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Fünf Buchstaben in Stein gemeißelt verändern das Leben Katja Bremers und ihrer Tochter Lena und werfen viele Fragen auf. Die Antworten finden sich in einem irischen Dörfchen namens Glenrose und einem dieser schrecklichen Magdalenheime. Die Geschichte handelt von furchtbarem Unrecht und Bigotterie, aber auch von neuer Freundschaft und neuer Hoffnung.
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Seitenzahl: 208
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Malin
Doris
Malin
Doris
Katja
Malin
Doris
Malin
Doris
Katja
Malin
Doris
Katja
Malin
Doris
Katja
Malin
Doris
Katja
Malin
Doris
Katja
Malin
Doris
Katja
Malin
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Malin
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Malin
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Katja
Malin
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Malin
Doris
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Malin
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Katja
Malin
Doris
Katja
Malin
Katja
Malin
Doris
Katja
Malin
Doris
Katja
Malin
Ein leichter Wind lässt die Blätter auf den Gräbern tanzen und schluckt die Geräusche des Wassers. Nur so lange, bis wieder eine neue Welle anrollt. Dann ist das Tosen des Meeres gigantisch. In den letzten vier Jahrzehnten sind kaum noch neue Gräber hinzugekommen. Eigentlich unverständlich. Kann es einen friedlicheren Ruheplatz geben, als hier direkt am Meer? Im Sommer sind manchmal Touristen auf dem kleinen Flecken Strand, der von schroffen Felsen eingerahmt ist. Meistens sind es Familien mit Kindern. Babys wird man allerdings kaum antreffen. Man muss über spitze Felsen klettern, um dieses kleine Paradies zu erreichen. Und alles, was man für den Tag benötigt, muss man ebenfalls über diese Felsen tragen. Deswegen sind hier auch nie Strandliegen, sperrige Kühltaschen und Campingtische und -stühle zu finden. Und keine plärrenden Soundsysteme. Die Kinder bauen Sandburgen oder tauchen ihre Füße für Sekunden ins kalte Meer und die Eltern versuchen, sich durch Lesen oder kleine Spaziergänge zu entspannen. Ein paar Minuten ganz für sich alleine haben. Und dann führt sie ihr Weg gerne mal über einen felsigen Pfad zu dem kleinen Friedhof. Sie lassen ihre Blicke über die meist alten verwitterten Kreuze gleiten. Die steinernen Keltenkreuze. Lesen die Namen und Daten. So wie jetzt Katja und Lena. Mit einem Unterschied. Es ist Herbst. Spätherbst. Und auch an nur Zehenspitzen ins Meer tauchen ist nicht mehr zu denken. Aber das ist auch nie der Sinn ihrer Reise gewesen. Katja befreit in den Boden eingelassene Steine von Laubresten und ist sich längst nicht mehr sicher, ob die Reise nach Irland tatsächlich so eine gute Idee gewesen ist. Wenn ihre langen aschblonden Haare beim Bücken und Laubentfernen über ihr Gesicht fallen, wagt sie einen verstohlenen Blick zu ihrer Tochter, die – in eine dicke schwarze Steppjacke gepackt – missmutig in den Himmel starrt. Gut, dass Missmutige ist für eine 15-Jährige nichts Besonderes. Aber heute mischt sich in das Missmutige auch etwas Anklagendes. Es ist nicht einfach mit ihrer Tochter zur Zeit. Eigentlich ist es nie einfach gewesen. Das allerdings ist nicht ihrer Tochter anzulasten. Katja hat große Hoffnungen in diese Reise gesetzt. Erkenntnisse, die Zusammenhänge erklären. Erkenntnisse, die Versöhnung bringen und Angst nehmen. Am schlimmsten ist die Wut, seitdem sie von der Geschichte weiß. Mit dieser Wut lebt sie nun schon seit zehn Jahren. Diese Wut frisst in ihr. Ihre Tochter weiß nichts von der Geschichte hinter dieser Wut. Sie versucht seit Jahren, diese immense Wut vor dem Mädchen zu verbergen. Natürlich spürt Lena etwas. Etwas, das nicht zu greifen ist … etwas, das sich noch nicht einmal in Worte packen lässt. Und das entfremdet sie immer mehr von einander. Sie muss reden, endlich reden, wenn sie ihr Kind nicht verlieren möchte. Es ist allerhöchste Zeit. Der Wind spielt mit ihren Haaren, die sich mit dem Laub zu verbinden scheinen. Jetzt sieht sie aus dem Augenwinkel heraus, wie ihre Tochter sich abwendet und wohl zu einem kleinen Spaziergang aufbricht. 'Pass gut auf dich auf, sei vorsichtig', will sie ihr hinterherrufen, kann sich aber gerade noch zusammenreißen.
