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Verfilmt als »Mickey 17« von Oscar-Preisträger Bong Joon-ho (»Parasite«) mit Robert Pattinson
Mickey hat einen einfachen Job. Er hilft einer Expeditionscrew, den Eisplaneten Niflheim zu kolonisieren, und dabei übernimmt er alle gefährlichen Aufgaben. Wenn er draufgeht, ist das kein Problem, denn dann wird einfach der nächste Klon von Mickey generiert und macht da weiter, wo sein Vorgänger aufgehört hat. Aber irgendwann fasst Mickey Nr. 7 einen unerhörten Entschluss: Er will nicht sterben. Aber wie überlebt man als Wegwerfklon auf einer tödlichen Mission?
Der Roman zum großen Kinofilm »Mickey 17« von Oscar-Preisträger Bong Joon-ho (»Parasite«) mit Robert Pattinson, Steven Yeun, Naomi Ackie, Toni Collette und Mark Ruffalo!
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Seitenzahl: 413
Veröffentlichungsjahr: 2022
Das Buch
Sterben macht keinen Spaß – aber zumindest lässt sich das Leben ganz gut damit finanzieren. Denn wer sich teure Raumflüge nicht leisten kann, heuert als Klon auf einem Kolonistenschiff an. Diese Klone verrichten die wirklich gefährlichen Aufgaben. Wenn sie dabei sterben, wird mit dem Biodrucker einfach der nächste Klon hergestellt. Mickey wurde bereits siebenmal geklont, als er auf dem Eisplaneten Niflheim in eine Gletscherspalte stürzt. Die Kolonisten glauben ihn tot und drucken Mickey8 aus – doch Mickey7 überlebt mithilfe einer einheimischen Lebensform. Wenn herauskommt, dass es Mickey zweimal gibt, muss er sterben, und das will Mickey7 unbedingt verhindern. Er muss also nicht nur einen Weg finden, seine eigene Haut zu retten, sondern auch die einer ganzen Alienspezies …
Der Autor
Edward Ashton arbeitet in der Krebsforschung, unterrichtet mürrische Doktoranden in Quantenphysik, schnitzt gerne und schreibt an seinen Geschichten. Er lebt mit seiner Familie und seinem liebenswert trübsinnigen Hund in einer Hütte im Wald im Bundesstaat New York.
Mehr über Edward Ashton und seine Werke erfahren Sie auf:
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EDWARD ASHTON
DER LETZTE KLON
Roman
Aus dem Englischenvon Felix Mayer
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Titel der Originalausgabe:
MICKEY 7
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Deutsche Erstausgabe 08/2022
Redaktion: Joern Rauser
Copyright © 2022 by Edward Ashton
Copyright © 2022 dieser Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,unter Verwendung des Originalmotivs
Coverdesign: © Ervin Serrano
Covermotive © Shutterstock.com (Sergey Nivens, Jurik Peter)
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN: 978-3-641-28054-3V002
www.diezukunft.de
Für Jen.Hättest Du die Zivilisation nicht beendet,wäre all das nicht geschehen.
1
Das wird der dämlichste Tod, den ich je hatte.
Es ist kurz nach 26:00 Uhr, und ich liege mit dem Rücken auf einem unebenen Steinboden. Die Finsternis um mich herum ist so schwarz, dass ich auch blind sein könnte. Mein Okular sucht fünf endlose Sekunden lang nach vereinzelten Photonen im sichtbaren Spektrum, gibt dann aber auf und schaltet auf Infrarot. Noch immer kann ich kaum etwas erkennen, aber jetzt erahne ich über mir zumindest die Decke der kleinen Felsenkammer, die in blassem, spektralem Grau schimmert, und die runde, schwarze, von Eis überzogene Öffnung, durch die ich hier hereingekommen sein muss.
Frage: Was zum Teufel ist passiert?
Die letzten Minuten, an die ich mich erinnern kann, sind mir nur noch bruchstückhaft im Gedächtnis – unzusammenhängende Bilder und Geräuschfetzen. Ich weiß noch, dass Berto mich am Rand der Eisspalte abgesetzt hat. Dass ich über einen Haufen zertrümmerter Eisblöcke hinuntergestiegen bin. Dass ich dann eine Zeit lang geradeaus gegangen bin. Dass ich aufgeblickt und in der südlichen Wand einen Felsen entdeckt habe, der in etwa dreißig Metern Höhe aus dem Eis hervorragte. Er sah ein bisschen wie der Kopf eines Affen aus. Ich weiß auch noch, dass ich gelächelt habe, und dann …
… und dann bin ich mit dem linken Fuß ins Leere getreten und gefallen.
Verdammt noch mal. Ich habe nicht darauf geachtet, wohin ich meine Füße setze. Ich habe zu diesem blöden Affenkopf hinaufgesehen, habe überlegt, wie ich ihn Nasha beschreiben könnte, wenn ich wieder zurück im Dome bin, und bin dann in ein Loch getreten.
Was für ein dämlicher, dämlicher Tod.
Ein Zittern läuft durch meinen Körper. Schon oben, als ich mich noch bewegt habe, war die Kälte unerträglich. Aber jetzt, wo ich hier unten auf dem Felsgestein liege, sickert sie in meinen ganzen Körper, durch den Skin Suit und die zwei Schichten Thermokleidung, durch Haare und Haut und Muskeln bis in die Knochen. Ich zittere wieder, und plötzlich schießt ein Schmerz von meinem linken Handgelenk in meine Schulter. Ich blicke hinunter und sehe eine Beule, und zwar an einer Stelle, wo eigentlich keine sein sollte. Sie drückt von innen gegen den Stoff, am Übergang zwischen Handschuh und äußerer Thermoschicht. Ich versuche, den Handschuh auszuziehen, in der Hoffnung, dass die Kälte das Anschwellen verlangsamt, aber der stechende Schmerz flammt erneut auf und beendet den Versuch, kaum dass ich damit begonnen habe. Selbst wenn ich nur die Hand zur Faust ballen will, steigert sich der Schmerz von unerträglich zu höllisch, sobald ich die Finger auch nur leicht bewege.
Während des Sturzes muss ich mit der Hand irgendwo dagegen geschlagen sein. Ist das Handgelenk gebrochen? Vielleicht. Verstaucht? Garantiert.
Aber wer Schmerzen hat, lebt noch.
Langsam richte ich mich auf, schüttele den Kopf, um klar denken zu können, und öffne mit einem Zwinkern ein Kommunikationsfenster. Ich befinde mich außerhalb der Reichweite der Verstärker der Kolonie, aber Berto muss noch in der Nähe sein, denn ich bekomme ein ganz schwaches Signal. Nicht stark genug für Sprache oder Video, aber Textnachrichten müssten gehen. Ich zwinkere das Tastatur-Icon an, und die Tastatur wird größer und füllt ein Viertel meines Sichtfeldes aus.
<Mickey7>: Berto. Bist du da?
<RedHawk>: Ja, bin da. Du lebst also noch?
<Mickey7>: Sieht so aus. Aber ich sitz hier fest.
<RedHawk>: Ja, ich hab’s gesehen. Du bist direkt in ein Loch gelaufen.
<Mickey7>: Ja, muss wohl so gewesen sein.
<RedHawk>: Das war kein kleines Loch, Mickey. Sondern ein richtig großes. Mann, wie konnte das passieren?
<Mickey7>: Ich hab einen Felsen angeschaut.
<RedHawk>: …
<Mickey7>: Der sah aus wie ein Affe.
<RedHawk>: Was für ein dämlicher Tod.
<Mickey7>: Ja, aber nur wenn ich wirklich sterbe, oder? Apropos, wie stehen die Chancen, dass du mich hier rausholst?
<RedHawk>: Na ja …
<RedHawk>: Nein.
<Mickey7>: Echt jetzt?
