Pitscher und Keller und eine alte Schuld - Ursula Weyermann - E-Book

Pitscher und Keller und eine alte Schuld E-Book

Ursula Weyermann

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Beschreibung

Was ist dran, an den Erzählungen von früher, hinter vorgehaltener Hand? Seitdem diese Frau Sabrini zur Beerdigung ihrer Mutter nach Kreuzau gekommen ist, tauchen die Geschichten wieder auf. Und dann wird Jochen Schumacher tot in seiner Wohnung aufgefunden. In einer Blutlache. Das Messer liegt noch neben ihm. Harald Keller, der ehemalige Dienstellenleiter der Kreuzauer Polizei, und Ruth Pitscher, pensioniertes 'Frollein vom Amt' mit ungewöhnlichen Hobbys bringen Licht in die Geschichte. Da gibt es die ungleichen Thoma-Brüder: Olaf, der Zartbesaitete, der eine alte Schuld mit sich herumschleppt und Dieter, der Draufgänger mit Bürgermeisterambitionen, der in der Wahl seiner Mittel nicht zimperlich ist. Bei Jochen Schumacher wird nicht nur ein Messer, sondern auch Tavor in hoher Konzentration im Blut gefunden. Und es gibt einige Menschen in Kreuzau, denen Dr. Backhaus das Sedativum verschrieben hat. So auch Jupp Meyer, der von vielen Menschen als 'Penner' bezeichnet wird. Und er hat sich heftig mit Schumacher in Matthes' Brauhaus gestritten. Tavor hatte Dr. Backhaus aber auch Hannelore Weindorf verschrieben, und deren Tochter Luisa Sabrini hat nicht nur mit Schumacher noch eine Rechnung offen.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Pitscher und Keller und eine alte Schuld

Pitscher und Keller und eine alte SchuldImpressum

Pitscher und Keller und eine alte Schuld

Pitscher und Keller und eine alte Schuld

Ursula Weyermann

Nach einer Idee von Heinz Küpper und Ursula Weyermann

Folgenden Personen begegnen Sie in Kreuzau und Umgebung:Breuer, Grete betagte und an allem interessierte Kreuzauerin, befreundet mit Christine Nolden, Tante von Werner Breuer Breuer, Werner Neffe von Grete, mit Dieter Thoma und Polizeichef Hans van Damm befreundet Hages, Marianne Schwester von Ruth Pitscher, lebt mit einer Demenz im Schiller-Euler-Stift, hat früher als Lehrerin gearbeitet Heinrichs, Bärbel war mit Kellers verstorbener Frau befreundet, leitet daraus Ansprüche auf Keller ab Hoffmann, Gusti weit über 90 Jahre alt, Mitglied des Geschichtsvereins, Nachbarin der SchumachersKeller, Harald pensionierter Kommissar und ehemaliger Dienststellenleiter der Kreuzauer Polizei, verwitwet, leitet den Kreuzauer Geschichtsverein Klein, Elvira Bäckereifachverkäuferin bei Büschel Meyer, Jupp Gelegenheitsarbeiter, hat es nicht immer einfach im Leben gehabt Nolden, Christine betagte Kreuzauerin, mit Grete Breuer befreundetPitscher, Ruth pensioniertes Frollein vom Amt, hat ungewöhnliche Hobbys, ledig Sabrini, Luisa ist als Luisa Weindorf in Kreuzau aufgewachsen, hat jetzt ihren Wohnsitz in Italien Schumacher, Anneliese Mutter Jochens, hat unter dem Namen Lou als Prostituierte gearbeitet Schumacher, Jochen steht unter der Fuchtel von Dieter Thoma Thoma, Dieter Fliesenleger mit Bürgermeisterambitionen, verheiratet mit Regine, befreundet mit Werner Breuer Thoma, Olaf Bruder von Dieter, arbeitet auch im elterlichen Betrieb, eher zart besaitet Thoma, Regine unglücklich mit Dieter Thoma verheiratet Uerlichhs, Hape Kreuzauer Polizist, mit Harald Keller befreundet, spricht nur Platt 1.Das ist einer dieser Momente, in denen er seinen Job vermisst. Sicher, der Ruhestand hat seine Vorteile. Und das letzte Jahr mit van Damm hat nicht wirklich Spaß gemacht. Van Damm, den er eingearbeitet hatte, damit dieser seine Nachfolge übernehmen konnte. Nein, er und van Damm weiter auf einer Dienststelle, das wäre nicht gut gegangen. Und es ist schön, Zeit zu haben. Zeit für … ja für was denn eigentlich?