Das Laub zwischen ihren Fingern fühlt sich gut an. Erdet ein bisschen. 'In Loving Memory of my wonderful Mom' liest sie auf einem der Steine, den sie gerade von welken Blättern befreit hat. Lena würde vermutlich nie mit einem solchen Stein ihr Grab schmücken. Und sie? Hat sie sich jemals Gedanken darüber gemacht, wie sie wohl das Grab ihrer Mutter gestalten würde? Doris ist 77 Jahre alt und topfit. Aber eines Tages wird das Thema Beerdigung an ihr hängenbleiben. Ihr Vater ist vor zehn Jahren gestorben. Geschwister hat sie keine. Und die einzige noch lebende Schwester von Doris wohnt in der Schweiz. Seit dem Tod ihres Vaters nennt sie ihre Mutter in Gedanken Doris. Nur in Gedanken. Noch. Vielleicht wird das bald auch ausgesprochen werden.
Katja widmet sich dem nächsten Grab. Der Stein hat schon einige Stürme überstanden. Da, wo die Kreuzbalken auf den Kreis treffen, der das irische Kreuz ausmacht, hat sich reichlich Moos angesetzt. Ihr gefallen diese alten Grabsteine. Auch neuere sind in Irland in dieser Form gehalten und gleichen sich, ob der Witterungsverhältnisse, relativ zügig den alten und uralten Denkmalen an. Wie nüchtern doch dagegen die meist eckigen Grabmale in Deutschland wirken. Überhaupt gefällt ihr Irland sehr gut. Da ist so etwas Mystisches. Eigentlich überall. Vielleicht verstärken auch der Herbst und die aufsteigenden Nebel dieses Gefühl. Dieses faszinierende Grau, das aus so vielen Nuancen besteht. Eine dunkle Gestalt bewegt sich vom Strand her auf den Friedhof zu. Verschwindet kurzzeitig zwischen den Felsen. Ihre Tochter. Am liebsten würde sie auf Lena zu laufen, sie in den Arm nehmen und ganz fest drücken. Sie wirkt so verloren.
Oberhalb des Sockels ist die Grabinschrift zu finden. Sie kann ein 'M' erkennen, wie auch schon auf drei anderen Gräbern während der vergangenen anderthalb Stunden. Und wieder verursacht ihr die Hoffnung Herzrasen. Vorsichtig entfernt sie mit einem kleinen Spachtel das Moos. Da! Ein 'A' wird sichtbar und ein 'L'. Das Geburtsjahr ist auf 1953 datiert und passt auch zu ihrer Suche. Lena kommt näher und bemerkt die Anspannung ihrer Mutter.
„Und? Verrätst du mir jetzt endlich, was du suchst? Warum wir die Herbstferien unbedingt in Irland verbringen müssen?“
„Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Hab' bitte ein bisschen Geduld. Ich werde es dir erklären“, kratzt Katja vorsichtig weiter und legt ein 'I' und ein 'N' frei. Ihr wird ganz schwindelig und sie muss sich am Stein festhalten. Langsam geht sie in die Knie und setzt sich auf den Boden. Sie atmet rasend schnell.
„Darf ich?“, nimmt Lena ihr den Spachtel aus der Hand und kratzt weiter, mindestens genau so vorsichtig wie ihre Mutter. Dabei legt sie 'Brookshire' frei und '1974'. Katja kämpft mit den Tränen, muss mehrfach kräftig schlucken und versucht dabei konzentriert und ruhig weiter zu atmen.