<RedHawk>: Echt jetzt.
<Mickey7>: …
<Mickey7>: Warum nicht?
<RedHawk>: Also erst mal, weil ich ungefähr zweihundert Meter oberhalb der Stelle bin, an der du runtergerauscht bist, und ich nur ein ganz schwaches Signal von dir kriege. Du bist ziemlich weit unten, mein Guter, und wir sind hier garantiert schon im Gebiet der Creeper. Dich da rauszuholen, wäre eine Scheißarbeit und mit hohem Risiko verbunden, und für einen Expendable kann ich so ein hohes Risiko nicht rechtfertigen.
<Mickey7>: Ach so. Verstehe.
<Mickey7>: Auch nicht, wenn dieser Expendable dein Freund ist?
<RedHawk>: Komm schon, Mickey, tu doch nicht so. Du stirbst ja nicht wirklich. Wenn ich wieder im Dome bin, schreibe ich einen Verlustbericht. So sind die Dienstvorschriften. Marshall kann deiner Wiederherstellung unmöglich widersprechen. Und morgen bist du schon wieder raus aus dem Tank und liegst friedlich in deinem Bett.
<Mickey7>: Na toll. Für dich ist das die einfachste Lösung. Aber ich muss in der Zwischenzeit hier in diesem Loch verrecken.
<RedHawk>: Ja, das ist ätzend.
<Mickey7>: Ätzend? Sonst fällt dir nichts dazu ein?
<RedHawk>: Tut mir leid, Mickey, aber was erwartest du denn? Mir ist auch nicht wohl, wenn du gleich da unten stirbst, aber mal ganz im Ernst: Das ist doch dein Job, oder?
<Mickey7>: Ich bin nicht mal auf dem neuesten Stand. Ich hab seit über einem Monat kein Upload mehr gemacht.
<RedHawk>: Da … da kann ich ja nichts dafür. Aber mach dir keine Sorgen. Ich erzähl dir dann, was mit dir passiert ist. Hast du seit dem letzten Upload privat irgendwas getrieben, von dem du glaubst, du müsstest es wissen?
<Mickey7>: Hmm …
<Mickey7>: Ich glaube nicht.
<RedHawk>: Alles klar. Dann wär’s das.
<Mickey7>: …
<RedHawk>: Alles okay, Mickey?
<Mickey7>: Ja. Alles okay. Danke vielmals, Berto.
Ich zwinkere das Fenster weg, lehne mich an die Felswand und schließe die Augen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser feige Schisser mich nicht holen kommt.
Quatsch. Natürlich kann ich mir das vorstellen.
Und was jetzt? Soll ich hier sitzen bleiben und darauf warten, dass ich sterbe? Ich habe keine Ahnung, wie tief ich gestürzt bin, durch dieses Bohrloch oder diesen Senkschacht oder was immer das ist, bevor ich aufgeschlagen bin, hier in diesem … was auch immer das ist. Vielleicht zwanzig Meter tief. Nach dem, was Berto gesagt hat, waren es wohl eher hundert. Die Öffnung, durch die ich gefallen bin, ist direkt über mir, es sind keine drei Meter bis da oben. Aber selbst wenn sie näher wäre, könnte ich mit meinem Handgelenk unmöglich hinaufklettern.
In meinem Job denkt man viel über die verschiedenen Arten nach, wie man zu Tode kommen kann – falls man nicht gerade eine davon selbst erlebt. Ich bin noch nie erfroren. Aber ich habe es mir schon oft vorgestellt. Das lag ja auch nahe, nachdem wir auf dieser gottverlassenen Eiskugel gelandet waren. Eigentlich müsste es relativ problemlos gehen. Man fängt an zu frieren, schläft irgendwann ein und wacht nicht mehr auf, oder? Meine Gedanken schweifen ab, und während ich mir denke, dass das im Grunde ja gar keine so schlechte Art ist, sich zu verziehen, pingt mein Okular. Mit einem Zwinkern gehe ich ran.
<BlackHornet>: Hey, Babe.
<Mickey7>: Hey, Nasha. Was kann ich für dich tun?
<BlackHornet>: Bleib einfach, wo du bist. Ich bin in der Luft. Bin in zwei Minuten bei dir.
<Mickey7>: Hat Berto dich angepingt?
<BlackHornet>: Genau. Er glaubt nicht, dass man dich da rausholen kann.
<Mickey7>: Aber?
<BlackHornet>: Er ist einfach nicht ausreichend motiviert.
Hoffnung ist etwas Eigenartiges. Noch vor dreißig Sekunden war ich mir hundertprozentig sicher, dass ich sterben werde – und hatte eigentlich keine Angst. Und jetzt hämmert mir der Herzschlag in den Ohren, und ich gehe in Gedanken eine Checkliste durch mit allem, was schieflaufen könnte, falls Nasha es tatsächlich schafft, da oben mit ihrem Lifter zu landen und einen Rettungsversuch zu starten. Ist neben der Eisspalte genug Platz, damit sie landen kann? Und wenn ja, kann sie mich dann orten? Und wenn sie das wirklich schafft, hat sie dann auch genug Seil dabei, um bis zu mir zu kommen?
Und wenn das alles klappt, wird sie mit der ganzen Aktion nicht die Creeper auf sich aufmerksam machen?
Scheiße.
Scheiße, Scheiße, Scheiße.
Das muss ich verhindern.
<Mickey7>: Nasha?
<BlackHornet>: Ja?
<Mickey7>: Berto hat recht. Man kann mich hier nicht rausholen.
<BlackHornet>: …
<Mickey7>: Nasha?
<BlackHornet>: Bist du dir da sicher, Babe?
Ich mache die Augen zu, atme ein und wieder aus. Es ist doch nur mal wieder ein Trip in den Tank.
<Mickey7>: Ja, ich bin mir sicher. Ich bin ziemlich weit unten, und ich bin ziemlich ramponiert. Ganz ehrlich: Selbst wenn du mich hier rauskriegst, werden die mich wahrscheinlich sowieso ausrangieren.
<BlackHornet>: …
<BlackHornet>: Okay, Mickey. Es ist deine Entscheidung.
<BlackHornet>: Du weißt, dass ich alles versucht hätte.
<Mickey7>: Ja, Nasha. Das weiß ich.
Sie verstummt, und ich sehe zu, wie die Stärke ihres Signals schwankt. Sie umkreist den möglichen Landeplatz und versucht, mein Signal zu triangulieren, um mich exakt zu orten.
Ich muss das beenden.
<Mickey7>: Flieg zurück, Nasha. Ich verabschiede mich allmählich.
<BlackHornet>: Oh.
<BlackHornet>: Okay.
<BlackHornet>: Wie wirst du es machen?
<Mickey7>: Was?
<BlackHornet>: Den Schlussstrich, Mickey. Ich will nicht, dass du so endest wie Fünf. Hast du eine Waffe dabei?
<Mickey7>: Nein. Meinen Burner habe ich bei dem Absturz verloren. Und ehrlich gesagt würde ich so ein Ding auch nicht bei mir selbst verwenden wollen. Das würde die Sache zwar wohl verkürzen, aber …
<BlackHornet>: Vermutlich eine kluge Entscheidung. Wie steht’s mit einem Messer? Oder einem Eispickel?
<Mickey7>: Weder noch. Und ein Eispickel würde mir ja auch kaum helfen.
<BlackHornet>: Ich weiß nicht. Immerhin sind die ziemlich scharf, oder? Du könntest dir den Schädel spalten oder so.
<Mickey7>: Hör zu, Nasha. Ich weiß, du meinst es gut, aber …
<BlackHornet>: Du könntest auch die Dichtungen an deinem Atemgerät aufdrehen. Ich weiß nicht, was dich zuerst bewusstlos macht, der Mangel an Sauerstoff oder das Kohlenmonoxid, aber so oder so sollte es nur ein paar Minuten dauern.