„Alles klar, Chef?“, reißt Hape Uerlichs ihn aus seinen Gedanken. Harald muss unweigerlich schmunzeln: „Lass' das mal nicht van Damm hören.“ „Hüür mech bloos op, met dämm Huujeck.“

Hans-Peter Uerlichs, genannt Hape, ist der einzige Mensch in Kreuzau, der unter 60 ist und nur Platt spricht. Zumindest im weiteren Umfeld Harald Kellers. Und das ist groß. Schließlich hat er 25 Jahre die hiesige Polizeistation geleitet, steht dem Kreuzauer Geschichtsverein vor und hat auch durch Marita und Stephanie viele Menschen in der Großgemeinde kennengelernt. Und da sind einige bei, die noch das Kreuzauer Platt beherrschen. Aber nur Platt? Hape kultiviert diesen Status,nicht zuletzt, weil er weiß, dass sich van Damm darüber maßlos ärgert.

„Wie et sich jehüürt“, frotzelt Hape und klopft auf Haralds Fahrradhelm, lacht herzlich und steigt dann in seinen Dienstwagen.

Harald wirft einen letzten Blick auf seine ehemalige Dienststelle, winkt Bürgermeister Friedhelm Schultes zu, der gerade aus dem benachbarten Rathaus kommt und radelt dann Richtung Rur. Zwei Tage hat es geregnet, der Radweg entlang des Flusses ist ein bisschen matschig. Als er sich auf die bequeme Bank mit direktem Blick auf das Kreuzauer Wehr setzt, ist die leichte Wehmut von eben verflogen. Wie viele Liter Wasser mögen wohl über dieses Wehr geflossen sein, seit die Amerikaner im Hürtgenwald gelegen und immense Verluste zu verkraften hatten? Zuletzt hat ihm noch jemand aus dem Geschichtsverein erzählt, dass die Amerikaner heute noch glauben, Hürtgenwald käme von 'Hurt', also von Schmerzen.

Muss schlimm gewesen sein … damals im Hürtgenwald. Als Ernest Hemingway als Kriegsberichterstatter über den kalten Winter im Hürtgenwald schrieb, machten sich Wilhelm Keller und Katharina Prochnow mit einem Handwagen auf den Weg Richtung Westen. Ob es letztlich Flucht oder Vertreibung war, sollte er nie genau wissen. Erschwerend kam für das junge Paar hinzu, dass Wilhelm aussah, wie ein Vorzeige-Nazi. Blonde Haare, blaue Augen und recht groß und sehnig und durchtrainiert. Haare und Augenfarbe sollte er einmal erben. Das Muskulöse hatte sich nicht so recht durchsetzen wollen. Und die kräftigen blonden Haare waren mittlerweile silbergrau geworden.

2.

„Ihre Schwester hat eine gute Phase. Sie scheint mit sich und der Welt im Reinen zu sein“, Martina Salentin blickt Ruth dabei fest in die Augen. „Sie haben richtig gehandelt, Frau Pitscher. Es wäre unverantwortlich gewesen, sie dauerhaft alleine in ihrer Wohnung zu lassen. Sie befindet sich noch im Anfangsstadium. Und wir hoffen, dass das noch eine Weile anhält. Aber bitte vergessen Sie nicht: Eine Alzheimer-Demenz ist nicht heilbar. Egal, wie sehr Sie sich aufopfern. Sie können die Krankheit nicht aufhalten.“ Frau Salentin, examinierte Krankenschwester, hat diese Sätze schon so oft zu Angehörigen gesagt, leicht variierend. Aber immer wieder tut es ihr selbst ein bisschen weh. Professionelle Distanz findet in Lehrbüchern immer statt, in der Realität nur manchmal. Ruth wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. So froh sie auch ist, Marianne im Schiller-Euler-Stift in guten Händen zu wissen … das schlechte Gewissen meldet sich immer wieder, gepaart mit hätte, müsste und könnte. Aber darüber möchte sie jetzt nicht mit der durchaus empathischen Martina Salentin sprechen. Sie will gar nicht mehr sprechen. Schnell zurück in ihre Wohnung. Eine Flasche Merlot öffnen, Joe Cocker in Endlosschleife und Rotz und Wasser heulen.