„Hast du das gesucht?“, will Lena wissen, mittlerweile
auch ziemlich aufgewühlt.
„Ja.“
„Wer ist das?“
„Malin.“
„Und wer ist Malin?“
„Meine Mutter.“
Der Spätsommer in Cork und Umgebung ist auch im Jahre 1972 nicht heiß. Hitze ist in Irland eher selten zu finden. Aber es ist eben doch relativ warm. Zu warm für dicke Schlabberpullis. Und Malin stellt erschrocken vor dem Spiegel fest, dass sich nunmehr in keinem ihrer drei Sommerkleider ihr Bauch verbergen lässt. Seit zwei Wochen weiß sie, dass sie schwanger ist. Sie weiß es, Dr. Hodges weiß es und Ronan weiß es. Und der hat ihr gleich gesagt, sie solle nur ja nicht auf die Idee kommen, irgendwem zu erzählen, das Kind sei von ihm. Er würde das abstreiten und Namen von allen möglichen Männern ins Spiel bringen, mit denen sie es getrieben habe. Und sie weiß, egal, ob man ihm glaubt oder nicht, man würde sie mit Schimpf und Schande aus Ballincollig verbannen. Als 'gefallenes Mädchen' gebrandmarkt würde sie aus der Kirchengemeinde und der Dorfgemeinschaft, was quasi das gleiche ist, verstoßen werden.
Mit leichter Wehmut sieht sie sich in ihrem kargen Zimmer um. Das würde nicht mehr lange ihr Zuhause sein. Mit den Eltern zu reden wäre zwecklos. Liam Brookeshire, ihr jähzorniger Vater, würde sie grün und blau schlagen. Von ihrer schwedischen Mutter, die wegen ihres Gatten zum Katholizismus konvertierte, konnte sie auch keine Unterstützung erwarten. Ebba würde sie beschützen wollen. Wie so oft. Wäre aber, wie immer, viel zu schwach dazu. Sie wäre mit der Situation restlos überfordert.
Ihr Blick schweift wieder durch das Zimmer und bleibt jetzt an dem gerahmten Marienbild hängen. 'Hilf mir, Maria', betet sie in Gedanken. 'Du bist doch selbst Mutter. Und du warst auch nicht mit dem Vater deines Kindes verheiratet.' Darf sie so etwas überhaupt denken? Der Pfarrer würde solche Gedanken als Frevel bezeichnen, und ihr Vater ebenso. In Cork haben die großen Mädchen an der Bushaltestelle hinter vorgehaltener Hand über 'Babys wegmachen lassen' getuschelt. Das käme für sie niemals in Frage. Sie ist jetzt 19 Jahre alt und arbeitet in Cork in einem Souvenirladen. Hauptsächlich werden dort Devotionalien verkauft. Mrs. Carrington, ihre Chefin, tadelt sie ständig. Mal ist ihre Kleidung zu bunt, mal ihr Lachen zu laut, mal ist sie zu unfreundlich zu den Kunden, mal zu freundlich. Aber trotzdem mag sie die Arbeit. Vor allem, wenn sie mit Menschen aus anderen Städtchen oder gar anderen Ländern ins Gespräch kommt. Engländer, Franzosen, Deutsche. Zuletzt hat sich sogar ein Ehepaar aus Amerika von ihr bedienen lassen.
