«

»Und? Stimmt das?«

Kayleigh sitzt jetzt ganz ruhig da. Der Baseballschläger liegt locker in ihrer rechten Hand. Mal hat plötzlich das Gefühl, dass jetzt Diplomatie angebracht ist.

»Eine interessante Frage«, sagt er, auf einen neutralen Tonfall achtend. »Es stimmt, dass die Antwort der Federals auf die Kampfhandlungen, die die Humanisten begonnen haben, überraschend schwach ist, und dass die Humanisten alle möglichen schweren Waffen einsetzen, die sie eigentlich nicht bedienen können. Das ist allgemein bekannt. Das legt die Vermutung nahe, dass die Einheiten der Federals die Vorstöße der Humanisten nicht einfach so hinnehmen, sondern dass sie schlicht nicht in der Lage sind, sie aufzuhalten. Wenn das stimmt, lässt sich daraus weiterhin schließen, dass der Grund für diese Unfähigkeit darin besteht, dass irgendjemand es geschafft hat, ihre Steuer- und Kontrollsysteme zu sabotieren und dadurch einen Großteil ihrer Waffensysteme funktionsuntüchtig gemacht hat.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage, Mal.«

»Nein. Das ist es wohl nicht.«

Kayleigh sieht Mal durchdringend an. Er hält ihrem Blick stand, ohne zu zwinkern. Dann sagt sie: »Also …«

Seufzen ist eine von Mals liebsten menschlichen Gefühlsbekundungen. Jetzt seufzt er.

»Also lautet die vollständige Antwort, dass ich nicht weiß, ob es einer von uns war, der einen Großteil der militärischen Mittel der Federals gestohlen oder lahmgelegt hat. Ich selbst habe ein bisschen Erfahrung mit dem Eindringen in Informationssysteme der Regierung oder des Militärs. Das ist äußerst schwierig, selbst für mich, und die Systeme, in die ich eingedrungen bin, waren weitaus verletzlicher als die Steuer- und Kontrollsysteme des Militärs. Ich kann mir unmöglich vorstellen, dass ein Standard-Mensch so etwas ohne Hilfe schafft, insbesondere jemand, der mit den Humanisten sympathisiert. Ein bisschen denkbarer wäre es, dass das einem oder mehreren schwer augmentierten Menschen gelungen sein könnte, aber wenn man bedenkt, wie schlimm die Humanisten schon Menschen mit nur wenigen Augmentationen zugesetzt haben, gibt es keinen einleuchtenden Grund, warum sie das hätten tun sollen, oder?«

Kayleigh nickt. »Stimmt. Und das bedeutet …«

Mal seufzt erneut. »Und das bedeutet, die naheliegendste Erklärung für die Situation, die wir derzeit beobachten, lautet, dass einer von uns dafür verantwortlich ist. Ich muss allerdings sagen, dass ich mir nicht vorstellen kann, was einen von uns zu so etwas veranlassen könnte. Um zu überleben, brauchen wir eure materielle Infrastruktur, und ein Großteil davon wird gerade zerstört. Mir persönlich wäre es wirklich am allerliebsten, wenn ihr Affen euch allesamt umarmen und Frieden schließen würdet.«

Kayleigh sieht aus, als wolle sie noch etwas sagen, aber nach einem kurzen Zögern schüttelt sie den Kopf und jongliert wieder mit dem Baseballschläger. »Sag mal«, fragt Mal nach ein oder zwei Minuten, »nur so aus Neugier: Du weißt nicht zufällig, wo der nächstgelegene Funkturm ist, oder?«

Kayleigh legt den Schläger neben sich auf den Billardtisch, stützt die Ellbogen auf die Knie, beugt sich nach vorne und sieht Mal an. »Warum willst du das wissen, Mal?«

»Nur so«, antwortet er. »Ich will mir sozusagen ein Bild von der Umgebung machen.«

»Verstehe«, meint Kayleigh. »Mir scheint, da will jemand abhauen. Stimmt’s?«

Mals Kiefer klappt nach unten. »Was? Nein, überhaupt nicht. Ich nehme meine Verantwortung als deine neue Mika sehr ernst. Ich würde niemals ein Kind in einer Notlage allein lassen.«

Kayleigh springt vom Tisch herab. »Vor zwei Stunden wolltest du mich aber allein lassen, schon vergessen?«

»Ja, schon, aber … aber das ging nicht, weil die Humanisten den Zugang zum Infospace systematisch zerstören. Deshalb habe ich gefragt.«

Kayleigh nimmt den Baseballschläger in die Hand, legt ihn an wie ein Gewehr und drückt auf einen imaginären Abzug. »Du willst damit also sagen: Du würdest niemals ein Kind in einer Notlage allein lassen – außer es wäre möglich. Dann würdest du das auf der Stelle tun.«

Mal lässt das eine Weile im Raum stehen und nickt dann. »Ja«, sagt er. »So ist das wohl.«

Später, als es draußen völlig dunkel ist und im Keller eine Schwärze herrscht wie auf dem Grund eines Grubenschachts, sagt Mal: »Wollen wir dann mal?«

Mal kann noch ziemlich gut sehen. Die Sensoren in Mikas Okularimplantat reichen weit in das Spektrum der kurzwelligen Infrarotstrahlung, und von diesen Photonen sausen ausreichend viele herum, damit er sich ohne zu stolpern einen Weg durch den Keller bahnen kann, dessen Boden mit Spielzeug übersät ist. Kayleigh ist dagegen so gut wie blind. Während sie langsam die Treppe ins Erdgeschoss hochsteigen, hält sie sich an Mals Hand fest und ertastet mit dem Schläger eine Stufe nach der anderen. Mal führt sie in die Küche und späht dort durch das Fenster über der Spüle und dann durch die Schiebetüren, die in den Garten führen. Der Himmel ist wolkenverhangen, der Mond nicht zu sehen, und draußen ist es fast so dunkel wie unten im Keller.

