Antimatter Blues - Edward Ashton - E-Book

Antimatter Blues E-Book

Edward Ashton

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Beschreibung

Die Fortsetzung zu MICKEY 7, verfilmt von Oscar-Preisträger Bong Joon-ho als MICKEY 17 mit Robert Pattinson in der Hauptrolle!

Es ist Sommer auf dem Eisplaneten Niflheim: Die Flechten wachsen, die sechsflügligen Flederwesen zirpen und Mickey Barnes ist, sehr zu seiner Verwunderung, noch am Leben. Stationskommandant Marshall glaubt, die Aliens von Niflheim hätten eine Antimateriebombe, und Mickey allein sei es zu verdanken, dass sie diese noch nicht eingesetzt hätten. Mickey ist nicht länger ein Wegwerfklon, sondern ein ganz normaler Kolonist – kein schlechtes Leben. Doch die Ruhe währt nicht lange: Die Antimaterie, die der Station ihre Energie liefert, geht zur Neige, deswegen will Marshall seine Bombe zurück. Wenn Mickey den Auftrag annimmt, verliert er seine Lebensversicherung. Wenn er sich weigert, stürzt er die Kolonie ins Verderben. Die Aliens wollen sich nicht so einfach von der Bombe trennen. Einmal mehr liegt das Schicksal zweier Spezies in Mickeys Händen – und wenn diesmal etwas schiefgeht, wird es keinen neuen Mickey-Klon geben …

Die brillante Fortsetzung zu »Mickey 7« – verfilmt als »Mickey 17« von Oscar-Preisträger Bong Joon-ho (»Parasite«) mit Robert Pattinson, Steven Yeun, Naomi Ackie, Toni Collette und Mark Ruffalo!

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Seitenzahl: 430

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Das Buch

Es ist Sommer auf dem Eisplaneten Niflheim: Die Flechten wachsen, die sechsflügligen Flederwesen zirpen, und Mickey Barnes ist, sehr zu seiner Verwunderung, noch am Leben. Das liegt allein daran, dass Stationskommandant Marshall glaubt, die Aliens von Niflheim hätten eine Antimateriebombe, und nur Mickey sei es zu verdanken, dass sie diese noch nicht eingesetzt hätten. Mickey ist nicht länger ein Wegwerfklon, sondern ein ganz normaler Kolonist – eigentlich kein schlechtes Leben. Doch die Ruhe währt nicht lange: Die Antimaterie, die der Station ihre Energie liefert, geht zur Neige, deswegen will Marshall seine Bombe zurück. Wenn Mickey sie zurückholt, verliert er seine Lebensversicherung. Wenn er sich weigert, stürzt er die gesamte Kolonie ins Verderben. Und die Aliens wollen sich nicht so einfach von der Bombe trennen. Einmal mehr liegt das Schicksal zweier Spezies in Mickeys Händen – und wenn diesmal etwas schiefgeht, wird es keinen neuen Mickey-Klon geben …

Der Autor

Edward Ashton arbeitet in der Krebsforschung, unterrichtet mürrische Doktoranden in Quantenphysik, schnitzt gern und schreibt an seinen Geschichten. Er lebt mit seiner Familie und seinem liebenswert trübsinnigen Hund in einer Hütte im Wald im Bundesstaat New York. Mickey7, sein erster Roman über den Wegwerfklon, wird von Oscar-Preisträger Bong Joon-ho mit Robert Pattinson, Steven Yeun und Mark Ruffalo in den Hauptrollen verfilmt.

Mehr über Edward Ashton und seine Werke erfahren Sie auf:

diezukunft.de

EDWARD ASHTON

ANTIMATTERBLUES

Roman

Aus dem Englischenvon Felix Mayer

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

ANTIMATTERBLUES

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 02/2024

Redaktion: Joern Rauser

Copyright © 2023 by Edward Ashton

Copyright © 2024 dieser Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,unter Verwendung des Originalmotivs

Coverdesign: Ervin Serrano

Covermotive: Shutterstock.com(Allgord, Tithi Luadthong, Brita Seifert, Jamo Images)

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-30604-5V001

www.diezukunft.de

Für Jack.

Du hast mich gelehrt, was es heißt, Künstler zu sein.

Ich hoffe sehr, du bist mit dem Ergebnis zufrieden.

1

»Ich bin mir auf dem Gang gerade selbst über den Weg gelaufen.«

Nasha sieht von ihrem Tablet auf. Sie sitzt auf unserem Schreibtischstuhl, hat die Füße auf unser Bett gelegt und trägt nur Unterwäsche und Stiefel. Jede andere Frau sähe in diesem Aufzug lächerlich aus, aber Nasha wirkt darin ziemlich souverän. Sie schiebt sich die Braids aus dem Gesicht und stellt die Füße auf den Boden.

»Schön, dich zu sehen«, sagt sie. »Mach die Tür zu.«

Ich betrete das Zimmer und lasse die Tür hinter mir zufallen. Seitdem Nasha hier eingezogen ist, wirkt meine Koje viel kleiner. Als Erstes hat sie damals ihr Bett neben meins geschoben, sodass wir jetzt fast ein Doppelbett haben, und als Zweites hat sie eine Truhe angeschleppt, die fast den gesamten Rest des Zimmers belegt und in die ich nicht einmal einen Blick werfen darf. Und auch Nasha selbst nimmt irgendwie mehr Raum ein, als man bei ihrer Körpergröße erwarten würde.

Damit kein Missverständnis entsteht: Ich will mich über nichts von alldem beschweren.

Ich setze mich aufs Bett und nehme ihr das Tablet aus der Hand. Sie wirft mir einen genervten Blick zu, widersetzt sich aber nicht.

»Hast du mir zugehört? Ich hab mich gerade selbst gesehen. In der untersten Etage, in der Nähe des Cyclers. Sieht so aus, als hätte Marshall ein paar neue Exemplare von mir aus dem Tank geholt.«

Nasha seufzt. »Das ist ausgeschlossen, Mickey. Als du damals gekündigt hast, hat Marshall doch alle deine Daten gelöscht, oder?«

»Ja, ich glaube schon. Jedenfalls hat er mir das zugesagt.«

»Und seitdem ist auch niemand mehr aus dem Tank gekommen, oder?«

»Ich glaube nicht. Berto hat mir erzählt, dass zwei Drohnen draufgegangen sind, als sie die Brennelemente aus meiner Blasenbombe zurück in den Reaktor geschoben haben. Und ich glaube nicht, dass sie diese wertvollen Ressourcen geopfert hätten, wenn da noch ein paar Mickeys herumgelegen hätten.«

Nasha lehnt sich zurück und legt die Füße neben mir auf das Bett. »So ist es. Also kannst du dich nicht selbst durch die Korridore geistern sehen – es sei denn, Acht hat sich die letzten zwei Jahre bei den Creepern herumgetrieben und ist jetzt zurückgekommen. Bist du sicher, dass es nicht Harrison war?«

»Harrison? Meinst du Jamie Harrison?«

Nasha lächelt. »Genau der. Er ist doch quasi dein Doppelgänger. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass du ihn für dich selbst hältst.«

Jamie Harrison arbeitet in der Abteilung für Ackerbau. Hauptsächlich kümmert er sich um die Kaninchen. Er ist klein und dürr, hat mausbraunes Haar, das ihm in Büscheln vom Kopf absteht, zwinkert andauernd nervös und hat einen mordsmäßigen Überbiss. Er sieht kein bisschen aus wie ich.

Zumindest finde ich, dass er kein bisschen aussieht wie ich.

»Aber ich weiß doch, was ich gesehen habe«, sage ich. »Und das war garantiert ich. Maggie Ling hat ihn Speiche Drei entlanggescheucht, in Richtung der Nabe. Kurz hinter der Krankenstation sind sie an mir vorbeigelaufen. Sie waren ungefähr zwanzig Meter entfernt, und ich habe sie nur einen Augenblick lang gesehen, aber ich weiß doch, wie ich aussehe. Und das war definitiv ich.«

Nashas Lächeln verschwindet. »Zur Nabe? Zusammen mit Maggie?«

Maggie Ling ist die Leiterin der Systemtechnik. Die letzten Male, die sie mich irgendwohin gezerrt hat, war ich jeweils eine Stunde später tot – Strahlenvergiftung.