Ein weiterer Blick in den Spiegel. Eine der gelben Blumen auf ihrem grünen Kleid spannt schon ein bisschen über dem Bauch. Dieses Kleid mochte Ronan immer sehr an ihr. Hat er zumindest gesagt. Da ist so viel, was er gesagt hat. Und so wenig, was sie noch glauben kann. Über das Heiraten hat er gesprochen. Davon, sie wegzubringen aus Ballincollig und auch aus Cork. Vielleicht eine Arbeit in Limerick suchen, oder in Dublin. In einer Fabrik hat er arbeiten und ihr ein schönes Zuhause bieten wollen. Ihr und den Kindern, die kommen sollten, sobald sie verheiratet sind. Das wäre in knapp zwei Jahren möglich, sobald sie volljährig ist. Sie hat sich das gut vorstellen können. Ein Leben in Limerick. In einem kleinen Reihenhäuschen in der Arbeitersiedlung. Mit einem Gemüsegarten hinter dem Haus. Mit kleinen Jungen, die Fußball spielen. Und kleinen Mädchen, die auf dem Bürgersteig vor dem Haus in mit Kreide aufgemalte Kästchen hüpfen.
Die Wut ist größer als der Schmerz. Hier kann sie nicht länger bleiben. In der Nacht wird sie gehen. Es gibt ein Heim für ledige Mütter in Cork. Ein 'Magdalenenheim', davon hat zuletzt ein Priester im Laden gesprochen und erzählt, dass die armen 'fehlgeleiteten jungen Dinger' dort eine Chance bekämen. Und da wird sie arbeiten und ihr Kind zur Welt bringen und dafür sorgen, dass es ihm gut geht.
Ihren Eltern wird sie einen Brief schreiben. Jetzt, wo sie ihren Entschluss gefasst hat, fühlt sie sich ganz stark. Im Spiegel sieht sie den orangen Sessel aus Feincord, auf den sie so lange gespart hat. Darauf sitzt 'Lasse' ihr Teddybär, den ihr ihre schwedische Oma vor vielen Jahren geschenkt hatte. Ihren 'Lasse' wird sie natürlich mitnehmen. Vielleicht wird ihr Kind eines Tages mit 'Lasse' spielen. Sie bindet ihre störrischen roten Haare zu einem Zopf zusammen. Auf der Straße spielen ihre kleinen Brüder mit den Jungs aus der Nachbarschaft IRA. 'Bloody Friday' nennt sich das bei den Jungs derzeit beliebte Spiel. Vor knapp drei Monaten sind in Belfast nach abgebrochen Friedensgesprächen 20 Bomben innerhalb von 80 Minuten explodiert. Trotz telefonischer Warnungen sterben durch die Explosion einer Autobombe in einem Busdepot der Oxford Street zwei britische Soldaten, ein Polizei-Reservist und drei Zivilisten. Drei weitere Zivilisten sterben durch eine Autobombe in der Cavehill Road. Immer wieder diese Anschläge. Dass die Iren sich nichts von den Engländern sagen lassen wollen, kann sie ja verstehen. Aber muss man deswegen Anschläge planen, bei denen der Tod von unschuldigen Menschen in Kauf genommen wird? Erst im März hat es einen Anschlag auf die Tageszeitung in Belfast gegeben, bei dem mehrere Leute getötet worden sind. Liam Brookeshire mag diese Spiele gar nicht. Aber zum Glück ist er in Blarney und wird erst am späten Abend zurück erwartet. Dann wird sie angezogen - und sich schlafend stellend - unter ihrer Bettdecke liegen. Den Koffer gepackt und unter dem Bett versteckt. Er guckt immer in alle Zimmer, wenn er spät nach Hause kommt. Sobald er seine Kontrollrunde beendet hat, wird sie auf leisen Sohlen verschwinden.
Ganz allmählich erholt sich Lena von ihrem Schreck. Sie ist jetzt genau so bleich wie ihre Mutter. Schweigend, und doch eine Nähe spürend, wie schon lange nicht mehr, sind sie nebeneinander her über den kleinen Strand und diverse Felsen zum Parkplatz zurückgegangen. Zwei oder drei Mal haben sich dabei ihre Hände flüchtig berührt. Da steht ihr alter grüner Golf als wolle er sagen: 'Alles wird gut. Ich begleite euch. Sowohl in Deutschland, als auch in Irland.' Als hätten sie diese Botschaft vernommen, klopfen beide verstohlen auf einen Kotflügel des treuen Gefährten. Jede für sich und sehr zaghaft. Der Wind hat sich gedreht und viele Sandkörner herüber geweht. Auch trägt er eine Eiseskälte mit im Gepäck. Schnell schließt Katja die Beifahrertür auf, so dass Lena einsteigen kann. Im Einsteigen greift die nach dem Ärmel der blauen Regenjacke ihrer Mutter.