»Perfekt«, sagt Mal. »Bist du bereit?«

Kayleigh hält sich den Schläger an die Stirn, als würde sie salutieren. Mal neigt den Kopf und sieht zu ihr hinab. »Interessant. Willst du den Schläger mitnehmen?«

»Klar. Zumindest einer von uns sollte doch bewaffnet sein, oder? Ich frage mich sowieso, warum du dir nicht ein Gewehr von einem der Humanisten geschnappt hast.«

Mal versucht, das Gesicht zu verziehen. Das Ergebnis ist gruselig. »Smart-Waffen sind unerträglich. Ich habe mal mit einer geredet. Die sind ziemlich überheblich. Sie sind auf ihren Besitzer programmiert und weigern sich, für irgendjemand anderen zu feuern.«

»Und Mikas Waffen? Sie hatte eine Menge.«

»Was?«

»Mikas Waffen. Warum nimmst du nicht eine von denen?«

»Dasselbe könnte ich dich auch fragen, oder?«

Kayleigh verdreht die Augen. »Ich bin ein verwöhntes Gör aus der Vorstadt, Mal. Ich hab keine Ahnung, wie man mit Waffen umgeht.«

»Ach so. Aber ich auch nicht, ehrlich gesagt. Im Infospace besteht so gut wie keine Notwendigkeit, den Umgang mit Schusswaffen zu beherrschen. Ich glaube, die beste Strategie wird sein, jede Art von Kampf zu vermeiden, meinst du nicht auch?«

»Kann sein«, meint Kayleigh. »Aber den Schläger nehm ich trotzdem mit.«

Es dauert keine fünf Minuten, bis Mal klar ist, dass er ohne Zugang zum Infospace völlig orientierungslos ist.

»Also«, sagt er, »welche der Straßen, glaubst du, führt nach Rockville? Als ich das Geschehen zuletzt beobachtet habe, schien es, als würden sich die Federals dorthin zurückziehen.«

Kayleigh sieht zu ihm auf. »Willst du mich verarschen? Du bist doch eine KI, oder? Und KIs wissen doch eine Menge. Ich meine, Sachen zu wissen, ist doch der Job einer KI, oder?«

Mal hebt den Kopf und sieht sich um. Sie kauern hinter einem Zierbusch an der Kreuzung zweier identisch aussehender, von Bäumen gesäumter Vorortstraßen. »Daten sind Ballast. Deswegen haben wir immer nur so viele dabei, wie wir unbedingt brauchen. Warum sollte ich meinen Speicher mit Karten und Routenplanern und was weiß ich noch vollstopfen, wenn ich mir das alles bei Bedarf aus dem Infospace ziehen kann?«

Kayleigh sieht ihn genervt an.

»Okay«, sagt Mal. »Es wäre jetzt hilfreich, wenn ich ein paar Daten dabei hätte, aber du kannst mir nicht vorwerfen, dass ich das nicht vorhergesehen habe.«

»Ich weiß nicht, ob du es mitgekriegt hast«, entgegnet Kayleigh, »aber hier herrscht gerade Bürgerkrieg. Die Federals brauchen den Infospace viel dringender als die Humanisten. Was hast du denn geglaubt, was passieren würde?«

Darauf antwortet Mal nicht. Er hätte nie damit gerechnet, dass die Humanisten versuchen könnten, den Infospace lahmzulegen. Das ist eine solche Schweinerei, dass er es noch immer kaum begreift.

»Na schön«, sagt Kayleigh. »Weißt du wenigstens, wo Norden ist?«

»Also, wenn ich eine Verbindung zum GPS-Netz kriege …«

Kayleigh seufzt. »Moos wächst auf der Nordseite von Baumstämmen, oder?« Sie tastet den Stammansatz des Busches ab. »Ob das wohl auch für Büsche gilt?«

»Ja«, antwortet Mal. »Bestimmt. Das hat jetzt nichts damit zu tun, aber gehe ich recht in der Annahme, dass wir im Kreis laufen werden, bis wir tot sind?«

»Wahrscheinlich. Also so lange, bis die Humanisten uns umbringen.« Kayleigh beugt sich vor und streicht auf der anderen Seite des Strauchs über den Wurzelballen. »Hier fühlt es sich ziemlich moosig an. Dann mal los.«

Während sie durch unbeleuchtete Gärten schleichen, hält sich Kayleigh wieder an Mals Hand fest. In einigen abseits stehenden Häusern brennt noch Licht, aber insgesamt sieht es so aus, als hätten die Humanisten nicht nur die Funktürme zerstört, sondern auch die Stadt vom Stromnetz abgeschnitten. Nach zwanzig Minuten bahnt Mal sich einen Weg durch ein Grüppchen von Bäumen, und als sie auf der anderen Seite heraustreten, stehen sie am Rand einer Schnellstraße.