<Mickey7>: Ich weiß. Ich bin zwar noch nie langsam erstickt, aber ich glaube, das ist nicht so mein Ding.
<BlackHornet>: Und was willst du dann machen?
<Mickey7>: Wahrscheinlich werde ich erfrieren.
<BlackHornet>: Ja, das geht auch. Das ist dann ein eher friedlicher Tod, oder?
<Mickey7>: Hoffentlich.
Ihr Signal wird schwächer, verlischt fast ganz und pendelt sich dann bei knapp über null ein. Sie ist so weit entfernt, dass wir uns gerade noch erreichen.
<BlackHornet>: Hey. Deine Daten hast du gesichert, oder?
<Mickey7>: Das letzte Mal vor sechs Wochen.
<BlackHornet>: Warum hast du kein Upload gemacht?
Ich habe wirklich keine Lust, jetzt ausgerechnet darüber zu reden.
<Mickey7>: Wahrscheinlich aus purer Faulheit.
<BlackHornet>: …
<BlackHornet>: Das tut mir leid, Babe. Ehrlich.
<BlackHornet>: Soll ich in der Leitung bleiben?
<Mickey7>: Nein. Das hier kann noch eine Weile dauern, und wenn du hier draußen umkommst, können sie dich nicht zurückholen. Flieg zurück zum Dome.
<BlackHornet>: Sicher?
<Mickey7>: Ja, ganz sicher.
<BlackHornet>: Ich liebe dich, Babe. Morgen werde ich dich daran erinnern, dass du wie ein echter Profi gestorben bist.
<Mickey7>: Danka, Nasha. Ich liebe dich auch.
<BlackHornet>: Mach’s gut, Mickey.
Mit einem Zwinkern schließe ich das Fenster, und dann sehe ich zu, wie Nashas Signal weiter nach unten trudelt und schließlich erlischt. Berto ist schon lange außer Reichweite. Ich blicke nach oben. Die Öffnung starrt mir entgegen wie der Anus des Teufels, und fehlendes Back-up hin oder her, plötzlich sehe ich dem Tod gar nicht mehr so cool entgegen. Ich schüttele noch mal den Kopf und rappele mich auf.
Stellen Sie sich Folgendes vor: Eines Tages gehen Sie schlafen und merken, dass Sie nicht einfach nur einschlafen. Sondern dass Sie sterben. Sie sterben, und am nächsten Morgen wacht an Ihrer Stelle jemand anderes auf. Er hat dieselben Erinnerungen wie Sie. Er hat dieselben Hoffnungen, dieselben Träume, dieselben Ängste und dieselben Wünsche. Er glaubt, er sei Sie, und das glauben auch Ihre Freunde und Ihre Familie. Aber er ist nicht Sie, und Sie sind nicht der Typ, der am Abend zuvor schlafen gegangen ist. Sie existieren erst seit diesem Morgen, und Sie werden aufhören zu existieren, wenn Sie heute Abend die Augen schließen. Was glauben Sie – würde das für Ihr Leben irgendeinen Unterschied machen? Würden Sie es überhaupt bemerken?
Wenn Sie jetzt »schlafen gehen« durch »zerquetscht werden«, »verdampfen« oder »verbrennen« ersetzen, dann haben Sie ziemlich genau mein Leben. Eine Störung im Inneren des Reaktors? Schickt mich rein. Ein Testlauf mit einem neuen Impfstoff, an dem noch Zweifel bestehen? Ich bin euer Mann. Wollt ihr wissen, ob der Absinth, den ihr in der Badewanne gebraut habt, giftig ist? Schenkt mir ein, ihr Bastarde. Wenn’s mich umbringt, könnt ihr mich jederzeit wiederherstellen.
Der Vorteil dieses andauernden Sterbens ist, dass ich tatsächlich so ein beschissener Unsterblicher bin. Ich weiß nicht nur, was Mickey1 getan hat. Ich weiß auch, dass ich er war. Nur an die letzten Minuten, in denen ich er war, kann ich mich nicht mehr erinnern. Er – ich – starb, nachdem sich während des Transitfluges in der Außenwand des Raumschiffs ein Riss aufgetan hatte. Mickey2 ist ein paar Stunden später aufgewacht und war felsenfest davon überzeugt, dass er einunddreißig Jahre alt und auf Midgard zur Welt gekommen war. Wer weiß, vielleicht stimmte das ja auch. Vielleicht sah aus seinen Augen der echte Mickey Barnes. Wer kann das schon wissen? Und wenn ich mich jetzt hier in dieser Höhle auf den Boden lege, die Augen schließe und die Dichtungen aufdrehe, dann wache ich morgen vielleicht als Mickey8 auf.
Aber irgendwie will ich das nicht so recht glauben.
Nasha und Berto könnten den Unterschied zwar nicht erkennen, aber tief in mir drin, irgendwo jenseits der Vernunft, bin ich mir sicher, ich wüsste dann, dass ich in der Zwischenzeit tot war.
Hier unten gibt es kein einziges Photon im sichtbaren Spektrum, aber mein Okular fängt ausreichend Infrarot-Kurzwellen auf, sodass ich mich ein wenig umsehen kann. Von der Felsenkammer gehen sechs Gänge ab. Alle führen bergab.
Das sollte nicht so sein.
Eigentlich sollte nichts so sein, wie es gerade ist.
Die Gänge sehen wie Lavatunnel aus, aber den Beobachtungen aus der Umlaufbahn zufolge gibt es hier im Umkreis von tausend Kilometern keine Vulkantätigkeit. Das ist einer der Gründe, warum wir unser erstes Basislager genau hier errichtet haben, auch wenn dieser Ort weit vom Äquator entfernt liegt und daher das Klima hier noch scheußlicher ist, als es auf diesem dämlichen Planeten ohnehin überall ist. Langsam gehe ich an der Wand der Kammer entlang. Die Tunnel sehen alle gleich aus, alle sind röhrenförmig und haben einen Durchmesser von etwa drei Metern, und weil sie schwach glimmen, schließt mein Bewusstsein daraus, dass hier ein hoher Temperaturgradient vorliegt. Mein Unterbewusstsein weiß im selben Augenblick, dass diese Tunnel vermutlich allesamt direkt in die Hölle führen. Zwischen zwei Tunneln zähle ich jeweils sechs Schritte.
Auch das sollte nicht so sein.
Aber ich habe keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Ich entscheide mich für einen der Tunnel und marschiere los.
Nach etwa einer halben Stunde frage ich mich, ob ich Nasha vielleicht hätte sagen sollen, dass ich keineswegs vorhatte, in der Kammer sitzen zu bleiben und zu erfrieren. Es wäre gut, wenn sie Berto davon abhalten könnte, einen Verlustbericht zu verfassen, solange ich nicht wirklich tot bin. Die Union ist moralisch zwar in vielerlei Hinsicht ziemlich verlottert, aber als Körper aus dem Biodrucker und Persönlichkeitsdownloads noch eine ganz neue Erfindung waren, sind ein paar wirklich miese Sachen passiert, und derzeit hat man in den meisten Kolonien als Serienmörder oder Kindesentführer einen leichteren Stand denn als Multiple.
Ich öffne ein Kommunikationsfenster, aber hier habe ich natürlich überhaupt keinen Empfang. Zu viel Felsgestein zwischen mir und der Oberfläche. Wahrscheinlich ist das auch besser so. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Nasha nur deshalb nicht weiter auf einem Bergungsversuch bestanden hat, weil sie den Eindruck hatte, dass ich ohnehin am Ende war. Wenn sie wüsste, dass ich wieder herumlaufe und nichts weiter als Kopfschmerzen und ein verstauchtes Handgelenk davongetragen habe, würde sie es sich vielleicht anders überlegen und versuchen mich zu holen, ob ich nun will oder nicht.