„Wenn diese Malin deine Mutter ist, wer ist dann Doris?“
„Lass' uns zu unserem kleinen Häuschen fahren. Ich mache uns einen heißen Kakao und erzähle dir alles. Oder besser gesagt: alles, was ich weiß.“
Im Fernseher sieht sie wieder diese schrecklichen Bilder aus München. Es ist heiß, auch wenn der Sommer allmählich zu Ende geht. Ihre Beine liegen auf dem ovalen Couchtisch aus Eichenholz. Paul mag das nicht und normalerweise würde er ihr jetzt einen tadelnden Blick zuwerfen. Aber jetzt lächelt er ihr aufzumunternd zu. Er hat ihr sogar ein Glas mit Sprudelwasser auf den Untersetzer aus Kork gestellt und daneben ein Schälchen mit Erdnüssen. Die Olympiade ist so bunt und friedlich gestartet. In diesem neuen Stadion in München mit dem schönen Olympischen Dorf. Es hat ein großes Fest werden sollen. Und dann dieses Attentat in der Nacht von dem 6. auf den 7. September. Elf Sportler sind getötet worden. Und auch ein deutscher Polizist. Man hört schon seit Stunden nichts anderes mehr. Gerade fasst Karl-Heinz Köppcke die Ereignisse in einer Sondersendung zusammen. Auch er ist sehr schockiert. Diese schrecklichen Bilder. Blut überall. Soviel Blut. Und wieder wird ein Bild mit Blut gezeigt. Sie muss weinen. Paul ahnt, dass das nicht nur wegen des Blutes im Fernseher ist, aber mit Blut zu tun hat. Mit ihrem Blut, das schon wieder einen kleinen Gewebeklumpen aus ihrem Bauch heraus gespült hat. Das war die vierte Fehlgeburt innerhalb von drei Jahren, und Dr. Melli hatte ihr schon beim letzten Mal nahegelegt, sich von dem Wunsch nach eigenen Kindern zu verabschieden.
„Komm', trink' einen Schluck“, hält Paul ihr das Glas an den Mund und wischt unbeholfen eine Träne weg.
„Das Blut, das viele Blut!“
„Soll ich den Fernseher ausschalten?“
Jetzt geht ihr Weinen in Schluchzen über. Doris ist gar nicht mehr zu beruhigen.
„Ausschalten?“, klingt Paul jetzt ein wenig gereizt, eigentlich eher hilflos. Als er keine Antwort bekommt, steht er auf, zieht sich seinen Trainingsanzug zurecht, schaltet das TV-Gerät aus und verlässt mit hängenden Schultern und leise vor sich hin fluchend das Wohnzimmer.
Es ist heiß in der geräumigen Eigentumswohnung im Dürener Stadtteil Gürzenich, obwohl sie die Rollladen herunter gelassen hat. In einem dunklen heißen Raum zu sitzen, trägt nicht zu einer Verbesserung ihrer Gemütslage bei. Ihre Füße sind angeschwollen, die Schläfen pochen und hin und wieder merkt sie, wie etwas in ihre Einlage tropft. Blut! Blut! Blut! Es spült die letzten Reste ihres Kindertraumes aus ihrer Scheide.