»Glaubst du mir jetzt?«

Nasha schüttelt den Kopf. »Noch nicht so ganz. Aber nehmen wir mal an, du hast recht, und Marshall hat nach zwei Jahren Mickey Neun aus dem Tank geholt, wie auch immer er das geschafft hat und welche Gründe er dafür auch gehabt haben mag. Warum läuft er dann im Schlepptau von Maggie Ling in der untersten Etage zur Nabe?«

Ich spüre, wie sich meine Miene verdüstert. »Der Reaktor.«

»Ganz genau. Das ist doch am wahrscheinlichsten, oder?«

Um in einem Antimateriereaktor herumzuwerkeln, ist ein Expendable ideal. Wir halten dem Neutronenfluss in seinem Inneren länger stand als jede Drohne, und wenn wir dabei draufgehen, sind wir unvergleichlich leichter zu ersetzen. Man braucht nur den alten Körper in den Cycler zu schieben, den Biodrucker anzuwerfen und ein paar Stunden zu warten.

Aber ich bin kein Expendable mehr. Ich bin im Ruhestand.

Zumindest habe ich das bis heute geglaubt.

»Ist ja auch egal«, sagt Nasha. »Was auch immer da abläuft, im Grunde betrifft es dich nicht, oder?«

Dazu könnte ich jetzt eine Menge sagen. Inwieweit sollte mich das beschäftigen, was einer anderen Verkörperung meiner selbst widerfährt? Bin ich das, der da verstrahlt wird, oder ist das nur irgendein Typ, der genauso aussieht wie ich? Um es mit der Geschichte von Theseus und seinem Schiff zu sagen: Was ist von einem beschädigten Schiffsrumpf zu halten, der auf einer Insel zurückgelassen wird und in Vergessenheit gerät? Aber nachdem ich sekundenlang mit offenem Mund dagesessen habe, überlege ich es mir anders und bringe nur ein einziges Wort hervor:

»Was?«

»Denk doch mal nach«, sagt Nasha. »Was kann denn schlimmstenfalls passieren?«

»Na ja … dass Maggie Ling gerade ein Exemplar von mir in den Reaktorkern schickt?«

»Genau. Da muss also wohl irgendwas erledigt werden, und sie kümmert sich darum. Und wenn sie dazu nicht einen neuen Mickey aus dem Tank gezogen hätte, welche Alternative hätte sie dann gehabt?«

Ich kenne die Antwort. Nasha steht auf, zieht mich an den Händen hoch und gibt mir einen Kuss.

»Das Schlimmste, was passieren kann«, sagt sie, »ist, dass gerade jemand in den Reaktorkern geschickt wurde – und dieser Jemand warst nicht du. Ich weiß ja nicht, wie du das findest, Babe, aber ich komme damit bestens klar.«

Eines steht jedenfalls fest: Das warme Niflheim ist wesentlich angenehmer als das kalte Niflheim. Alles ist grün und feucht, und überall krabbelt und wuselt es herum. Man muss sich jetzt auch nicht mehr in sechs Schichten Thermokleidung einpacken, wenn man rausgeht. Zwar braucht man nach wie vor ein Atemgerät, aber der Sauerstoffpartialdruck ist jetzt fast um zwanzig Prozent höher als bei unserer Landung. Also fühlt man sich bei einem Spaziergang nicht jedes Mal so, als würde man gleich ertrinken. An besonders schönen Tagen kann man sich sogar fast einbilden, wir wären an dem Ort, der uns verheißen wurde, als wir an Bord der Drakkar gegangen sind.

Etwas anderes steht allerdings auch fest: Das warme Niflheim wird nicht ewig warm bleiben. Der Winter steht vor der Tür.

Miko Berrigan und seine Knechte im Department für Physik haben fast den ganzen Sommer lang über den Aufzeichnungen gebrütet, in denen festgehalten ist, was in den dreißig Jahren vor dem Start der Drakkar an der Sonne von Niflheim beobachtet wurde. In diesem Zeitraum hat es drei Wärmeperioden gegeben. Die längste dauerte sieben Jahre, die kürzeste elf Monate. Die vier Winter während dieser Phase dauerten zwischen zwei und neun Jahren. Die Übergänge waren nicht abrupt, aber auch nicht sanft. Vielmehr schwankten die Temperaturen jeweils über einen längeren Zeitraum hinweg und pendelten sich dann an einem Ende der Skala ein. Dem Sommer, den wir zurzeit erleben, ging ein halbes Dutzend Fehlstarts voraus, bevor er wirklich da war.

Die Physiker auf Midgard glaubten, das, was sie da sahen, sei auf Interferenzen mit interstellarem Staub zurückzuführen. Süß, nicht wahr?

Wir haben diesen Sommer gut genutzt. Hieronymus Marshall ist ein kapitales Arschloch, aber dumm ist er nicht, und er will diese Kolonie zum Laufen kriegen. Wir haben Lebensmittelvorräte angelegt, haben die Tierwelt studiert, um zu verstehen, wie die heimischen Arten durch den Winter kommen, haben den Dome ausgebaut, um Platz für die erste Tranche der eingefrorenen Embryonen zu schaffen, haben genetisch veränderte Algen ausgebracht, die die Atmosphäre in etwas verwandeln sollen, das wir atmen können, und so weiter und so fort.

Das Problem hierbei ist: Das alles braucht seine Zeit, und Zeit haben wir nicht mehr viel. All die Vorkehrungen, die uns hier am Leben halten, fressen Unmengen an Energie, und die einzige Energiequelle, die uns im Moment zur Verfügung steht, ist der Antimateriereaktor der Drakkar, der unterhalb der Nabe vor sich hin surrt und nach und nach unsere letzten Brennstoffvorräte verbraucht.

Was mich zurück zu Maggie Ling führt, die gerade eben eine andere Version von mir durch Speiche Drei zur Nabe gescheucht hat. Ohne den Reaktor würden wir gerade so über die Runden kommen, vorausgesetzt, das Wetter bleibt, wie es ist.

Aber genau das ist der Punkt. Das Wetter wird nicht so bleiben, wie es ist.

Seitdem ich als Expendable gekündigt habe, arbeite ich hauptsächlich in Ackerbau. Nicht, weil ich einen grünen Daumen hätte oder so. Ich mache das, weil ich nichts anderes kann. Mir fehlen die Qualifikationen, um mich in den Departments für Physik, Biologie oder Systemtechnik nützlich zu machen. Amundsen, der Chef der Security, ist dicke mit Marshall und außerdem noch immer sauer auf mich, weil ich damals das Bewusstsein verloren habe, als Cat und ich vor zwei Jahren vor der Umzäunung des Dome gegen die Creeper gekämpft haben. Deswegen will er nichts mehr mit mir zu tun haben. Wenn wir die Babys aus dem Tiefkühllager holen, werde ich wohl auch mal eine Zeit lang in einer Kinderkrippe Windeln wechseln, aber dieser Schritt wird im Moment noch hintangestellt. Man will erst noch ein bisschen mehr Gewissheit haben, dass wir sie auch aufziehen können, sobald wir sie aufgetaut haben.

Und deswegen sitze ich jetzt also in Ackerbau. Heute kümmere ich mich – ausgerechnet – zusammen mit Jamie Harrison um die Kaninchen.

Vielleicht fragen Sie sich jetzt, warum wir in einem geschlossenen Ökosystem Kaninchen halten. Tiere können in der Gesamtbilanz eine Kalorienquelle sein, wenn ausreichend Nahrung für sie vorhanden ist und sie Gräser und Kräuter fressen, die wir Menschen nicht essen wollen oder können. Auf Niflheim sind wir davon aber noch weit entfernt. Die Flechten und Farne, die in der Nähe des Dome wachsen, können Kaninchen nicht verdauen. Die Proteine, von denen sich die hier heimischen Lebewesen ernähren, sind so gefaltet, dass Lebensformen der Union sie nicht verwerten können. Also füttern wir die Kaninchen mit den Stängeln von Tomatensträuchern, dem Grünzeug von Kartoffelpflanzen und mit Cyclerbrei. Manches davon wird in essbare Kaninchenteile umgewandelt, aber das meiste verbrennen sie einfach in ihrem dämlichen Säugetierstoffwechsel oder scheißen es wieder aus. Unterm Strich kostet uns jede Kalorie, die in essbarem Kaninchenfleisch steckt, etwa drei Kalorien aus anderen Quellen, die wir möglicherweise einfach selbst hätten essen können, sowie aus einer Menge anderem Zeug, das wir zwar nicht essen können, aber in den Cycler hätten werfen können. Kaninchen zu halten, ist also ein ziemlicher Luxus an einem Ort, der sonst so gut wie keinen Luxus zu bieten hat. Aber warum machen wir das dann?