3.

Der Schützenkönig hieß Rolf II., das Bier kostete 1,50 Mark und sie kellnerte zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben. Noch heute riecht sie manchmal diese abstoßende Mischung aus Schweiß, Schnaps und Bier. Hört den schwerer werdenden Atem ihrer Peiniger und erinnert sich an das stumpfe Stoßen zwischen ihren Schenkeln. Das so weh getan hatte. Später blutete sie. Immer wieder. Über Wochen. So, als wollte sie sich reinigen. Schlimmer als der Schmerz und das Blut war die Ohnmacht gewesen. Sie hatte angefangen, die Stöße zu zählen. Bei dem, der sie auf Geheiß des Bosses einritt. Die Stöße vom Boss waren heftiger gewesen. Sie hatte aufgehört zu zählen. Den Springbrunnen im Park der Haupt- und Realschule erfasste sie schließlich mit ihrem Blick und konzentrierte sich auf die Wasserfontäne. Abwechselnd kniff sie das linke und rechte Auge zu. Dadurch verschob sich die Fontäne immer wieder. In Gedanken zählte sie die hellen Fliesen zwischen den dunklen Karos, die irgendwann in den eigentlichen Schulhof übergingen. Der Wirt schimpfte, weil sie so lange weg gewesen war:

„Das war das erste und letzte Mal, Frollein. Und das hab ich auch nur für deinen Vater getan. Lass dich hier nie wieder blicken, du Schlampe.“

64 Mark zählte er auf den Tisch und starrte dabei in den Ausschnitt ihrer aufgerissenen Bluse. Sie rannte nach Hause. Vorbei an der Mutter. Da war eine Träne im Augenwinkel der Mutter gewesen. Da war etwas Erkennendes und Verstehendes gewesen. Für einen ganz kurzen Augenblick.Sie hatte geduscht, bestimmt eine halbe Stunde lang. Und ihre Mutter hatte sie ausnahmsweise nicht auf die Wasserkosten hingewiesen. Dann hatte sie sich ein Herz gefasst und in Ansätzen die Vergewaltigung geschildert.

„Warum musst du auch immer diese engen Blusen anziehen“, hatte die Mutter gesagt und ihr dabei nicht in die Augen gesehen. „Wir sagen es aber nicht deinem Vater, der hat genug Sorgen“, sollte sie später sagen. „Polizei? Die glauben dir sowieso so nicht, so wie du immer rumläufst. Und hast du dir mal überlegt, was das für deinen Vater bedeuten würde? Die Auftragslage ist nicht gut im Augenblick. Was meinst du denn, wen die als erstes entlassen würden, wenn du zur Polizei gehst.“

Sie saßen auf dem Sofa mit dem abgewetzten grau-grünen Samtbezug. Die Mutter roch nach Fleiß, Seife und billigem Haarspray. Und es gab einen kurzen Moment der Nähe, als sie unbeholfen ein Taschentuch aus ihrer bunten Kittelschürze nestelte und ihr die Tränen wegwischte: „So, ab jetzt werden wir nie wieder über diese Angelegenheit sprechen. Gib mir die Bluse, ich werde sie morgen in den Mülleimer beim Kontra stopfen und dir in Düren eine neue kaufen. Ich hab ein bisschen Geld beiseite gelegt. Das fällt nicht auf. So, und jetzt geh ins Bett.“ Dann war sie aufgestanden und hatte sich in der angrenzenden Küche zu schaffen gemacht. Danach hatten sie nie wieder über die Angelegenheit gesprochen.

4.„Frau Pitscher?“, wundert sich Harald Keller, als der die ehemalige Gemeindebedienstete in der Person erkennt, die er im Burgauer Wald mit dem Fahrrad fast angefahren hat. Die Regenperiode ist leider anhaltend. Und so sind die Wege um Schloss Burgau in einem ähnlichen Zustand wie die Rur-Radwege.

„Ach, der Herr Keller! War ich schneller, als die Polizei erlaubt“, versucht sie ein belangloses Geplänkel zu starten. Aber ein Blick in Kellers Gesicht lässt sie erkennen, dass er ihren Zustand mit einem gewissen Bedauern zur Kenntnis genommen hat.