Das kann ich nicht zulassen. Nasha ist das einzig wirklich Gute, was mir in den letzten neun Jahren meines Lebens passiert ist, und wenn sie wegen mir draufgehen würde, könnte ich mir nicht mehr in die Augen sehen.
Ich könnte es nicht, aber wahrscheinlich müsste ich es wohl. Denn ich kann nicht sterben und dann tot sein, jedenfalls nicht auf Dauer.
Aber ich bin mir auch gar nicht so sicher, ob sie mich jetzt noch finden könnte, selbst wenn sie wollte. Hier unten sieht es wie in einer Ameisenfarm aus, alle zehn Meter komme ich an eine Tunnelkreuzung. Ich habe immer versucht, einen Weg zu nehmen, der eher nach oben als nach unten führt, aber damit scheine ich nicht besonders viel Erfolg zu haben, und ich habe ohnehin keine Ahnung, in welche Richtung ich gehe.
Eines hat sich jedoch verbessert – ich zittere nicht mehr. Erst dachte ich, mein Körper würde auskühlen, aber die Infrarotstrahlung, die von den Wänden ausgeht, ist immer heller geworden, je weiter ich gegangen bin, und jetzt bin ich mir ziemlich sicher, dass es umso wärmer wird, je tiefer ich vordringe. Ich schwitze sogar ein bisschen.
Im Moment ist das wohl weiter kein Problem, aber falls ich wirklich zurück an die Oberfläche finde, könnte es ziemlich unangenehm werden. Als ich durch die Eiskruste gebrochen und in den Schacht gefallen bin, hatte es über zehn Grad minus. In der Nacht sinken die Temperaturen auf bis zu minus dreißig Grad oder mehr, und unaufhörlich pfeift der Wind. Wenn ich einen Ausgang finde, täte ich gut daran, erst mal noch zu warten, bis die Sonne wieder hervorkommt.
Ich bin ganz in Gedanken an Nasha versunken, als ich plötzlich ein rieselndes Geräusch höre. Als würde eine Handvoll kleiner Steine über Granitfelsen kullern, immer wieder, immer wieder. Ohne mich umzudrehen, haste ich weiter. Jetzt ist mir klar, dass diese Tunnel nicht auf natürliche Weise entstanden sind. Ich weiß nicht, welche Tierart drei Meter breite Gänge durch den blanken Fels gräbt, aber was auch immer das für Wesen sind, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ihnen nicht begegnen will.
Während ich weitereile, ist das Geräusch immer häufiger zu hören und scheint auch näher zu kommen. Ich gehe schneller und schneller, bis ich fast renne. Nachdem ich eine weitere Tunnelkreuzung überquert habe, wird mir klar, dass ich nicht sagen könnte, ob das Geräusch von vorne oder von hinten kommt. Ich bleibe abrupt stehen und drehe mich um.
Und da ist es, direkt vor mir, so nahe, dass ich es fast berühren kann.
Auf den ersten Blick sieht es wie ein Creeper aus, und damit habe ich ja auch gerechnet. Ein segmentierter Körper, und an jedem Segment ein Paar Beine mit harten, scharfen Krallen. Aber bei den Mundwerkzeugen ist irgendetwas anders. Creeper haben nur ein Paar Mundwerkzeuge, der Bursche hat dagegen zwei: ein längeres, das parallel zum Boden verläuft, und ein kürzeres, das senkrecht zum ersten steht. Wie ein Creeper hat er zwischen den Mundwerkzeugen ein Paar kurzer, beweglicher Futterzangen und ein rundes, mit Zähnen besetztes Maul.
Aber es gibt noch andere auffällige Unterschiede. Creeper sind durch und durch weiß – vielleicht als Resultat der Evolution, damit sie im Schnee schwerer zu erkennen sind? Anhand der Infrarotstrahlung, die ich sehen kann, ist es schwer auszumachen, aber ich vermute, dass dieses Ding hier im Licht des sichtbaren Spektrums braun oder schwarz wäre.
Und Creeper sind bekanntlich etwa einen Meter lang und wiegen ein paar Dutzend Kilo, während mein neuer Freund hier so breit ist, wie ich groß bin, und sein Körper so weit in den Tunnel reicht, dass ich nicht erkennen kann, wo er aufhört.
Kampf oder Flucht? Im Moment ist wohl weder das eine noch das andere eine gute Idee. Ich hebe die Hände, zeige meine leeren Handflächen und mache langsam einen Schritt zurück. Darauf reagiert er. Er bäumt sich auf und spreizt sämtliche Mundwerkzeuge. Die Futterzangen scheinen mir ein Zeichen zu geben. Körpersprache. Auf ein solches Wesen wirken meine erhobenen und ausgebreiteten Arme wahrscheinlich wie eine Drohgebärde. Ich lasse die Arme fallen und mache einen weiteren Schritt zurück. Er kriecht auf mich zu, die vorderen Segmente schwanken langsam hin und her wie der Kopf einer Kobra, und ich denke mir, dass ich auf Nasha hätte hören sollen, die Dichtungen aufdrehen und die hiesige Atmosphäre ihre Arbeit tun lassen. Von einem riesigen Hundertfüßer gefressen zu werden, ist wirklich nicht die Art, wie ich mir meinen Abgang vorgestellt habe.
Plötzlich schnappen die Mundwerkzeuge zu, schneller, als ich reagieren kann – an meinen Beinen, an meiner rechten Schulter und um meine Hüfte. Der Creeper hebt mich hoch und packt mich mit seinen Futterzangen. Weniger als ein Meter trennt mich noch von seinem Maul, das sich rhythmisch öffnet und schließt. In seinem Inneren erstrecken sich Reihen schwarz glänzender Zähne, eine nach der anderen, so weit, wie ich in den feuerheißen Rachen blicken kann.
Aber er schiebt mich nicht hinein. Er hält mich weiter in seinen Fängen und setzt sich in Bewegung.
Die Futterzangen bestehen aus mehreren Gliedern und enden jeweils in einem Bündel Tentakeln, die wie Finger aussehen und auf denen zwei Zentimeter lange Krallen sitzen. Anfangs versuche ich noch, mich zu wehren, aber mit seinen Futterzangen drückt der Creeper meine ausgebreiteten Arme mit der Kraft eines Schraubstocks aus Stahl gegen seine Mundwerkzeuge. Ich kann mit den Füßen treten, treffe aber nichts. Wahrscheinlich bringt er mich zu seinem Nest. Ein Happen zwischendurch für die Kleinen? Oder ein Leckerbissen für sein Weibchen? Wie auch immer, wenn ich jetzt an die Dichtungen rankäme, würde ich sie aufdrehen. Aber das ist aussichtslos, also warte ich ab und male mir aus, wie es sich anfühlen wird, in diesem Mahlwerk von Rachen zerrieben zu werden.
Der Weg ist lang, und irgendwann nicke ich ein. Nach einer Weile wache ich durch das Klackern der Zähne des riesigen Creepers wieder auf und verbringe den Rest der Zeit damit zuzusehen, wie sie sich aneinander reiben, während die Iris des Mauls sich öffnet und schließt. Ein bizarrer und faszinierender Anblick. Entweder wachsen die Zähne in einem fort, oder sie fallen regelmäßig aus und bilden sich neu, denn sie spielen einander ganz schön übel mit.
Nach einiger Zeit verstehe ich, dass sie in einem bestimmten Winkel aneinander schlagen und sich dadurch gegenseitig schärfen.
Schließlich erreichen wir eine Felsenkammer, die so ähnlich aussieht wie die, in die ich gestürzt bin. Der Creeper durchquert die Kammer und steckt den Vorderleib in einen schmalen Seitengang. Ich drehe den Kopf. Der Gang sieht aus, als würde er nach etwa zwanzig Metern enden. Ist das die Speisekammer des Baus? Der Creeper setzt mich ab und klappt die Mundwerkzeuge auf. Er schubst mich sanft mit den Futterzangen und zieht sich dann aus dem Gang zurück.