Das gerahmte Foto an der gegenüberliegenden Wand zeigt eine strahlende Braut und einen strahlenden Bräutigam. Sie ganz in weiß, mit dem Brautschleier ihrer Mutter. Paul trägt einen schwarzen Anzug und eine silbergraue Fliege. 'Anzug und Fliege sind von der gleichen Farbe wie deine Haare und deine Augen', sollte er später beim Betrachten des Fotos sagen. Geheiratet hatten sie im Mai 1969. Danach war es in die Flitterwochen gegangen, nach Südfrankreich mit einem Abstecher über Paris. Im Hotelzimmer in Cannes hatten sie sich ernsthaft bemüht, ein Kind zu zeugen. Das war sehr merkwürdig gewesen. Hatten sie bislang alles unternommen, damit sie nur ja nicht schwanger wurde, so strebten sie jetzt plötzlich das Gegenteil an. Die ersten Male blickten sie noch immer verschämt zur Zimmertür und zuckten bei jedem Geräusch zusammen. Es dauerte eine Weile, bis sie begriffen, dass 'die Sache' nicht mehr nur nicht verboten, sondern jetzt sogar zur Pflicht erklärt worden war. Schließlich waren sie kaum noch aus dem Bett gekommen, Doris' Mutter Else als Störfaktor weit weg wissend.
Und wieder tropft ein bisschen Blut. Sie haben sich vier Kinder gewünscht. Zwei Jungen und zwei Mädchen. In den vergangenen Monaten hat Paul nicht mehr davon gesprochen. Ob er mit dem Thema abgeschlossen hat? Das kann sie sich nicht vorstellen. In seiner Familie hat es immer zahlreiche Kinder gegeben. Oder ob er schon auf der Suche nach einer anderen Frau ist? Nach einer Frau, die ohne Probleme schwanger werden und den Embryo auch halten kann? Sie ist jetzt 28 Jahre alt und hat noch immer kein Kind. Ihre langen kräftigen Haare haben sich auf ihrer Schulter festgeschwitzt. Die Flüssigkeit, die ihr Gesicht benetzt, lässt sich nicht eindeutig analysieren. Ein Gemisch aus Schweiß und Tränen. Jetzt wäre es schön, eine Freundin zu haben. Die Frauen, mit denen sie in der Stadtsparkasse zu tun hat, sind bestenfalls Bekannte. Man grüßt sich, und wenn man sich auf einem Schützenfest trifft, sitzt man für eine Weile zusammen an einem Biertisch. Ihre einzige Freundin ist mit einem Ami in dessen Heimat gezogen. Mit Helga, ihrer Schwester, hat sie sich nie besonders gut verstanden. Und ihre Mutter fragt ständig, wann sie denn endlich wieder Oma wird. Zu dem Kind ihrer Tochter in Zürich hat sie keinen Kontakt. Wie soll ihr Leben denn jetzt weitergehen? Ein Leben ohne Kind kann und will sie sich nicht vorstellen.
'Schwarzer September' nennt sich das Terror-Kommando der Palästinenser, das in München so gnadenlos zugeschlagen hat, und damit zum dramatischen Höhepunkt eines Terror-Jahres avanciert ist. Mit ihrer so genannten 'Mai-Offensive' hat die Rote-Armee-Fraktion, kurz RAF, um Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin die Republik in Angst und Schrecken versetzt. Beginnend mit einem Bombenanschlag auf das Hauptquartier der US-Armee in Frankfurt, bei dem ein Soldat getötet und 13 Menschen verletzt worden sind, hat die Terror-Truppe ihre blutige Serie mit Bombenanschlägen auf die Polizeidirektion in Augsburg, das Landeskriminalamt in München, den Wagen eines Bundesrichters, das Axel-Springer-Gebäude und das Hauptquartier der US-Streitkräfte in Heidelberg fortgesetzt. Und das ist nur der Mai gewesen. Danach ist es blutig weitergegangen. Und jetzt diese Palästinenser. Ob es da einen Zusammenhang oder eine Verbindung zu dieser RAF gibt, weiß Doris nicht. Dieser Terror macht ihr Angst. Diese Plakate, die in den Postämtern und Sparkassen hängen, erschrecken sie jedes Mal. Und jetzt noch dieser 'Schwarze September'.
Auch für sie wird es ein schwarzer September werden, ein schwarzes Jahr, vielleicht sogar ein schwarzes Leben, wenn nicht bald ein Wunder geschieht. Jetzt wird ihr auf einmal ganz kalt. Der Schweiß auf ihrer Haut fühlt sich eisig an. Ja, sie fröstelt sogar ein bisschen. Als sie mit immensem Kraftaufwand die Rollladen hochzieht, löst sich wieder ein Blutpfropfen. Durch das nun offene Fenster lacht ihr die Sonne entgegen. Die Felder sind schon gemäht und an mehreren Stellen stapeln sich Heuballen. Wunderbare Spätsommerstimmung. Sie muss eine Lösung finden. Am besten zusammen mit Paul.