„Ach, Herr Keller. Mir geht es nicht gut. Und ich entschuldige mich jetzt schon mal dafür, dass ich vermutlich in den nächsten fünf Minuten anfange zu heulen.“

„Dafür brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen. Da hinten steht 'ne Bank und ich hab Zeit. Wollen wir uns setzen?“

Harald packt Äpfel aus, die er auf dem Wochenmarkt in Düren gekauft hat. Gut organisiert, wie er nun mal ist, findet er auch auf Anhieb das Schweizer Messer in seinem Rucksack und kann Ruth auf einem natürlich sauberen Herren-Taschentuch appetitliche Apfelstückchen anbieten. Sie greift zu und erzählt … und erzählt.

„Dieses Wissen, dass es nicht mehr besser wird. Dass es von jetzt an nur noch bergab geht. Dass auch eine gute Phase den Verfall nicht aufhält. Das hatte mir die Schwester zwar schon gesagt … aber das hat heute ihr Hausarzt noch einmal in aller Deutlichkeit bestätigt. Und sie ist so gut drauf im Moment. Eine ehemalige Schülerin, die im Ausland lebt, will sie morgen besuchen kommen. Sie freut sich so sehr … und sie ist so klar im Moment. Und spricht davon, wieder nach Hause zu kommen. Mensch Keller, ich hab ihre Wohnung aufgelöst.“ Und dann fließen sie doch, die Tränen. Keller drückt ein wenig unbeholfen ihre Hand: „Ich weiß, was Abschied auf Raten bedeutet.“

5.

„Ich konnte sie so gut verstehen.“ Er sammelt das Laub ein, und ist immer wieder verwundert, wie viele Blätter auf ein Urnengrab fallen können. 'Keller' ist in den kleinen Grabstein gemeißelt, darunter etwas kleiner 'Marita'. Dazu Geburts- und Sterbedatum. Hier würde er später auch einmal seine letzte Ruhe finden. Der Stein stammt aus Irland, den hat er von einem Besuch bei seiner Tochter Stephanie, ihrem Mann Duncan und den Kindern Caitlyn und Connor mitgebracht. „Ich konnte sie so gut verstehen“, sagt er noch einmal ganz leise und berührt sanft den Grabstein. „So ein langer Abschied. Ich finde immer, bei allem Schmerz, wir haben das sehr gut hingekriegt. Lady Mary. Was meinst du?“ Er pflückt ein paar verwelkte Stiefmütterchen-Blüten heraus.

„Nein, sie ist keine Konkurrenz für dich“, sagt er stumm. „Aber ihre Verletzlichkeit hinter ihrem forschen Auftreten erinnert mich ein bisschen an dich.“

„Die Stiefmütterchen musst du raus nehmen!“ Klingt Bärbels Stimme noch ein bisschen schriller als sonst, oder bildet er sich das nur ein? „Da kann ich dir bei helfen“, sagt sie und tätschelt seine Hand: „Marita würde sich freuen, wie gut wir uns verstehen.“

Da ist er wieder, dieser leichte Würgereiz. Wenn Bärbel ihn berührt. Er kann sie nicht riechen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie ist nicht unsauber im klassischen Sinne. Gesicht, Hände, Füße, Achselhöhlen und Genitalien sind vermutlich frisch geschrubbt. Die Seife ist bestimmt nicht billig. Aber ihre Sensationsgier und Bedürftigkeit kann sie nicht übertünchen.

„Ich hab dir Frikadellen gemacht, nach Maritas Rezept“, sie nimmt ihm den Klappspaten aus der Hand, legt diesen hinter den Grabstein und hakt sich bei ihm unter. Pudeldame Elfi hat beim Wort Frikadellen einen Laut des Wohlgefallens von sich gegeben. Jetzt schaut sie Harald erwartungsvoll an. Frauchen ist immer bestens gelaunt, sobald sie sich in dessen Nähe befindet. Elfi streift an Haralds rechtem Hosenbein vorbei und blickt ihn mit treuen Hundeaugen an. Bärbels Blick ist ähnlich: „Komm wir gehen zu dir, ich mach die Frikadellen warm und schau mal nach dem Rechten. Lass uns bei Büchels noch ein paar Brötchen holen.“ Der Versuch eines Widerspruches geht in Elfis lautem Gebell unter. Und so treiben ihn die beiden vom Friedhof aus Richtung Dürener Straße.