Ich weiß nicht, was hier vor sich geht, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich irgendwo sein will, wo dieses Ding nicht ist. Ich gehe den Tunnel entlang. An seinem Ende ist irgendetwas Seltsames. Ich brauche ein paar Sekunden, bis mir klar wird, dass mein Okular zum ersten Mal seit Stunden Photonen im sichtbaren Spektrum registriert.
Die Wand am Ende des Tunnels besteht nicht aus Fels, sondern aus dichtem Schnee. Ich lege eine Hand darauf und drücke dagegen. Ein etwa fünfzig Zentimeter breites Stück bricht aus der Schneewand, und Tageslicht flutet herein.
Plötzlich kommt mir eine Szene aus meiner Kindheit in den Sinn. Ich war neun Jahre alt und im Landhaus meiner Großmutter auf Midgard. Es war ein sonniger Frühlingsmorgen, und ich hatte in meinem Zimmer eine Spinne gefangen. Ich hielt sie zwischen meinen gewölbten Händen, und während ich die Treppe hinunter und zur Haustür hinauslief, spürte ich, wie sie auf ihren dünnen, spitzen Beinen über meine Handflächen kroch. Im Garten beugte ich mich hinab, führte die Hände zum Boden und öffnete sie. Als die Spinne davonkrabbelte, fühlte ich mich wie ein mildtätiger Gott.
Durch das Loch in der Wand kann ich in weniger als zwei Kilometern Entfernung die schneebedeckte Wölbung des Hauptdome sehen. Jetzt bin ich die Spinne. Ich bin die Spinne, und das Ding aus dem Tunnel hat mich gerade im Garten abgesetzt.
Sobald ich aus dem Tunnel raus bin, versuche ich erst Berto, dann Nasha anzupingen. Keine Antwort. Ist ja auch kein Wunder. Es ist noch früh am Morgen, und beide waren nachts auf Achse. Hat Berto mich unmittelbar nach seiner Rückkehr in den Dome als im Dienst gefallen gemeldet oder wollte er damit bis zum Morgen warten? Und wie lange dauert es eigentlich, mich neu zu erzeugen? Ich war bei der Prozedur nie dabei, also weiß ich es nicht genau, aber ich vermute mal, dass es eher zügig geht. Ich spiele mit dem Gedanken, Berto eine Nachricht zu schicken, aber irgendetwas lässt mich zögern. Wenn er gestern Abend nach seiner Rückkehr direkt in seine Koje gegangen ist, könnte ich es ihm persönlich sagen. Wenn nicht … Ich habe keinen blassen Schimmer, was dann passiert, aber ich habe so ein seltsames Gefühl, dass es besser wäre, die Tatsache, dass ich nicht tot bin, noch eine Weile für mich zu behalten.
Eine Stunde lang muss ich mich durch frischen, knietiefen Schnee kämpfen, bis ich die Umzäunung des Geländes erreiche. Abgesehen davon ist es zur Abwechslung mal ein angenehmer Tag. Die Temperatur liegt einen Hauch über null, zum ersten Mal seit fast einer Woche. Der Wind hat sich gelegt, der wolkenlose Himmel schimmert in sanftem Rosa, und im Süden hängt die Sonne wie eine dicke, rote Kugel über dem Horizont. Im Abstand von etwa hundert Metern umgibt eine Sicherheitsabsperrung den Dome, mit Sensortürmen, Gefechtsständen mit Selbstschussburnern, Fußangeln und dergleichen. Ich habe nie kapiert, was das für einen Sinn haben soll, denn die einzigen großen Lebewesen, denen wir bislang begegnet sind, sind die Creeper, und die können sich offenbar unter der Schneedecke fortbewegen, wo unsere Sensoren sie nicht erfassen. Aber wahrscheinlich ist das einfach das übliche Vorgehen.
Am Checkpoint vor der Hauptschleuse hat heute Morgen Gabe Torricelli Dienst. Er ist ein typischer Securitytyp, aber für einen Sec ganz okay. Er trägt einen komplett verstärkten Kampfanzug, allerdings ohne Helm, und sieht wie ein übergroßer Bodybuilder mit einem winzigen Kopf aus.
»Hey, Mickey«, sagt er. »So früh schon unterwegs?«
»Nur so«, antworte ich. »Um fit zu bleiben. Warum denn die Ausrüstung? Haben wir irgendjemandem den Krieg erklärt, während ich Dienst in der Eisspalte hatte?«
Er lächelt hinter seiner Atemmaske. »Noch nicht. Im Wachdienst ist der Kampfanzug fakultativ. Aber ich finde einfach, man macht darin eine gute Figur.« Er deutet in die Richtung, aus der ich gekommen bin. »Jagt Marshall dich noch immer raus, damit du die Vorgebirge auskundschaftest?«
»So ist es. Warum bei der Drecksarbeit teure Ausrüstung aufs Spiel setzen, wenn man jemanden wie mich hat?«
»Ganz genau. Und, hast du da draußen irgendwas Interessantes entdeckt?«
Ja, Gabe, das habe ich. Ich habe einen Creeper entdeckt, der so groß wie ein Schwergewichtstransporter war. Er hat mich zum Dome zurückgebracht und dann gehen lassen. Ziemlich sicher war das ein empfindungsfähiges Wesen. Cool, oder?
»Nein«, sage ich. »Nichts außer Schnee und Felsen.«
»Klar«, sagt er. »Wie immer. Wenn du mich fragst: Marshall verschwendet mit diesem Unsinn nur unsere Zeit.«
O Mann. Er ist genervt und in Plauderlaune. Ich muss das hier abkürzen.
»Ich würde ja gern noch bleiben«, sage ich, »aber ich … ich hab heute Vormittag im Dome noch was zu erledigen. Ich geh dann mal rein, okay?«
»Okay«, sagt er. »Klar. Nach deinem Ausweis brauche ich dich ja wohl nicht zu fragen.«
»Nein«, entgegne ich. »Brauchst du nicht.«
Er nimmt ein Tablet zur Hand, tippt darauf herum und winkt mich dann in die Schleuse. Sehr gut. Das könnte bedeuten, dass im System der Security noch kein Mickey8 registriert ist. Bertos Faulheit hat mir möglicherweise eine Menge Stress erspart. Andererseits hat mich seine Faulheit überhaupt erst in diese Situation gebracht. Es wäre zwar ein ziemlicher Aufwand gewesen, aber ich bin sicher, mit der entsprechenden Ausrüstung hätte er mich gestern Abend aus dem Loch befreien können.
Ich konnte nicht zulassen, dass Nasha das Risiko eingeht, mich zu holen – aber Berto? Wenn er gewollt hätte, hätte ich es darauf ankommen lassen.
Klar: Der Knackpunkt bei einem Expendable ist, dass man ihn aus manchen Situationen eben nicht rausholen muss. Aber egal, wie die Sache ausgeht, ich sollte mir mal überlegen, nach welchen Kriterien ich mir meine Freunde aussuche.
Als Erstes gehe ich zu meiner Koje. Ich muss mich umziehen, ein bisschen reinigen und mir am Handgelenk einen Tapeverband anlegen. Ich glaube nicht, dass es gebrochen ist, aber es ist geschwollen und lila angelaufen und wird sich wahrscheinlich noch ein paar Wochen lang unangenehm anfühlen. Wenn ich das erledigt habe, kann ich zu Berto gehen und dafür sorgen, dass er keinen Unsinn macht. Ich muss auch Nasha anpingen, um ihr zu sagen, dass ich es rausgeschafft habe.