Erst mal sind Kaninchen einfach süß. In den letzten tausend Jahren der Diaspora haben zahllose psychologische Studien gezeigt, dass Menschen ein Mindestmaß an Schnuckeligkeit brauchen, und auf Niflheim sind Kaninchen das Einzige, das uns damit versorgen kann.

Aber natürlich sind sie auch lecker. Sobald sie ausgewachsen sind, landen sie in der Küche. Und vorher sind sie eine weitaus angenehmere Gesellschaft als die meisten Menschen in dieser Kolonie.

Jamie dagegen ist weder süß noch eine besonders angenehme Gesellschaft.

Die Kaninchen auf Niflheim werden im Grunde genauso behandelt wie die Insassen eines Hochsicherheitsgefängnisses auf Midgard. Die meiste Zeit ihres Daseins verbringen sie eingezwängt in drei kleine Ställe, die neben den hydroponischen Beeten an der Wand stehen. Einmal am Tag lassen wir sie raus; dann darf eine Stallgemeinschaft nach der anderen auf einer etwas größeren Fläche herumlaufen, die auf zwei Seiten von Trennwänden und auf der dritten von einem niedrigen, weißen Drahtzaun begrenzt ist. Sie hüpfen ein bisschen herum, bewegen sich, so gut es geht, und lassen sich von allen tätscheln, die a) dringend eine Portion Schnuckeligkeit brauchen und b) sich unter Jamies Aufsicht desinfiziert haben. Anschließend werden sie wieder für einen Tag in ihren Stall gesteckt, wo sie sich die Zeit damit vertreiben, zu fressen, zu scheißen und noch mehr Kaninchen zu machen.

Das ist kein ganz schlechtes Leben.

Ehrlich gesagt, ist es in mancher Hinsicht sogar besser als meins.

Wenn ich mir aussuchen könnte, wo ich Dienst schiebe, würde ich wahrscheinlich meistens hier arbeiten. Aber ich kann es mir nicht aussuchen. Während meiner Schichten komme ich nur dann zu den Kaninchen, wenn Jamie mich anfordert, und das macht er nur bei zwei Anlässen. Einmal an Schlachttagen; dann hole ich die Männchen aus den Ställen, die groß genug sind, dass man sie essen kann, und die Weibchen, die schon so alt sind, dass sie weniger Junge werfen. Und dann an den Tagen, an denen die Ställe gereinigt werden. So wie heute.

Das Gute am Saubermachen der Ställe ist, dass Jamie sich nicht auf mich verlässt. Das führt dazu, dass ich den ganzen Tag damit beschäftigt bin, die Kaninchen im Zaum zu halten, während Jamie die Reinigung letztlich allein erledigt.

Als ich gerade das letzte der Tierchen aus dem ersten Stall geholt und in den kleinen Hof gesetzt habe, gleitet die Tür zum Korridor auf, und Berto kommt herein.

Na toll.

»Hey«, sagt er. »Wie geht’s meinem Abendessen?«

Ich seufze, richte mich auf und drehe mich zu ihm um. Er steigt über den Zaun, geht in die Hocke und streichelt einem der Kaninchen mit dem Finger über das Ohr.

»Pfoten weg, Gomez«, sagt Jamie, ohne von seiner Arbeit im Stall aufzublicken. »Du bist nicht desinfiziert.«

Berto lacht. »Desinfiziert? Die Viecher sind doch nichts anderes als verkleidete Ratten, Jamie. Du wischst gerade buchstäblich haufenweise Scheiße aus ihrer Bude. Wenn irgendjemand Angst haben muss, sich zu infizieren, dann ich.«

»Keine Diskussion«, erwidert Jamie. »Nimm die Hände von meinen Tieren, oder hau ab. Die Security kann in weniger als einer Minute hier sein.«

Bertos Lächeln verschwindet, und er sieht aus, als wolle er einen Streit anfangen. Dann schüttelt er aber nur den Kopf und richtet sich auf.

»Jamie hat recht«, sage ich. »Das weißt du doch. Diese armen Dinger sind die meiste Zeit in ihren Ställen eingepfercht. Wenn da einer krank wird, sind innerhalb einer Woche alle tot. Und es ist ja nicht so, dass wir genug Nachschub hätten.«

»Von mir aus«, sagt Berto. »Und eigentlich bin ich ja auch nicht hier, um mit Häschen zu spielen.«

Ich warte darauf, dass er weiterspricht. Nachdem er ein paar Sekunden lang nichts gesagt hat, sehe ich ihn fragend an. »Sondern?«

Er wirkt jetzt nicht mehr genervt, sondern verdutzt. »Sondern was?«

Ich verdrehe die Augen. »Warum bist du dann hier?«

Er grinst. »Ach so. Hauptsächlich, weil ich mich langweile. Hat Nasha dir nichts erzählt?«

Jetzt bin ich derjenige, der verdutzt ist. »Was soll sie mir denn erzählt haben?«

»Wir haben Startverbot. Bis auf Weiteres keine Aufklärungsflüge mehr.«

Puh.

»Nein«, sage ich, »das hat sie nicht erwähnt. Seit wann denn?«

»Ich hab’s heute Morgen erfahren, als ich zum Dienst gekommen bin. Vielleicht weiß sie es noch nicht.«

»Ja, vielleicht. Haben sie dir gesagt, warum?«

Berto schüttelt den Kopf. »Nicht so richtig. Der diensthabende Techniker hat irgendwas gesagt von wegen, er kann die Schwerkraftfelder nicht aufladen, aber das verstehe ich nicht. Wir haben doch einen Antimateriereaktor. Wir müssen doch keinen Strom sparen.«

»Allerdings«, sage ich. »Das klingt komisch.«

»Aber so schlimm ist es auch wieder nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass da draußen außer den Creepern im Moment nichts ist, was uns gefährlich werden könnte, und seit das Wetter umgeschlagen hat, habe ich in fünf Kilometern Umkreis keinen mehr von denen gesehen. Also, versteh mich jetzt nicht falsch, ich würde natürlich lieber fliegen als … also eigentlich lieber als so ziemlich alles andere. Aber ich brauch mir da nichts vorzumachen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist Luftaufklärung nur eine Verschwendung von Zeit und Ressourcen.«

Eines der Kaninchen schnuppert an meinem Stiefel. Ich gehe in die Hocke und kraule es hinter den Ohren. »Aber wenn wir wirklich ein Problem mit der Energieversorgung hätten – also nur mal angenommen –, dann wären eure Flieger doch mit das Erste, wo man anfangen würde zu sparen, oder?«

Berto zuckt mit den Schultern. »Ja, wahrscheinlich schon. Schwerkraftfelder ziehen brutal viel Strom. Diese Lifter verbrauchen abartige Mengen Saft.« Er hält inne, und sein Lächeln verschwindet. »Weißt du etwas, was ich nicht weiß, Mickey?«

Das Kaninchen knabbert an meinem Finger. Wahrscheinlich ist es gar nicht auf Streicheleinheiten aus. Ich stupse es mit der Hand zur Seite, richte mich auf und sehe zu Jamie hinüber. Er hat den Oberkörper tief in den Stall gebeugt und schrubbt mit einem desinfizierenden Schwamm irgendetwas ab.