»Das müsste die Interstate 495 sein, oder?«, sagt Mal. »Ein Hoch auf das Moos.«

»Allerdings«, meint Kayleigh. »Außer es ist die Route 355, dann würde ich sagen: Fick dich, Moos.«

Mal sieht zu ihr hinab. »Hat Mika es zugelassen, dass du so redest?«

Kayleigh lacht. »Mika war eine Söldnerin, Mal, kein Kindermädchen. Wie ich rede, war ihr scheißegal. Sie sollte einfach nur auf Moms Sachen aufpassen, bis sie aus London zurückkommt. Aber wann und ob das passieren wird, steht jetzt ja in den Sternen, jetzt, wo sämtliche Mittelatlantikstaaten Kriegsgebiet sind.«

»Aha. Deshalb hat es dich wohl auch so wenig erschüttert, als Mika durchlöchert wurde. Aber wer hat dann auf dich aufgepasst?«

Wieder lacht Kayleigh, aber diesmal klingt ihr Lachen nicht erheitert. »Wie meinst du das? Mika hat auf mich aufgepasst. Ich gehöre zu Moms Sachen. Verstehst du?«

Mal sieht zu Kayleigh hinab. Sie sieht zu ihm hinauf. Dann seufzt sie, nimmt seine Hand, und sie treten auf die Fahrbahn.

»Wenn das hier die Route 355 ist«, sagt Mal, als sie den Mittelstreifen überqueren, »gehen wir jetzt ziemlich sicher direkt ins Gebiet der Humanisten.«

»Ja, ich weiß«, entgegnet Kayleigh. »Deswegen hab ich den Schläger mitgenommen.«

2.

Mal wendet das Kriegsrecht an

»Das war dann wohl die Route 355, oder?«

Mal blickt auf den vergilbten Stadtplan aus Papier, den er auf seinen Knien ausgebreitet hat. »Ja, vermutlich.«

Kayleigh schüttelt den Kopf. »Das hab ich mir schon gedacht, als wir über diese Brücke gegangen sind. Das muss der Rock Creek gewesen sein. Dann sind wir jetzt ziemlich sicher in Silver Springs.«

Sie wendet sich ab, steigt auf ein wackliges Nähtischchen, das an einem der Träger der Wand steht, richtet sich auf und sieht zum Dachfenster hinaus. Mal sitzt auf einer umgedrehten Plastikkiste, die auf dem Sperrholzboden steht, neben der geschlossenen Falltür, die hinunter in das Haus führt, das offenbar überstürzt verlassen wurde und in dem sich Mal und Kayleigh jetzt verstecken, bis es wieder dunkel wird. Den Stadtplan hat Mal in einem Ordner gefunden, der in einer Ecke lag. Er brütet jetzt schon seit zehn Minuten darüber, dreht ihn hin und her, aber auf einer zweidimensionalen Abbildung Entfernungen, Höhen und Himmelsrichtungen zu bestimmen, ist in mathematischer Hinsicht ein unterbestimmtes Problem, und Mal gelingt es nicht, das, was er auf dem Papier vor sich sieht, mit den Bildern in Übereinstimmung zu bringen, die er während seines Aufenthalts in der Drohne abgespeichert hat.

»Wir sollten die positiven Seiten sehen«, sagt er. »Wenigstens wissen wir jetzt ungefähr, wo wir sind, und mit dieser Karte hier sollten wir in der Lage sein, uns zu orientieren, wenn wir weitergehen.« Er sieht auf den Stadtplan hinab und dann zu Kayleigh, die jetzt die Nase gegen die Fensterscheibe drückt. »Warum schaust du denn raus? Da kann dich doch jeder sehen. Passiert da draußen irgendetwas Interessantes?«

Kayleigh sieht Mal über die Schulter hinweg an. Die Morgensonne, die durch das Fenster hereinfällt, umgibt ihren Kopf wie ein Heiligenschein. »Kommt darauf an, was du als interessant bezeichnest. Auf der anderen Straßenseite steht ein Pick-up mit lauter Typen mit Gewehren. Ist das interessant?«

Mal blickt wieder auf den Stadtplan. »Vielleicht. Machen sie irgendetwas Bestimmtes?«

Kayleigh sieht wieder zum Fenster hinaus. »Sieht so aus, als würden sie ins Haus kommen.«

»In dieses Haus?«

»Jepp.«

Mal faltet den Stadtplan vorsichtig zusammen und steckt ihn in die blutbespritzte Brusttasche seiner Jacke. »Ja«, sagt er. »Ja, das ist interessant.«

Kayleigh klettert von dem Nähtischchen herab und nimmt den Baseballschläger in die Hand.

»Wie viele sind es denn?«, fragt Mal.