Und auch, um mich bei ihr dafür zu bedanken, dass sie einen Rettungsversuch gewagt hätte.
Ich gehe den Hauptkorridor des Dome hinunter, biege nach etwa zwei Dritteln auf eine Wendeltreppe aus Metall ab und steige vier Etagen nach oben in die Slums. Hier oben unter dem Dach liegen die Kojen der unteren Schichten, Dutzende Kammern, drei mal zwei Meter groß, abgetrennt durch Plastikelemente aus der Strangpresse und dünne Türen aus Schaumstoff. Mein Zimmer liegt ziemlich in der Mitte. Ich habe eine Doppelkoje für mich allein, die so hoch ist, dass ich mich aufrecht hinstellen und die Arme nach oben strecken kann – vermutlich gesteht man mir diesen Luxus zu, weil ich ein Expendable bin. So wie die Azteken die Spieler des rituellen Ballspiels äußerst zuvorkommend behandelt haben, bis sie sie zum Altar geschleift und ihnen das Herz herausgerissen haben.
Als ich die Tür zu meiner Koje aufschließen will, kommt mir zum ersten Mal der Gedanke, dass etwas nicht stimmen könnte. Die Tür ist nicht versperrt. Als ich sie aufdrücke, hämmert mir das Herz in der Brust wie verrückt. Jemand liegt in meinem Bett und hat meine Decke bis zum Kinn hinaufgezogen. Die Haare kleben ihm an der Stirn, und über sein Gesicht verlaufen Spuren, die aussehen wie getrockneter Rotz. Ich schlage die Tür hinter mir zu und trete zwei Schritte nach vorn. Beim Geräusch des Schnappverschlusses öffnet er die Augen.
»Hey«, sage ich.
Er richtet sich halb auf und fasst sich ins Gesicht. »Was zum …« Er sieht mich mit weit aufgerissen Augen an.
»Scheiße«, sagt er. »Ich bin Mickey8, oder?«
2
Wahrscheinlich fragen Sie sich schon längst, was ich verbrochen habe, damit man mich zum Expendable gemacht hat, also zu einem Menschen, der wie Verbrauchsmaterial behandelt wird. Muss bestimmt etwas Scheußliches gewesen sein. Habe ich Hundewelpen umgebracht? Eine alte Dame die Treppe hinuntergestoßen?
Weder noch. Ob Sie’s glauben oder nicht: Ich habe mich freiwillig gemeldet.
Sie machen es einem schmackhaft, indem sie nicht davon reden, dass man ein Expendable wird. Sie nennen es »unsterblich werden«. Klingt doch viel besser, oder?
Ich möchte nicht, dass es aussieht, als wäre ich ein Idiot. Als ich meinen Daumen unter den Vertrag gedrückt habe, wusste ich, worauf ich mich einlasse, jedenfalls so ungefähr. Ich saß auf Midgard im Büro der Personalreferentin und hörte mir ihr Gelaber an. Sie hieß Gwen Johansen. Sie war groß, stämmig und blond, hatte ein ausdrucksloses Gesicht, und ihre Stimme klang, als hätte sie den ganzen Vormittag lang mit Kies gegurgelt. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch, schaute auf einen Bildschirm in ihrer Hand und las mir eine Liste mit Aufgaben vor, die ich möglicherweise würde ausführen müssen und die wahrscheinlich zum Tod meiner jeweiligen Version führen würden.
Auf der Liste standen unter anderem Außenreparaturen während des interstellaren Transitfluges. Außerdem der Kontakt mit der lokalen Flora und Fauna, unumgängliche medizinische Versuche, der Kampf gegen alle Arten feindseliger Lebensformen, denen wir möglicherweise begegneten, und so weiter und so weiter. Die Liste war so lang, dass ich irgendwann abschaltete. Mir war schlichtweg egal, was sie mit mir anstellen würden. Wenn ich einen Platz auf der Expedition ergattern wollte, hatte ich keine Wahl. Ich war kein Pilot. Ich war kein Arzt. Ich war weder Genetiker noch Botaniker noch Xenobiologe. Nicht einmal als Statist war ich zu gebrauchen. Ich besaß keinerlei praktische Fähigkeiten – aber ich musste dringend, wirklich dringend von Midgard weg, und zwar so schnell wie möglich. Hier ging es um das erste Kolonisierungsschiff, das wir seit unserer Landung zweihundert Jahre zuvor gechartert hatten, und mich freiwillig als Expendable zu melden, war die einzige Möglichkeit, dort einen Platz zu bekommen.
Mir war klar, dass sie mich, sobald ich meine Gewebeproben abgegeben hatte und das Upload durchgeführt war, als Ersten in so ziemlich jeden gefährlichen oder todbringenden Einsatz schicken würden, der anstand. Doch auch nachdem Gwen die gesamte Litanei heruntergebetet hatte, hatte ich noch nicht wirklich kapiert, welche Menge gefährlicher oder todbringender Einsätze in einem Kolonievorposten anfallen und wie oft ich sie zu absolvieren hätte. Man würde ja denken, dass wir für die wirklich krassen Aktionen ferngesteuertes Gerät verwenden, etwa für die Erkundung möglicherweise instabiler Eisspalten, in denen möglicherweise fleischfressende Tiere hausen, nur so als Beispiel. Auf Midgard machte man das so, und deshalb glaubte ich, bei diesem neuen Job könnte ich vielleicht sogar eine ruhige Kugel schieben.
Aber wie ich lernen musste, gibt es eine Menge Dinge, die ein menschlicher Körper deutlich länger aushält als ein Roboter; die meisten davon haben mit Strahlung in tödlichen Dosen oder anderen Formen der Belastung zu tun. Dann gibt es noch eine ganze Reihe anderer Dinge – hauptsächlich medizinische Experimente und dergleichen –, für die Roboter völlig ungeeignet sind. Außerdem kann man auf einem Vorposten einen Expendable wesentlich leichter ersetzen als einen Roboter. Wir werden auf sehr lange Sicht keinen nennenswerten Abbau von Mineralen betreiben, geschweige denn Schwerindustrie. Metall, das wir verlieren, ist für immer verloren, solange wir den Bergbau hier nicht zum Laufen kriegen. Für die Rohstoffe, die man braucht, um eine neue Version von mir herzustellen, muss dagegen nur die landwirtschaftliche Produktion in Betrieb genommen werden.
Nicht, dass uns das gelungen wäre. Auf Niflheim außerhalb des Dome irgendetwas erfolgreich anzupflanzen, wird uns noch lange vor große Herausforderungen stellen, und auch im Inneren des Dome scheinen lokale Mikroorganismen den Sprösslingen zuzusetzen. Aber dieses Projekt sollte zumindest theoretisch zu schnellerem Erfolg führen.
Nachdem Gwen sämtliche furchtbaren Dinge aufgezählt hatte, die mir widerfahren könnten – und von denen mir etliche dann natürlich auch widerfahren sind –, lehnte sie sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich lange an, was mir irgendwie unangenehm war.
»Also«, sagte sie schließlich. »Hört sich das für Sie wirklich nach einem Job an, der Ihnen Spaß machen würde?«
Ich lächelte, hoffte, dabei selbstsicher zu wirken, und sagte: »Ja, ich glaube schon.«
Sie sah mich weiter an, und nach einer Weile spürte ich, wie mir die Angst versagt zu haben, kleine Schweißtropfen auf die Stirn trieb. War mir herausgerutscht, dass ich diesen Job wirklich dringend brauchte? Gerade als ich etwas sagen wollte, von wegen, dass ich schon immer Spaß am Risiko gehabt hatte und auf meine Fähigkeit vertraute, auch unter den schwierigsten Bedingungen am Leben zu bleiben, beugte sie sich vor und sagte: »Sind Sie wirklich so ein kapitaler Schwachkopf?«
Die Frage machte mich stutzig. »Nein«, antwortete ich. »Jedenfalls halte ich mich nicht für einen.«
»Sie haben gehört, was ich Ihnen vorgelesen habe, oder? Die ganze Liste?«
Ich nickte.