»Sag mal«, entgegne ich, »hast du mich in letzter Zeit irgendwo rumlaufen sehen?«

Berto schüttelt verständnislos den Kopf. »Was?«

»Ob du mich gesehen hast. Vielleicht zusammen mit jemandem aus der Systemtechnik? Habe ich dabei vielleicht ein bisschen verwirrt ausgesehen?«

Berto sieht mich argwöhnisch an. »Was redest du da, Mickey?«

Ich seufze. »Ich glaube, ich habe heute Morgen eine andere Version von mir selbst gesehen. Ich habe den Verdacht, dass Marshall wieder Mickeys aus dem Tank holt.«

Berto neigt den Kopf und verschränkt die Arme vor der Brust. »Du glaubst also, dass Hieronymus Marshall, Niflheims Hohepriester des Natalismus, gezielt Multiples erschafft?«

Darauf antworte ich erst mal nichts. Dann schüttle ich den Kopf und sage: »Wenn du es so formulierst, klingt es total abwegig.«

»Genau. Und zwar, weil es abwegig ist. Hast du wirklich einen anderen Mickey gesehen? Hast du mit ihm geredet?«

»Geredet hab ich nicht mit ihm, aber gesehen hab ich ihn. Nur kurz, eine Sekunde lang. Aus ungefähr zwanzig Metern Entfernung.«

Berto verdreht die Augen. »Du hast also aus zwanzig Metern Entfernung einen kurzen Blick auf jemanden erhascht, der ein bisschen so aussieht wie du, und daraus schließt du jetzt, dass unser Commander, der Multiples aus religiösen Gründen zutiefst verabscheut – ganz allgemein und dich im Besonderen –, jetzt heimlich wieder welche von euch herstellt, weil …«

»Berto«, unterbreche ich ihn. »Ich weiß doch, was ich gesehen habe.«

»Wieso bist du dir da so sicher?«, erwidert er und deutet auf den Stall. »Wahrscheinlich war es Jamie. Euch kann man ja kaum auseinanderhalten.«

Et tu, Berto?

Ich setze schon an, um ihm entweder zu widersprechen oder ihm zu sagen, dass er mich mal kreuzweise kann, aber bevor ich mich entscheide, klopft er mir auf die Schulter und sagt: »Aber dir kann das doch egal sein, oder? Was kümmert’s dich denn, ob Marshall wieder Mickeys aus dem Tank holt und … keine Ahnung, sie gegeneinander kämpfen lässt, und er und Amundsen wetten darauf, welcher von beiden überlebt? Du bist im Ruhestand, schon vergessen? Das braucht dich doch alles nicht zu jucken.«

Da hat er eigentlich recht. Seitdem Nasha sich genauso geäußert hat, habe ich immer wieder darüber nachgedacht. Wenn ich aus dem, was vor zwei Jahren mit Acht passiert ist, eines gelernt habe, dann das: Ich bin der einzige Mickey Barnes. Es wird nie einen anderen geben, egal, wie Neun oder Zehn das sehen oder wie weit sie inzwischen schon gekommen sind. So betrachtet, hat es nicht das Geringste mit mir zu tun, wenn Marshall jetzt irgendwelche Körper aus dem Tank zieht, sie in den Reaktor schubst, Gladiatorenspiele spielen lässt oder was auch immer, aber …

Aber.

Irgendwie dann doch.

»Vergessen wir mal für einen Moment die ganze Moralkiste«, sage ich. »Der Typ, von dem ich glaube, er war ich, war mit Maggie Ling unterwegs, und zwar zum Reaktor.«

Berto will schon etwas sagen, aber dann fällt sein Lächeln in sich zusammen, und ich sehe, wie es in seinem Gehirn arbeitet.

»Ach so«, sagt er irgendwann.

»Ganz genau. Und ihr habt Startverbot.«

»Stimmt. Also haben wir möglicherweise ein Problem.«

»Glaubst du? Wie lange halten wir hier durch, wenn der Strom ausfällt?«

»Kommt drauf an«, meint Berto. »Fällt der Strom aus, weil der Reaktor kontrolliert abgeschaltet und anschließend stillgelegt wird, wie es bei jedem Reaktor früher oder später passiert, oder fällt der Strom aus, weil der Reaktor mit Überlast gelaufen ist und alles im Umkreis von fünfzig Kilometern vaporisiert hat?«

»Nehmen wir mal den ersten Fall.«

Berto kratzt sich am Kopf. »Dann würden wir wohl erst mal eine Weile klarkommen. Ich glaube, der Großteil der Kalorien, die wir verzehren, stammt immer noch aus dem Cycler, aber das ließe sich regeln, indem wir das Personal in Ackerbau aufstocken. Außer dem Cycler gibt es eigentlich nichts, was zum Überleben absolut erforderlich ist und brutal viel Energie verbraucht.«

»Im Moment nicht. Aber wenn der Winter kommt?«

»Na ja«, sagt Berto, »dann sind wir im Arsch. Und zwar gründlich.«

»Das kannst du laut sagen. Zu dem Schluss bin ich auch gekommen.«

Er grinst. »Und was machen wir jetzt?«

»Ich weiß gar nicht, ob wir etwas machen sollten. Im Moment haben wir noch Strom und wurden noch nicht vaporisiert, also arbeitet der Reaktor offenkundig noch. Also bleibt uns wahrscheinlich nichts anderes, als darauf zu hoffen, dass Maggie weiß, was sie tut, und dass das Ganze nur eine vorübergehende Störung ist.«

Berto schneidet eine Grimasse. »Ich habe vollstes Vertrauen in Maggie, aber wenn im Inneren des Reaktors herumgeschraubt werden muss, dann macht sie das nicht selbst, oder?«

»Moment mal«, sage ich. »Du willst doch wohl nicht meine Kompetenzen in Frage stellen? Wenn es etwas gibt, bei dem ich mich hier nützlich machen kann, dann sind das ja wohl Reparaturarbeiten, bei denen man einer tödlichen Strahlendosis ausgesetzt ist.«

»Stimmt«, sagt Berto, »da hast du recht. Aber dennoch: Allein der Gedanke, dass es im Reaktor irgendwo hapert, ist schon eine ziemlich gruslige Vorstellung. Hast du irgendeine Idee, wie wir rauskriegen könnten, was da los ist?«

»Tut mir leid, wenn ich euch störe«, höre ich Jamie hinter mir, »aber ich bin jetzt hier fertig. Wenn ihr euch ausgegackert habt, setzt du dann die Burschen wieder in die Eins, damit wir mit der Zwei anfangen können?«

Ich drehe mich zu ihm um. Er sieht mich unwirsch an und deutet auf den Stall.

»Sorry«, sage ich zu Berto. »Die Pflicht ruft.«

»Ja, klar«, sagt er. »Dann kümmer dich mal weiter um deine Häschen. Ich glaube, ich vertrete mir noch ein bisschen die Beine. Pingst du mich an, wenn du Feierabend hast?«

»Das wird noch ein Weilchen dauern«, sagt Jamie.

Berto wirft ihm einen gehässigen Blick zu, steigt über den Zaun und macht sich davon.

Als wir die letzten Kaninchen in die Drei zurücksetzen, sagt Jamie: »Ich hab euch vorhin übrigens zugehört, dir und Gomez.«

»Aha. Und, was meinst du dazu?«

Er zuckt mit den Schultern. »Das ist totaler Quatsch. Wir beide sehen uns kein bisschen ähnlich.«

Ich will schon etwas entgegnen, bringe aber vor Verblüffung erst mal kein Wort heraus.

»Damit will ich gar nicht sagen, dass ich besser aussehe als du«, sagt Jamie. »Wir sehen einfach nur völlig unterschiedlich aus.«

»Wie bitte?«, frage ich schließlich. »Soll das heißen, von all dem, worüber Berto und ich gesprochen haben, ist bei dir ausgerechnet das hängen geblieben?«

»Ja«, sagt er. »Schon. Wieso? War da noch was anderes, was mich interessieren sollte?«

Das Auswahlverfahren, das man auf Midgard durchlaufen musste, um auf diese Mission zu kommen, war gnadenlos. Nur die Allerbesten wurden genommen. Aber Jamie …

Vielleicht war er mit irgendjemandem verwandt?

Ich will schon so etwas sagen wie Ja, das finde ich auch, wir sehen uns wirklich überhaupt nicht ähnlich, als mein Okular pingt.

<Führung1>: Sie werden unverzüglich im Büro von Commander Marshall erwartet.

<Führung1>: Ein Nichterscheinen bis 17:30 Uhr wird als Gehorsamsverweigerung gewertet.