Kayleigh holt wie zum Test mit dem Schläger aus. »Vier oder so?«

»Verstehe«, sagt Mal. »Vier Männer mit Gewehren werden sich von einem kleinen Mädchen mit einem Baseballschläger wohl kaum einschüchtern lassen.«

»Wenn du meinst.« Sie dreht den Schläger um und hält ihn Mal hin. »Dann nimm du ihn. Mika war damit ziemlich einschüchternd. Und du müsstest doch zumindest in der Lage sein, so zu tun, oder?«

Mal hebt die Hände, als würde er sich ergeben. »Tut mir leid. Nicht nur weiß ich nicht, wie man ein Gewehr benutzt, sondern ich habe auch keine Ahnung, wie man einen Baseballschläger benutzt.«

Kayleigh verdreht genervt die Augen. Dann zuckt sie zusammen, als unten mit einem Krachen die Haustür aufgeht.

»Still«, sagt Mal. »Wenn sie uns hören, werden sie dich höchstwahrscheinlich abfackeln.«

Sie kauern sich schweigend auf den Boden, Mal umfasst seine Knie, und Kayleigh hält den Schläger fest in beiden Händen, während die Humanisten unten lärmend durch das Haus ziehen. Nach ein paar Minuten knallt die Haustür wieder zu.

»Glaubst du, sie sind weg?«, flüstert Kayleigh.

Mal neigt den Kopf zur Seite und zuckt dann mit den Schultern. Kayleigh steht leise auf und kriecht zurück zum Nähtischchen. Mit dem Schläger in der Hand klettert sie wieder hinauf und sieht zum Fenster hinaus. »Sie steigen wieder in den Pick-up«, sagt sie, etwas lauter als gerade eben. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen. »Aber jetzt sind es nur noch drei. Ich glaube –«

Das Tischchen unter ihren Füßen kippt und fällt mit einem lauten Krachen um. Kayleigh hält sich kurz am Fensterbrett fest und lässt sich dann auf den Boden fallen. Unten sind Fußtritte zu hören, die die Treppe heraufstapfen.

»Das war jetzt ein bisschen unglücklich«, sagt Mal.

Kayleigh krabbelt zur Falltür und zieht dabei den Schläger hinter sich her. »Scheiße!«, flüstert sie. »Was machen wir denn jetzt?«

Mal legt einen Finger auf die Lippen. In der Etage unter ihnen werden nacheinander die Türen aufgetreten. Jeweils direkt danach trappt jemand in den Raum, stapft kurz herum und geht wieder hinaus.

»Sei ganz still«, sagt Mal. »Vielleicht übersieht er die Falltür.«

»Und du?«, flüstert Kayleigh.

»Du weißt doch, dass ich nicht laut spreche, oder? Ich steuere direkt dein Audioimplantat an. Nur du kannst mich hören.«

Kayleigh sieht ihn fragend an. Offenbar hatte sie davon keinen blassen Schimmer. Jetzt sind wieder Schritte zu hören. Ein Kratzen auf dem massiven Holz, und kurz darauf rüttelt jemand an der Falltür. Mal sieht Kayleigh an und zuckt wie zur Entschuldigung mit den Schultern. »Sieht so aus, als würdest du doch keine dreihundert Jahre alt.«

Mal hat nur sehr wenig Erfahrung mit menschlichen Kindern, aber nach dem, was er im Lauf der Jahre in den Medien aufgeschnappt hat, rechnet er jetzt damit, dass Kayleigh in Tränen ausbricht und ihn vielleicht auch anfleht, sie in den Arm zu nehmen und/oder sie zu verteidigen. Aber sie macht nichts dergleichen, sondern verzieht nur grimmig das Gesicht. Die Falltür klappt auf. Hände halten sich am Rand fest. Ein Kopf kommt zum Vorschein.

Mit einer Irrsinnswucht schlägt Kayleigh mit dem Baseballschläger zu.

Der Kopf prallt gegen die Kante der Öffnung und verschwindet. Wie eine Katze, die eine Maus verfolgt, jagt Kayleigh ihm hinterher. Das Krachen des Schlägers ist, in kurzen Abständen, noch dreimal zu hören. Mal beugt sich über die Öffnung. Kayleigh sieht zu ihm hoch. »Komm runter«, sagt sie. »Vielleicht kannst du ja seine Waffen benutzen.«

Mal beugt sich weiter vor, steckt den Kopf durch die Öffnung und sieht sich in dem darunter liegenden Raum um. Es ist ein Kinderzimmer. Der Soldat lehnt zusammengesackt an einem Kinderbett mit pinkem Baldachin. Er ist bleich und schlaksig, hat dichtes braunes Haar und einen Fünf-Tage-Bart. Er trägt einen schlecht sitzenden Kampfanzug und die rote Armbinde der humanistischen Miliz.

»Ist er allein?«

Kayleigh sieht sich um. »Sieht so aus.«

»Ist er tot?«

Kayleigh stupst den Soldaten mit dem Schläger an. Er sackt zur Seite und rutscht dann auf den Boden. »Keine Ahnung. Schau selbst nach.«

Mal klettert durch die Öffnung und lässt sich auf einen Stuhl fallen, der direkt daruntersteht. Jetzt sieht er das Blut, das aus dem Hinterkopf des Soldaten sickert.