»Zum Beispiel der Punkt ›Akute Strahlenvergiftung‹. Den haben Sie verstanden, oder? Sie haben verstanden, dass das bedeutet, dass Sie möglicherweise Einsätze absolvieren müssen, bei denen Sie sich bewusst einer tödlichen Dosis ionisierender Strahlung aussetzen. Sie haben verstanden, dass Sie dann infolgedessen Fieber, Hautausschlag und Blasen entwickeln, dass sich Ihre inneren Organe schließlich fast gänzlich verflüssigen und nach einigen Tagen aus Ihrem Anus austreten, was einen Tod zur Folge hat, den ich mir als äußerst schmerzvoll vorstelle. All das haben Sie verstanden?«
»Ja«, sagte ich. »Aber so etwas wird doch nicht wirklich passieren, oder?«
»Doch. Das kann sehr wohl passieren.«
Ich schüttelte den Kopf. »Natürlich könnte ich verstrahlt werden oder so, aber dann würde ich doch keinen langwierigen, qualvollen Tod sterben. Sondern ich würde mich einfach umbringen, oder? Ich würde eine Pille schlucken, die Augen zumachen und dann als eine neue Version von mir selbst wieder aufwachen. Darum geht es doch bei dieser ganzen Sache mit dem Back-up, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Gwen, »so stellen Sie sich das vor. Aber die meisten Expendables machen das nicht.«
Ich wartete darauf, dass sie fortfuhr. Als sie nach einer Weile noch immer nichts gesagt hatte, fragte ich: »Was machen sie nicht?«
Sie seufzte. »Sich umbringen. Soweit ich weiß, kommt das so gut wie nie vor, obwohl es natürlich absolut naheliegt. Offenbar reicht eine dreistündige Schulung nicht aus, um den seit einer Milliarde Jahren in uns verwurzelten Selbsterhaltungstrieb zu überwinden. Wen wundert’s. In vielen Fällen gehört es auch zur Aufgabe des Expendables, bis zum bitteren Ende durchzuhalten, ob ihm das nun passt oder nicht. Etwa bei medizinischen Versuchen. So was kann man nicht durch einen vorzeitigen Selbstmord abkürzen. Dasselbe gilt für den Kontakt mit lokalen Mikroorganismen. Die Führung muss ganz genau wissen, welche Auswirkungen das jeweils in biologischer Hinsicht hat, und man wird Sie nicht gehen lassen, bevor nicht alle Daten erhoben sind. Haben Sie das verstanden?«
Ich nickte. Deutlicher hätte die Antwort nicht ausfallen können. Gwen blickte eine Zeit lang zur Decke hinauf. Als sie wieder zu mir hersah, schien mir, als sei sie enttäuscht, dass ich ihr noch immer gegenübersaß.
»Also, Mr. Barnes: Was genau reizt Sie an der ausgeschriebenen Stelle?«
Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn auf die Hände.
»Na ja«, sagte ich, »also … auch wenn ich hier und da mal ums Leben komme – im Grunde bin ich doch unsterblich, oder? Das haben Sie doch gesagt.«
Sie seufzte erneut, diesmal lauter. »Sie sind also doch ein Schwachkopf. Wir legen normalerweise Wert darauf, niemanden zu diskriminieren, aber das Problem ist, dass bei einer solchen Mission – also der Gründung einer neuen Kolonie – der Expendable von höchster Bedeutung ist. Selbst eine so simple Persönlichkeit, wie Ihre es offenbar ist, braucht eine unvorstellbare Menge an Speicherplatz. Alles für Ihr Back-up bereitzuhalten, kostet eine enorme Menge an Ressourcen. Wenn Sie diese Stelle antreten, wird Ihre Persönlichkeit die einzige herunterladbare in der ganzen Kolonie sein, und Sie werden das einzige Biomuster sein, das die Kolonie mitführt. Das bedeutet, wenn etwas schiefgeht, sind Sie möglicherweise der letzte Überlebende auf der Drakkar und ganz allein für das Überleben Tausender eingelagerter menschlicher Embryonen verantwortlich, neben anderen Gütern. Würden Sie diese Last wirklich auf sich nehmen wollen?«
Ich antwortete mit einem nervösen Lächeln. Sie sah mich eine gefühlte Ewigkeit lang an, kippte dann mit ihrem Stuhl zurück, bis sich die Vorderbeine vom Boden lösten, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Decke zu.
»Wissen Sie, wie viele Bewerber wir für diese Stelle hatten?«, fragte sie irgendwann.
»Äh … nein.«
»Was glauben Sie? Alles in allem hatten wir für die Plätze auf dieser Expedition über zehntausend Bewerbungen. Allein sechshundert Atmosphärenpiloten haben ihre Unterlagen eingereicht. Wissen Sie, wie viele Plätze wir für Atmosphärenpiloten haben?«
Heute weiß ich es, weil Berto es ungefähr tausendmal erwähnt hat, seit wir die Umlaufbahn von Midgard verlassen haben, aber damals hatte ich keinen Schimmer.
»Zwei«, sagte Gwen. »Sechshundert Piloten haben sich auf ganze zwei Positionen beworben – und wir reden hier nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Sonntagsfliegern. Jeder einzelne von diesen sechshundert ist für den Job außerordentlich qualifiziert. Und Miko Berrigan hat sich für die Leitung des Physikdepartments beworben. Können Sie sich das vorstellen?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keine Ahnung, wer Miko Berrigan war, aber in Sachen Physik schien er ein Teufelskerl zu sein.
In der Zwischenzeit habe ich mitbekommen, dass er das tatsächlich ist.
Außerdem habe ich in der Zwischenzeit mitbekommen, dass Miko Berrigan auch ein ziemliches Arschloch ist, aber das hat mit meiner Geschichte nichts zu tun.
»Wir konnten uns für diese Expedition also die Besten der Besten aussuchen«, fuhr Gwen fort. »Sicher sind Sie sich dessen bewusst, dass es eine riesige Ehre ist, für eine Mission ausgewählt zu werden, die den Vorposten einer Kolonie errichten soll. Die meisten Menschen haben überhaupt niemals die Möglichkeit, sich für eine solche Mission zu bewerben. Wenn wir wollten, könnten wir für sämtliche Plätze auf der Drakkar nur solche Leute auswählen, die ein grünes und ein blaues Auge haben, und brächten immer noch eine hoch qualifizierte Crew zusammen.«
Sie setzte den Stuhl mit einem Knall ab und beugte sich über den Tisch zu mir. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht hochzufahren.
»Und das bringt mich zurück zu dem Job als Expendable«, sagte sie. »Wissen Sie, wie viele Bewerber wir für diese Stelle hatten?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Einen«, antwortete sie. »Sie sind der Einzige, der diesen Platz haben will. Wir hatten schon ernsthaft überlegt, die Generalversammlung um die Erlaubnis zur Zwangsrekrutierung zu bitten, als dann plötzlich Sie aufgetaucht sind. Und wie aus den Ergebnissen der Routinetests hervorgeht, sind Sie eigentlich nicht komplett auf den Kopf gefallen. Hier steht auch, dass Sie … Historiker sind?«
Ich nickte.
»Ist das ein Beruf?«
»Ja, das ist es«, sagte ich. »Zumindest war es früher mal einer. Das Studium der Geschichte kann …«
»Aber ist nicht mittlerweile jedes noch so unbedeutende Detail der uns bekannten Geschichte immer und überall für alle verfügbar?«
Wieder nickte ich.