6.

„Der Antrag der Freien Kreuzauer Bürger – FKB – wird bei drei Ja-Stimmen und zwei Enthaltungen mit acht Gegenstimmen abgelehnt“, lautet das für Dieter Thoma negative Urteil. Seit drei Jahren sitzt er jetzt für die FKB im Gemeinderat. Auch wenn sich die Kommune nicht mehr im Haushaltssicherungskonzept befindet, sind doch noch immer Sparmaßnahmen angesagt. Dieter Thoma, Chef der Thoma Fliesen GbR, ist bemüht, die vermeintliche persönliche Niederlage für den Rest der Sitzung nicht zu sehr in seinen Gesichtszügen erkennen zu lassen. Das Anti-Drogen-Projekt am Gymnasium wird durchgewunken. Der Antrag der Windener Grundschule wird in einen Fachausschuss verwiesen. Peter Freiwald von den Grünen will sein Mandat niederlegen, was er aber erst im nicht-öffentlichen Teil der Sitzung kundtut. Was schon verwunderlich ist, da er allgemein als pressegeil gilt. Die Vermutung liegt nahe, dass er auf „Bitte bleib doch“-Stimmen hofft. Die bleiben jedoch aus. Und am Ende der quälend langen Sitzung steht die ungestellte Frage im Raum, wer wohl der Looser des Tages ist: Freiwald oder Thoma?

„Komm, Dieter“, schiebt ihn Fraktionskollege Werner Breuer aus dem Sitzungssaal. „Zwei oder drei Bierchen bei Leo und die Welt sieht wieder anders aus.“ Dieter schaut sich um. Wäre gut zu wissen, wo die anderen hingehen. Weder CDU noch Grüne möchte er später in der gleichen Kneipe antreffen. So verwickelt er Werner Breuer vor dem Rathaus noch in ein Gespräch über die Vor- und Nachteile der Viktoria- und der Kreuz-Apotheke und beobachtet währenddessen, in welche Richtung die Autos fahren. CDU-Chef Achim Servatius fährt Richtung Dürener Straße. Damit steht fest, dass er nicht in „Leo's Brauhaus“ anzutreffen sein wird. Und die anderen Christdemokraten schließen sich grundsätzlich seiner Wahl an.

„Kommst du mit? Zum Hassert?“, fragt ein Grüner einen anderen Grünen. Die Luft scheint rein zu sein. „Auf zum Leo“, sagt Dieter, und betätigt das automatische Türschloss seines Range Rovers: „Steig ein!“

Er genießt Breuers neidische Kommentare wegen seines neuen Autos: „Ja ja, war nicht ganz billig. Aber die heißt es doch bei uns so schön? Watt nex koss, datt ess och nex.“

Mittlerweile fühlt er sich wieder gut. Und in dieser Stimmung betritt er auch Leo's Brauhaus. Werner Breuer hinterher.

„Na, Dieter. Wolltest du endlich deinen Deckel zahlen“, bremst Kellnerin Katja seine gute Laune aus. Und dann sitzt da noch Jochen am äußersten Ende der Theke. Ziemlich angetrunken und ziemlich blass. Ob die Blässe durch die Trunkenheit hervorgerufen worden ist, will sich ihm noch nicht erschließen. Leicht angewidert und von oben herab sieht er seinen Jugendfreund an: „Mensch, reiß dich doch mal zusammen, Jochen. Du siehst furchtbar aus.“ „Sie ist wieder da“, stammelt Jochen. „Sie will mit mir reden.“„Wer?“, schreit Dieter. Jochen zieht ihn zu sich herunter und flüstert ihm etwas ins Ohr.„Reiß dich zusammen“, zischt Dieter und winkt die Kellnerin zu sich. „Ein Taxi für den jungen Mann. Geht auf meine Rechnung.“ „Aber ...“, versucht Jochen einen Einwand. „Kein 'aber'“, Dieter zischt jetzt lauter. „Du fährst jetzt nach Hause. Sofort!“

7.