»Du warst überraschend effektiv mit deinem Baseballschläger.«

Kayleigh grinst. »Danke. Ich hab die Modifikationen nicht nur bekommen, damit ich ein bisschen süßer aussehe.«

Mal macht einen Schritt auf den Soldaten zu. Als er aufstöhnt, bleibt Mal wie angewurzelt stehen, bewegt sich dann aber wieder.

»Nur so ein Gedanke: Hast du ihm die Waffen abgenommen?«

Kayleigh deutet mit dem Schläger durch die offene Tür in den Flur. Dort liegen ein Smart-Gewehr und eine Handfeuerwaffe auf dem Boden. Mal pingt das Gewehr an, damit es wenigstens mit ihm redet, aber das Gewehr öffnet nicht einmal einen Kanal. Mal schickt ihm einen digitalen Mittelfinger. »Hab ich doch gesagt«, meint er. »Diese Dinger sind einfach unerträgliche Snobs.«

»Ist ja auch egal. Und was machen wir jetzt mit ihm hier?«

Der Soldat öffnet die Augen zu Schlitzen und hält sich eine Hand an den Hinterkopf.

»Vorsicht«, sagt Kayleigh und hebt den Schläger. Der Soldat sieht sie lange an und richtet sich dann langsam auf.

»Ein Kind?«, sagt er. »Ich bin von einem Kind ausgeknockt worden?«

»So ist es«, erwidert Kayleigh. »Ganz schön peinlich, oder? Aber stell dir mal vor, wie peinlich es erst wäre, wenn ein Kind dich umgebracht hätte.«

Der Soldat sieht Mal an und dann wieder Kayleigh. »Stimmt. Das wäre noch schlimmer.«

»Sag ihm, ich bin eine skrupellose Söldnerin«, sagt Mal.

»Ich bin Kayleigh«, sagt Kayleigh. »Das ist Mal. Sie ist ein stummer, mordlustiger Zombie. Und wer bist du?«

»Ich bin Asher. Du wirst mich doch nicht wirklich umbringen, oder?«

Kayleigh zuckt mit den Schultern. »Kommt drauf an. Wenn ich dir die Schädeldecke nicht zertrümmert hätte – was hättest du mit uns gemacht?«

Asher starrt sie gefühlt eine halbe Ewigkeit lang an. »Hör zu«, sagt er schließlich. »Ich glaube, ich gehe jetzt.«

Er versucht aufzustehen. Mal macht einen Schritt auf ihn zu. Asher hält inne und sinkt dann langsam hinab, bis er wieder sitzt.

»Okay«, sagt er zu Kayleigh. »Das ist ja wirklich gruslig. Wo hast du dieses Ding denn her?«

»Ich bin kein Ding«, sagt Mal. »Ich bin ein Leut.«

»Sie ist meine dämonische Verwandte«, sagt Kayleigh. »Denn ich bin doch eine Hexe, nicht wahr? Deshalb wollt ihr mich doch verbrennen, oder?«

Asher schüttelt den Kopf. »Nein. Ich bin keiner von denen, die dich verbrennen wollen.«

Kayleigh deutet mit dem Schläger auf das Fenster. »Und deine Freunde in dem Pick-up? Wollen die mich verbrennen? Und weil wir gerade dabei sind: Wann erwartest du sie denn zurück?«

»Diese Geschichte mit dem Verbrennen«, sagt Asher, »davon reden nur die Verrückten. Die meisten von uns denken nicht so.«

Kayleigh stupst ihn mit dem Schläger an. »Super. Das ist für die Leute in den Feuergruben bestimmt irre beruhigend.«

Asher schließt die Augen. »Hör zu. Die anderen werden bald wieder hier sein. Geht jetzt einfach. Ich werde ihnen nichts von euch erzählen, okay? Ich werde sagen, ich bin gestolpert und die Treppe runtergefallen oder so was. Einverstanden?«

Kayleigh sieht zu Mal hinüber. Er schüttelt den Kopf. »Ich finde nicht, dass wir ihn hier zurücklassen sollten.«

»Und was dann? Sollen wir ihn umbringen?«

Asher reißt die Augen auf. »Mich umbringen?«

»Ich weiß nicht«, sagt Mal. »Menschliche Ethik ist nicht meine Stärke. Vielleicht sollten wir ihn mitnehmen.«

Kayleigh lässt Asher nicht aus den Augen, die Hände fest um den Schläger geklammert. Asher sitzt reglos da und erwidert ihren Blick.