Also gut. Dann mal los.

2

Wahrscheinlich sollte ich Ihnen an dieser Stelle erklären, wie meine Beziehung zu Hieronymus Marshall derzeit aussieht.

Kurz gesagt: nicht besonders toll.

Einerseits hat er nicht versucht, mich umzubringen, seitdem ich als Expendable der Mission gekündigt habe. Das war wirklich eine Wohltat. Aber besonders nett war er auch nicht zu mir. Nachdem ich ihm gesagt hatte, dass ich nicht mehr für ihn sterben würde, hat er als Erstes, noch bevor sich die Tür seines Büros hinter mir geschlossen hatte, meine Tagesration auf die Mindestmenge reduziert. Damals waren das zwölfhundert Kalorien. Begründet hat er das damit, dass ich keine Leistungszuschläge mehr verdient hätte, weil ich ja rein formal keinen Job mehr hätte. Mein Gegenargument war, dass ich mit zwölfhundert Kalorien pro Tag über kurz oder lang sterben würde. Sein Gegen-Gegenargument war, dass ihm das geradewegs am Arsch vorbeigehe. Mein Gegen-Gegen-Gegenargument war, dass ich noch immer in engem Kontakt mit den Creepern stünde und dass sie, wenn ich sterben würde, ziemlich stinkig werden könnten und ihren Ärger möglicherweise ausdrücken könnten, indem sie die Antimateriebombe einsetzten, die er selbst ihnen freundlicherweise verschafft hatte.

Daraufhin hat er mir dreihundert Kalorien zusätzlich gewährt, was ihm offensichtlich ziemlich gegen den Strich ging. Damit war ich zwar immer noch andauernd hungrig, aber ich beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen, und zwar aus Gründen, die in meinen Augen zwingend waren:

1.Ich habe nicht rasend viele Freunde, aber die, die ich habe, mögen mich offenbar und spendieren mir auch mal einen Becher Cyclerbrei, wenn ich mal wieder besonders ausgehungert aussehe.

2.Die Creeper haben gar keine Antimateriebombe.

3.Und selbst wenn sie eine hätten – ich stehe überhaupt nicht in Kontakt mit ihnen. Ich habe Marshall erzählt, sie würden sich vom Dome fernhalten, weil ich laufend mein diplomatisches Geschick einsetze, und er scheint mir das abzukaufen. Aber in Wahrheit habe ich seit fast zwei Jahren nicht das Geringste von ihnen gehört. Soweit ich es einschätzen kann, verbringen sie den Sommer in einer Art Winterschlaf, und wenn es wieder Winter wird, werden sie durch den Boden des Dome brechen und uns allesamt vernichten.

Kurz: Dass ich noch lebe, beruht hauptsächlich auf einem extrem wackligen Lügengebäude. Und angesichts dessen verkneife ich es mir lieber, wegen ein paar Hundert Kalorien ein Mordstheater zu machen.

»Barnes«, sagt Marshall. »Nehmen Sie Platz.«

Ich lasse die Tür hinter mir zufallen und setze mich ihm gegenüber an seinen Schreibtisch. Seit zwei Normaljahren habe ich nicht mehr mit Marshall gesprochen, geschweige denn sein Büro betreten. Beim letzten Mal habe ich meine Stelle gekündigt, und er hat gedroht, mich umzubringen. Ich hoffe, das heutige Treffen verläuft zumindest geringfügig besser.

Marshall beugt sich vor, stützt die Ellbogen auf den Tisch und starrt mich geschlagene zehn Sekunden lang an. Währenddessen denke ich darüber nach, wie wenig er sich in den elf Jahren, die ich ihn nun kenne, verändert hat. Seine Haare mit dem Bürstenschnitt und sein Schnurrbart sind etwas grauer geworden – aber sonst? Hieronymus Marshall ist vermutlich der älteste Mensch auf Niflheim. Schon beim Abflug von Midgard war er weit in seinen mittleren Jahren, aber wenn ich ihn mir jetzt so ansehe, überkommt mich plötzlich die Ahnung, dass er uns möglicherweise alle überlebt.

»Wir haben uns ja schon eine Weile nicht mehr gesprochen«, sagt er. »Wie schmeckt Ihnen denn der Ruhestand, Barnes?«

Oh. Mit so einer Frage habe ich nun überhaupt nicht gerechnet.

»Na ja«, sage ich nach einem kurzen, peinlichen Schweigen. »Es ist toll. Danke der Nachfrage. Ich spiele viel Pogball und mache ein paar kleinere Reisen. Die Enkel lassen nicht so oft von sich hören, wie ich es mir wünschen würde, aber damit muss ich wohl leben.«

Er lehnt sich zurück und wirft mir einen finsteren Blick zu.

»Gut. Aber jetzt Schluss mit den Höflichkeitsfloskeln. Haben Sie irgendeine Vermutung, warum ich Sie habe rufen lassen?«

Ich zucke mit den Schultern. Ich habe da so einen Verdacht, aber ich weiß nicht, ob jetzt der richtige Zeitpunkt ist, ihn zu äußern. Marshalls Blick verfinstert sich noch mehr. »Bevor wir dazu kommen, will ich eine Sache ganz klar aussprechen. Sie versäumen es, Ihren Teil zur Gemeinschaft beizutragen, Barnes. Und zwar seit dem Tag, an dem Sie beschlossen haben, dass der Job, auf den Sie sich eingelassen haben, der Job, der Ihnen als völlig Unqualifiziertem überhaupt erst einen Platz auf dieser Mission verschafft hat, der Job, von dem Ihnen damals, als Sie ihn angenommen haben, völlig klar war, dass er eine Verpflichtung auf Lebenszeit ist – dass also dieser Job nicht mehr nach Ihrem Geschmack war. In den letzten beiden Jahren waren Sie kein Mitglied der Kolonie mehr. Sie waren ein Schmarotzer. Auf Midgard konnten Sie das machen, und ich bin sicher, es hat Ihnen wunderbar in den Kram gepasst, sich durchs Leben treiben zu lassen und von der Stütze zu leben, aber Sie wissen so gut wie ich, dass Schmarotzertum auf einem Kolonievorposten nicht tragbar ist.«

Ich bin kurz davor, etwas Sarkastisches zu antworten: dass es stimmt, dass ich von der Stütze gelebt habe und dass ich derzeit nicht ganz die Aufgaben wahrnehme, zu denen ich mich verpflichtet habe, dass aber andererseits er, Marshall, soweit ich mich erinnern kann, auch noch nie wirklich gearbeitet hat, seitdem wir vor elf Jahren in den Weltraum aufgebrochen sind; aber dann fällt mir gerade noch ein, dass dieser Mann mich ohne Weiteres umbringen kann, wenn ich ihn zu sehr reize. Also halte ich mich zurück, räuspere mich und setze erneut an.

»Ich verstehe, was Sie sagen wollen, Sir. Aber ich darf Sie darauf hinweisen, dass ich alles andere als ein Schmarotzerleben führe. Ich absolviere jeden Tag eine volle Schicht, so wie alle anderen hier auf Niflheim. Im Grunde mache ich genau dasselbe wie vor meiner Kündigung, mal abgesehen davon, dass ich damals hin und wieder auf grässliche Art ums Leben gekommen bin.«

»Das stimmt«, sagt Marshall. »Ich habe mir Ihren Dienstplan angesehen. Sie versorgen die Tomaten. Sie wischen die Böden im Chemielabor. Sie spielen mit den Häschen. Das sind Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Barnes. Aber eigentlich sind Sie hier, um hin und wieder auf grässliche Art ums Leben zu kommen, wie Sie es formulieren. Mit allem anderen haben Sie doch nur die Zeit zwischen den Einsätzen totgeschlagen. Tatsache ist doch – und wenn Sie ehrlich sind, werden Sie mir zustimmen müssen –, dass Sie in den letzten zwei Jahren nichts getan haben, was der Kolonie irgendwie von Nutzen gewesen wäre. Das Überleben eines Kolonievorpostens hängt immer an einem seidenen Faden, und mit jedem Tag, an dem Sie sich weiter hier aufhalten, essen und ausscheiden, Ressourcen verbrauchen und nichts zurückgeben, rücken wir dem Abgrund ein Stück näher.«