Ruth ... Pitscher … meine Schwester … wohnt in Kreuzau in der Bahnhofstraße … Seit zwei Jahren in Rente … Macht Helga hilft … Weiß aber nicht, dass ich das weiß … Niemals darauf ansprechen!!! Auch nicht auf die Männer …

Traurig blickt Marianne Hages auf das Kärtchen in ihrer Hand. Das ist ihre Handschrift. Sie selbst hat die Notizen gemacht, um dem Vergessen entgegen zu wirken. Dem großen Vergessen, das sich Demenz nennt und sie eines nicht zu fernen Tages ganz beherrschen wird. Immer wieder taucht sie ab. Verschwindet sie. Noch kann sie sich nach solchen Phasen anhand ihrer Kärtchen wieder ins normale Leben zurückholen. Irgendwann wird das nicht mehr möglich sein. Gedanklich hat sie den Break-Even-Point, den Tag, an dem sie mehr in der anderen als in der realen Welt sein wird, auf Weihnachten datiert. Jetzt ist März. Ihr bleibt also noch viel Zeit bis dahin. Und die will sie genießen.

„Möchten Sie eine Tasse Kaffee haben“, Martina Salentin lächelt sie an und versucht einen Blick auf das Kärtchen zu erhaschen. Sie mag Schwester Martina sehr. Aber das Kärtchen soll sie nicht

sehen. Noch nicht.

„Gerne … und ein Stück Apfelkuchen dazu. Mit Sahne. Das wäre perfekt“, lächelt sie Martina Salentin aus dem Zimmer. Das Ruth-Kärtchen ist ihr Lieblingskärtchen. Hinter „auch nicht auf die Männer“ hat sie einen Smiley gemalt. Darüber muss sie jetzt herzhaft lachen. Über den Smiley und auch über 'die Männer'.

„Nein, zwei Stücke Kuchen“. Martina Salentin hat den Türgriff schon in der Hand: „Sie können es sich ja leisten!“

„Irgendwas muss ja von mir bleiben. Und wenn es nur meine Figur ist.“

Marianne wirft einen zufriedenen Blick in den ovalen Spiegel. Den Holzrahmen hat sie vor langer Zeit weiß gestrichen. Schön ist der Spiegel nun wirklich nicht, aber sie mag ihn. Und sie mag ihre schlanke Figur. Die hat sie vom Vater. Der wurde früher immer Pitschers Schlacks genannt. Ruth kommt da eher auf die Mutter. Klein mit ausladenden Hüften. Aber den wallenden Busen der Mutter hat sie leider nicht geerbt. Deswegen trägt sie manchmal leicht gepolsterte Push-Ups. Das ist auch so ein Tabuthema. Ob sie noch Push-Up auf das Ruth-Kärtchen schreiben soll? Aber wie wäre das dann wohl für Ruth? Wenn Herr Thiem oder Schwester Martina ihr dann nach ihrem Ableben die Kärtchen-Box gäben? Sollte sie die Kärtchen vernichten vor dem Break-Even-Tag?

8.

Der Oberstleutnant Dietrich Adolf von Torck legte am 23. Februar 1668 den Kreuzauer Schöffen persönlich eine Schenkungsurkunde vor, durch die seine Verwandte Anna Stephana von Raesfeld - Äbtissin des Stiftes Bocholtz - ihm das Erbrecht auf die Burg übertrug. Manchmal nannten sie sich Torck. Manchmal Turck. Manche Quellen behaupten, der Name würde von den Türken oder der Türkei abstammen. Aber es gibt genau so viele Quellen, die das Gegenteil behaupten. Harald sitzt über Büchern und Papieren, die sein Drucker in regelmäßigen Abständen ausspuckt. Als Vorsitzender des Kreuzauer Geschichtsvereins will er übermorgen beim monatlichen Treffen über die Geschichte der Kreuzauer Burg referieren. Das Thema ist hochinteressant, aber er hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren.

Eben hat schon wieder das Telefon geklingelt. Noch bevor er auf das Display gesehen hat, war ihm klar, wer stört. Bärbel. Den Namen hatte Marita noch eingegeben.