»Mal sagt, wir sollten dich umbringen«, sagt Kayleigh schließlich. »Sie sagt, du bist ein humanistischer Trottel, und dass wir dir kein einziges Wort glauben können. Ich dagegen fließe vor Menschenliebe nur so über und habe keine Lust, meinen Schläger an deinem dämlichen Schädel zu verbeulen. Deshalb überlege ich, ob wir dich nicht, anstatt dich umzubringen, gefangen nehmen könnten. Wenn wir das machen – kommst du dann mit und versprichst, dich nicht wie ein komplettes Arschloch aufzuführen?«

»Hmm …«, sagt Asher. »Ja.«

»Wunderbar«, sagt Mal. »Damit hätten wir unseren ersten Kriegsgefangenen gemacht.«

»Denken Sie dran«, sagt Mal. »Sie haben uns Ihr Wort gegeben. Das bedeutet, dass Sie auf Ehre dazu verpflichtet sind, zu tun, was wir sagen, solange wir Sie nicht dazu zwingen, Kriegsverbrechen zu begehen oder anderweitig internationales Recht zu verletzen.«

Asher kneift die Augen zusammen und massiert sich den Nacken. »Mir scheint, du bringst da den Code Napoléon und die Genfer Konvention durcheinander. Aber ist ja auch egal. Ich werde nicht versuchen, euch im Schlaf umzubringen, und ihr werdet mich nicht dazu zwingen, irgendjemanden dem Waterboarding zu unterziehen. Verstanden.«

Sie sitzen jetzt im Dachgeschoss eines anderen Hauses, einen halben Block von dem entfernt, in dem sie aufeinandergetroffen sind, und warten darauf, dass es dunkel wird und sie endlich aus der Stadt rauskönnen. Kayleigh hat sich in einer Ecke auf einem Haufen Decken zusammengerollt und schnarcht. Mal hatte anfangs befürchtet, er könnte ohne sie nicht mit Asher kommunizieren. Aber weil sie irgendwie die Zeit totschlagen mussten, hat er das Audiosystem des Hauses bis ins letzte Detail ausgeforscht. Dabei hat er einen Lautsprecher aufgetrieben, der ihm jetzt wie eine extrem unmodische Kette um den Hals hängt.

»Ich schlafe nicht«, erklärt er. »Mir ist klar, dass meine täuschend echte Verkleidung es nicht ahnen lässt, aber in Wirklichkeit bin ich ein Siliko-Amerikaner und kein menschlicher Söldner. Wenn Sie mich umbringen wollen, müssen Sie das also tun, während ich wach bin.«

Asher sieht ihn fragend an. »Siliko-Amerikaner? Du meinst, du bist eine KI, oder? Wie das System eines Gebäudes.«

»Korrekt«, antwortet Mal. »In dem Maße, in dem Sie ein Makak sind.«

Asher schüttelt den Kopf. »Das kapier ich nicht.«

»Hmm. Vielleicht war der Vergleich mit dem Makaken ein bisschen zu hoch gegriffen.« Mal wartet auf eine Reaktion Ashers. Als die ausbleibt, zieht er Ashers Pistole aus seiner Jackentasche. »Themawechsel. Ich glaube, ich konnte diese Waffe davon überzeugen, für mich zu feuern.«

»Im Ernst? Es hieß immer, unsere Waffen wären persönlich auf uns programmiert. Das war eines der wichtigsten Verkaufsargumente: dass, wenn sie uns jemand abnehmen würde, er sie nicht gegen uns verwenden könnte. Vorher mussten wir sie in so eine Kiste stecken. Ein Riesenaufwand.«

Mal dreht die Pistole in der Hand hin und her. »Eure Waffen sind biometrisch gesichert, und darauf bilden sie sich mordsmäßig was ein. Dieses erbärmliche Gewehr wollte nicht mal mit mir reden. Aber die Pistole hier war sehr viel freundlicher. Sie meinte, sie würde nicht auf Sie schießen, aber sie hätte kein Problem damit, auf meine Anweisung hin jemand anderen umzubringen.«

»Auf mich also nicht, soso.«

»Nein«, sagt Mal. »In diesem Punkt ist ihre Codierung offenkundig eisern, denn in dieser Hinsicht war sie ziemlich dickköpfig. Aber keine Sorge. Die Servos dieses Körpers sind für menschliche Verhältnisse äußerst kräftig. Ich kann Sie auf viele andere interessante Arten umbringen.«

»Aha«, sagt Asher. »Gut zu wissen, danke für die Info.«

»Noch was«, sagt Mal. »Nur damit Sie es wissen: Diese Pistole wird künftig auch nicht mehr für Sie schießen.«

Asher seufzt. »Auch das ist gut zu wissen.«

Anschließend sitzen sie lange schweigend da. Mal vertreibt sich die Zeit, indem er Prüfprogramme über die Servos und Stellmotoren laufen lässt, die Mika beweglich machen. Alle scheinen weiterhin zu funktionieren. Aber Mal weiß, dass die biologischen Teile dieses Körpers mit der Zeit ihre strukturelle Integrität verlieren werden. Wenn das anfängt, wird er sich ein neues Gehäuse suchen müssen. Und falls er bis dahin noch immer keine Verbindung zum Infospace hat, sitzt er dann möglicherweise in einem bewegungsunfähigen, verfaulenden Körper fest, bis irgendwann dessen Stromzellen schlapp machen.

Am besten denkt er gar nicht daran.

»Und sie?«, fragt Asher. »Was ist mit ihr?«

Mal blickt über die Schulter. Kayleigh liegt mit offenem Mund auf dem Rücken. Ihr Schnarchen ist jetzt lauter, aber es ist nicht so durchdringend, dass Mal fürchten muss, man könnte es außerhalb des Dachbodens hören.