»Verstehe«, entgegne ich. »Wollen Sie mir damit nahelegen, dass ich … mich umbringen soll? Falls das Ihre Absicht ist, Sir, dann müssen Sie weitaus überzeugendere Argumente anführen als die, die Sie bis jetzt gebracht haben.«

Marshall beugt sich wieder über den Tisch, und seine Stimme verwandelt sich in ein Knurren. »Nein, Barnes. Ich lege Ihnen keineswegs nahe, dass Sie sich umbringen sollen, sosehr ich das auch begrüßen würde. Ich lege Ihnen nahe, dass Sie sich klarmachen, welche Last Sie für Ihre Mitkolonisten darstellen, seitdem Sie sich in den ›Ruhestand‹ verabschiedet haben, und sich dann überlegen, was Sie tun können, um dieses Missverhältnis wieder auszugleichen.« Nach einer Pause, in der ein quälendes Unbehagen entsteht, lehnt er sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. »Sie glauben jetzt wahrscheinlich, ich werde Sie darum bitten, in Ihren alten Job zurückzukehren. Damit das klar ist: Das werde ich nicht tun. Wie gesagt, ich bitte Sie nicht darum, sich umzubringen. Vielmehr bitte ich Sie, sich zu überlegen, was Sie tun müssen, um Ihr Überleben zu sichern, so wie das Überleben aller anderen hier in der Kolonie.«

»Ahhh ja«, sage ich. »Und das, worum Sie mich da bitten, das beinhaltet wirklich nicht, dass ich auf irgendeine unbeschreiblich schmerzvolle Weise zu Tode komme?«

»Nein. Jedenfalls nicht notwendigerweise.«

Ich verdrehe die Augen und stehe auf.

»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Sir, aber im Moment habe ich wirklich viel um die Ohren: die Kaninchen, die Tomaten und – nicht zu vergessen – die Creeper. Wenn es also sonst nichts mehr zu besprechen …«

»Barnes. Setzen Sie sich. Bitte.«

Das Bitte überrascht mich. Ich glaube, dieses Wort hat Marshall in meiner Gegenwart noch nie verwendet. Mit einem Seufzen lasse ich mich wieder auf den Stuhl fallen.

»Na schön. Worum geht’s? Soll ich eine Blockade im Reaktorkern beheben?«

Er sieht mich überrascht an, und seine Kiefermuskeln treten hervor.

»Was wissen Sie über den Reaktorkern?«

Aha. Jetzt wird’s interessant.

»Na ja, zum einen haben Berto und Nasha Flugverbot. Um Energie zu sparen.«

Er kneift die Augen zusammen. »Das ist eine reine Routinemaßnahme. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist Luftaufklärung Völlig sinnlos. Die Lifter bleiben am Boden, weil das einfach nichts bringt.«

»Außerdem weiß ich, dass Sie wieder Exemplare von mir aus dem Tank holen, und ich weiß auch, dass Sie sie in den Reaktorkern schicken. Ist das auch eine Routinemaßnahme?«

Darauf entgegnet Marshall erst mal nichts. Als er weiterspricht, ist seine Stimme flach und eintönig.

»Von wem haben Sie das?«

Ich lächle ihn leicht triumphierend an. »Von niemandem. Gestern habe ich einen von ihnen auf dem Gang gesehen. Zusammen mit Maggie Ling. Die beiden hatten es offenkundig eilig. Ich war mir nicht hundertprozentig sicher, wohin sie unterwegs waren, aber Ihre Reaktion zeigt mir, dass ich mit meiner Vermutung richtigliege. Oder etwa nicht?«

Marshall sieht mich eine gefühlte Ewigkeit lang an.

»Noch mal, damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Ich habe nichts von dem, was Sie da mutmaßen, bestätigt. Haben Sie das verstanden?«

Ich zögere und schüttle dann den Kopf. Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden habe.

»Wie bereits gesagt«, fährt Marshall fort, jetzt leise und beherrscht, »das Überleben dieser Kolonie hängt an einem seidenen Faden. Das ist bei allen Kolonievorposten so, aber angesichts der außergewöhnlichen Umstände gilt das für uns vielleicht in noch höherem Maße.« Er hält inne, und ich will schon einwerfen, dass viele dieser gegenwärtigen außergewöhnlichen Umstände direkte Folgen von seinen, Marshalls, Entscheidungen sind. Aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, also bleibe ich still und warte, bis er weiterspricht. »Und dieser seidene Faden kann an vielen Stellen reißen, Barnes. Missernte. Versagen der Technik. Kriegshandlungen. Kennen Sie den Grund, weshalb die meisten Kolonievorhaben scheitern?«

Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, dass das keine rhetorische Frage ist.

»Nein, Sir. Bitte klären Sie mich auf.«

Angesichts meines Tonfalls beißt er die Kiefer zusammen, zeigt aber sonst keine Reaktion.

»Panik«, sagt er. »Der häufigste Grund für das Scheitern eines Kolonievorhabens ist Panik. Jeder Vorposten hat mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Viele haben sogar mit horrenden Widrigkeiten zu kämpfen. Die Kolonien, die solchen Rückschlägen mit besonnener Führungsstärke und Mut begegnen, überleben. Und diejenigen, in denen Gerüchte kursieren und wo das ganze Leben von Angst beherrscht wird – die überleben nicht. Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will, Barnes?«

»So ungefähr. Wollen Sie mir sagen, dass ich den Mund halten soll, was den Reaktor angeht?«

Marshall beugt sich vor und legt die Hände flach auf die Tischplatte. »Ich will Ihnen sagen, dass mit dem Antimateriereaktor dieser Kolonie alles in Ordnung ist. Er liefert uns jetzt seit elf Normaljahren Energie und wird das auch weiterhin tun, solange es erforderlich ist. Außerdem sage ich Ihnen, dass wir keine Expendables aus dem Tank geholt haben. Eine solche Behauptung würde Unruhe stiften und könnte unter den Bewohnern der Kolonie zu genau der Art von Panik führen, die wir vermeiden müssen. Daher noch einmal meine Frage: Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will, Barnes?«

»Ja«, antworte ich langsam. »Ich glaube schon.«

»Sie glauben es?«

»Nein, Sir. Ich glaube es nicht nur. Ich habe es verstanden.«

Seine Miene entspannt sich, und die Bewegung um seine Lippen könnte sogar ein Lächeln sein.

»Hervorragend. Also kann ich mich darauf verlassen, dass Sie keine solchen Gerüchte verbreiten werden?«

Ich habe sie natürlich schon längst verbreitet, gegenüber Nasha und Berto, und Jamie hätte ich auch davon erzählt, wenn sein Hirn dazu in der Lage wäre, es zu kapieren. Aber jetzt ist wohl nicht der richtige Zeitpunkt, um das zu erwähnen.

»Ja, Sir. Seien Sie gewiss, dass ich meine Gedanken zu diesem Thema für mich behalten werde.«

»Hervorragend. Es freut mich, dass Sie einsehen, wie wichtig in dieser Hinsicht Diskretion ist.«

Ich nicke.

Marshall nickt.

Ich werfe einen Blick zurück über die Schulter. Die Bürotür ist noch immer geschlossen.

»Nun gut«, sage ich. »Das war sehr aufschlussreich. Kann ich jetzt gehen?«

»Was?«, fragt Marshall irritiert. »Nein. Glauben Sie etwa, ich habe Sie rufen lassen, um mit Ihnen über diese lächerlichen Gerüchte zu sprechen? Ich sagte Ihnen doch: Wir haben einen Job für Sie.«

Richtig. Da war ja noch was.

»Vor zwei Jahren«, fährt Marshall fort. »sind Sie in das Höhlensystem der Creeper gegangen. Sie hatten zwei Antimateriebomben dabei. Als Sie zurückgekommen sind, hatten Sie nur noch eine.«

Ich schüttle den Kopf. »Ich hatte nur eine dabei, als ich losgegangen bin. Die andere hatte Acht, und ich bin nicht Acht und war nie Acht. Ich dachte, das hätten wir geklärt.«

Marshall verzieht angewidert den Mund. Er muss wirklich einen sehr guten Grund dafür gehabt haben, wieder Mickeys aus dem Tank zu holen. Allein wenn er über Multiples redet, sieht er aus, als müsste er sich gleich übergeben.