In der gemütlichen kleinen Ferienwohnung riecht es nach heißer Schokolade. Die Elektroheizung arbeitet auf Hochtouren und wirbelt gleichzeitig kleine Staubpartikel auf. Schwere Töpfe hängen an Haken über dem Herd, auf dem der restliche Kakao eine Haut angesetzt hat. Neben der Wohnküche gibt es noch ein Bad und eine winzige Kammer mit einem Bett, die Katja an ihre Tochter abgetreten hat. Sie selbst schläft auf der ausklappbaren Couch mit Blick auf die raue Landschaft. Jetzt sitzen sie und Lena sich an dem schweren Küchentisch aus gewachstem Fichten-Holz gegenüber. Lena wärmt ihre Hände an der dickbäuchigen blauen Keramiktasse. Ab und zu schlürft sie ein bisschen von dem Kakao ab.
„Warum hast du mir das nie erzählt? Das verstehe ich nicht? Und da bin ich auch verdammt sauer drüber!“
„Das kann ich verstehen“, holt Katja tief Luft. „Mein Vater hat mir das erzählt, kurz bevor er gestorben ist. Da warst du gerade mal fünf Jahre alt. Da hätte ich dir das doch nicht erzählen können. Ich hab' es ja noch nicht mal deinem Vater erzählt. Wir hatten uns zu diesem Zeitpunkt gerade getrennt. Und später hab' ich den richtigen Zeitpunkt verpasst, Lena. Ich war auch soviel unterwegs und du hattest so ein gutes Verhältnis zu Oma Doris. Hätte ich sagen sollen: Du, das ist gar nicht deine richtige Oma? Hätte ich Doris, die gerade ihren Mann verloren hatte, auch noch das Enkelkind wegnehmen sollen?“
„Vielleicht? Vielleicht auch nicht. Aber alles wäre besser gewesen, als nichts zu sagen. Gar nichts. Nothing.“
„Ich weiß. Ich bin ja selbst ganz durcheinander. Bis jetzt wusste ich nur, dass Doris nicht meine Mutter ist. Und jetzt weiß ich auf einmal, wer meine Mutter ist. Wer meine Mutter war. Aber auch das weiß ich eigentlich gar nicht. Ich …“
„Dann lass' uns zusammen herausfinden, wer deine Mutter war.
Über den Tisch hinweg greift Katja nach den Händen ihrer Tochter. Weich sind sie und warm. Und sie kann sich nicht erinnern, wann sie die zum letzten Mal so intensiv gehalten hat. Was für ein hübsches Gesicht sie hat, rote Wangen, strahlend blaue Augen, umrahmt von der kräftigen rötlichen Lockenpracht. Ob das ein Erbe von Malin ist? Sie hat sich schon immer gefragt, wo diese Haarfarbe wohl ihren Ursprung hat. In Sörens Familie hat es eine rothaarige Urgroßmutter gegeben. Von daher hat die Vermutung bis dato nahe gelegen, dass Lena die Haarfarbe von der Seite ihres Vaters geerbt hat.