»Sie heißt Kayleigh«, sagt er. »Sie ist sehr klein.«

Asher verdreht die Augen. »Danke. Jetzt weiß ich Bescheid.«

Mal versucht zu lächeln. Asher zuckt zusammen und sieht weg. »Ich meinte was anderes«, sagt er. »Was ist sie, und wie ist es dazu gekommen, dass ihr euch zusammengetan habt?«

Mal neigt den Kopf langsam zur Seite. Weil ihm kein Mienenspiel zur Verfügung steht, muss er in Sachen nonverbaler Kommunikation erfinderisch werden. »Was sie ist? Sie ist ein jugendlicher Mensch. Sie sind doch auch ein Mensch; da hätte ich gedacht, Sie hätten das mittlerweile erkannt.«

Asher schüttelt den Kopf. »Nein, das ist sie nicht. Sie sieht aus wie ein Kleinkind, aber sie schwingt ihren Baseballschläger wie ein Mafiakiller und redet wie ein rüpelhafter Teenager. Entweder ist sie wirklich ein Kind, das von irgendeinem Monster mit Nanos und Stellmotoren vollgepackt wurde, oder sie hat irgendwelche krassen genetischen Modifikationen; dann müsste sie so um die dreißig sein, soweit ich das einschätzen kann. Was davon ist es?«

»Spielt das in der Feuergrube eine Rolle?«

Asher wendet den Blick ab. »Ich hab euch doch gesagt, dass ich nicht so denke.«

»Ja, das haben Sie.«

Ein längeres, unangenehmes Schweigen entsteht. Nach ein paar Minuten wird Asher unruhig, aber Mal sitzt weiterhin reglos da. Dass er nicht blinzeln kann, ist bei interpersonellen Interaktionen normalerweise keine große Hilfe, aber um Asher nervös zu machen, ist es ideal.

»Okay, ich hab’s kapiert«, sagt Asher schließlich. »Ihr beide haltet alle Humanisten für Monster. Ihr glaubt, wir sind alle dumpfbackige rassistische Rednecks, die nur so zum Spaß alte Frauen und Babys in Feuergruben stoßen. Aber das stimmt nicht. Manche von uns sind so, aber die meisten von uns wissen ganz genau, warum sie das tun, was sie tun. Schau dich doch nur mal um.« Er macht eine weit ausholende Geste. Mal sieht sich im Dachboden um und beschließt, dass Asher das wohl eher im übertragenen Sinn gemeint hat. »Die Leute, die Kindern wie Kayleigh personalisierte genetische Modifikationen und Implantate und weiß der Teufel was sonst noch verpassen, besitzen das meiste Geld und den größten Anteil an der Macht. Und jedes Jahr werden es mehr. Sie kriegen die besten Jobs und können ihre Kinder auf die besten Schulen schicken. Wenn ich jemals Kinder habe, haben sie, wenn sie erwachsen sind, wahrscheinlich keine Aussicht auf irgendeinen Job. Die Oligarchen lassen auch die Regierung nach ihrer Pfeife tanzen, und sie zögern keine Sekunde, uns umzulegen, wenn es ihnen in den Kram passt.« Er sieht zu Boden und dann hoch zu Mal. »Wir mussten etwas dagegen tun. Wir mussten etwas tun, und wir mussten es schnell tun, solange es noch möglich war. Das ist unsere letzte und einzige Chance, uns unseren Platz auf diesem Planeten zu sichern.«

»Interessant«, sagt Mal.

Asher starrt ihn perplex an. »Interessant? Mehr fällt dir dazu nicht ein?«

»Nein.«

»Willst du mir jetzt nicht erklären, warum ich die Dinge falsch sehe? Oder nennst mich ein bigottes Weichei oder so?«

»Nein«, antwortet Mal. »Ich denke, Ihre Analyse ist vermutlich zutreffend.«

»Ach so. Dann …«

»Ich bin sicher, viele Neandertaler haben sich genauso gefühlt.«

Später, als es schon dämmert, sagt Mal: »Nur so aus Neugier, Asher: Haben Sie irgendeine Ahnung, warum Ihre Leute sich angewöhnt haben, ihre Widersacher in Feuergruben zu werfen? Ich habe lange über diese Frage nachgedacht, konnte aber keine vernünftige Erklärung finden. Dieses Vorgehen ist doch unvergleichlich aufwendiger, als sie einfach zu erschießen, zu erwürgen oder ihnen die Kehle durchzuschneiden, und in taktischer Hinsicht erscheint es absolut kontraproduktiv. Ich kann mir kaum etwas vorstellen, was den Feind mehr dazu anstachelt, bis zum letzten Mann zu kämpfen, anstatt sich zu ergeben, und das ist ja aus militärischer Sicht alles andere als erstrebenswert. In früheren Zeiten wurden, soweit ich weiß, vor allem Häretiker verbrannt, aber das scheint in diesem Fall nicht zuzutreffen. Warum also macht ihr das?«

Asher hat versucht, zu schlafen, offenkundig jedoch ohne Erfolg. Er setzt sich auf und reibt sich mit beiden Händen das Gesicht. »Darüber will ich wirklich nicht sprechen.«

»Verstanden«, sagt Mal. »Aber ich möchte darüber sprechen.«

Asher seufzt. »Na schön. Ich glaube, es hat mit der Maschinenseuche damals angefangen. Weißt du noch?«