„Wie deutlich muss ich wohl werden?“, fragt Harald sich selbst. Er kennt sich. Irgendwann wird er explodieren. Auch wenn er sonst die Ruhe selbst ist und manchmal zu oft nachgibt. Des lieben Frieden Willens. Was zu viel ist, ist zu viel. Da war auch van Damm sehr überrascht. Im letzten Halbjahr seiner beachtlichen Dienstzeit sollte er van Damm die Leitung der Dienststelle schrittchenweise übergeben. Oft traf dieser Emporkömmling schon eigene Entscheidungen und Harald Keller ließ ihn gewähren. Bis zu dem Tag, als Van Damm Meyers Jupp zum Verhör zitierte. Einen lieben Menschen mit behördlich attestierter leichter Intelligenzminderung, der bei der Firma Strepp in Obermaubach, als es diese noch gab, den Hof gefegt und Botengänge erledigt hatte. Seitdem lebte er in dem alten und und leicht baufälligen Häuschen seiner Eltern im Hüttengarten in Kreuzau. Seine schmale Erwerbsunfähigkeitsrente besserte er gelegentlich durch Entrümpelungen oder Gartenarbeiten auf. So auch vor drei Jahren bei Familie Harzheim in der Gartenstraße. Kurz darauf war bei Harzheims eingebrochen worden. Und van Damm hatte nichts besseres zu tun, als Jupp – diesen naiven und grundanständigen Menschen – aufs Revier zu zitieren und ein vermeintliches Geständnis aus ihm herauszuschreien. Da war er, Harald Keller, ausgerastet. Der gute Hape war total perplex gewesen. So hatte er seinen Chef während seiner 20-jährigen Dienstzeit kein einziges Mal erlebt.

Und jetzt spürt Harald, dass sich der zweite Ausraster seines Lebens anbahnt. So er es denn nicht schaffen sollte, Bärbel zum wiederholten Male und jetzt überdeutlich klar zu machen, dass aus ihnen nie ein Paar werden würde. Nie. Never. Never ever. Egal, wie lange der Tod Maritas her ist oder irgendwann mal her sein würde.

9.

„Herr Thoma … Ihre Brötchen“, ruft Elvira Klein ihrem Kunden hinterher. 'Sie werden freundlich bedient von Frau Klein' ist auf dem Schildchen an der Brusttasche ihrer weißen Kittelschürze zu lesen. „Herr Thoma … Ihre Brötchen“, ruft sie noch einmal. Das 'o' und das 'ö' zieht sie ganz lang. Olaf hat die Tür schon in der Hand, bleibt stehen und dreht sich zur Theke hin um.

„Wo bin ich bloß mit meinen Gedanken“, lacht er. „Das würde ich auch gerne wissen“, sagt Frau Klein und errötet ein bisschen. Olaf schaut sie verblüfft an. Der Rotton in Frau Kleins Gesicht vertieft sich: „Grüßen Sie Ihre Familie“, versucht sie sich aus der Situation zu retten.

„Wen genau?“, Olaf ist jetzt auch mit der Situation irgendwie überfordert. „Ja, Ihren Bruder und Ihre Schwägerin ganz besonders … und die Kinder.“

„Danke, werde ich machen“, schnell packt er sich die Brötchentüte und verlässt den Laden. Ob das eine Anspielung gewesen ist? Aber woher sollte die was wissen? Von draußen wirft er noch einmal einen schnellen Blick in den Laden. Elvira Klein ist noch immer ganz rot. Dieter hat zuletzt zu ihm gesagt: „Ich glaub, die Klein hat ein Auge auf dich geworfen. Die solltest du mal über den Docht ziehen, die hat bestimmt so einiges drauf.“ Dazu hat sein Bruder eine eindeutige Handbewegung gemacht und schallend gelacht.

10.

Als sie den Kleiderschrank öffnete, war ihr die Bluse sofort aufgefallen. Wie sie da hing, neu und weiß und unschuldig, war ihr das wie ein Schlag ins Gesicht vorgekommen. Einzig der Gedanke daran, wie die Mutter in ihrer Lieblings-Boutique in Düren die Bluse gekauft hatte, konnte für einen kurzen Moment ihre düstere Stimmung durchbrechen. Ihre Mutter im dunkelbraunen Trenchcoat, mit braunen Schnürschuhen und hautfarbenen Strümpfen in 60 DEN … und mit angewidertem Blick zwischen den vielen jungen Mädchen bei 'Orsay'.