„Lass' uns zunächst einmal herausfinden, zu welcher Kirche der Friedhof gehört. Da gibt es vielleicht noch einen Pfarrer, der sie gekannt hat oder jemanden kennt, der sie gekannt hat.“
Wieder nimmt Katja die Hände ihrer Tochter in die ihren: „Ich hoffe, dass du mir irgendwann nicht mehr böse bist.“
„Ich bin dir gar nicht böse. Ich hoffe nur, dass ich dich irgendwann verstehen kann.“
Sie ist die ganze Nacht entlang der Straßen und Wege gelaufen, dabei hat sie ihren Koffer getragen und versucht, sämtlichen Pfützen auszuweichen, um nicht Schuhe und Strümpfe zu verschmutzen. 'Der erste Eindruck zählt', hat Liam Brookeshire immer gesagt. Und wenn sie sich schon den Nonnen als minderjährige Schwangere präsentieren muss, so möchte sie dabei wenigstens halbwegs manierlich aussehen. Deswegen hat sie auch ihr Blumenkleid gegen das dunkelbraune 'gute' Kleid getauscht, das sie ansonsten nur zu Feiertagen und manchmal sonntags in der Kirche trägt. Dieses Kleid hatte ihrer Mutter ihr vor zwei Jahren zur Erstkommunion ihrer kleinen Brüder gekauft. Wie immer eine Nummer zu groß … zum 'Reinwachsen'. Jetzt hat sie es endlich geschafft. Das Kleid sitzt wie angegossen. Es ist aus dunkelbraunem Samt und hochgeschlossen. Den aufgenähten beigefarbenen Spitzenkragen hat ihre Mutter selbst aus dünner Baumwolle gehäkelt.
Allmählich geht die Sonne auf und taucht die kleine Stadt in ein warmes Licht. Das Gebäude indes wirkt schon von außen düster. Sie mag sich nicht vorstellen, wie es wohl von innen aussieht. Und doch sieht sie keine andere Möglichkeit, als da jetzt hineinzugehen. Wo soll sie sonst hin? In dem Souvenirladen mit den Devotionalien wird sie nicht ledig, aber mit dickem Bauch, arbeiten können. In solchen Geschäften im streng gläubigen Cork würde wohl generell keine Schwangere arbeiten dürfen. Auch keine anständig Verheiratete. Eine Familie mit vielen Kindern ist stets sehr angesehen im katholischen Teil der Republik. Aber über das Entstehen der Kinder will man nichts wissen. Und den Babybauch soll man auch nicht so zur Schau tragen.
Sie wird jetzt gleich durch dieses mit einem weißen Kreuz versehene gusseiserne Hoftor gehen. Nochmals zehn Schritte weiter und sie wird vor der hölzernen Eingangstür stehen. Alles wirkt karg an diesem Gebäude. Grauer Bruchstein und kleine schmucklose Fenster. In anderthalb Jahren wird sie 21 Jahre alt werden. Dann ist sie volljährig und wird mit ihrem Baby das Heim wieder verlassen. Also jetzt tief Luft holen und weiter gehen.
„Wie heißt du?“
„Malin.“
„Und weiter?
„Brookeshire. Malin Brookshire!“
„Wie alt bist du?“
„19 Jahre, ehrwürdige Schwester.“
„Schicken dich der Pfarrer oder deine Eltern?“
„Nein.“
„Antworte gefälligst in ganzen Sätzen.“
„Niemand hat mich geschickt, ehrwürdige Schwester.“
„Steh' nicht so rum, komm' rein“, zieht die Schwester, die sich ihr nicht namentlich vorgestellt hat, an ihrem Ärmel. Und damit verschwindet Malin Brookshire für die nächsten Monate in diesem dunklen Gemäuer. Der gute alte flaschengrüne Golf hat sie von Wesseling bei Köln nach Roscoff in Frankreich gebracht, von dort aus haben sie mit der Autofähre übergesetzt. Nach Cork. Und auch hier ist der Volkswagen aus der 'Rolling Stones'-Edition ihr treuer Begleiter. So auch jetzt auf dem Weg nach Glenrose.
„Woher wusstest du, dass sie in Glenrose begraben ist?“
„Dein Opa Paul hat kurz vor seinem Tod reinen Tisch gemacht, und mir nicht nur verraten, dass Doris und er nicht meine leiblichen Eltern sind. Es schien wie ein Befreiungsschlag für ihn gewesen zu sein. Und er hat geredet wie ein Wasserfall. Bis zu dem Moment, als Doris sagte, er solle sich schonen und aufhören zu sprechen.“
„Na, jetzt frage ich mich, wen Oma wirklich schonen wollte. Doch wohl an erster Stelle sich selbst.“