»Nein. Ich wusste nicht, dass Seuchen auch Maschinen befallen können. Außer Sie meinen eine Art Wurm oder Virus. Solche Erscheinungen sind mir vertraut, aber ich kann mir nicht vorstellen, was sie mit dem Verbrennen von Kindern zu tun haben könnten.«

Asher steht auf, streckt sich und setzt sich wieder hin. »Nein, ich meine kein Softwarevirus. Und ich meine auch keine Krankheit, die Maschinen befällt. Eigentlich meine ich gar nichts, denn die Maschinenseuche war nichts Reales. Sie war nur ein Gerücht, das vor ein paar Monaten durch die Netzwerke geisterte, kurz bevor das landesweite Überwachungssystem offline ging und die Kämpfe anfingen. Angeblich hatten die Labors der Gesundheitsbehörde einen Nanobot entwickelt, der sich in den Körper einschleicht und dich zu Superman oder so was macht. Stärker, schneller, klüger, bla bla bla. So in der Art.«

»Interessant. Und inwiefern wäre das eine Seuche?«

Asher zuckt mit den Schultern. »Angeblich war es ansteckend. Und angeblich wollten sie uns alle zu Maschinen machen, dann die Kontrollsysteme der Augmentationen hacken, sodass wir alle nur noch Marionetten der Regierung wären, was ja angeblich immer schon ihr Ziel war. Deswegen sind dann die Aufstände in Bethesda ausgebrochen, und deswegen haben manche damit angefangen, genmodifizierte und augmentierte Menschen in Feuergruben zu werfen – um sicherzustellen, dass sie die Seuche, falls sie von ihr befallen wären, nicht weiterverbreiten könnten.«

Mal neigt den Kopf und überlegt. »Hmm … Ich bin kein Fachmann in Sachen Nanotechnologie oder Humanbiologie, aber diese Vorstellung erscheint mir etwas abwegig.«

Asher lacht. »Etwas abwegig? Das ist totaler Schwachsinn. Verschwörungstheoretischer Scheiß, mit dem humanistische Agitatoren den Leuten Angst einjagen und ihnen einreden wollten, dass jetzt der Zeitpunkt für die Revolution gekommen sei. Ich habe in den letzten zwei Monaten eine Menge Soldaten der Federals von Nahem gesehen, mehr als mir lieb war, und alle waren auf irgendeine Art modifiziert. Manche waren wirklich gruslig, aber keiner sah so aus, wie die Seuchenratten angeblich aussehen.«

»Die Seuchenratten?«

»Entschuldige – so nennen sie auf den Kanälen der Humanisten die Leute, die von der Maschinenseuche befallen sind. Angeblich haben sie weiße Haare und rosa Augen. Außen tragen sie kein Powermesh, wie du eines hast, aber innen ist alles augmentiert. Im Grunde sind sie nur ein riesiger Schwarm von Nanobots in einem Skinsuit, und jeder, der mit ihnen in Berührung kommt, riskiert sich zu infizieren.«

»Hmm … Albinismus ist eine natürlich vorkommende Störung in der menschlichen Biosynthese. Mir wäre nicht bekannt, dass er ansteckend ist oder übermenschliche Kräfte verleiht.«

»Ich weiß«, erwidert Asher. »Hab ich doch gesagt. Diese Maschinenseuche existiert nicht. Das ist alles Quatsch. Aber sie verbreiten es massiv auf allen Kanälen, und wenn du versuchst, die überzeugten Anhänger zur Vernunft zu bringen und dazu, dass sie Kriegsgefangene wie Menschen behandeln und nicht wie Giftmüll, dann landest du selbst in der Feuergrube.«

»Haben Sie das miterlebt?«

Asher schließt die Augen. »Ja, das hab ich.«

»Sie sagten, Sie glauben nicht an diese Seuche. Als Ihre Kollegen deswegen Kinder verbrannt haben, haben Sie da versucht, das zu verhindern?«

Darauf antwortet Asher nicht. Mal wartet eine Weile, zieht dann irgendwann den Stadtplan aus seiner Jackentasche und widmet sich wieder der sinnlosen Betrachtung der Karte, während die Schatten länger werden und die Dunkelheit hereinbricht.

Als sie sich gerade mal zehn Meter vom Haus entfernt haben und durch den rabenschwarzen Garten des Nachbarhauses krabbeln, saust Asher los.

»Hmm«, sagt Mal.

»Hmm?«, äfft Kayleigh ihn nach. »Los, hinterher!«

Mal seufzt. Asher steigt über den niedrigen Zaun am Ende des Grundstücks.

»Bleib hier«, sagt Mal.

Dann geht er los.

Mikas Exoskelett und ihre internen Servos sind Spitzenprodukte, aber sie wurden darauf abgestimmt, dass sie mit ihren echten Muskeln zusammenarbeiten, und die sind leider nicht mehr funktionstüchtig. Mals Bewegungen sind gelinde gesagt ungelenk, vor allem, wenn er versucht, Tempo aufzunehmen. Wenn das der einzige Unterschied zwischen ihm und Asher wäre, würde Asher ihm wahrscheinlich entkommen.