»Und warum können Sie sich dann Historiker nennen und ich zum Beispiel nicht?«
»Weil ich mir die Mühe gemacht habe, mich mit etlichen dieser Details zu beschäftigen.«
Gwen sah mich ungläubig an. »Und dafür werden Sie bezahlt?«
Ich zögerte. »Genau genommen ist es wohl eher ein Hobby als ein Beruf.«
Sie starrte mich noch ein paar Sekunden lang an, schüttelte dann den Kopf und seufzte.
»Wie auch immer, die Stelle, auf die Sie sich jetzt gerade bewerben, ist alles andere als ein Hobby. Hier geht es definitiv um einen Job, und zwar um einen, den Sie nie wieder aufgeben können, wenn Sie ihn einmal angetreten haben. Und was schließen Sie daraus, dass niemand auf dem gesamten Planeten außer Ihnen diesen Job haben will, Mr. Barnes?«
Sie sah mich an, als erwarte sie eine Antwort, aber ich hatte wirklich keine Ahnung, was ich sagen sollte. Sie schüttelte verständnislos den Kopf und schob mir über den Tisch einen Bioscanner zu. Ich legte meinen Daumen darauf und spürte ein leichtes Zwicken, als das Gerät eine DNA-Probe abriss. Gwen nahm das Lesegerät wieder an sich und sah auf das Display.
»Kann ich Sie was fragen?«, sagte ich.
Sie hob den Blick und sah mich an. Ihr Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. »Klar. Schießen Sie los.«
»Wenn sich niemand für diesen Job beworben hat und Sie tatsächlich überlegt haben, jemanden zu rekrutieren … warum versuchen Sie dann so hartnäckig, mich davon abzubringen?«
Sie blickte wieder auf das Tablet. »Eine sehr gute Frage, Mr. Barnes. Vielleicht, weil ich Sie für einen anständigen Menschen halte und es mir lieber wäre, wenn dieser Job an ein Arschloch ginge.«
Sie stand auf, legte das Tablet auf den Tisch und reichte mir die Hand.
»Wie auch immer«, sagte sie. »Ich glaube, Sie haben den Job. Willkommen an Bord.«
Es gibt eine Frage, die Gwen mir nicht gestellt hat, obwohl sie sie hätte stellen müssen: Was fand ich an Midgard so unerträglich, dass ich, nur um von dort wegzukommen, das Risiko einging, dass sich meine Innereien verflüssigten? Ich meine, Midgard ist schon okay, verglichen mit anderen Kolonien der dritten Generation. Es liegt genau in der Mitte der bewohnbaren Zone eines Roten Riesen, in dessen Innerem erst vor Kurzem die Kernfusion geendet hat. Als das erste Schiff landete, war also ein wenig Terradesign erforderlich, was vermutlich ziemlich nervig war. Dafür war Midgard, anders als unser derzeitiges Zuhause, so lange nicht bewohnbar gewesen, dass man sich dort nicht mit höher entwickelten Lebensformen herumschlagen musste. Ich bin sicher, der Expendable dieser Mission hat ein paar üble Sachen erlebt, aber zumindest wurde er nicht andauernd aufgefressen.
Die Rotationsachse von Midgard weist so gut wie keine Neigung auf, also muss man sich kaum an Jahreszeiten anpassen. Am Äquator ist es warm, an den Polen kalt, es gibt zwei große, flache Ozeane mit niedrigem Salzgehalt, und dazwischen einen ringförmigen Kontinent, der den gesamten Planeten umspannt und die beiden Meere voneinander trennt. Bevölkerungsexplosion ist hier kein Thema. Auf ganz Midgard leben weniger Menschen als damals in einer Megacity auf der guten alten Erde in den Zeiten vor der Diaspora. Die Strände sind hübsch. Die Städte sind sauber. Die Regierung wird regelmäßig neu gewählt, und meistens beschränkt sich ihre Arbeit darauf, die Wirtschaft am Laufen zu halten. Auch diese riesige rote Sonne, die den halben Himmel einnimmt, hat mich nie besonders gestört, obwohl ich zugeben muss, dass sich die kleine gelbe, die wir hier haben, irgendwie natürlicher anfühlt.
Was für ein Problem hatte ich also mit Midgard? Wahrscheinlich haben Sie schon die ein oder andere Vermutung, also gehen wir die Liste mal durch. Eine gescheiterte Beziehung? Falsch. Ich hatte hin und wieder eine Freundin, manche waren toll, andere ein Reinfall, aber keine von ihnen war so schlimm, dass sie mich von meinem Planeten fortgetrieben hätte, und in dem Jahr vor meinem ersten Upload war ich sowieso Single. Finanzielle Probleme? Eher unwahrscheinlich, oder? Fast niemand auf Midgard hatte finanzielle Probleme. Landwirtschaft und Industrie waren so gut wie gänzlich automatisiert, und die Bevölkerung erhielt die Produkte pro Kopf zugeteilt, so wie auf fast allen Planeten der Union. In vielerlei Hinsicht war Midgard fast ein Paradies.
Das Problem, das ich auf Midgard hatte, war exakt dasselbe, das ich dann auch hatte, als ich Midgard verlassen wollte. Ich war kein Wissenschaftler. Ich war auch kein Ingenieur. Ich besaß keine künstlerische Begabung, taugte nicht zum Entertainer und war auch kein mitreißender Redner. Ich war – und das bin ich noch immer – jemand, der in früheren Zeiten seinen Platz in den unteren Rängen der akademischen Hierarchie gefunden hätte. Ich hätte abseitige Bücher gelesen, die ich in abseitigen Archiven aufgestöbert hätte, und abseitige Aufsätze verfasst, die niemand je gelesen hätte. Noch früher hätte ich mein Dasein wohl in einer Fabrik gefristet, in einem Bergwerk oder auch in der Infanterie. Aber auf Midgard gab es keine Verwendung für Akademiker der unteren Ränge. Wie Gwen so freundlich war zu erwähnen, war Geschichtswissen für alle problemlos verfügbar. Mit einem Zwinkern in das Okular oder ein paar Klicks auf dem Tablet konnte man alles in Erfahrung bringen, was man je über irgendetwas wissen musste. Nicht, dass irgendjemand das wirklich getan hätte, versteht sich.
Und Jobs in Fabriken, Bergwerken oder auch nur in der Infanterie gab es auch nicht. Mein Grundeinkommen sicherte mir ein Dach über dem Kopf und einen vollen Bauch, aber ich kam einfach nicht dahinter, was das alles für einen Sinn haben sollte. Ich wusste schlichtweg nicht, was sich im Universum geändert hätte, wenn ich eines Tages auf meinem Balkon einen Schritt nach vorne gemacht hätte.
Also verbrachte ich, wie so viele andere gelangweilte junge Männer vor mir, unverhältnismäßig viel Zeit damit, mich in Schwierigkeiten zu bringen.
3
»Sieht aus, als hätten wir ein Problem«, sage ich.
Ich sitze auf meinem Schreibtischstuhl und habe mich zum Bett gedreht. Acht hat sich aufgesetzt und stützt den Kopf in die Hände. Ich weiß, wie es ihm geht. Wenn man gerade aus dem Tank gekommen ist, fühlt sich das wie der schlimmste Kater aller Zeiten an, verfeinert mit ein wenig Aussatz und Taucherkrankheit.
»Ein Problem? Wir sind im Arsch, Sieben. Aber so was von. Wie konntest du das nur zulassen?«
Ich seufze, lehne mich zurück und reibe mir mit den Händen über das Gesicht. »Was genau meinst du? Dass Berto mich für tot erklärt hat, weil er zu viel Schiss davor hatte, gefressen zu werden, und deshalb nicht zurückkommen und mich retten wollte? Oder dass ich blöderweise dann doch nicht gestorben bin?«
»Keine Ahnung. Beides. Gibst du mir bitte ein Handtuch?«