»Lassen Sie mich mit Ihren Wortklaubereien in Ruhe«, sagt er. »Sie beide haben diesen Dome mit zwei Bomben verlassen, und bei Ihrer Rückkehr hatten Sie nur noch eine dabei.«

Ich zucke mit den Schultern. »Stimmt. Und das heißt?«

»Das heißt«, fährt Marshall fort, »dass Sie noch einmal zu den Creepern müssen und diese Bombe zurückholen.«

Das lasse ich einen Moment lang so im Raum stehen. Dass Marshall glaubt, die Creeper hätten die zweite Bombe, hat mir während der letzten zwei Jahre das Überleben gesichert. Ich will ihn da nicht eines Besseren belehren, und noch viel weniger will ich diese Bombe zurück in den Dome bringen.

»Tut mir leid, Sir«, sage ich. »Ich glaube nicht, dass das möglich sein wird.«

»Überlegen Sie sich das gut«, sagt Marshall, und seine Stimme ist plötzlich ganz tonlos und kalt. »Als Sie vor zwei Jahren hier saßen und verkündet haben, dass Sie Ihren Job nicht weiter ausüben wollen, als Sie eine Stelle ›gekündigt‹ haben, die zu kündigen Sie nicht das geringste Recht hatten, mussten wir an Ihrer Stelle eine Drohne in das Innere des Reaktors schicken, um die Brennelemente aus Ihrer Bombe wieder einzubringen. Diese Drohne hat nicht richtig funktioniert. Ling glaubt, dass die Wucht des Neutronenflusses im Reaktorkern das Gehirn dieses vermaledeiten Geräts beschädigt hat. Dann hat das Gerät seinerseits die Nachladevorrichtung für Antimaterie schwer beschädigt, aber das haben wir die ganze Zeit nicht bemerkt. Bis vor sechs Tagen, als wir nur noch zehn Sekunden von einer unkontrollierbaren Kettenreaktion entfernt waren, die diese Kolonie in einen rauchenden Krater von hundert Kilometer Durchmesser verwandelt hätte.«

»Oh. Aber dann haben Sie den Reaktor heruntergefahren, oder?«

Er sieht mich genervt an. »Ja, Barnes. Dass Sie jetzt hier sitzen, und zwar im Ganzen, und nicht in einzelne Atome zerlegt durch die Stratosphäre schweben, ist ein sehr starkes Indiz dafür, dass wir die Situation unter Kontrolle bringen konnten. Aber dabei mussten wir in Kauf nehmen, dass über neunzig Prozent unserer Brennelemente unbrauchbar wurden. Ist Ihnen klar, was das bedeutet?«

»Äh …«

»Das bedeutet, Barnes, dass unsere gegenwärtigen Energiereserven nicht für einen weiteren Winter ausreichen werden.«

Ach so. Das ist schlecht.

»Aber … aber um der Kälte zu begegnen, gibt es doch noch andere Methoden als die Zerstrahlung von Antimaterie, oder? Auch auf der guten alten Erde sind die Menschen mit Temperaturen klargekommen, die so niedrig waren wie hier auf Niflheim, und damals hatten sie nur Tierfelle und Feuer, um sich warm zu halten.«

Marshall seufzt. »Mal abgesehen von der Frage, ob es ratsam ist, im Inneren des Dome ein Feuer zu machen, oder ob es möglich ist, das draußen zu machen, in einer Atmosphäre, die weniger als zehn Prozent Sauerstoff enthält, oder abgesehen von der Frage, wie man sich aus dem Chitinpanzer eines Creepers einen warmen Wintermantel schneidern soll – was haben diese winterfesten Menschen auf der Erde damals denn gegessen?«

Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, wovon sich der prähistorische Mensch ernährt hat. Von Creepern wohl eher nicht. Aber dieses Gespräch habe ich schon zwei Mal geführt. Ich weiß, worauf Marshall hinauswill.

»Obwohl wir außerhalb des Dome jetzt schon einiges anbauen«, fährt er fort, »kommt noch immer über ein Viertel der Kalorien, die wir verbrauchen, aus dem Cycler. Und auf Dauer kann die Zahl der Kolonisten nicht gleich bleiben. Eines Tages, und zwar schon bald, müssen wir damit anfangen, die Embryonen aufzutauen. Wenn wir damit zu lange warten, gibt es nicht mehr genug Erwachsene, um sie aufzuziehen. Es gibt umfangreiche Studien, die das optimale Verhältnis von Kindern pro Betreuer ermittelt haben. Und dieser Wert liegt eher bei eins als bei tausend. Um diese Babys zu ernähren, die wir schon bald aus den Lagern holen müssen, brauchen wir den Cycler, ohne Wenn und Aber. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viel Energie eine solche Maschine verschlingt?«

Ja, die habe ich. Das war einer der Punkte, auf die Jemma Abera während des Trainings auf der Raumstation Himinn vor dem Start der Drakkar detailliert eingegangen ist.

Falls Sie sich das jetzt fragen – es ist abartig viel.

»Wie Sie wissen, Barnes«, sagt Marshall, »kann ich Sie nicht besonders gut leiden. Ich habe mich aus Prinzip dagegen ausgesprochen, dass ein Expendable an dieser Mission teilnimmt, aber ich wurde in diesem Punkt überstimmt. Ich habe dagegen protestiert, dass wir Sie nicht durch die Luftschleuse gejagt haben, nachdem wir Himinn verlassen hatten, aber auch in diesem Punkt wurde ich überstimmt. Ich war äußerst ungehalten, als Sie von dem Einsatz bei den Creepern lebend zurückgekommen sind und Ihre Bombe noch auf dem Rücken getragen haben, und ich war noch viel ungehaltener, als klar war, dass ich Sie nicht auf der Stelle mit dem Gesicht voraus in den Cycler schieben konnte. Ist Ihnen all das klar?«

Auch das ist eindeutig keine rhetorische Frage. Nach einem langen, angespannten Schweigen nicke ich schließlich. Marshall beugt sich vor, und einen Moment lang glaube ich, er bringt mich auf der Stelle um.

»Gut«, sagt er. »Denn ich will, dass Ihnen klar ist, wie schwer es mir fällt, das jetzt zu sagen: Bringen Sie mir diese Bombe zurück, und ich verzeihe Ihnen alles. Ich werde nie wieder von Ihnen verlangen, die Aufgaben zu erfüllen, die zu erfüllen Sie sich während dieser Mission verpflichtet haben. Ich werde in aller Ruhe dabei zusehen, wie Sie bis ans Ende Ihrer Tage Tomaten züchten und mit Ihren Häschen spielen, wenn es das ist, was Sie machen wollen. Aber ohne diesen Vorrat an Antimaterie sind wir aufgeschmissen. Sobald das Wetter umschlägt, werden wir wieder fast fünfzig Prozent unseres Kalorienbedarfs aus dem Cycler gewinnen müssen. Bei einer solchen Auslastung reichen unsere Brennstoffvorräte noch ein Jahr, vielleicht auch zwei, wenn wir die Rationen auf das absolute Minimum herunterfahren, die Grundtemperatur im Dome senken und so wenig Abfall wie möglich produzieren. Laut Berrigan aus dem Physik-Department kann die nächste Tiefphase auf diesem Planeten sieben Jahre oder länger dauern. Falls das zutrifft und falls Sie die Antimaterie, die wir so dringend brauchen, nicht wieder beschaffen, dann liegen in diesem Dome, wenn es irgendwann wieder einmal warm wird, nur noch Leichen von Menschen, die erfroren und verhungert sind.«

Er lehnt sich zurück und blickt in seinen Schoß.

»Allerdings«, sagt er, »glaube ich, dass es ein bisschen anders laufen wird. Sobald der letzte natürliche Koloniebewohner tot ist, wird der Zentralprozessor anfangen, Exemplare von Ihnen auszuspucken, und das wird er wahrscheinlich so lange tun, wie es geht.« Marshall blickt wieder auf und sieht mich mit einem schwachen, grimmigen Lächeln an. »Das wäre dann das, worauf Sie sich einstellen können, Barnes. Ein kurzes, schmerzerfülltes Leben nach dem anderen, in den dunklen, eiskalten und leeren Korridoren einer Kolonie voller Toter. Wie fänden Sie das? Sind Sie jetzt ein bisschen motivierter?«

3

»Du hattest recht«, sagt Berto. »Wir sind im Arsch. Aber so was von.«

Er zieht den Kopf ein, betritt unser Zimmer und lässt die Tür hinter sich zufallen. Nasha und ich befinden uns auf dem Bett, weil man sich hier drin eigentlich nirgendwo anders aufhalten kann. Nasha sitzt an die Wand gelehnt und hat die Knie angezogen. Ich liege neben ihr und habe die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Berto lässt sich auf den Schreibtischstuhl fallen, beugt sich vor und stützt die Ellbogen auf die Knie.

»Ich hab gerade mit Dani aus der Systemtechnik gesprochen. Mit dem Reaktor ist definitiv irgendwas nicht in Ordnung. Sie wollte mir nicht sagen, was genau los ist, aber jedenfalls fahren sie in allen Bereichen den Stromverbrauch auf das absolute Minimum herunter, bis sie die Sache behoben haben. Das Problem ist nur: Wir haben kaum Ersatzteile für den Reaktor. Wenn es an der Zufuhrvorrichtung liegt, können sie da wohl irgendwie Ersatz beschaffen, aber wenn es an der Reaktionskammer oder dem Energieerzeugungssystem liegt, dann …«

»Das ist es alles nicht«, unterbreche ich ihn. »Es ist schlimmer. Uns geht der Brennstoff aus.«

Berto sieht mich verdutzt an.

»So ist es«, sagt Nasha. »Genau, wie ich gesagt habe.«

»Nein«, entgegnet Berto. »Das kann nicht sein. Auch ohne die Menge, die du bei den Creepern gelassen hast, sollten wir noch so viel Antimaterie haben, dass es für zehn Jahre reicht.«

Ich zucke mit den Schultern. »Es gab da offenbar einen Zwischenfall. Als sie vor zwei Jahren den Brennstoff aus meiner Bombe zurück in den Reaktor schieben wollten, ging irgendwas schief, und letzte Woche wurde es dann wohl brenzlig. Marshall meinte, nur noch zehn Sekunden, und es wäre zu einer völlig unkontrollierbaren Reaktion gekommen. Und als sie dann alles wieder unter Kontrolle hatten, war das meiste der noch vorhandenen Vorräte unbrauchbar.«

Berto wirkt ungläubig. »Unbrauchbar? Das ist doch abwegig. Wie soll Antimaterie denn kaputtgehen können?«

Ich richte mich mit einem Seufzen auf und rutsche ein Stück, bis ich neben Nasha sitze. »Keine Ahnung, Mann. Wenn man sie zu lange in der Sonne liegen lässt? Das ist einfach nur das, was Marshall mir erzählt hat.«

Berto lehnt sich zurück, kippt dabei fast hintüber und kann sich gerade noch am Schreibtisch festhalten. Dann verschränkt er die Arme vor der Brust und tut so, als sei nichts geschehen. »Warum hat Marshall dir das denn erzählt? Warum redet er überhaupt noch mit dir? Hat er dich nicht noch immer auf dem Kieker?«

»Doch, definitiv«, sagt Nasha. »Wahrscheinlich hofft Marshall, er kann zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Er will, dass Mickey die zweite Bombe von den Creepern zurückholt, damit wir nicht alle verhungern, wenn das Wetter umschlägt. Und wenn er ihn anschließend um die Ecke bringen kann, dann nimmt er das gerne mit.«

»Ach so«, sagt Berto und sieht mich an. »Und, machst du’s?«

Nasha und ich werfen uns einen raschen Blick zu. Ich habe Berto nie erzählt, was mit der zweiten Bombe wirklich passiert ist, und jetzt ist nicht der richtige Moment, um ihn darüber aufzuklären.

»Es ist ein bisschen verzwickt«, sagt Nasha. »Diese Bombe ist das Einzige, was dafür sorgt, dass Mickey die letzten zwei Jahre vom Leichenschacht verschont geblieben ist. Wenn er sie jetzt zurückbringt, hält Marshall nichts mehr davon ab, ihm das Licht auszupusten.«

»Ja, schon«, sagt Berto, »aber dieser Packen Antimaterie ist auch das Einzige, was dafür sorgen kann, dass wir alle für die nächsten zwei Jahre vom Leichenschacht verschont bleiben.«

»Aber der Leichenschacht verbraucht mehr Strom als jede andere Anlage hier im Dome«, erwidere ich. »Wenn es so weit kommt, werden wir uns wahrscheinlich ganz traditionell gegenseitig in der Erde verscharren.«

»Das glaube ich nicht«, meint Nasha. »Wahrscheinlich sind wir dann nämlich so ausgehungert, dass wir uns gegenseitig aufessen.«

Berto richtet sich auf und rollt mit dem Stuhl einen halben Meter in Richtung Tür. »Ziemlich gruslig, wie du das so sagst. Ohne mit der Wimper zu zucken.«

Nasha lächelt. »Keine Sorge, Berto. Dich verschone ich, solange es geht. Versprochen.«

»Aber jetzt mal abgesehen von möglichem Kannibalismus«, sage ich, »das alles hängt doch an einer Frage: Glauben wir das, was Marshall uns erzählt? Ich bin zwar nicht Miko Berrigan, aber dass Antimaterie unbrauchbar werden soll, klingt für mich mehr als fragwürdig. Und ich könnte nicht behaupten, dass ich unserem Commander im Moment besonders viel Vertrauen entgegenbringe.«

»Was soll das heißen?«, fragt Berto. »Glaubst du, er hat dich angelogen?«

Nasha zuckt mit den Schultern. »Ja, das halten wir für möglich.«

Berto schüttelt den Kopf. »Aber dass der Stromverbrauch drastisch gesenkt wird, ist doch eine Tatsache. Und auch, dass wir beide am Boden bleiben müssen.«

»Aber du hast doch selbst gesagt, dass mit euren Einsätzen nur Zeit und Energie verschwendet werden. Wenn Marshall irgendwas im Schilde führt, könnte er doch einfach eure Flüge streichen, um so zu tun, als gäbe es irgendein Problem.«

»Möglich«, meint Berto. »Aber was ist mit dem, was Dani erzählt hat?«

Nasha schüttelt den Kopf. »Du hast doch selbst gesagt, dass sie dir im Grunde nichts verraten hat. Nur, dass der Strom gedrosselt wird, bis irgendwas repariert ist, oder? Das passt nicht zu dem, was Marshall Mickey erzählt hat.«

»Ja, das stimmt«, sagt Berto. Er lehnt sich wieder zurück, diesmal etwas vorsichtiger, und kratzt sich am Kopf. »Also glaubt ihr, Marshall behauptet nur, wir wären in einer Notlage? Warum sollte er das tun?«

Nasha verdreht die Augen. »Das liegt doch auf der Hand, Berto. Er will die Bombe wiederhaben, und er will Mickey umbringen. Wie gesagt: zwei Fliegen mit einer Klappe.«

Berto sieht erst mich an, dann Nasha, dann wieder mich. »Du glaubst also, Marshall fummelt an der Energieversorgung der Kolonie herum, verbreitet Gerüchte, die, wenn sie sich rumsprechen, eine Panik auslösen können, und das alles nur, damit er Mickey mal wieder umbringen kann?«

»Vergiss nicht: Mickey umzubringen gehört immerhin zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.«

»Wir behaupten ja auch nicht, dass es so ist«, werfe ich ein. »Aber denkbar wäre es. Darauf deutet auch seine Reaktion hin, als ich habe erkennen lassen, dass ich weiß, dass mit dem Reaktor etwas nicht stimmt. Wenn er nicht ein wirklich brillanter Schauspieler ist, war seine Überraschung echt. Irgendetwas geht da vor sich. Ich weiß nur nicht, ob ich ihm glauben soll, dass genau das vorgeht, was er mir erzählt. Wenn ich die Bombe zurückbringe, stecke ich meinen Kopf sozusagen eigenhändig in die Schlinge. Und darauf würde ich erst mal lieber verzichten; außer es ist wirklich absolut erforderlich.«



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